Gewalt und Missbrauch an Menschen mit Behinderungen

Stellungnahme

Themenbereiche: Recht
Textsorte: Bericht
Releaseinfo: Die folgende Stellungnahme wurde auf Grundlage einer öffentlichen Sitzung vom 28.10.2010 und der dazu erfolgten Rückmeldungen erstellt.www.monitoringausschuss.at/sym/monitoringausschuss/protokolle
Copyright: © 2011 Monitoringausschuss

Vorwort

Die folgende Stellungnahme wurde auf Grundlage einer öffentlichen Sitzung[1] und der dazu erfolgten Rückmeldungen erstellt. Der Monitoringausschuss dankt den TeilnehmerInnen der Sitzung und den VerfasserInnen von Rückmeldungen ausdrücklich.

Seinen besonderen Dank spricht der Ausschuss jenen Personen aus, die sehr mutig über ihre persönlichen Erfahrungen als Opfer von Gewalt bzw. als ZeugInnen von Gewalt in der Sitzung selbst und auch in Rückmeldungen berichtet haben. Der Ausschuss nimmt dies zum Anlass, um die Wichtigkeit, über Vorfälle von Gewalt öffentlich zu sprechen, zu unterstreichen.

Aus Gründen des Datenschutzes sieht der Ausschuss von einer Veröffentlichung der Rückmeldungen ab.



[1] Siehe Protokoll der Sitzung vom 28. Oktober 2010 unter www.monitoringausschuss.at/sym/monitoringausschuss/protokolle.

1. Einleitung

Berichte über Gewalt an Menschen mit Behinderungen in Österreich, publik geworden im Jahr 2010:

Wenn ich als Kind in die Hose gemacht habe, bekam ich lange nichts zu essen. Ich wurde geschlagen, wenn ich schlimm war, oder sie haben mich an den Haaren gezogen. Am Badetag wurde das Wasser nicht gewechselt. Wenn du als Zehnter dran warst, war es dreckig und kalt. Aber am schlimmsten war das Essen - das haben sie uns reingestopft.[2]

Es stehen in den verschiedenen Stationen noch 20 Netzbetten in Gebrauch. Außerdem werden auch Drei- oder Fünfpunkt-Fixierungen und/oder medikamentöse Maßnahmen eingesetzt.[3]

Mehrere gebrochene Knochen, zahlreiche Hämatome sowie eine niemals geklärte, aber lebensgefährliche Nierenblutung. Auch der Verdacht des sexuellen Missbrauchs steht im Raum.[4]

Den Tätigkeiten Vorrang einzuräumen, die den reibungslosen Ablauf des Betriebs garantierten. (...) Die Pflicht zur Bedürfnislosigkeit und das Abtöten der Empfindungen war oberstes Gebot (...). Zärtlichkeitswünsche galten als Unbotmäßigkeit, Störung des Betriebes.[5]

Der Betreuerin ist aus den nichtigsten Gründen die Hand ausgerutscht, sie hat auf völlig bewegungsunfähige Kinder eingeschlagen, wenn die nicht brav waren, nicht aufessen wollten oder sich in die Hose gemacht haben.[6]

Die Wahrscheinlichkeit des Bekanntwerdens oder Aufgedecktwerdens von Übergriffen ist gering: Dass die Opfer Schwierigkeiten im sprachlichen Ausdruck haben oder dafür möglicherweise Unterstützung benötigen, ist die eine Seite, die andere ist, dass sie nicht ernst genommen werden. Soziale Isolation, eine wegschauende Öffentlichkeit und die Abgeschlossenheit der Einrichtungen verstärken diesen Effekt.[7]

Gewalt ist ein komplexes Geschehen, bei dem gesellschaftliche, soziale, psychische und beziehungsdynamische Faktoren zusammenwirken. Gewalt – ob im privaten oder öffentlichen Raum – ist weit verbreitet. Menschen mit Behinderungen, die im Zusammenwirken von verschiedensten Faktoren vielfach als Personen unsichtbar gemacht werden, deren Bedürfnisse und Wünsche vielfach missachtet werden und die auf Grund struktureller Gegebenheiten oftmals benachteiligt sind, haben ein signifikant höheres Risiko, Formen von Gewalt ausgesetzt zu werden.



[2] Kurier, Ausgeliefert: Wenn Helfer zu Tätern werden, Anna Thalhammer, Hannes Uhl, 9. Mai 2010.

[3] Bericht des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) an die österreichische Regierung über seinen Besuch in Österreich vom 15. bis 25. Februar 2009, CPT/Inf (2010) 5, Absatz 134.

