Menschen mit Behinderungen haben ein hohes Risiko Gewalt zu erleben - warum?

Menschen mit Behinderungen erleben signifikant häufiger Gewalt und Missbrauch als Menschen ohne Behinderungen.

  • 31% aller Kinder mit Behinderungen erleiden Misshandlungen.
  • Menschen mit Kommunikationsschwierigkeiten tragen ein sehr großes Risiko, Gewalt zu erleben.
  • Mädchen mit Behinderungen erleben zwei- bis dreimal häufiger sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend als Mädchen ohne Behinderungen.
  • Frauen mit Behinderungen sind signifikant häufiger schweren Formen psychischer Gewalt ausgesetzt als nichtbehinderte Frauen.
  • Junge Männer mit Körperbehinderungen tragen ein fast dreimal höheres Risiko als nichtbehinderte junge Männer, direkte sexuelle Gewalt zu erleben.
  • Junge Frauen und junge Männer mit Körperbehinderungen tragen ein signifikant höheres Risiko als nichtbehinderte Jugendliche, sowohl sexuelle, als auch sexualisierte Gewalt zu erleben. Dabei ist das Risiko für Burschen mit Körperbehinderungen deutlich höher als für Mädchen mit Körperbehinderungen.
  • Frauen mit Lernschwierigkeiten erleben am häufigsten von allen Frauengruppen sexualisierte Gewalt.
  • Menschen mit körperlichen Behinderungen erfahren häufiger Vernachlässigung, finanzielle und psychische Gewalt als Menschen mit anderen Behinderungen.
  • Menschen mit Behinderungen erleiden häufiger Gewalt und Missbrauch durch Ehe- und Lebenspartner_innen, Familienmitglieder und professionelle Unterstützer_innen als Menschen ohne Behinderungen. Die Täter_innen sind häufiger Männer als Frauen.
  • Männer mit Lernschwierigkeiten, die in Institutionen leben, sind häufiger von Gewalt durch Mitglieder der Peergroup betroffen als Frauen mit Lernschwierigkeiten.

(vgl. FITZSIMONS 2009, S.36; BMFSJ 2013; FLIEGER 2015, im Internet)

  1. Warum erleben Menschen mit Behinderungen so häufig Gewalt?
  2. Überblick über mögliche persönliche Barrieren von Menschen mit Behinderungen?
  3. Wo werden Gewaltsituationen am häufigsten erlebt?
  4. Literatur

1. Warum erleben Menschen mit Behinderungen so häufig Gewalt?

"Gewalt ist ein komplexes Geschehen, bei dem gesellschaftliche, soziale, psychische und beziehungsdynamische Faktoren zusammenwirken. Gewalt - ob im privaten oder öffentlichen Raum - ist weit verbreitet. Menschen mit Behinderungen, die im Zusammenwirken von verschiedensten Faktoren vielfach als Personen unsichtbar gemacht werden, deren Bedürfnisse und Wünsche vielfach missachtet werden und die auf Grund struktureller Gegebenheiten oftmals benachteiligt sind, haben ein signifikant höheres Risiko, Formen von Gewalt ausgesetzt zu werden." (UNABHÄNGIGER MONITORINGAUSCHUSS ÖSTERREICH 2011)

Die Realität der häufigen Gewalterlebnisse erklärt sich aus dem Zusammenspiel folgender vier Risikofaktoren, die Dick Sobsey in der integrierten ökologische Theorien von Missbrauch (Sobsey zit. nach Fitzsimons 209, S. 26f) näher beschrieben hat.

Risikofaktoren für potentielle Opfer

Jede Person lebt in dem Risiko, Gewalt und Missbrauch zu erleben. Die Höhe des Risikos für Gewalterfahrungen wird durch folgende Faktoren bestimmt: das Maß an Bewusstsein für die eigenen psychischen und physischen Grenzen, die Möglichkeiten zur Grenzsetzung, Kommunikationsmöglichkeiten, körperliche Verteidigungsmöglichkeiten, die Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung, Wahlmöglichkeiten und freie Zugänge zu Alternativen der eigenen Lebenswelt. Besonders negativ wirken sich soziale Isolation, Abhängigkeit, gelernte Hilflosigkeit, gelernte Folgsamkeit und das Fehlen von Informationen aus (FITZSIMONS 2009).

