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Forschungsstand zur Behindertenbewegung im deutschsprachigen Raum

In den letzten Jahren ist ein gesteigertes Interesse an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der SELBSTBESTIMMT LEBEN BEWEGUNG im deutschsprachigen Raum bemerkbar.

In einer auf sozialwissenschaftliche Theorien bezogenen Beschreibung wird unter dem Oberbegriff der SELBSTBESTIMMT LEBEN BEWEGUNG in Anlehnung an die Definition Neuer Soziale Bewegungen ein Netzwerk bestehend aus Organisationen und Individuen beschrieben, das im Gegensatz zu korporatistischen Verbänden, die in der Nähe staatlicher Strukturen operieren (wie z.B. die ehemaligen Kriegs- oder die heutigen Zivilinvalidenverbände) mit einer gewissen Kontinuität und auf der Basis geteilter Erfahrungen (kollektive Identität) unter Einbeziehung nicht-institutionalisierter Taktiken (politischer Protest, Selbsthilfe, Boykott usw.) versucht, sozialen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Wandel herbeizuführen, sich ihm zu widersetzten oder ihn rückgängig zu machen. (vgl. Raschke 1987; Kolb 2002)

Die systematische Analyse der Entstehung der SELBSTBESTIMMT LEBEN BEWEGUNG, ihre Entwicklung und ihres Einflusses ist allerdings bis heute weder in der Bewegungsforschung noch in den Disability Studies ausreichend erbracht worden. Innerhalb der neuen sozialen Bewegungsforschung wurde sie bis dato gänzlich ignoriert. Im „Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands“ (Mau/Schöneck 2014) findet sich z.B. im Kapitel „Soziale Bewegungen“ kein Hinweis auf die Behindertenbewegung. Auch in einer alternativeren Zusammenstellung der Ziele „progressiver sozialer Bewegungen“ fehlt ein Hinweis auf Behindertenbewegungen (Daibler 2016).

In den Disability Studies liegen vorwiegend deskriptive Beschreibungen zu ihrer Geschichte vor. Zu erwähnen sind dabei die Arbeiten von Mürner/Sierck (2009), die die Entwicklungslinien der Behindertenbewegung in Deutschland anhand der „Krüppelzeitung“, die von 1979 bis 1984 als bewegungspolitisches Sprachrohr fungierte, nachzeichnen. In der Publikation „Krüppelzeitung. Brisanz der Behindertenbewegung“ (2009) geben sie Einblicke in zentrale Leitthemen und führen Personenportraits von ProtagonistInnen der Bewegung an. Ähnlich wie Mürner/Sierck widmeten sich Graf/Renggli/Weisser (2011) der Aufarbeitung der Behindertenbewegung in der Schweiz. Im Buch „PULS – Drucksache aus der Behindertenbewegung. Materialien für die Wiederaneignung einer Geschichte“ wurden acht Interviews mit ExponentInnen der Schweizer SELBSTBESTIMMT LEBEN BEWEGUNG, in Anlehnung an die Oral History Methode, veröffentlicht. Swantje Köbsell publizierte 2006 in der Zeitschrift „Disability Studies Quarterly“ einen Überblicksartikel zur Entstehung und Entwicklung der Behindertenbewegung in Deutschland (vgl. Köbsell 2006). Im „Wegweiser Behindertenbewegung. Neues (Selbst-)Verständnis von Behinderung“ gibt Köbsell einen Überblick über die Institutionalisierung der Behindertenbewegung, indem sie zentrale Organisationen, die sich aus der Behindertenbewegung entwickelt haben, anführt und beschreibt (vgl. Köbsell 2012). Und Jan Stoll (2016) zeichnet aus Disability History Perspektive die Entstehung und Weiterentwicklung der SELBSTBESTIMMT LEBEN BEWEGUNG im Zeitraum der 1970er und 1980er Jahre nach. Köbsell (2016) und Pfahl/Köbsell (2016) fokussieren die Diskurse um Geschlecht und Körper innerhalb der Westdeutschen SL- und Krüppelfrauenbewegung. Zur Entwicklung der Behindertenbewegung in Österreich geben einzelne Artikel im Sammelband „Aus der Nähe. Zum wissenschaftlichen und behindertenpolitischen Wirken von Volker Schönwiese“ Auskunft (vgl. Flieger/Plangger 2013). Volker Schönwiese geht im „Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik“ (2016) in einer Überblicksdarstellung auf die Geschichte der Behindertenbewegung in Österreich und Deutschland ein.