[4] Die Presse, Wien: Misshandlung in Behinderten-WG?, Andreas Wetz, 13. April 2010.

[5] Horst Schreiber, Im Namen der Ordnung, Heimerziehung in Tirol (2010), 320.

[6] ECHO 53.

[7] Der Standard, Unter dem Deckmantel der Nächstenliebe, Kommentar der anderen, Volker Schönwiese/Petra Flieger, 24. März 2010.

2. Formen von Gewalt

Gewalt und Missbrauch äußern sich in verschiedenster Art und Weise. Jugend am Werk beschreibt sie in einer Broschüre[8]:

  • Jemand belästigt Sie sexuell.

  • Jemand schlägt Sie oder greift Sie an.

  • Jemand sperrt Sie ein.

  • Jemand beleidigt Sie.

  • Jemand bedroht Sie.

  • Jemand erpresst Sie.

  • Jemand macht Ihnen Angst.

  • Sie werden nicht gut gepflegt.

  • Jemand erzählt Ihnen wichtige Dinge nicht, die Sie betreffen.

  • Jemand bestimmt über Sie und nutzt seine Macht aus.

  • Jemand erzählt gemeine Dinge über Sie.

Die Grenzen zwischen einem mahnenden Wort und verbaler Gewalt, zwischen einer Reaktion und physischer Gewalt, zwischen einer unabsichtlichen Berührung und sexuellem Missbrauch sind fließend. Es werden fünf Haupttypen von Gewalt und Missbrauch unterschieden:[9]

  • Körperliche Übergriffe und Verletzungen;

  • Vernachlässigung;

  • Finanzielle Ausnützung;

  • Sexueller Missbrauch;

  • Psychischer Missbrauch.

Die Abstraktion von Gewalt und Missbrauch macht den Umgang damit vermeintlich „leichter.“ Sie ist auch für Grundlagendiskussionen, wissenschaftliche Auseinandersetzungen und dergleichen notwendig. Gewalt und Missbrauch sprengen mitunter die Vorstellungskraft dessen, was ein Mensch einem anderen antun kann. Auch deshalb sind Abstraktionen notwendig, um mithilfe eines Substrats über vielfach Unaussprechliches trotzdem reden zu können. Im Folgenden werden beispielhaft Aspekte von Missbrauch skizziert. Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, soll jedoch – ohne mit Einzelfällen zu arbeiten – eine Konkretisierung und damit eine Annäherung an dieses schwierige Thema ermöglichen:[10]

  • Übermäßige Medikamentengabe, Zurückhalten von Medikamenten

  • Beschädigung, Zerstörung oder Wegnahme von Hilfsmitteln oder die Androhung, dies zu tun

  • Vorenthalten von Pflege- und Hilfstätigkeiten; Weigerung, die Unterstützung so durchzuführen, wie sie erwünscht ist; die Androhung, dass Pflegetätigkeiten nicht durchgeführt werden

  • Zu heißes Wasser bei der Körperpflege, Verbrühungen

  • Fixierungen, gerade auch im Rahmen psychiatrischer Behandlung

  • Emotionale und soziale Vereinsamung und Vernachlässigung

  • Vorenthalten von Flüssigkeiten

  • Einholen der „Zustimmung“ zu medizinischen Maßnahmen unter Ausnützung eines Abhängigkeitsverhältnisses

  • Nicht-Akzeptieren von bzw. Eindringen in die Privatsphäre

  • Vorenthalten von Unabhängigkeit bzw. Selbstbestimmung

  • Schaffen von nicht erwünschter oder unnötiger Kontrolle über das Leben einer Person; Tratsch

  • eine Person ihrer Behinderung beschuldigen

  • Kritik bzw. Wut darüber, dass eine Person nicht ausreichend dankbar ist für Pflege oder Unterstützung

  • negative Kommentare über die Behinderung

  • Erzwungener Geschlechtsverkehr

  • Geschlechtsverkehr, der nicht ausdrücklich von beiden gewollt wird

  • Unerwünschte Berührungen, unerwünschtes Streicheln

  • Nicht-Beachten der Intimsphäre

  • Frauenverachtende Redeweisen

  • Übergriffe bei der Pflege: unerwünschte Berührungen bei Assistenzleistungen

  • Herzeigen von pornographischen Heften oder Filmen

Auch das Überreden zur oder die Durchführung einer Unfruchtbarmachung (Sterilisation, Vasektomie) zum Zweck der Beruhigung von Eltern und Professionellen, die sich damit auch sexualpädagogische Aufklärung ersparen, ist eine Form von Gewalt.[11] Die vermeintliche biologische Sicherheit – vor einer ungewollten Schwangerschaft – setzt Gewalt fort: Täter wiegen sich in der Gewissheit, dass ihre Gewalthandlung folgenlos bleibt.[12]