Risikofaktor potentieller Täter_innen

Der zentrale Faktor für gewaltvolles Agieren ist die Einschätzung darüber, wie hoch das Risiko ist, entdeckt zu werden. Täter_innen handeln lieber im Verborgenen. Weitere Charakteristika potentieller Täter_innen sind Kontrollbedürfnisse, autoritäre Selbstbilder, mangelnde Selbstwertgefühle, Aggressionspotentiale, geringe Bindungen zu den potentiellen Opfern, entwertende Haltungen, impulsive Verhaltensmuster und Identifikationen mit missbrauchenden Rollenmodellen, wie das Schaffen von Abhängigkeitsverhältnissen und eigene Abhängigkeiten (FLIEGER 2015). Potentielle Täter_innen können Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen sein.

Risikofaktoren in der direkten Umwelt

Organisatorische Strukturen erhöhen das Gewalt- und Missbrauchsrisiko nachweislich. In Routinen, festgelegten Abläufen und institutionellen Zwängen ist die Gewaltgeneigtheit groß (UNABHÄNGIGER MONITORINGAUSSCHUSS ÖSTERREICH 2011). 90% aller Gewalthandlungen werden zu Hause (familiär und institutionell) und bei Bekannten erlebt. Der höchste Prozentsatz von sexueller Ausbeutung von Menschen mit Behinderungen findet im unmittelbaren Umfeld statt (Einrichtungen, Familie, Werkstätte etc.). In der Regel werden bei Bekanntwerden eines Gewaltvorkommnisses seitens der Einrichtung kaum wirksame Maßnahmen zum Schutz des Opfers gesetzt. (SCHÖNWIESE 2011)

Risikofaktoren in der Gesellschaft und Kultur

Die gesellschaftliche Abwertung der Gruppe von Menschen mit Behinderungen, das Verleugnen und Tabuisieren von Problemen, die Entwertung und Stigmatisierung von Opfern und das unflexible System der Behindertenhilfe sind verstärkende Faktoren für Gewalt und Missbrauch. Weitere Kennzeichen der in Strukturen eingebauten Gewalt sind die ungleiche Verteilung von Ressourcen und die ungleiche Verteilung der Entscheidungsgewalt über diese Ressourcen, wie Einkommen, Bildung, politischer Einfluss und gesellschaftliche Position. (SCHÖNWIESE 2011)

Folgende weitere Faktoren erhöhen das Risiko, Gewalt zu erleben:

Risikofaktor Alter

Drei Altersgruppen sind besonders von Gewalt betroffen: Kinder, Jugendliche und ältere Menschen. Die häufigsten Formen von Gewalt an Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sind seelische Gewalt, körperliche Gewalt und Vernachlässigungen. Die Tatsache, dass an Orten, an denen Schutz und Geborgenheit ermöglicht werden sollen, Gewalt ausgeübt wird, ist gerade im Kontext von Kindern und Jugendlichen besonders problematisch.

Die Gewaltgefährdung von älteren Menschen mit Behinderungen entsteht sowohl im Kontext mit Pflege durch nahe Angehörige im privaten Umfeld, als auch durch den Aufenthalt in Pflegeinstitutionen und deren Strukturen (UNABHÄNGIGER MOITORINGAUSSCHUSS ÖSTERREICH 2011).

Risikofaktor Geschlecht

Frauen und Männer mit Behinderungen werden aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert, indem Frauen und Männern mit Behinderungen Sexualität abgesprochen wird und indem sie als asexuelle Menschen betrachtet werden. Frauen und Männer sowie Mädchen und Buben mit Behinderungen erleben sexualisierte Gewalt. Beeinflussung und Durchführung von Unfruchtbarmachungen (Sterilisation, Vasektomie) oder Abtreibungen ohne Einverständnis sind häufig durchgeführte Gewalthandlungen.