Die erst am Anfang stehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der SELBSTBESTIMMT LEBEN BEWEGUNG ist sicherlich nicht allein dem mangelnden Forschungsinteresse geschuldet, sondern vermutlich auch dem Umstand, dass Dokumente und Materialen zur vertiefenden Rekonstruktion ihrer Geschichte öffentlich schwer zugänglich sind. Der Grund ist, dass wichtige Materialien und Dokumente meist in Privatarchiven von AktivistInnen schlummern und auf ihre Entdeckung und Aufarbeitung warten.

Auch in diesem Zusammenhang treten im deutschsprachigen Raum zunehmend Initiativen in Erscheinung, die sich der Sammlung von zeithistorischen Materialen, ihrer Dokumentation sowie ihrer Archivierung widmen. Im Dezember 2016 lud das Bochumer Institut für Disability Studies (BODYS) unter dem Motto „Gedächtnis der Behindertenbewegung“ erstmals zu einem Vernetzungstreffen von Initiativen ein, die sich um die Dokumentation, Archivierung und um die Darstellung der Geschichte der SELBSTBESTIMMT LEBEN BEWEGUNG bemühen.

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Dokumentations-Archive zur Geschichte der SELBSTBESTIMMT LEBEN BEWEGUNG im deutschsprachigen Raum

Folgende Initiativen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt (März 2017) bekannt:

  • Das Archiv Behindertenbewegung (archiv-behindertenbewegung.org)
    Das Hauptanliegen war die Digitalisierung der in Deutschland in den letzten 40 Jahren erschienen behindertenbewegungspolitischen Zeitschriften. Über die Homepage sind nun die gesamten Ausgaben der Luftpumpe, der Krüppel-Zeitung, der Randschau, des Mondkalbs und des Newsletters Behindertenpolitik verfügbar. In einem nächsten Schritt werden Fotos, Flugplätter, Plakate und Videos aus dem emanzipatorischen Spektrum der bundesdeutschen Krüppel- und Behindertenbewegung gesammelt, veröffentlicht und der breiten Nutzung zugänglich gemacht. Das Behindertenberatungszentrum BIZEPS hat mit Jörg Fetter, der das Archiv betreut, ein ausführliches Interview zur Intention des Projektes geführt (siehe BIZEPS 2016: https://www.bizeps.or.at/warum-gibt-es-archiv-behindertenbewegung-org/). 
  • Archiv der behindertenpolitischen Selbsthilfe
    Im Archiv, das sich derzeit noch im Aufbau befindet, werden Materialien zur Geschichte und zu Aktivitäten der SELBSTBESTIMMT LEBEN BEWEGUNG in Deutschland von 1973 bis 2004 aufbereitet und zugänglich gemacht. Die Dokumente und Materialien stammen vorwiegend aus dem Privatbestand des 2004 verstorbenen Behindertenaktivisten Gusti Steiner. Gusti Steiner hat 1973 gemeinsam mit Ernst Klee die ersten Volkshochschulkurse in Frankfurt am Main, nach dem Vorbild der US-amerikanischen BürgerInnenrechtsbewegung, ins Leben gerufen, die einen wichtigen Einfluss auf die Entstehung der emanzipatorischen Behindertenbewegung in Deutschland hatten (vgl. Klee 1980). 
  • Bifos ZeitzeugInnen (http://www.zeitzeugen-projekt.de/)
    Wie der Titel bereits verrät, hat das Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos) ein ZeitzeugInnenprojekt ins Leben gerufen. Auf der Homepage sind 50 Interviews von BehindertenaktivistInnen und ZeitzeugInnen nachzulesen, die aus ihrem Leben erzählen und die Geschichte der SELBSTBESTIMMT LEBEN BEWEGUNG seit den 1950er Jahren nacherzählen. Das Projekt will die persönlichen und politischen Meilensteine der Behindertenbewegung aufzeichnen und für kommende Generationen lebendig erhalten. 
  • Behindertenbewegung in der Schweiz – Oral History
    Das Oral History Projekt wurde von der schweizerischen Gesellschaft für Disability Studies umgesetzt. Aus der Projektbeschreibung geht hervor, dass die Positionen und Meinungen von Menschen mit Behinderung zu unterschiedlichen, von ihnen selbst für wichtig erachteten Fragen und Themen in einer zeitgeschichtlichen Perspektive aufgearbeitet, von ihnen eingeschätzt und dokumentiert werden. Die Ergebnisse wurden im Buch „Puls - DruckSache aus der Behindertenbewegung. Materialien für die Wiederaneignung einer Geschichte“ (Graf u.a. 2011) publiziert. Gleichzeitig wurden die gesamten Ausgaben der Zeitschrift Puls, im digitalen Zeitschriftenarchiv E-Periodica der Bibliothek der RTH Zürich veröffentlicht (http://www.e-periodica.ch/digbib/volumes?UID=pul-001). 
  • Geschichte der Selbstbestimmt Leben Bewegung in Österreich
    Das Projekt rekonstruiert und analysiert die Geschichte Selbstbestimmt Leben in Österreich. Dazu wurden vertiefende Interviews mit AktivistInnen durchgeführt, zeithistorische Dokumente gesammelt und digitalisiert sowie eine ausführliche Zeitleiste mit ergänzendem Archivmaterial erstellt. Im März 2017 geht das „Digitale Dokumentationsarchiv zur Geschichte der Selbstbestimmt Leben Bewegung in Österreich“ online.