Fremdbestimmung von Menschen mit Behinderungen, die sich gerade auch im Zuge einer Sachwalterschaft auswirkt, kann missbraucht werden: neben der Zustimmung von SachwalterInnen zu medizinischen Eingriffen ohne Zustimmung des/der Betroffenen, gibt es zahlreiche Entscheidungen, die über den Kopf der besachwalteten Person hinweg getroffen werden, die als Gewalt und Missbrauch empfunden werden. Auch behördliche Entscheidungen, wie zB die Kindesabnahme infolge einer Behinderung der Eltern kann ein Akt von Gewalt sein.



[8] Jugend am Werk, Gewalt tut weh, interne Broschüre, Februar 2011.

[9] Hochkommissariat für Menschenrechte, Factsheet Nr. 31 Right to Health, 17.

[10] Siehe auch: Volker Schönwiese, Positionspapier für das Treffen der Steuerungsgruppe Opferschutz des Landes Tirol, Juni 2010, 4 (unveröffentlicht); zitiert nach: Nancy Fitzsimons, Combating Violence and Abuse of People with Disabilities. A Call to Action (2009), 55.

[11] Volker Schönwiese, Positionspapier für das Treffen der Steuerungsgruppe Opferschutz des Landes Tirol, Juni 2010, 4 (unveröffentlicht).

[12] Volker Schönwiese, Positionspapier für das Treffen der Steuerungsgruppe Opferschutz des Landes Tirol, Juni 2010, 4 (unveröffentlicht).

3. Risikofaktoren

Die Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden, kann sich durch einige Faktoren drastisch erhöhen. Im Folgenden sind einige dieser Risikofaktoren angeführt:

  1. Bildungsmangel ist auch eine Einschränkung der Möglichkeiten, Grenzen zu setzen

    Auf Grund von Exklusion in wesentlichen Gesellschaftsbereichen, v.a. Bildung und sozialen Räumen der gesellschaftspolitischen Mitte, haben Menschen mit Behinderungen vielfach ein schlecht ausgebildetes Bewusstsein für ihre eigenen psychischen und physischen Grenzen. Die schlechtere Position, Grenzen zu setzen, erhöht die Wahrscheinlichkeit für Übergriffe. Die dramatischen Auswirkungen von mangelnder Sexualerziehung wurden erst jüngst thematisiert.[13]

  2. Strukturelle Faktoren

    Strukturen, baulicher, vor allem aber organisatorischer Art, erhöhen das Gewalt- und Missbrauchsrisiko nachweislich.[14] In Routinen, festgelegten Abläufen und institutionellen Zwängen ist die Gewaltgeneigtheit größer. Das Zusammenwirken von schlechten Rahmenbedingungen, v.a. mangelnden personellen Ressourcen, führt vielfach dazu, dass auf individuelle Bedürfnisse nur schlecht bzw. gar nicht eingegangen werden kann. Die Verletzung der Integrität von Menschen mit Behinderungen ist vielfach die Folge.

    Strukturelle Faktoren können dazu führen, dass Menschen mit Behinderungen untereinander gewalttätig werden.

    Die Tatsache, dass an Orten, an denen Schutz und Geborgenheit ermöglicht werden sollten, Gewalt geübt wird, wirkt gerade im Kontext von Kindern und Jugendlichen besonders problematisch.

    Der höchste Prozentsatz von sexueller Ausbeutung von Menschen mit Behinderungen findet in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld statt (Einrichtungen, Familie, geschützte Werkstätte etc.). In der Regel werden bei Bekanntwerden eines Gewaltvorkommnisses seitens der Einrichtung kaum wirksame Maßnahmen zum Schutz des Opfers gesetzt.[15]

  3. Alter

    Die häufigste Form von Gewalt an Kindern mit Behinderungen ist seelische Gewalt, so z.B. Aussagen, Handlungen und Haltungen, die dem Kind Ablehnung, Demütigung und ähnliche geringschätzende und missachtende Werthaltungen vermitteln. Eine andere Form von Gewalt, die Kindern und Jugendlichen, vor allem auch Kindern mit Behinderungen häufig widerfährt, ist Vernachlässigung: die Missachtung oder Negierung von grundlegenden physischen und/oder emotionalen Bedürfnissen.