Risikofaktor Armut

Bedingt durch erschwerte bis unmöglich gemachte Zugänge zu Bildungseinrichtungen und Erwerbsarbeitsmärkte sind Menschen mit Behinderungen überproportional häufig von Armut betroffen. Das Fehlen von finanziellen Ressourcen wirkt sich negativ auf die Möglichkeiten selbstbestimmten Lebens aus (siehe "Risikofaktor für potentielle Opfer").

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2. Überblick über mögliche persönliche Barrieren von Menschen mit Behinderungen

  • „Gelernte Hilflosigkeit ist besonders problematisch für Frauen mit Behinderung und Personen mit intellektueller Beeinträchtigung: Dienstleistungseinrichtungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten betonen die Compliance (Folgsamkeit), sie geben den Menschen wenig Entscheidungsmacht und Kontrolle. Daher haben viele behinderte Menschen gelernt, Anweisungen von Personen, die in höheren Positionen als sie selbst sind, zu befolgen. Eine Konsequenz dessen ist, dass sie Missbrauch nicht abwehren bzw. nicht darüber berichten können.
  • Geringes Selbstwertgefühl;
  • Selbstbeschuldigung: Wenn sich behinderte Menschen als Last für andere empfinden, dann kann eine Folge davon sein, dass sie sich im Fall des Missbrauchs selbst die Schuld geben.
  • Verleugnung;
  • Gefühl der Verantwortung anderen gegenüber: Dieses Gefühl kann dazu führen, dass sich behinderte Personen mit Missbrauchssituation abfinden.
  • Angst vor Vergeltung;
  • Angst vor dem Unbekannten;
  • Angst davor, die Obsorge für Kinder zu verlieren.
  • Mangelndes Wissen und mangelnde Fertigkeiten, vor allem mangelnde Information darüber, was Missbrauch ist und dass man sich damit nicht abfinden muss. Personen mit Behinderung werden entmachtet, wenn sie keine Informationen darüber erhalten, wie sie sich schützen bzw. wie sie ihre eigenen Interessen durchsetzen können.
  • Armut: materielle Abhängigkeit bzw. daraus resultierende Alternativlosigkeit." (FITZSIMONS nach SCHÖNWIESE 2011)

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3. Wo werden Gewaltsituationen am häufigsten erlebt?

Die Orte, an denen am häufigsten Gewalt und Missbrauch erlebt werden, sind die, an denen Menschen wohnen. Die meisten Gewalthandlungen werden von Menschen ausgeführt, die den Opfern bekannt sind (FITZSIMONS 2009). Pflege- und Unterstützungssituationen führen in der Realität häufig zu Grenzüberschreitungen und Gewaltgefährdungen.

Gewalt in Friedenszeiten passiert am häufigsten im sogenannten direkten Umfeld oder sozialen Nahraum. 90% aller Gewalthandlungen werden zu Hause (familiär und institutionell) und bei Bekannten erlebt. An dunklen Orten, auf der Straße, in öffentlichen Parks … ist die Gefahr von Gewalt weitaus geringer als in den eigenen vier Wänden. (BMFJ 2001)

3.1 Häusliche bzw. familiäre Gewalt

Häusliche Gewalt bezeichnet Gewalttaten zwischen Menschen, die in einem Haushalt zusammen leben. Dazu gehört die Gewalt in Paarbeziehungen, Gewalt an Kindern, Gewalt von Kindern an den Eltern, Gewalt zwischen Geschwistern und Gewalt an im Haushalt lebenden älteren Menschen.

"Häusliche Gewalt ist ein komplexes System von Gewalt und Kontrolle innerhalb einer – familiären oder familienähnlichen – Beziehung. Dies unterscheidet sie von anderen Formen von Gewalt, wie z. B. der Schlägerei in einem Gasthaus, und erschwert es Opfern extrem, sich aus der Gewaltbeziehung zu lösen."