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Originalliteratur

Materialien aus Österreich

Materialien aus Deutschland

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Literatur

Daiber, Birgit (2016): Und sie bewegt sich doch … . Progressive soziale Bewegungen, die EU und die UNO. Neu Ulm: AG Spak

Flieger, Petra/ Plangger, Sascha (Hg.) (2013): Aus der Nähe. Zum wissenschaftlichen und behindertenpolitischen Wirken von Volker Schönwiese. Neu Ulm: AG Spak

Graf, Erich Otto/ Renggli, Cornelia/ Weisser, Jan (2011): PULS – DruckSache aus der Behindertenbewegung. Materialien für die Wiederaneignung einer Geschichte. Zürich: Chronos.

Klee, Ernst (1980): Behindert. Über die Enteignung von Körper und Bewußtsein. Frankfurt am Main. http://bidok.uibk.ac.at/library/klee-behindert.html (13.3.2017).

Köbsell, Swantje (2006): Towards Self-Determination and Equalization: A Short History of the German Disability Rights Movement. In: Disability Studies Quarterly 26(2).

Köbsell, Swantje (2012): Wegweiser Behindertenbewegung. Neues (Selbst-)Verständnis von Behinderung. Neu Ulm: AG Spak

Köbsell, Swantje (2016): Besondere Körper – Geschlecht und Körper im Diskurs der westdeutschen Behindertenbewegung in den 1980er und 1990er Jahren. In: Lingelbach, Gabriele/ Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Kontinuitäten, Zensuren, Brüche. Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen. Frankfurt/New York: Campus Verlag, S. 239-261.

Kolb, Felix (2002): Soziale Bewegungen und politischer Wandel. Bonn. https://www.stiftung-bridge.de/fileadmin/user_upload/bridge/dokumente/mass_studienbrief.pdf (13.3.2017)

Mau, Steffen/ Schöneck, Nadine M. (Hg.) (2012): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Wiesbaden: VS Verlag

Mürner, Christian/ Sierck, Udo (2009): Krüppelzeitung. Brisanz der Behindertenbewegung. Neu Ulm: AG Spak.

Pfahl, Lisa/ Köbsell, Swantje (2016): Von den Krüppelfrauengruppen zur Disability Pride Parade. Grenzen der Sichtbarkeit von Geschlecht und Körper. In: Göde Both, Inka Greusing, Sabine Grenz, Tomke König, Lisa Pfahl, Katja Sabisch und Susanne Völker (Hg.) Bewegung/en. Dokumentation der 5. Jahrestagung der Fachgesellschaft Gender Studies. Opladen: Barbara Budrich, S. 61-74.

Raschke, Joachim (1987): Zum Begriff der sozialen Bewegung. In: Roth, Roland/ Rucht, Dieter/ Berthold, Sabine (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/ New York: Campus Verlag, S. 19-29.

Schönwiese, Volker (2016): Behindertenbewegungen. In: Hedderich, I.; Biewer, G.; Hollenweger, J.; Markowetz, R. (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: utb, S. 44-48 .

Stoll, Jan (2016): Neue Soziale Bewegungen von Menschen mit Behinderungen – Behinderten- und Krüppelbewegung in den 1970er und 1980er Jahren. In: Lingelbach, Gabriele/ Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Kontinuitäten, Zensuren, Brüche. Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen. Frankfurt/New York: Campus Verlag, S. 214-238.

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