    Die Gewaltgefährdung von älteren Menschen mit Behinderungen entsteht sowohl im Kontext der Pflege durch nahe Angehörige im privaten Umfeld als auch durch den Aufenthalt in Pflegeinstitutionen und deren Strukturen.[16]

  4. Geschlecht

    Frauen, aber auch Männer[17] mit Behinderungen werden auf Grund ihres Geschlechts diskriminiert. D.h. sie werden oft gerade auch deshalb diskriminiert, weil ihnen ihre Sexualität abgesprochen wird und sie als A-sexuelle gesehen und „behandelt“ werden. Von Gewalt auf Grund der Zuschreibung des Geschlechts sind viele Menschen mit Behinderungen betroffen, vor allem jedoch Frauen mit Behinderungen.[18]

    Die Frage nach sexueller Belästigung wurde in einer Studie 1996 von 87,7% der befragten Frauen beantwortet: Von diesen gaben rund 62,3% an, im Lauf ihres Lebens einmal bzw. mehrmals sexuell belästigt worden zu sein. 89,2% der Frauen beantworteten die Frage nach der sexuellen Gewalt, rund 64% der Frauen gaben an, einmal oder mehrmals in ihrem Leben sexuelle Gewalt erfahren zu haben. Das ist mehr als jede zweite Frau. Nach diesem Ergebnis sind Frauen mit Behinderung in weit höherem Ausmaß von sexueller Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderung. Laut einer vergleichbaren Studie haben 34% der nichtbehinderten Frauen sexuelle Gewalterfahrung.[19]

  5. Kommunikation

    Die grundsätzliche Schwierigkeit, über Gewalterfahrungen zu sprechen, ist für Menschen mit Behinderungen erschwert. Neben Bildungsarmut sind intellektuelle Beeinträchtigungen, Nonverbalheit und andere Kommunikationsbeeinträchtigungen, wie zB Minderheitensprachen und mangelnde Sprachkenntnisse von MigrantInnen, die mittels adäquater Unterstützung überwunden werden können, maßgebliche Risikofaktoren. In Ermangelung von Gebärdensprachkompetenz können Lehrkräfte und Aufsichtspersonen nicht rechtzeitig eingreifen, wenn sich gehörlose Kinder in Gebärdensprache gewalttätig äußern.[21]

    Permanente Kommunikationsbarrieren im Alltag, auch im Familienleben, führen zu einer erhöhten Frustration, gleichzeitig aber auch zu einer Verringerung der Möglichkeiten, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen und Grenzen zu kommunizieren.

  6. Multiple Diskriminierung

    Gerade in der Kumulation verschiedener Risikofaktoren steigt die Wahrscheinlichkeit, Gewalt oder Missbrauch ausgesetzt zu werden, eklatant.[22] So können z.B. soziale Herkunft, Geburtsort, Migrationshintergrund und ähnliche Faktoren segregieren und damit die Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden, ungleich erhöhen.



[13] Report by the UN Special Rapporteur on Education, A/65/162, Absatz 62.

[14] Zu struktureller Gewalt, siehe auch die Stellungnahme des Ausschusses zu Armut.

[15] Aiha Zemp, Erika Pircher, Heinz Schoibl, Sexualisierte Gewalt im behinderten Alltag, Jungen und Männer mit Behinderung als Opfer und Täter, Projektbericht, unter Mitarbeit von Christine Neubauer, GenderLink - Netzwerk für Sozialforschung, August 1997, Bundesministerin für Frauenangelegenheiten und Verbraucherschutz, http://bidok.uibk.ac.at/library/zemp-gewalt.html.

[16] BMASK: Übergriffe, Gewalt und Aggression gegen ältere Menschen.

[17] Hermaphroditen, doppelgeschlechtliche Individuen, sollten hier nicht unerwähnt bleiben.

[18] Siehe dazu auch: BMASK: Übergriffe, Gewalt und Aggression gegen ältere Menschen, sowie Aiha Zemp, Erika Pircher, Heinz Schoibl, Sexualisierte Gewalt im behinderten Alltag. Jungen und Männer mit Behinderung als Opfer und Täter, Projektbericht, unter Mitarbeit von Christine Neubauer, GenderLink - Netzwerk für Sozialforschung, August 1997, Bundesministerin für Frauenangelegenheiten und Verbraucherschutz, http://bidok.uibk.ac.at/library/zemp-gewalt.html.