(DIAGNOSE GEWALT 2014)

Idealbild der Familie

Familie gehört zu den Begriffen, die emotional besonders hoch besetzt sind. Das Idealbild der "Einheit Familie" ist jedoch paradox. Anstelle einer horizontalen Gleichwertigkeit bestehen in der Regel vertikale Hierachien: also Über- und Unterordnungen. Übergeordnete Positionen werden häufig durch ökonomische (Haupteinkommen) und geschlechtsspezifische Faktoren bestimmt und werden häufig mittels Machtstrategien erhalten. Gewaltausübung ist eine mögliche Strategie, wie folgendes konkretes Beispiel aus einem Forschungsbericht zeigt:

„Der Großvater wollte das einzige Enkelkind fördern, ich sollte hören können. Ich hab damals ein Hörgerät um den Hals getragen, mit den Kabeln ins Ohr. Da hat er mir manchmal draufgeschlagen auf das Ohrstück und dann habe ich geblutet. Es war so furchtbar. Und der Keller mit den Hörtests! Ich hatte solche Angst. Es war so unheimlich für mich als kleines Kind. Und der Großvater hat mich dort hineingezerrt.“

(Beispiel aus Österreich, MANDL 2014)

Frauen mit Behinderungen berichten sehr häufig von psychischer Gewalt, die sie im familiären Kontext erleben:

„Psychische Gewalt wurde von den Frauen sehr häufig angesprochen: In allen Ländern berichteten Frauen [mit Behinderungen] darüber, abwertend behandelt, bedroht, unterdrückt und eingeschüchtert worden zu sein. Insbesondere Frauen, die zu Hause lebten und sich von ihren PartnerInnen, die manchmal zugleich ihre Betreuungspersonen waren, abhängig fühlten, sprachen über Isolation, Manipulation und Kontrolle.“

(MANDL 2014)

Alltagsmythen

Alltagsmythen verharmlosen häusliche Gewalt. Gesellschaftlich verbreitete Einstellungen und Kommentare wie „In jeder Ehe gibt’s manchmal Krach“, "A gesunde Watschen hat nu niemand gschadet", "In einer Familie müssen alle zusammenhalten" oder auch "Wenn einer etwas braucht, müssen es die anderen liefern". Mythen erschweren, dass Gewaltbetroffene über ihre Situation sprechen und verhindern, dass sie adäquate Hilfe erhalten. Sie können dazu führen, dass Betroffene sich selbst die Schuld an ihrer Situation geben und es vermeiden, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Sie beinhalten in der Regel eine Verdrehung der Verantwortlichkeit und suggerieren nicht vorhandene Einflussmöglichkeiten der von Gewalt betroffenen Personen. Sie lenken von der tatsächlichen Verantwortung ab, tragen maßgeblich zu einer Isolierung bei und bedeuten eine zusätzliche Gefährdung. (vgl. Website Diagnose Gewalt)

3.2 Gewalt in Betreuungseinrichtungen bzw. Institutionen 

Systeme, in denen am häufigsten Gewalt erlebt wird, sind geschlossene Systeme. Diese Systeme stehen in keinem oder minimalem Austausch mit anderen Systemen. Alles von außen Kommende wird als feindlich dargestellt. Außenkontakte werden eingeschränkt, verhindert, schwer zugänglich gemacht, abgewertet und/oder verboten. Es wird verhindert, dass Vertrauensbeziehungen zu Menschen außerhalb aufgebaut werden. Denn zu groß ist die Gefahr, dass diesen Menschen interne Geheimnisse anvertraut werden. Besuche werden selten oder nie eingeladen oder erlaubt.