[19] Aiha Zemp, Erika Pircher, Weil das alles wehtut mit Gewalt, Eine Studie unter Mitarbeit von Elfriede Ch. Neubauer, Die Schriftenreihe der Frauenministerin hat das Ziel, Ergebnisse von Projekten, Erhebungen und Analysen zu frauenspezifischen Themen einem interessierten Fachpublikum zugänglich zu machen; Bundesministerin für Frauenangelegenheiten und Verbraucherschutz 1996; http://bidok.uibk.ac.at/library/zemp-ausbeutung.html.

Die bereits erwähnten Unfruchtbarmachungen[19] sind eine dramatische Form von Gewalt auf Grund des Geschlechts.

[1919] Siehe 2. Formen von Gewalt, Seite 3.

[21] Stellungnahme des ÖGLB zum Diskussionsentwurf des Monitoringausschusses.

[22] Siehe PP (p) und Artikel 6 Konvention.

4. Weitere Probleme

Die Diskussion über Gewalt und Missbrauch, insbesondere im privaten und familiären Bereich, ist mit einem gesellschaftlichen Tabu belegt, dass die Thematisierung prinzipiell schwierig macht; der Meinungsaustausch über Gewalt und Missbrauch an Menschen mit Behinderungen wird durch das doppelte Tabu – Beeinträchtigung und Gewalt – belegt.

Erschwerend kommt hinzu, dass es prinzipiell wenig Datenmaterial über die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen gibt. Die (Nicht)Erfassung von Gewalt, Missbrauch und anderen Übergriffen ist keine Ausnahme. Im Gegenteil: die grundsätzliche gesellschaftliche Tabuisierung von Gewalt wird durch die Beeinträchtigungen bzw. Behinderungen noch verstärkt.

Ausnahmeregelungen auf Grund von Beeinträchtigung bzw. Behinderung, so auch im Strafrecht, zB werden Sexualdelikte gegen Menschen mit Behinderung vielfach unter § 205 StGB (Sexueller Missbrauch einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person, vormals Schändung) abgehandelt, erschweren nach erlittenem Unrecht den Zugang zu Gerechtigkeit. Aus dem Kriterium der „Wehrlosigkeit“ wird eine mildere Bestrafung abgeleitet, entgegen der Schieflage, die gerade durch die „Wehrlosigkeit“ entsteht und deren Ausnutzung so besonders verwerflich ist. Siehe dazu die jüngst ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Deutschland.[23]

Problematisch ist auch die mangelnde Trennung zwischen der Vergabe von Förderungen, zB für Unterbringung, dem Evaluator dieser Förderungen und der Überprüfung von Gewaltvorwürfen in geförderten Institutionen.



[23] Beschluss des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe, 1 StR 580/10, 12. Jänner 2011; http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2011&Sort=3&nr=54890&linked=bes&Blank=1&file=dokument.pdf.

5. Menschenrechtsschutz – Verpflichtungen Österreichs

Österreich hat sich mehrfach zum Schutz vor Gewalt und Misshandlungen verpflichtet: Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) Frauenrechtskonvention (CEDAW); Kinderrechtskonvention; Anti-Folterkonvention (UN, CAT); Anti-Folterkonvention (Europarat, ECPT) und nunmehr die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.[24]

Jeder Mensch mit Behinderungen hat gleichberechtigt mit anderen das Recht auf Achtung seiner körperlichen und seelischen Unversehrtheit.[25]

Österreich gewährleistet, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit genießen.[26]

Österreich ist verpflichtet, alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial-, Bildungs- und sonstigen Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wohnung vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, einschließlich ihrer geschlechtsspezifischen Aspekte, zu schützen.[27]

Niemand darf ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden.[28]



[24] BGBL. 590/1978, BGBL. 443/1982, BGBL. 7/1993, BGBL. III 155/2008.

[25] Artikel 17 Konvention, Schutz der Unversehrtheit der Person.

[26] Artikel 14 (1)(a) Konvention, Freiheit und Sicherheit der Person.

[27] Artikel 16 (1) Konvention, Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch.

[28] Artikel 15 (1) Konvention, Freiheit von Folter.

6. Handlungsbedarf

Der Schutz vor Gewalt und Missbrauch ist in der Umsetzung vor allem eine Verwirklichung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, die den Respekt vor der psychischen und physischen Integrität von Menschen selbstverständlich mitumfasst und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen wahrnimmt und ernstnimmt. In der Praxis geht es „nicht um die Bewahrung vor dem Hungertod, sondern die Einhaltung der Standards moderner“[29] Unterstützung und die Gewährleistung von selbst angeleiteter, umfassender persönlicher Assistenz, die Grenzen setzen möglich macht und zulässt.