Das Abschotten hat nicht nur das Ziel, Aussprachen unmöglich zu machen, sondern es sollen auch Vergleiche zu anderen Systemen verhindert werden. Zu diesem Zweck werden potentielle Vergleichsmodelle bereits vorbeugend als gefährlich oder schlecht bezeichnet. (PERNER 1999)

Einrichtungen der Behindertenhilfe können solche abgeschotteten Orte sein, wie folgende Beispiele zeigen:

„Eine Forschungsteilnehmerin erzählte in einem Interview, dass sie aus ihrer WG ausziehen wollte und dabei auf massiven Widerstand seitens ihrer Betreuungspersonen stieß: Die benötigte Begleitung zu einer entsprechenden Beratungsstelle wurde ihr verweigert. Als sie diese 2012 letztlich heimlich und in Begleitung einer Freundin aufsuchte, durchsuchten Betreuer_innen bei der Rückkehr in die WG ihren Rucksack und zerstörten vor ihren Augen die gefundenen Informationsblätter zum Leben in der eigenen Wohnung.“ (ANONYM, in KREMSNER 2014)

 

„In dem Heim, in dem ich früher gewohnt habe, habe ich 18 Jahre lang meine Freizeit vorgeschrieben bekommen. Die Betreuer_innen haben mir gesagt, was ich zu tun habe. Sie haben bestimmt, wo ich mitmachen musste. Ich musste in die Kirche gehen, auch wenn ich keine Lust dazu gehabt habe. Oder sie haben mich so lange überredet, bis ich doch mit spazieren gegangen bin. Eigentlich wollte ich aber viel lieber zu Hause bleiben. Ich musste ins Bett gehen, wenn die Betreuer_innen Dienstschluss gehabt haben. Ich musste essen, was die anderen gekocht hatten. Auch, wenn ich das nicht essen mochte. Das war ganz schrecklich. In meinen eigenen 4 Wänden muss ich doch selber bestimmen können, was ich tun will und was nicht.“ (OBERMAIR 2005)

„Menschen mit Behinderungen die in Einrichtungen leben oder arbeiten werden oft bestraft. Auch ich habe in Einrichtungen gelebt und gearbeitet. Auch ich wurde in den Einrichtungen missbraucht. Ich wurde zum Beispiel bestraft, wenn ich in die Hose oder ins Bett gemacht habe. Dann habe ich Schläge am Hintern bekommen. Und ich musste ohne Essen ins Bett gehen.“ (WIBS 2010)

Auch MitarbeiterInnen von Behinderteneinrichtungen können die Realität dort kritisch wahrnehmen:

„Und ein weiteres Risiko ist meiner Meinung nach, und das gilt besonders für Leute, die länger in Institutionen oder Tagesstrukturen sind, wenn man da einmal in diesem ganzen Alltag und in diesem Anpassungsprozess und in diesem Betreut-Werden drin ist ein paar Jahre, ist es schwierig da wieder rauszukommen oder sich umzugewöhnen oder sich dann weiterzuentwickeln. Also, auch das in der Institution-Sein ist sicherlich nicht förderlich. Also, ich beobachte schon, dass eigentlich wir von den Klienten ziemlich arge Sachen verlangen, weil einerseits wollen (…) Integrationsbegleiter, dass sie selbstständig sind und was riskieren, was ausprobieren, was Neues machen, nach außen gehen (…) und andererseits wird hier in der Tagesstruktur von der Institution eine ziemlich hohe soziale Anpassung und Unselbstständigkeit gefördert. Durch das, dass halt alles gemacht wird für die Leute, dass das Essen ihnen bestellt wird, ihnen auf den Teller gegeben (...). Also, das sind eigentlich sehr widersprüchliche Botschaften, die da an unsere selbstständigen Klient_innen herangetragen werden“ (Interview Integrationsbegleiter, GENNER 2014)

Die Berichte über die Ausmaße von Gewalt und Missbrauch in Einrichtungen sind erschreckend. Die dramatischen Auswirkungen hierfür liegen vor allem

  • am Mangel an Intimsphäre,
  • an der Isolation,
  • am Kontrollverlust über das eigene Leben,
  • an keinen oder sehr eingeschränkten Möglichkeiten zu sozialen Kontakten außerhalb der Einrichtungen.

„Ein Leben in Behinderteneinrichtungen scheint diese Risiken zu verschärfen. Die Wissenschaftlerinnen sprechen von struktureller Gewalt in Heimen: Ein Mangel an Intimsphäre und Reglementierungen des Alltags. Ein Fünftel der Frauen in Einrichtungen hat kein eigenes Zimmer, viele leben in Wohngruppen mit fünf und mehr Bewohnern, die sie sich nicht selbst aussuchen können. Zwei Fünftel können in ihrer Einrichtung ihre Toiletten und Waschräume nicht abschließen. Viele sehen sich regelmäßig durch Lärm und Beschimpfungen ihrer Mitbewohner belästigt, von manchen Betreuern fühlen sie sich bevormundet. Kinder haben Frauen in Einrichtungen nur selten und in einer Paarbeziehung leben nur wenige – die mangelnden Rückzugsmöglichkeiten in Einrichtungen scheinen dies zu verhindern.“ (MASKOS 2012)

3.3 Besondere Gefährdung: Wohnen und sexualisierte Gewaltformen

„McCarthy (1999) bestätigt, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten in Institutionen oft dazu gezwungen sind, im Freien oder in abgelegenen Räumen sexuell aktiv zu sein. Hastiger Sexualverkehr "hinter'm Schuppen" erlaubt Individuen allerdings kaum Zeit zu entscheiden, ob sie dem sexuellen Akt überhaupt zustimmen. Dies erhöht das Risiko, sexualisierte Gewalt zu erfahren.“ (HOLLMOTZ 2009).

„Sexualisierte Gewalt war eines der am häufigsten genannten Gewaltdelikte. Vor allem in ihrer Kindheit und Jugend waren Frauen unterschiedlichsten Formen sexualisierter Gewalt ausgesetzt, von Berührung ihrer Genitalien und sexueller Belästigung in der Öffentlichkeit bis hin zu schweren Formen wie wiederholter Vergewaltigung, manchmal über Jahre hinweg. Die in der Gesellschaft noch immer vorherrschende Sichtweise, Mädchen und Frauen mit Behinderungen seien ‚asexuell‘, begünstigt das Überschreiten von Grenzen und die unentdeckte Ausübung sexueller Gewalt. Des Weiteren kann das Fehlen von Sexualerziehung dazu führen, dass Mädchen und Frauen mit Behinderungen oft ihre eigenen Grenzen nicht kennen und daher nie gelernt haben, ‚Nein‘ sagen zu dürfen.“ (Beispiel aus Österreich, MANDL 2014)

„Und so schnell hab ich gar nicht schauen können, liegt er bei mir im Bett herinnen (…). War das der Pfleger. Und er hat‘s Piepserl mitgehabt und ja, er wollt halt eindeutig was von mir und dann sag ich, er soll sich schleichen und dann hat er halt immer meine Hand genommen: „Hast leicht noch nie ein Glied in der Hand gehabt? Hast leicht überhaupt noch nichts mit einem Mann gehabt und willst das nicht einmal wissen?“ (Beispiel aus Österreich, MANDL 2014)

Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt in der Familie und Institutionen:

  • Isolation: Das Fehlen von Gleichaltrigen-Sexualität und entwicklungsadäquaten sexuellen Erfahrungen und das Fehlen von Wissen über Sexualität
  • Abhängigkeit: Ein erhöhtes Ausmaß von wirtschaftlicher und emotionaler Abhängigkeit von den primären Bezugspersonen als Folge von Isolation
  • Ambivalenz: Erleben von Sexualität als Form der Zuwendung von emotional positiv besetzten Bezugspersonen bei gleichzeitiger Ablehnung der damit verbundenen Instrumentalisierung
  • Tabuisierung: Mangelndes explizites Wissen und Verstehen über sexuelle Vorgänge und Beziehungen
  • Mögliche eingeschränkte lautsprachliche Kommunikation als Ursache der Schwierigkeit der Vermittlung von Erlebnissen
  • Die Zuschreibung von mangelnder Glaubwürdigkeit als Grundlage der Verleugnung durch die Umwelt
  • Der adoleszente Ablösungsprozess verschiebt das (oben beschriebene) ambivalente Gleichgewicht.(BERGER 2005)