Auffallend ist, dass Österreich im Bereich des Schutzes vor häuslicher Gewalt eine internationale Vorbildrolle innehat, dass diese Regelungen jedoch nicht ausreichend auf die Bedürfnisse von Frauen und Männern mit Behinderungen eingehen.

Gewaltschutz ist auch eine Ressourcenfrage, wie die jüngsten – sehr positiven – Verbesserungen in der Psychiatrie zeigen: die ExpertInnen des Europarates begrüßten den Rückgang von mechanischen Maßnahmen zur Freiheitsbeschränkung und betonten, dass das „Personal in ihrem therapeutischen Verhalten so gut geschult war, dass der Einsatz solcher Maßnahmen vermieden werden konnte.“[30] Auch andernorts wird betont, dass zB Personalressourcen – „unverantwortbar schlechter Betreuungsschlüssel“[31] – für Gewalt und Missbrauch mitverantwortlich waren.

  1. Prävention

    Prävention von Gewalt und Missbrauch von Menschen mit Behinderungen bedeutet vor allem einen Bewusstseinswandel der Gesamtgesellschaft weg vom „hilflosen“ Menschen mit Behinderungen hin zu selbstbestimmten Menschen, die gleichberechtigte Rechte haben und ausüben. Die von der Konvention geforderte Bewusstseinsbildung[32] mit einem Schwerpunkt auf dem Abbau von sozialen Barrieren ist dringend geboten.

    Inklusive Bildung ist ein zentraler Schlüssel, um die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen als gesamtgesellschaftliches Selbstverständnis zu verankern.[33] Bildung hat eine hohe Präventionsfunktion in Bezug auf das Erlernen und Erkennen von Grenzen, um Übergriffe abwehren zu können und Grenzen benennen zu können. Auch die Sexualerziehung ist für die Prävention beachtlich.

    Die Gesundheitsversorgung, die gemäß Konvention auch die Sexual- und Reproduktionsmedizin explizit umfasst,[34] ist angesichts historischer und struktureller Marginalisierung von Menschen mit Behinderungen – Stichwort Asexuelle – besonders gefordert. Eine Stärkung der Rechte von PatientInnen würde gerade auch Menschen mit Behinderungen zugute kommen. Bei Vorliegen eines Gewalt oder Missbrauchsverdachts ist die Unterstützung durch medizinisches Personal,[35] vor allem ÄrztInnen, unerlässlich, auch in der forensischen Dokumentation von Spuren physischer Gewalt.

    Insbesondere in hoch sensiblen Bereichen wie zB der Psychiatrie muss die Prävention von Gewalt und Missbrauch einen hohen Stellenwert haben. Die positive Beurteilung einiger Entwicklungen durch das Komitee des Europarats zur Anti-Folter Konvention sollten die dahingehenden Bemühungen bestärken.

    Ein Bereich, der wesentlich mehr Aufmerksamkeit benötigt, sind die Ursachenforschung und die Prävention von Gewalt zwischen Menschen mit Behinderungen, vor allem auch in Bereichen, die diese Form von Gewalt strukturell begünstigen.

    Die Trennung von Fördergebern und Evaluatoren von Förderungen ist im Interesse von Gewaltprävention als Grundstandard zu etablieren.

    Das Erstellen, die Vergleichbarkeit, Vernetzung und bundesweite Zugänglichkeit von Statistiken und Forschung über das Ausmaß, die Ursachen und die Auswirkungen von Gewalt sowie über die Wirksamkeit von Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt und zum Umgang mit Gewalt muss gefördert werden, gerade auch um nachhaltige Präventionsmaßnahmen setzen zu können.

    Prävention bedeutet schließlich auch Schutz vor falschen Verdächtigungen.

    Für Präventionsmaßnahmen ist die mögliche Ratifizierung des Fakultativprotokolls der UN Anti-Folterkonvention beachtlich.[36]

  2. Einrichtungen zum Schutz vor Gewalt und Unterstützung im Verletzungsfall

    Zur Verhinderung von Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung sind gemäß der Konvention unabhängige Behörden einzurichten, die wirksam alle Einrichtungen und Programme, die für Menschen mit Behinderungen bestimmt sind, überwachen können – Artikel 16 (3) Konvention. Vor dem Hintergrund geteilter Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern ist die vollständige Umsetzung dieser Bestimmung ohne Kompetenzlücken zu gewährleisten. Der Umsetzung der Bestimmung ist eine möglichst weite Definition von „Einrichtungen“ zugrunde zu legen, die gerade auch Psychiatrien und andere Institutionen und institutionsähnliche Einrichtungen erfasst.