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Literatur:

Berger, Ernst (2005). Psychosen nach schwerer Traumatisierung - Das Ophelia-Syndrom. erschienen in: Med. f. Mensch. Behind. 2, 23-25. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/berger-psychosen.html

Bundesministerium für Familien und Jugendliche (BMFJ) (2001). Gewaltbericht Österreich, Gesamtbericht. Im Internet: http://www.bmfj.gv.at/familie/gewalt/forschung/gewaltbericht.html  

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2013). Lebenssituationen und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland, Ergebnisse der quantitativen Befragung, Endbericht. http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Lebenssituation-und-Belastungen-von-Frauen-mit-Behinderungen-Langfassung-Ergebnisse_20der_20quantitativen-Befragung,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf

Fitzsimons, Nancy (2009). Combating Violence and Abuse in den Lives of People with Disabilities. A Call to Action. Baltimore, London, Sydney: Paul Brooks Publishing.

Flieger, Petra: Nirgends ein sicherer Ort. Gewalt an Menschen mit Behinderungen. Erschienen in juridikum 1/2015, 108 – 119. Wiederveröffentlichung im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/flieger-sicher.html   

Genner, Sonja (2014). Weil ich arbeiten will. Praxeologische und rechtsanthropologische Perspektiven auf die Arbeit von Erwachsenen mit sogenannter geistiger Behinderung in Wiener Beschäftigungswerkstätten. http://bidok.uibk.ac.at/library/genner-beschaeftigungswerkstatt-ma.html

Hollomotz, Andrea (2009). Selbstbestimmung, Privatsphäre und Sexualität in Wohneinrichtungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten in England. Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 2/2009, Thema: Wir vertreten uns selbst! , S. 66-75. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh-2-09-hollomotz-selbstbestimmung.html

Kremsner, Gertraud (2014): Macht und Gewalt in den Biographien von Menschen mit Lernschwierigkeiten – eine (forschungsethische) Herausforderung? Erschienen in: Schuppener, S.; Bernhardt, N.; Hauser, M. und Poppe, F. (Hrsg.): Inklusion und Chancengleichheit. Diversity im Spiegel von Bildung und Didaktik. Bad Heilbrunn: Klinkardt; Seite 61-67. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/kremsner-biographie.html

Mandl, Sabine (2014). Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen. Abschließender Projektbericht. http://bidok.uibk.ac.at/library/mandl-daphne.html

Maskos, Rebecca (2012). Übersehene Gewalt. In: Mondkalb #1/2012 http://mondkalb-zeitung.de/uebersehene-gewalt/

Obermair (2005). In: Wibs: Das Gleichstellungsbuch 2005. http://bidok.uibk.ac.at/library/Wibs-gleichstellungsbuch-l.html

Perner, Rotraud A. (1999). Darüber spricht man nicht: Tabus in der Familie - Das Schweigen durchbrechen. München: Kösel Verlag. Stellungnahme des Österreichischen Monitoringausschusses zu Gewalt und Missbrauch (2011). In Schwerer und in Leichter Sprache: https://monitoringausschuss.at/stellungnahmen/gewalt-und-missbrauch-24-02-2011/

Schönwiese, Volker (2011): Pädagogische Machtverhältnisse, Gewalt und Behinderung. In: Spannring, Reingard; Arens, Susanne; Mecheril, Paul: bildung - macht - unterschiede. 3. Innsbrucker Bildungstage. Innsbruck: innsbruck university press, S. 191 - 212. Wiederveröffentlichung im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/schoenwiese-gewalt.html

Unabhängiger Monitoringausschuss Österreich (2011): Gewalt und Missbrauch an Menschen mit Behinderungen. http://bidok.uibk.ac.at/library/monitoringausschuss-gewalt.html

Wibs (2010). Missbrauch. http://bidok.uibk.ac.at/library/wibs-missbrauch-l.html

Website:

Diagnose Gewalt. http://www.diagnose-gewalt.eu/front-page

 

 

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