    In diesem Kontext ist auch die standardkonforme Umsetzung des Fakultativprotokolls zur Anti-Folterkonvention (OP-CAT) zu beachten: gemäß dem Regierungsprogramm ist die Ratifizierung von OP-CAT geplant. In der Umsetzung sind die Kriterien von Unabhängigkeit und umfassender Zuständigkeit gemäß OP-CAT zu gewährleisten. Die gleichzeitige Umsetzung der Vorgaben des Artikels 16 (3) Konvention schiene dem Ausschuss sinnvoll.

    In Umsetzung von Artikel 13 – Zugang zu Justiz – ist sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen ungehindert Rechtshilfe in Anspruch nehmen können. Neben der physischen Barrierefreiheit ist hier vor allem die soziale Barrierefreiheit pro-aktiv sicherzustellen. Dies umfasst auch Training für MitarbeiterInnen von Exekutive und Judikative.

    Die Barrierefreiheit von Gerichten, aber auch Polizeistellen, sowie Gewaltschutzzentren ist zu gewährleisten.

  3. Opferschutz

    Opfer von Gewalt und Missbrauch haben ein Menschenrecht auf Schutz. Die Regelungen, vor allem aber die Implementierung von Opferschutz müssen barrierefrei gestaltet sein. Nach einem Gewaltvorfall muss dem Opfer Anerkennung für das erlittene Unrecht zukommen, die Verletzung muss als solche anerkannt werden. Weiters müssen die Fakten des Vorfalles geklärt werden und dem Opfer/Betroffenen eine adäquate Auseinandersetzung mit dem Vorfall ermöglicht werden. Der moralische Anspruch auf eine Entschuldigung ist unabhängig von straf- oder zivilrechtlichen Ansprüchen, die in gerichtlichen Verfahren zu klären sind. Opfer von Gewalt haben Anspruch auf Entschädigungszahlungen, sowie auf Rehabilitation und damit verbundene Therapien.[37]

    Entschädigungsansprüche sind gerade auch für jene Menschen beachtlich, die ohne Zustimmung bzw. vielfach in Unkenntnis der Konsequenzen unfruchtbar gemacht wurden.

    Auch dem Viktimisierungsschutz kommt große Bedeutung zu. Angesichts des Umgangs mit Personen, die im Rahmen der öffentlichen Sitzung unter großem Mut über ihre Gewalterfahrungen berichtet haben, wird dieser Aspekt des Opferschutzes besonders betont.

    Problematisch ist die strafrechtliche Praxis, in der eine hohe Zahl an Zurücklegungen von Anzeigen infolge von Gewalt und Missbrauch zu beobachten ist. Der Mut, den sich die Opfer mit dem Aussprechen von erlittenem Unrecht abringen, sollte von öffentlicher Seite nicht torpediert werden.

    Strafvorschriften sollten ein allfälliges strukturelles Machtgefälle, sowie die mögliche Ausnützung von Autoritätsverhältnissen, adäquat berücksichtigen und in ein restriktives Verhältnis zu einer Beeinträchtigung und dem damit verbunden Unterstützungsbedarf stellen.[38]

  4. Selbstbestimmt Leben

    Gewalt und Missbrauch können überall vorkommen, im Familienkreis, am Arbeitsplatz, in Wohngemeinschaften und in Institutionen. Strukturen und institutionelle Abläufe erhöhen nachweislich die Wahrscheinlichkeit, dass sich Machtgefüge bilden, innerhalb derer Macht missbraucht und Gewalt geübt wird. Je isolierter, segregierter und je stärker von institutionellen Abläufen eine Einrichtung abhängig ist, desto gewaltanfälliger ist eine Einrichtung, eine Wohnform.

    Es ist nicht die Größe, die die Missbrauchsgeneigtheit von Wohnformen fördert, es sind die Zurückdrängung von Selbstbestimmung, die Notwendigkeit von fixen Abläufen, die damit verbundene Fremdbestimmung und die darin implizite Macht bzw. Kontrolle, die ein Ungleichgewicht erzeugt.[39]

    Die Grundprinzipien der Konvention sehen unter anderem Selbstbestimmung und Inklusion vor. Institutionen, die von einem hohen Maß an Fremdbestimmung gekennzeichnet sind und die Segregation bedingen, sind mit der Konvention nicht in Einklang zu bringen. Die Konvention schreibt ein Wahlrecht in Bezug auf die Wohnform vor,[40] aus der Maximierung von Selbstbestimmung, der Ermöglichung von persönlicher Assistenz bzw. Unterstützung und dem Recht auf Inklusion ergibt sich zwingend die Förderung von Wohnformen auf Basis der Prinzipien der Konvention.[41]

Für den Ausschuss

Die Vorsitzende

Marianne Schulze

ergeht an:

  1. den Bundeskanzler und alle Mitglieder der Bundesregierung c/o Bundeskanzleramt Ballhausplatz 2 1010 Wien

  2. Präsidium des Nationalrats Dr. Karl-Renner-Ring 3 1017 Wien

  3. Parlamentsklub der SPÖ Dr. Karl-Renner-Ring 3 1017 Wien

  4. Parlamentsklub der ÖVP Dr. Karl-Renner-Ring 3 1017 Wien

  5. Parlamentsklub der FPÖ Dr. Karl-Renner-Ring 3 1017 Wien

  6. Grüner Klub im Parlament Dr. Karl-Renner-Ring 3 1017 Wien

  7. Parlamentsklub des BZÖ Dr. Karl-Renner-Ring 3 1017 Wien

  8. Burgenländische Landesregierung Europaplatz 1 7000 Eisenstadt

  9. Kärntner Landesregierung Arnulfplatz 1 9020 Klagenfurt

  10. Niederösterreichische Landesregierung Landhausplatz 1 3100 Sankt Pölten

  11. Oberösterreichische Landesregierung Landhausplatz 1 4020 Linz

  12. Salzburger Landesregierung Kaig 14-16 5020 Salzburg

  13. Steiermärkische Landesregierung Hofgasse 15 8010 Graz

  14. Tiroler Landesregierung Eduard-Wallnöfer-Platz 3 6020 Innsbruck

  15. Vorarlberger Landesregierung Römerstraße 15 6900 Bregenz

  16. Wiener Landesregierung Rathaus 1010 Wien

  17. Burgenländischer Landtag Europaplatz 1 7000 Eisenstadt

  18. Kärntner Landtag Arnulfplatz 1 9020 Klagenfurt

  19. Niederösterreichischer Landtag Landhausplatz 1 3109 St. Pölten

  20. Oberösterreichischer Landtag Landhausplatz 1 4021 Linz

  21. Salzburger Landtag Chiemseehof 5010 Salzburg

  22. Landtag Steiermark Herrengasse 16 8010 Graz

  23. Tiroler Landtag Eduard-Wallnöfer-Platz 3 6020 Innsbruck

  24. Vorarlberger Landtag Römerstr. 15 6900 Bregenz

  25. Wiener Landtag Rathaus 1082 Wien

Quelle

Unabhängiger Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Stellungnahme Gewalt & Missbrauch an Menschen mit Behinderungen, 4.2.2011. http://monitoringausschuss.at/

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 26.08.2015



[29] Schreiber, 370.

[30] CPT Bericht, Absatz 140: “ist die Anwendung von mechanischen Maßnahmen zur Freiheitsbeschränkung in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Vor allem standen in den beiden letzten Jahren (mit einer kurzen Ausnahme) keine Netzbetten mehr im Einsatz und mechanische Maßnahmen (wie z.B. Fesselungen ans Bett mit Riemen und/oder Gurten) wurden angeblich noch nie verwendet. Die Delegation gewann den Eindruck, dass das Personal in ihrem therapeutischen Verhalten so gut geschult war, dass der Einsatz solcher Maßnahmen vermieden werden konnte.“

[31] Schreiber , Im Namen der Ordnung, 320.

[32] Artikel 8 Konvention.

[33] Siehe Stellungnahme des Monitoringausschusses vom 10. Juni 2010, siehe weiters Integration von Kindern mit Behinderung und Gewaltprävention http://bidok.uibk.ac.at/library/schoeler-leistung.html.

[34] Artikel 25 lit. a Konvention.

[35] Siehe Leitfaden BM.WFJ, Gesundheitliche Versorgung gewaltbetroffener Frauen 2010, Serviceteil.

[36] Regierungsprogramm 2008, 255.

[37] Artikel 16 (4) Konvention.

[38] Aiha Zemp, Erika Pircher, Heinz Schoibl: Sexualisierte Gewalt im behinderten Alltag.

[39] Siehe http://www.community-living.info/?page=205, siehe weiters Deinstitutionalisierung - http://bidok.uibk.ac.at/library/jantzen-de-institut4.html.

[40] Artikel 19 Konvention.

[41] Siehe Artikel 3 Konvention.

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation