Behindert

Über die Enteignung von Körper und Bewußtsein

Autor:in - Ernst Klee
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1980, http://www.s-fischer.de/
Copyright: © S. Fischer Verlag 1980

Inhaltsverzeichnis

Teil I: Man wird wohl mit einer Behinderung geboren - doch zum behinderten wird man erst später gemacht

1. Wer ist behindert? - Wir sind doch alle behindert!

Auf Veranstaltungen, Tagungen, Kongressen, Versammlungen wiederholt sich regelmäßig eine Szene. Zuerst wird von der Benachteiligung und Diskriminierung Behinderter gesprochen, dann von Integration. Die Honoratioren erheben sich und beschwören mit geschultem Festrednerpathos, der Behinderte sei ein Mensch wie du und ich. Und dann fällt unweigerlich der Satz: "Wir sind doch alle behindert."

Das ist der Augenblick, wo mich (und viele behinderte Freunde) der Zorn vom Sitz reißt. Ich weiß wohl, daß wir tatsächlich alle behindert sind. Rollstuhlfahrer können beispielsweise durch bauliche Barrieren vom öffentlichen und geselligen Leben ausgeschlossen sein, andere dagegen, die laufen können, durch persönliche Ängste, Selbstzweifel, Zwänge, Kontakt- und Beziehungsstörungen. Ich brauche das nicht auszuführen, jeder kennt seine eigenen Behinderungen. Jeder ist auf seine Weise behindert, so zu sein wie er sein möchte.

Und dennoch ist der Satz "Wir sind doch alle behindert" verlogen. Denn die einen machen trotz ihrer persönlichen Behinderung Karriere, die anderen erfahren "Behinderung" aber als Ausschluß aus der Sozialgemeinschaft. Das muß Ursachen haben.

Die Gesetze, die über das Schicksal Behinderter bestimmen, reden wohl von körperlich, geistig oder seelisch Behinderten, geben aber keine Definition, was eine "Behinderung" ist. Nur die "Eingliederungshilfe-Verordnung nach § 47 Bundessozialhilfegesetz" definiert: Körperlich wesentlich behindert sind "Personen, bei denen infolge einer körperlichen Regelwidrigkeit die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in erheblichem Umfange beeinträchtigt ist". § 4 erläutert noch, daß nur der wesentlich behindert ist, dessen "regelwidriger Zustand" mehr als sechs Monate dauert.

Diese amtliche Definition diskriminiert den Behinderten gleich zweifach: Einmal bescheinigt sie dem Behinderten, sein Zustand sei regelwidrig. Wer regelwidrig ist, ist nicht normal, entspricht nicht der Norm, ist demnach anormal. Zum zweiten behauptet die amtliche Definition, der Behinderte habe eine beeinträchtigte Fähigkeit, sich in die Gesellschaft einzugliedern. Das stellt die Tatsachen auf den Kopf. Denn der Behinderte will ja Teil der Gesellschaft sein, erfährt aber ständig, daß ihn eben diese Gesellschaft verstößt, aussondert, isoliert.

Das Schwerbehindertengesetz hat einen radikalen Ansatz, eine Behinderung zu definieren. § 1 sagt in aller Offenheit - man kann es auch Brutalität nennen -, körperlich, geistig oder seelisch behindert seien die, die "in ihrer Erwerbsfähigkeit nicht nur vorübergehend um wenigstens 50 vom Hundert gemindert sind". Die "Minderung der Erwerbsfähigkeit" - "MdE" abgekürzt - ist das Maß, mit dem amtliche Stellen eine Behinderung messen. Wie man Temperatur in Celsius oder Fahrenheit, Entfernungen in Zentimetern und Metern mißt, so mißt man eine Behinderung nach dem Maß der wirtschaftlichen Verwertbarkeit, der Minderung der Erwerbsfähigkeit.

"Medizinisch wird Behinderung meist mit Leiden gleichgesetzt ... Soziologisch wurde der Begriff unter gesetzgeberischen Gesichtspunkten umschrieben. Als behindert werden Personen bezeichnet, >deren Aussicht, einen geeigneten Beruf zu finden, infolge der Verminderung ihrer geistigen oder körperlichen Fähigkeiten herabgesetzt ist<."

Fritz Holzinger: Sonderpädagogik, Wien 1978, S. 7.

Der Behinderte wird danach eingestuft, was er für die Produktion leisten kann. Auch Kinder bleiben nicht verschont. Auch sie bekommen den Stempel "Minderung der Erwerbsfähigkeit", obgleich sie noch im Kindergarten oder in der Schule sind, noch gar nicht erwerbstätig sein können. Sie sind im voraus abgestempelt.

Bei alten Menschen, die bereits aus dem Produktionsprozeß ausgeschieden, pensioniert sind, findet man die Bezeichnung "behindert" dagegen nie, auch wenn sie an Krücken gehen, im Rollstuhl sitzen oder geistig verwirrt sind. Alte Menschen sind nicht behindert, sondern "gebrechlich" oder "siech".

Alle Versuche von Pädagogen, "Behinderung" zu definieren, sind blaß geblieben und ohne Bedeutung. Aber auch sie definierten "Behinderung" aufgrund von Defekten, Mängeln und Schäden eines Behinderten. Auch die Pädagogen arbeiten mit Negativ-Bewertungen, stellen heraus, was ein Behinderter nicht kann, was an ihm nicht "normal" ist, machen ihn zum Minus-Menschen. Realitätsblind definierte die Sonderpädagogik "Behinderung" als einen individuellen Tatbestand, wo Behinderung doch bereits gesellschaftlich definiert ist.[1]

Die Sonderpädagogik bringt den Behinderten damit in eine ausweglose Situation. Der Behinderte, mit dem Stigma "erwerbsgemindert" aus der Sozialgemeinschaft ausgesondert, soll seine Behinderung als ein individuelles Schicksal begreifen. Er soll sich an die Leistungsnormen der Erwerbstätigen anpassen. Der Versuch, sich an die Leistungsnormen anzupassen, bringt der Mehrheit der Behinderten jedoch Versagenserlebnisse. So wird dem Behinderten auch von der Sonderpädagogik vor Augen geführt, ein Mensch minderer Leistungsqualität zu sein, dem nur noch Almosen und Wohltätigkeit zukommen.

Wie schwer ein Mensch behindert ist, hängt von der Gewalt gesellschaftlicher Definitionen und Bewertungen ab und der Kraft (davon wird noch zu reden sein), ihm nicht gemäße Bewertungsmaßstäbe abzulehnen. Das heißt, er darf sich nicht auf ausschließlich produktionsbezogene Kriterien einlassen, sondern muß sich menschengemäße Kriterien aneignen.

Wer ist behindert? Wir alle sind behindert, wenn wir uns von menschenfeindlichen Bewertungen unterjochen lassen.

2. Einstellungen und Vorurteile werden gemanagt

Seit Jahren gibt es immer wieder Bürgerproteste gegen Behinderte. Ich habe diese Berichte mit Empörung verfolgt. In meiner Empörung achtete ich nicht darauf, wer hier eigentlich protestierte.

Es protestierten beispielsweise Dorfpolitiker, weil sie fürchteten, die Touristen würden wegbleiben, wenn sich in ihrem Ort geistig Behinderte niederließen, oder Besitzer von Eigenheimen, weil sie eine Wertminderung ihres Besitzes befürchteten. Und noch eine bemerkenswerte Tatsache hatte ich im Zorneseifer übersehen: Es protestierten mehr Bürger gegen die Protestler als die Behindertengegner Mitstreiter aufwiesen. Man kann also schlecht behaupten, die Bevölkerung habe die Protestaktionen getragen.

Es gibt eine Untersuchung, wonach 90 Prozent der Bevölkerung nicht wissen, wie sie sich Behinderten gegenüber verhalten sollen, wonach 63 Prozent der Bevölkerung Behinderte ins Heim verbannen und 56 Prozent der Bevölkerung mit Behinderten nicht unter einem Dach wohnen wollen.[2] Ich habe mich immer gewundert, wie inbrünstig Politiker diese Untersuchung zitieren. In der praktischen Arbeit - in Verhandlungen mit Politikern und Behörden - wurde mir klar, welche Funktion solche Zitate haben: "Wir würden ja gerne etwas für die Behinderten tun", heißt es, "aber die Bevölkerung ist dagegen."

Jetzt verstand ich die Inbrunst, mit der sie diese erschreckenden Zahlen rezitierten: Sie kommen ihnen entgegen, nichts tun zu müssen. Es ist bequem, auf die behindertenfeindliche Einstellung der Bevölkerung hinzuweisen. Dabei fallen Vorurteile nicht vom Himmel.[3] Einstellungen gegen Behinderte haben eine lange Geschichte und basieren auf politischen Entscheidungen: Wenn man Behinderte in Sondereinrichtungen isoliert, kann sich ernsthaft wohl niemand wundern, daß 90 Prozent der Bevölkerung nicht wissen, wie sie sich Behinderten gegenüber verhalten sollen. Wo sollten sie den Umgang denn gelernt haben!

"Berkson (1973) beobachtete, daß behinderte Affenkinder selbst unter ungünstigen sozialen Bedingungen nicht getötet, sondern von der Gruppe besonders aktiv unterstützt wurden. In die gleiche Richtung weisen Ergebnisse experimenteller Untersuchungen, die Rumbaugh (1965) durchführte. Sowohl ein totgeborenes wie ein (experimentell) körperbehindertes Affenkind wurden von der Mutter und den anderen Mitgliedern der Gruppe aufopferungsvoll gepflegt. Ganz offenkundig erfolgte hier eine Anpassung an die durch das Ereignis veränderten Bedingungen.

Angesichts dieser Tatsachen müssen wir davon ausgehen, daß negative Reaktionen auf physische Abweichungen im wesentlichen eine auf die menschliche Spezies beschränkte Verhaltensform sind."

Günther Cloerkes: Einstellungen und Verhalten gegenüber Körperbehinderten, Berlin 1979, S. 256.

Vorurteile werden gemanagt, sind das Ergebnis machtpolitischer Interessen. Ich nenne als Beispiel die Vorurteile gegenüber den Negern: Man mußte ja legitimieren, warum man Neger als Sklaven unterjochte, warum man sie als Arbeitskräfte hemmungslos ausbeutete. So erfand man die Theorie von der natürlichen Unterlegenheit der schwarzen Rasse.

Einstellungen gegenüber Behinderten werden von Rehabilitationsinstanzen, Ämtern und Heimen gemanagt. Ein ganzes Gewerbe, das nicht nur am Behinderten verdient, sondern auch an der reibungslosen Verwaltung der Objekte interessiert ist. Konfliktbereite Behinderte können beispielsweise nicht im Interesse von Sozialämtern sein, weil sie Mehrarbeit verursachen und höhere Geldleistungen erfordern, wenn sie ihre Rechte ausschöpfen.

Manager von Vorurteilen sind aber auch Arbeitgeber, die leistungsbegrenzte Behinderte nicht beschäftigen wollen, sowie der Staat und seine ausführenden Organe, weil er ja die Praxis der Aussonderung der Leistungsgeminderten legitimieren muß. Manager der Vorurteile sind aber auch die Wohlfahrts-Verbände, die von der Verwertung der Unverwertbaren leben und sich dazu als hilfreiche Helfer anbieten. Sie leben nicht von der Selbständigkeit der Betreuten, sondern von deren Unmündigkeit, propagieren folgerichtig auch das Bild vom hilflosen Behinderten, wenn es um Spenden, Straßensammlungen oder den Verkauf von Wohlfahrtsbriefmarken geht.

Das Verhängnisvollste ist nicht die krasse Diskriminierung Behinderter (wie bei den Eigenheim-Besitzern), sondern die Selbstverständlichkeit, mit der Behinderten die Almosenrolle zugewiesen wird. Es regnet Spenden, hagelt Mitleid, was ich gerade wieder am eigenen Leibe erlebt habe: Weil ich müde war, setzte ich mich während eines Bummels mit Behinderten in einen Rollstuhl. Nach noch nicht drei Minuten schenkte mir eine Frau, Tränen im Blick, die ersten Silbermünzen.

Die Rollenzuweisung ist so ausgeprägt, daß selbst Nichtbehinderte mitbetroffen werden. Zum Beispiel: Ein Mädchen soll konfirmiert werden, hat aber den Fuß gebrochen und trägt einen Gipsverband. Nach jeder Konfirmation gruppieren sich die Konfirmierten zu einem Gruppenfoto. Das Mädchen schreibt der Pfarrerin einen Brief: "Ich glaube, daß einige Eltern es nicht gerne sehen würden, wenn ein Kind mit einem Gipsbein auf dem Bild ist oder nach vorne humpelt. Tu mir den Gefallen und frag die Kinder, ob ihre Eltern einverstanden sind oder nicht. Wenn nicht, bleibe ich daheim."

Wir wurden erzogen, Leistung und Gesundheit sei unser höchstes Gut, Arbeitskraft der Schlüssel zum Erfolg. So leben viele unter dem Trauma, ihre Arbeitskraft durch Unfall oder Krankheit zu verlieren. Wer noch etwas leisten kann, darf sich den anderen überlegen fühlen. Die Leistungsideologie, die den Wert eines Menschen an Produktionsmaßstäben mißt, wird uns tagtäglich eingeflüstert, im Kindergarten, in der Schule, im Beruf, in den Reden von Wirtschaftsführern und Politikern. Überall werden Vorurteile gemanagt, um uns auf gesellschaftlich-ökonomische Ziele auszurichten.

Es ist nicht entscheidend, daß einer im Rollstuhl sitzt, entscheidend ist, welche Rolle man ihm zuweist. Vor bald zwanzig Jahren erschien der Bericht eines Behinderten, der dies anschaulich macht: Der Behinderte war seit Jahren gelähmt und wurde mit dem Rollstuhl ausgefahren. Zu gerne hätte er einmal an einer Faschingsgaudi teilgenommen. Doch die Angst, stets allein an seinem Tisch sitzen zu bleiben, ließ ihn immer verzichten, bis sein Freund eine Idee hatte: "Du maskierst dich als der Maler Toulouse-Lautrec. Wir fahren in eine Stadt, wo dich niemand kennt. Du kannst dich doch über Kunst unterhalten, außerdem kennst du Lautrecs Biographie und hast den Lebensfilm dieses Malers gesehen."

Es wird eine amüsante Erfahrung. Als der Kapellmeister die beiden bemerkt, begrüßt er den Maler Graf Henri de Toulouse-Lautrec mit einem Tusch. Ein Malermodell bittet ihn an einen Tisch, wo eine Künstlergruppe bereits fröhlich feiert. Sie unterhalten sich über Kunst, er animiert die Dame, ihm in seinem Atelier Modell zu sitzen, und die Herren bittet er, seine Werke zu begutachten. Zwischendurch schiebt ihn manch schöne Maske an die Bar: "Ich konnte in meinem Rollstuhl ausgiebig flirten."[4]

Was oder wer als normal gilt und wer nicht, ist gar nicht so selbstverständlich, wie man uns gesagt hat. Dazu gibt es literarische Zeugnisse. Der erste Bericht stammt von einem unbekannten Autor des 18. Jahrhunderts, der Voltaire und Swift nachahmte. Er hinterließ den folgenden erfundenen Bericht:

"Die indianischen Fabeldichter erzählen uns, daß sich ein Ort in ihrem Vaterlande befinde, welcher von lauter ungestalten und buckeligen Leuten bewohnt wird. Ein schöner wohlgemachter Fremdling, sagen sie, sey einst dahin gekommen, und sogleich hätten sich alle Einwohner versammelt, die außerordentliche Gestalt dieses Menschen zu bewundern. Einhällig hielten sie ihn für eine Mißgeburt, sie beschimpften und verspotteten diese in ihren Augen so häßliche Figur; ja, sie würden ihn vielleicht getödtet haben, wenn ihn nicht ein Weiser von dieser buckligen Gemeinde, der vielleicht schon unbuckelige Menschen gesehen hatte, ihrer Wut entrissen hätte. >Was thut ihr, meine Freunde!< sagte er: >beschimpft diesen Unglücklichen nicht; danket vielmehr dem Himmel, daß er unsere Rücken mit einem fleischigen Gebirge geschaffen, und unsere Gestalt weit über diesen Elenden erhoben hat!<"[5]

Der deutsche Dichter Gellert schrieb das Gedicht "Das Land der Hinkenden":

Vor Zeiten gab's ein kleines Land

Worin man keinen Menschen fand,

Der nicht gestottert, wenn er redte,

Nicht wenn er ging, gehinket hätte,

Denn beides hielt man für galant.

Ein Fremder sah den Uebelstand;

Hier, dacht er, wird man dich bewundern müssen

Und ging einher mit steifen Füßen.

Er ging, ein jeder sah ihn an,

Und alle lachten, die ihn sahn,

Und jeder blieb vor Lachen stehen,

Und schrie: Lehrt doch den Fremden gehen! -

Der Lärmen wird erst recht vermehrt

Da man den Fremden sprechen hört;

Man stammelt nicht? Ei welche Schande!

Man spottet sein im ganzen Lande.

Der Individualpsychologe Alfred Adler meint sogar, seine Auffassung, daß die Minderleistung eines minderwertigen Organes durch Kompensation und Überkompensation ausgeglichen werde, stimme mit dem "Volksgeist", der Volksmeinung, überein. Adler belegt dies mit einem Beispiel aus Grimms "Deutscher Mythologie", wonach die germanischen Volkshelden allesamt Behinderte sind:

"Wie bei den Göttern, so findet man auch bei den Helden Mangel an Gliedern: Odin ist einäugig, Tyr einhändig, Locki? (? = Hephaest) Iahm Hödr blind,Vidar stumm, nicht anders Hagano einäugig, Walkeri einhändig, Günthari und Wieland lahm; blinde und stumme Helden gibt es viele. Aber das scheint heldenmäßig, daß die Kindheit und erste Jugend ein Fehler verunstalte und aus solchem Dunkel hernach plötzlich die leuchtende Erscheinung, gleichsam die zurückgehaltene Kraft vortrete."[6]

Wer als "behindert" gilt und wie "Behinderung" bewertet wird, hängt von gesellschaftlichen Normen ab. Bei einem Besuch in China (1978) sah ich noch alte Frauen, denen man als kleines Mädchen die Füße eingebunden hatte. Das galt seinerzeit als schön und als Zeichen von Adel. Die alten Frauen humpelten nicht, nein, sie quälten sich an ihrem Stock vorwärts. Sie haben heute den Spott zu ertragen, denn ihre einstmaligen Schönheitsattribute gelten nun nicht nur als Verstümmelung, sondern auch als Stigma, als sichtbares Zeichen, einer seit der Revolution geächteten Klasse anzugehören.

3. Heitere Dulder oder: Spielregeln zur Schein-Anerkennung

Das Kino, als Lieferant von Klischees, ist kein schlechter Zeuge, wenn wir wissen wollen, wie man sich einen gesellschaftskonformen Behinderten vorstellt. Ein Mitarbeiter der Rehabilitation in Taiwan schrieb mir: "Zur Zeit läuft ein Film, für den offiziell Propaganda gemacht wird. Er behandelt die Lebensgeschichte eines Behinderten, total verkrümmte Beine, später Prothesenträger, Universitätsstudent, schrieb ein Buch über sein Leben, heiratete, hatte Kinder, starb bald an Krebs. Ich ahnte es, bevor ich in den Film ging: ein Superkitsch, in dem der Hauptdarsteller - ein Held von hinten bis vorne - eineinhalb Stunden lang von Moralsprüchen trieft, entschlossenen Mutes allen Schwierigkeiten und der Zukunft entgegenblickt und noch auf dem Totenbett verkündet: Die Gesellschaft war so gut zu mir. Das muß man zurückzahlen ... Man muß sich nur bemühen, dann bringt man's zu etwas ..."

Nach dem Rollenklischee wird der als gesellschaftsfähig geduldet, der trotz aller Probleme ein munterer Lebenskämpfer bleibt und den Mythos verkörpert: Wer es schaffen will, kann es schaffen. Jedes Zeitalter kann ein paar Krüppel vorführen, die es schaffen durften: Der bekannteste deutsche Armlose des Reformationszeitalters ist beispielsweise Thomas Schweicker, der es in seiner Heimatstadt Schwäbisch-Hall sogar, man höre und staune, zum Stadtschreiber brachte. Schweicker "starb nach einem ehrenreichen Leben 1602 im Alter von 62 Jahren".[7]

Ein Paradebeispiel, wie ein Geächteter versucht, sich durch Überanpassung in der Gesellschaft zu behaupten, ist der armlose Lehrer Johann Ritter aus Tübingen (Armlose mußten sich meistens in Schaubuden verdingen). Eine schwäbische Chronik von 1626 berichtet staunend, wie der armlose Lehrer an der Lateinischen Schule seine Schüler kräftig züchtigte. Er klemmte eine lange Rute unter die Achselhöhle, zwischen Leib und Armstumpf, und schlug "mit dem ganzen Leibe". Es heißt, er sei fromm, fröhlich und herzhaft gewesen. Obgleich sein linkes Bein verkürzt war und er auf Krücken humpelte, "tanzte er so zierlich und behend, daß du gesagt hättest, es wäre ein Äffchen mit anderthalb Füßen".[8] Der Armlose hatte demnach einige Anstrengungen unternommen, gesellschaftlich angepaßt zu leben, doch es hat ihm nur den Vergleich mit dem Äffchen eingetragen. (Aus meiner Schutzeit erinnere ich mich, daß der gefürchtetste Lehrer, der Lateinlehrer, nur einen Arm hatte. Er war der einzige Lehrer, der noch schlug.)

"Nicht wenige unserer Besucher verlassen Alsterdorf mit einem Gefühl von Dankbarkeit und Beschämung. Dankbar, weil ihnen bewußt wurde, wie gut sie es haben. Vielen wird erstmalig deutlich, wie glücklich sie sein können, ein gesundes Kind zu haben. Beschämt, weil sie erkannten:. Es gibt neben den üblichen Wertmaßstäben wie Leistungsfähigkeit und Schönheit noch andere: Ehrlichkeit, Spontaneität, Zuneigung und Dankbarkeit. Eigenschaften, die viele unserer Behinderten in erheblich größerem Maß besitzen als die >normalen< Menschen. Eigenschaften, an denen gemessen die Alsterdorfer Bewohner mehr >wert< sind. Unsere Bewohner vegetieren nicht stumpfsinnig im Bett dahin. Sie gehen spazieren, feiern gern, erleben Freud und Leid von Freundschaft - wie wir >Normalen<."

Aus: "Die Alsterdorfer. Wir helfen Behinderten leben", O. J., hrsg. von den Alsterdorfer Anstalten Hamburg.

Spielt der Behinderte die von ihm erwartete Rolle des heiteren Dulders, darf er glauben man habe ihn akzeptiert (darüber wird später unter dem Stichwort Irrelevanz-Regel noch mehr zu sagen sein). Voraussetzung ist, daß er die Spielregeln beachtet, das heißt seine Grenzen einhält.

Goffman hat dieses Rollenspiel anschaulich beschrieben: "Von den Stigmatisierten wird taktvoll verlangt, wie Gentlemen zu sein und ihr Glück nicht zu erzwingen; sie sollten die Grenzen der ihnen gezeigten Akzeptierung nicht auf die Probe stellen und sie auch nicht zur Basis immer weiterer Forderungen machen. Toleranz ist gewöhnlich Teil eines Geschäfts. Die Natur einer >guten Anpassung< ist nun offensichtlich. Sie erfordert, daß das stigmatisierte Individuum sich heiter und unbefangen als den Normalen wesentlich gleich akzeptiert, während es zur gleichen Zeit jene Situationen vermeidet, in denen es Normale schwierig finden würden, das Lippenbekenntnis abzulegen, sie akzeptierten ihn gleichermaßen."[9]

Zu den Regeln dieses Rollenspiels gehört also, daß der "Normale" nicht in einen intimen Kontakt mit dem "Anormalen" kommt, daß man Akzeptieren spielt, der Behinderte das Versprochene aber nicht in Anspruch nehmen darf. Der Behinderte trägt dabei die Verantwortung, sich an die Abmachungen zu halten; seine Ansprüche und sein Verhalten selbst zu zensieren: "Erst kürzlich hörte ich während eines Klinikaufenthaltes, wie eine schon längere Zeit behinderte junge Frau einer erst vor wenigen Tagen verunglückten Sechzehnjährigen riet: >Du mußt immer ein fröhliches Gesicht zeigen. Schon die Ärzte und Schwestern kümmern sich nicht so gern um dich, wenn sie merken, daß du trübselig den Kopf hängen läßt!< Ob dies nun stimmt oder nicht, es zeigt, daß an den Behinderten ein bestimmtes Image von außen herangetragen wird, dem zu entsprechen er als ratsam erkennt. Um angenommen zu werden, muß er einen sehr hohen Tribut an seine Umgebung entrichten. Er muß so tun, als fühle er seine Grenzen nicht, um seine Mitmenschen von >Unlustgefühlen< zu entlasten."[10]

Die Grundregel heißt: Der Behinderte hat tapfer, still und (nach außen) fröhlich zu leiden. Dann regnet es den warmen Regen der Anerkennung, sprich Mitleid: "Zunächst muß der Krüppel als Lebenssieger überhaupt gesehen werden. Lebenssieger sind die siegreichen Innerlichkeitsmenschen, die religiös Veranlagten, die Verzichttapferen, die Entsagungsmutigen und jene . . ., die mit dem Humor einer fast heiteren Melancholie sich mit ihrem Schicksal gutmütig abfinden."[11] Leiden ist die grundlegende Rollenzuweisung: "Für die seelische Genesung des Krüppels ist es wesentlich, daß sich ein Sinn in seinem Leiden ausdrückt."[12]

Da man zu allen Zeiten in einer Behinderung keinen gesellschaftlichen Sinn sehen konnte, weil ja der Mächtige der Hochwertige ist, borgte man sich den Sinn aus dem Jenseits aus: Der Lebenssinn des Leidenden sei ein religiöser. In der Volksliedersammlung von Arnim und Brentano ("Des Knaben Wunderhorn") findet sich ein Liedlein, das sich "Letzter Zweck aller Krüppeley" nennt:

"Es kränkt mich gar nicht,

Daß ein Krüppel ich bin,

Wer weiß ob nicht eben

Ein Glücksstern darin,

Gott ist ja so gar sehr

In die Krüpplein verliebt,

Weil er für sich selbten

Sein Kurzweil drin geübt."

"Das war ein Drucker in Gera namens Scherf. Er ist der >Vater< und >Gründer< fast aller Abnormitäten, die man heute auf Jahrmärkten, Juxplätzen und Festwiesen finden kann. Alle Verwachsenen und Mißgestalteten, die andere Existenzmöglichkeiten nicht bekommen konnten oder wollten, kamen zu ihm. Er machte aus einem ausgerissenen Schusterlehrling den >Urwald-Gorilla-Menschen Huhuhuhu<, er trainierte einen behaarten, klumpfüßigen Mann auf Heuessen und machte aus ihm >die von medizinischen Sachverständigen und Universitätsprofessoren als einmalig auf der Welt anerkannte Kreuzung zwischen Mensch und Pferd.< Er ist der Vater der vielen Frauen ohne Unterleib, er fabrizierte zusammengewachsene Zwillinge, verkuppelte die Riesin aus dem Elsaß mit einem Zwerg aus Ostpreußen zu dem >ungleichsten Geschwisterpaar der Welt< und schuf dazu noch zwei anderen Menschen Brot als >normaler Vater< und >normale Mutter< der beiden Abnormitäten."

Hans Würtz: Zerbrecht die Krücken, Leipzig 1932, S. 193.

Die (seelische) Überwindung der Behinderung wird jenen versprochen, "die positiv resignierten, indem sie ihr Leiden religiös verklärten".[13] Ergebung in die Leidensrolle wird als die Leistung des Behinderten ausgegeben: "Auch das schwerstbehinderte Kind soll im Religionsunterricht in der Überzeugung bestärkt werden, daß es mit der positiven Bewältigung seines >Schicksals< eine >Leistung< vollbringt, die in ihrem Wert vor den Leistungen der Nichtbehinderten durchaus bestehen kann."[14]

Doch was ist seine "Leistung?" Unterscheidet sie sich von der "Leistung" jener Hofnarren, jener Kleinwüchsigen, die als verwachsene Spaßvögel den Höflingen die Genugtuung bieten mußten, daß sich diese den Mißgestalteten überlegen fühlen durften? Der Behinderten Leiden, der Nichtbehinderten Erbauung? "Der Sieche ist in den >Leidens-Beruf< gestellt, den zu leben die höchste Kraft vom Menschen fordert. Der Sieche erlebt das letzte Stadium seines Lebens bewußt. Er lebt uns vor, wieviel Leid ein Mensch ertragen muß und kann. Was der Sieche damit dem Mitmenschen gibt, rechtfertigt die ihm zuteil werdende Lebenshilfe."[15] Der Autor dieser Zeilen ist selbst behindert und arbeitete als Lehrer in einer Anstalt für Behinderte. Die Nichtbehinderten werden ihm für seine angepaßte Meinung dankbar sein.

Der Behinderte glaubt am Ende, was zu glauben ihm beigebracht wurde: "Ich kam zu dem Schluß, daß mir Leiden auferlegt sei, daß Leiden ein Bestandteil meines Lebens sei", erzählt Ortrun Schott, mit 1 Meter 15 eine kleinwüchsige Frau. "Ich habe gedacht, der Leidende sei zum Schweigen verurteilt, weil ihn und sein Leiden die anderen totschweigen." Sie hatte zu diesem Zeitpunkt das Rollenspiel noch nicht durchschaut. Heute leistet sie Widerstand: "Im Zusammenhang mit Leiden denke ich eben auch, warum haben die Juden, warum haben die Neger jahrhundertelang die Schweinereien ihrer Umwelt über sich ergehen lassen? Sie haben gelitten, aber nichts dagegen getan."

Doch wer Widerstand leistet, muß mit dem Entzug der scheinbaren Anerkennung rechnen. Eine rebellische Spastikerin, die sich nie in die Ergebung schicken wollte, erfuhr von ihrer Lehrerin an der Sonderschule: "Ich soll zu den Mao-Kommunisten gehen, faule Tomaten werfen." Ihr ironischer Kommentar: "Ich kann's nicht ändern und außerdem werfe ich schlecht. Der Spasmus, der Spasmus, ach je ..."

Die hinterhältigste Form, aus dem Leiden anderer eigenen Nutzen zu ziehen, zeigt die Geschichte der Kleinwüchsigen. Ihr Leiden wurde zum Lachschlager. Schon Nero hielt sich Hofzwerge. Fuhr Nero aus, lag er in einem als offenes Zelt dekorierten Wagen. Der Kaiser fuhr immer allein, damit seine Person ausschließliche Aufmerksamkeit erfahre, »nur zwei mißgestaltete Zwerge kauerten zu seinen Füßen".[16]

Der "Zwerg", der bucklige Gnom, ist ein beliebtes Thema in Literatur und Theater. Ortrun Schott, Diplom-Psychologin, registrierte, wie sie sich über Jahre mit der Figur des boshaften Zwerges, wie er im Märchen auftaucht, identifizierte. Rückblickend stellt sie fest, daß sie in ihrem Leben nicht nur als Clownsfigur gesehen wurde, sondern auch den munteren Lachvogel gespielt hat. Sie hat sich dazu eine besondere Art des Lachens zugelegt. Denn die Umwelt will den Kleinwüchsigen als Clown sehen, kann ihn nur leiden, wenn er lacht ("und sie macht ihn leiden, weil sie über ihn lacht").

Als 15jährige ärgerte sich Ortrun Schott, daß die Erwachsenen immer schallend hinter ihr her lachten und mit dem Finger auf sie zeigten. Da hat sie den Leuten mehrmals den Vogel gezeigt oder die Zunge rausgestreckt. Doch wenn ein Kleinwüchsiger die Zunge rausstreckt, den Vogel zeigt, wirkt er komisch, bleibt er die ulkige Nummer, weil er damit die vorgegebene Rolle ausfüllt.

Nicht als Aufbegehrender, sondern als Verzichtender wird der Behinderte toleriert. Der angeblich Normale verlangt, daß der Behinderte auf eigene Bedürfnisse verzichtet (zum Beispiel auf sexuelle Kontakte), damit der Abstand zwischen Behinderten und Nichtbehinderten (Anormalen und Normalen) nicht aufgehoben wird. Der Behinderte soll den Nichtbehinderten vor dem realen Umgang verschonen. Dann wird ihm bescheinigt, er habe einen guten Charakter und lebe ein sinnvolles Leben.

4. Der enteignete Körper und das enteignete Bewußtsein

Der Behinderte hat es schwer, zu sich und zu seinem Körper ein positives Verhältnis zu gewinnen. Er wird von Geburt an sonderbehandelt. Seine Isolationskarriere beginnt mit langen Aufenthalten in Kliniken, Sonderabteilungen, Rehabilitationszentren, es folgen Sonderkindertagesstätten, Sonderschulen und Heime, weit draußen im Grünen, außerhalb der Sozialgemeinschaft.

Jeder, der einmal im Krankenhaus war, hat erfahren, wie andere die Verantwortung über den eigenen Körper übernehmen. Man wird gewaschen, gewendet, gelegt, betastet, befühlt, versorgt, verlassen, gemessen, geröntgt und vielleicht an Apparate angeschlossen. Der Kranke muß Behandlung passiv an sich geschehen lassen.

Behinderte verbringen Monate, manchmal Jahre in Kliniken. Sie werden ihren Familien entfremdet. Persönliche Gegenstände sind kaum geduldet oder auf das allernotwendigste reduziert. Privatheit gibt es nicht. Der Körper gehört Ärzten, Schwestern, Pflegern, Therapeuten. Der Körper wird enteignet.[17]

Der enteignete Körper ist nicht mehr in meiner Verantwortung. Andere bestimmen über ihn, bestimmen, welche Empfindungen, Bedürfnisse, Ansprüche ich haben oder nicht haben darf. Was geschieht, wie es geschieht, wo und wann etwas geschieht, bestimmen andere: Klinik, Heim, Schule, Therapie, Sozialverwaltungen oder Wohlfahrtsverbände.

Am Behinderten wird öffentliche Nacktheit praktiziert. Er wird in Gegenwart anderer gewaschen, gewendet, auf die Bettpfanne gesetzt, untersucht, immer wieder geschieht das in öffentlicher Nacktheit. Daß der Behinderte das peinlich finden könnte, daß seine Intimsphäre öffentlich zugänglich gemacht wird, daran denkt kaum einer.

"Die Direction hat sich von Zeit zu Zeit die Zöglinge unbekleidet zur Revision vorführen zu lassen."

Aus: Idiotophilus, Systematisches Lehrbuch der Idioten-Heilpflege von Pastor H. Sengelmann, Direktor der Alsterdorfer Anstalten, Norden 1885, S. 252.

Wo Kliniken, Heime oder die Eltern die Verantwortung für den Körper übernommen haben, bedeuten Betreuung und Pflege Anpassung an ein künstliches Milieu:

"Die wenigsten jugendlichen und erwachsenen Behinderten leben unter sozialen Bedingungen, auf die sie selbst einen Einfluß haben. Sie leben in einer vorfabrizierten Welt, die nach Regeln funktioniert, die von ihnen weder gesetzt noch gewollt sind. Entweder ist es die Familie, die den Behinderten auf Schritt und Tritt befürsorgt, ihn so lange in Unmündigkeit hält und ihn vor der Welt >draußen< bewahrt, bis sie ihn schließlich einschließen und verstecken muß, weil das Gegenteil von dem erreicht wurde, was ursprünglich als >Erziehungsziel< vorschwebte; oder es ist das Heim, das vermutlich nie etwas anderes erreichen konnte und wollte, als der Disziplinarkarriere von Randständigen zu dienen."[18]

Wer diese Isolationskarriere durchläuft, wessen Körper öffentlicher Nacktheit unterworfen wurde, wer mit dem Stigma "Krüppel", "Idiot", "Schwachsinniger" versehen ist, hat die eigene Verantwortung bei Eltern, Klinik- oder Heimleitung abgegeben. Eigene Entscheidungen werden als Regelverstoß aufgenommen und mit Sanktionen belegt. Die Bestrafung kann im Entzug von Zuwendung bestehen, im Ignorieren von Bedürfnissen (bekannt ist, daß Körperbehinderte, die an Pfleger "unangemessene" Ansprüche stellen, nicht auf die Toilette gebracht werden), bis hin zur Ausgangssperre oder verschärften Diagnosen (vom Körperbehinderten zum Mehrfachbehinderten bis hin zum Schwachsinnigen).

Die Regeln der Isolationskarriere schreiben vor, daß der Behinderte seine Lebensbedingungen akzeptieren muß, daß er anerkennt, daß er pflegeabhängig und hilflos ist, daß seine professionellen Helfer am besten wissen, was gut für ihn ist. Das eigene Bewußtsein wird durch ein fremdes - institutionsbezogenes - Bewußtsein ersetzt. Der Behinderte lebt nicht nach Regeln, die er bestimmt, nach seinem eigenen Willen, sondern nach den Regeln anderer. Es sind Regeln, die einen möglichst reibungslosen Ablauf des Institutionsalltags garantieren.

Doch nicht nur in den Behinderteneinrichtungen wird der Behinderte öffentlicher Nacktheit ausgesetzt, auch in der Öffentlichkeit, auf der Straße, in Bussen, Straßenbahnen, im Kino und in Gaststätten ist er der öffentlichen Bloßstellung preisgegeben: Kinder und Erwachsene starren ungeniert auf Behinderte, reden über sie, kommentieren ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihren Lebenswert. Ortrun Schott, kleinwüchsig, berichtet: "Eine Mutter hat mal, als sie neben mir stand und die Straße passieren wollte, zu ihrer kleinen Tochter gesagt: >Da kannst du mal sehen, mußt immer deinen Teller leer essen, sonst bleibst du auch so klein.<"

Wer nie für seinen Körper verantwortlich war, wessen Bedürfnisse von anderen geregelt wurde, wessen Leben von anderen gelebt, das heißt vorgeschrieben wurde, hat nicht nur den Körper enteignet bekommen, sondern lebt auch mit einem enteigneten Bewußtsein. Volker Schönwiese, selbst behindert, untersuchte in einem Wohnheim für behinderte und nichtbehinderte Studenten die Einstellung der Behinderten. Als typische Behinderteneigenschaften gaben die behinderten Akademiker an: Ungeduld, aggressiv, erregbar, Mißtrauen, Neidgefühle, Egoismus, Verbitterung und Eifersucht.[19] Sie haben alle jene Eigenschaften als behindertentypisch für sich übernommen, die ihnen das Vorurteil unterstellt.

Behinderte haben es besonders schwer, zu einem eigenen Bewußtsein zu finden. Sie sind keine eigene Minderheitengruppe wie Neger, Gastarbeiter oder Juden. Denn im Gegensatz zu diesen haben sie keine eigenen kulturellen Werte und Normen, keine eigenständige Tradition, die von Familie zu Familie vererbt wird. Sie haben keine eigenen Mythen, Sagen, Erzählungen, Tänze, Kulturtechniken, religiösen Bräuche, wie dies bei ethnischen Minderheiten der Fall ist. Sie sind mit den Normen und Werten ihrer Umwelt aufgewachsen, streben danach, sich den Unbehinderten anzupassen. Und dabei müssen sie meist unterliegen.

"Bei einem Teil der organisch Geschädigten, vor allem bei geistig Behinderten, zeigt sich eine lustige, unbekümmerte Grundstimmung, die mit übertriebener Heiterkeit (Euphorie), unverbesserlichem Optimismus, Selbstgefälligkeit einhergeht. Die Kinder sind immer zu dummdreisten Späßen aufgelegt, können übermäßig lachen, haben ein überhöhtes Äußerungsbedürfnis, sind in ausgelassener Stimmung, ohne dabei die geringste Rücksicht auf die Umgebung zu nehmen."

Fritz Holzinger: Sonderpädagogik, Wien 1978, S. 180.

Wir wissen heute, welch lebensbestimmende Bedeutung eine Rollenzuweisung hat, eine Prognose, eine Prophezeiung. Die Rollenzuweisung, "ein Behinderter ist hilflos", wird sein Leben entscheidend beeinflussen wie die Rollenzuweisung, "das kannst du nicht".

Alleine die Überzeugung, einer unterprivilegierten Gruppe zuzugehören, beeinflußt Selbstvertrauen und Leistung. Wenn Negerstudenten getestet wurden, waren ihre Testleistungen erheblich niedriger, wenn man ihnen zuvor sagte, ihre Leistungen würden mit deinen von weißen Studenten verglichen. Ihr Unterlegenheitsgefühl hinderte sie an der Entfaltung ihrer Möglichkeiten.[20]

Dem Behinderten, der versucht, "nichtbehindert" zu werden und es nicht schafft, bleibt in der Regel der Selbsthaß. Der Behinderte, der immer auf die Defizite und Mängel seines Körpers hingewiesen wurde, wird zum Ekel vor seinem Körper erzogen. Wie soll er sich annehmen können, wenn ihm stets beigebracht wurde, er sei anders als die "Normalen?"

"Ich habe mich damit abgefunden", erzählte mir ein Mädchen, "daß ich häßlich bin und keinen Mann kriege." Im Tagebuch eines Behinderten fand ich die Eintragung: "Der Tag eines Häßlichen". Das ist der blanke Selbsthaß. Derselbe Behinderte, ein kleinwüchsiger Mann, schrieb einem Mädchen in einem Brief: "Laß uns noch einmal irgendwo zusammenkommen. Irgendwo auf dem Berg, am besten wenn es dunkel ist, damit Du Dich nicht in meiner Gegenwart blamiert fühlst."

Selbsthaß entwickeln gerade die Sensiblen, Empfindsamen, die sehen, was ist und was sein könnte. Das Ich sendet Signale, anerkannt zu werden, und bekommt keine Antwort. Schließlich verknoten sich die vielen Konflikte, Enttäuschungen und Ablehnungen zur Ausweglosigkeit. Es ist ein Prozeß, ähnlich dem des Suizid oder dem des Suizidversuchs: Der einzelne weiß keinen Ausweg mehr, weil er abgelehnt wird, weil er keine Außenkontakte mehr hat, er gibt Zeichen, wie es um ihn steht, aber niemand nimmt sie wahr. Und wenn er schließlich seine Aggressionen nicht mehr nach außen ableiten kann, dann richten sie sich zerstörerisch nach innen, richten sich gegen die eigene Person.

Der Behinderte, der keine Möglichkeit hatte, sich anzunehmen, dessen Minderwertigkeitsgefühle zum Selbsthaß führten, findet dennoch einen Ausweg: Entspricht er schon nicht der Norm, die man ihm aufgezwungen und der er sich unterworfen hat, so gibt es doch noch andere, die noch weniger der Norm entsprechen. Jeder, der in der Behindertenarbeit engagiert ist, kennt diesen Zustand, daß eine Behindertengruppe noch eine andere ausbeutet, die in der Hackordnung noch weiter unten rangiert.

"Echte Kameradschaft unter meinem Personenkreis hat Seltenheitswert", schreibt mir ein Körperbehinderter, "denn der Behinderte, der linksseitig hinkt, glaubt, daß er dem rechtsseitig Hinkenden gegenüber, je nach Lage der Dinge, bevorteilt oder benachteiligt wird." In Kontaktanzeigen von Körperbehinderten, auf die ich im Kapitel über die Sexualität noch näher eingehen werde, empfiehlt sich ein Heiratswilliger: "Seit Geburt Leichtspastiker, Behinderung äußerlich nicht sichtbar ... sucht verständnisvolle Dame zur Überwindung der Einsamkeit. Heirat nicht ausgeschlossen. Sie kann auch leichtbehindert sein, aber bitte keine Rollstuhlfahrerin."[21]

In der nächsten Anzeige wirbt ein Behinderter damit, er sei wenigstens kein Rollstuhlfahrer: "Ich bin 43 J. alt, von Geburt an Spastiker, aber kein Rollstuhlfahrer."[22] Die Hackordnung ist klar: Der leichter Behinderte fühlt sich dem schwerer Behinderten überlegen, weil er noch eher der Norm entspricht. Körperbehinderte fühlen sich geistig Behinderten überlegen. Und die Eltern geistig Behinderter schauen auf die Eltern der Lernbehinderten herab, weil diese so ungezogen sind, während sie an den eigenen Kinder das Bravsein rühmen.

Doch die Hackordnung sieht nicht immer die Leichtbehinderten oben. In dem Volkshochschulkurs, in dem ich seit vielen Jahren arbeite, erklärten eines Tages die Rollstuhlfahrer, es seien keine Behinderten mehr im Kurs. Das stimmte nicht. Es waren viele Behinderte da, denen man die Behinderung jedoch nicht ansah. Sie wurden nicht als "Behinderte" akzeptiert. Für die Rollstuhlfahrer zählten nur die sichtbar Schwerbehinderten als echte Behinderte.

Verbergen und Sich-Anpassen

Die Hilfe, die wir als Sozialarbeiter oder Pädagogen den Randständigen, Stigmatisierten, Aus-der-Norm-Gefallenen anbieten, besteht häufig darin, ihnen Techniken beizubringen, nicht aufzufallen. Der Stigmatisierte soll sein Stigma möglichst verbergen. So wird einem aus der Psychiatrie Entlassenen gerne geraten, bei der Arbeitssuche seinen Psychiatrieaufenthalt zu verheimlichen. Ähnlich werden Strafgefangene bei der Entlassung beraten. Der Nachteil dieser "Hilfe" ist, daß man psychische Erkrankung und Straffälligkeit auf diese Weise erst recht tabuisiert, den Makel praktisch anerkennt und nun den Betroffenen trainiert, den "Defekt" zu vertuschen (statt zu verarbeiten, mit ihm umzugehen).

Diese Vorgehensweise, einen Makel, ein Stigma, zu vertuschen, bringt Zwänge, unfreies Verhalten, weil der Betroffene in der Angst leben muß, daß sein Stigma entdeckt wird: Ein Strafgefangener, der zu lebenslänglicher Strafe verurteilt worden war und nach zwanzig Jahren entlassen wurde, lebte stets in der Angst, als ehemaliger Lebenslänglicher entdeckt zu werden. Über seinen ersten Gang ins Kaufhaus berichtete er mir: "Da war ich nur darauf bedacht, nichts zu tun und mich immer dahin zu stellen, wo ich immer gut beobachtet werden konnte, keine verdächtige Bewegung oder verdächtiges Verhalten an den Tag zu legen, woraus man schließen konnte, ich wär ein Ladendieb."

Ähnlich erging es einer Frau, die Angst hatte, ihre Umwelt könnte erfahren, sie sei eine ehemalige Lebenslängliche. Sie sitzt im Wartezimmer beim Zahnarzt. Eine Frau spricht sie ganz normal freundlich an, wo sie herkomme, was sie mache usw. Ihre Reaktion: "Ich hab dann zu der Frau gesagt, ich erzähle Ihnen mal, wenn wir uns wiedertreffen. Ich hab im Moment so Zahnschmerzen, ich möchte' lieber den Mund gar nicht aufmachen, was natürlich gelogen war. Und so kommen immer wieder Dinge, die einen unsicher machen."

Auch Behinderte versuchen, ihre Behinderung zu vertuschen, über sie hinwegzutäuschen, worauf Goffman in seinem Buch "Stigma" ausgiebig hingewiesen hat. Ein Stotterer versucht möglichst wenig zu reden oder schwierige Worte zu meiden, Sehbehinderte täuschen vor, sie könnten richtig sehen, Schielende täuschen häufig, indem sie ein Auge zukneifen, so daß nur ein Auge fixiert. So entwickeln viele Behinderte ihre individuelle Technik, um nicht als "Behinderte" identifiziert und von gesellschaftlichen Sanktionen betroffen zu werden.

Doch die Technik, ein Stigma zu vertuschen, hat den Preis der Unfreiheit, wie die Beispiele mit den beiden entlassenen Lebenslänglichen zeigen. Die Angst: "Hat es der andere gemerkt?" bleibt immer bestehen. Nie ist man sich sicher, man könnte nicht doch etwas getan oder geäußert haben, das die wahre Identität preisgibt. Nebensächlichste Äußerungen des Gegenübers werden auf das Stigma, auf das Erkanntwerden hin interpretiert.

Behinderte mit einem enteigneten Bewußtsein haben eine spezielle Technik des Verbergens gefunden: die Anpassung. Sie reden so, als seien sie mit dem Nichtbehinderten ganz einer Meinung. Sie verbergen sich unter der Meinung der Nichtbehinderten. Sie passen sich an bis zur Selbstverleugnung. Sie stellen sich auf die Seite ihrer Gegner, weil diese stärker sind. Ich habe dies auf Tagungen und Bundestreffen von Behindertenverbänden oft beobachten können.

Ich habe Tagungen erlebt, wo Politiker die Forderungen des tagenden Verbandes rigoros ablehnten. Die Ablehnung wurde zwar in Schmeicheleien für die gerade Tagenden verpackt und mit vielen grundsätzlichen Absichtserklärungen garniert, aber die Ablehnung war klar und deutlich. Dennoch begehrte keiner auf. Sie schwiegen wie die Bittsteller vor dem Großen Kurfürsten, mehr noch, sie klatschten dem hohen Gast zu, sie bedankten sich bei ihm, verbeugten sich vor ihm. Sie taten so, als seien sie mit ihm einer Meinung.

Dies gehört zur Technik, nicht aufzufallen, nicht merken zu lassen, daß man aus der Norm ist. Der Zwang sich anzupassen, mit dem Normenvertreter einer Meinung zu sein, führt zu absurdem Verhalten. Wenn eine Stadt Bürgersteige absenkt, schicken Behinderte ihrem Stadtoberhaupt heute noch Dankesadressen. Kein Autofahrer käme auf die Idee, sich beim Oberbürgermeister zu bedanken, daß eine Autoausfahrt abgeflacht wurde. Bei einer Ausstellung, wo auch Stände zu Behindertenproblemen aufgestellt waren, kamen Behinderte nicht ins Rathaus. Die Presse protestiert. Der Oberbürgermeister ("persönlich") sorgte dafür, daß eine provisorische Holzrampe aufgebaut wurde. Ergebnis: Viele Behindertenvertreter bedankten sich überschwenglich beim Oberbürgermeister, weil er für eine (provisorische!) Rampe gesorgt hatte. Kein Bürger käme auf die Idee, der Stadtverwaltung in Grußadressen zu danken, daß im Rathaus Treppen und Aufzüge sind, damit er sich frei bewegen kann.

So weit geht unterdrücktes, enteignetes Bewußtsein, daß das Selbstverständliche zum Besonderen wird. Doch die Anpassung an den Normgeber oder seine Stellvertreter, das zeigen diese Beispiele, führen gerade zu anormalem Verhalten.

5. Zur Psychologie der Behinderung

Menschen werden wohl mit einer Behinderung geboren, doch zum "Behinderten" werden sie erst später gemacht. Eigenschaften, die als typische Behinderteneigenarten gelten (Introvertiertheit, Wahrnehmungsstörungen, Ängstlichkeit usw.), lassen sich bei allen Menschen feststellen. Es gibt keine spezielle Behindertenpsyche. Zum Behinderten wird man erzogen.

Auch die Stigma-Theorie greift zu kurz. Es stimmt, daß ein sichtbarer Körperschaden oder eine psychische Abweichung beim Gegenüber Vorurteile auslöst. Es stimmt, daß Nichtbehinderte auf Behinderte im Test mit Ablehnung reagieren. Aber was sagt das schon aus? Es liefert nur den - allerdings sehr wichtigen - Hinweis, daß sich Nichtbehinderte und Behinderte nicht normal begegnen, keinen normalen Umgang miteinander haben, daß ich auf den, den ich nicht kenne, der mir fremd ist, unsicher zugehe. Und je fremder mir jemand ist, je tabuisierter der Umgang ist, desto unsicherer begegne ich ihm.

Nicht das körperliche oder psychische "Anderssein" verhindert normale soziale Kontakte, sondern die gesellschaftliche Bewertung, der ein Behinderter unterworfen ist: Sichtbare Auffälligkeiten werden zum Anlaß genommen, die als untauglich Befundenen an den Pranger der Abweichung zu stellen. So wurde auch gegen die Juden vorgegangen, die verstoßen werden sollten. Auch an ihnen suchte man körperliche Abweichungen (zum Beispiel die Hakennase), um sie besser stigmatisieren, mit dem Brandzeichen der Verstoßung versehen zu können. Das gelang jedoch nicht immer. So zwang man sie, den gelben "Judenstern" zu tragen.

Es ist die gesellschaftliche Bewertung, die einen Behinderten zum "Behinderten" macht. Im Kapitel "Einstellungen und Vorurteile gegen Behinderte" wurde schon darauf hingewiesen, wie Vorurteile aus politischen Interessen gemanagt werden. Behinderung wird immer durch die Bewertung der Umwelt erfahren.

Die Umwelt vermittelt dem Behinderten, er sei eine Belastung, ein Störfaktor, eine Zumutung. An dieser Stelle ist der Behinderte verwundbar, das ist sein Trauma, seine Wunde, so daß er tatsächlich ängstlich wird und sich vor neuen Enttäuschungen schützt, indem er neuen Kontakten aus dem Weg geht: "Wieder und wieder ging es mir durch den Sinn, wie belastend es doch ist, immer wieder um Hilfe bitten zu müssen, Störfaktor zu sein, auch wenn man gar nicht will ... Ich verbiß mich in den Gedanken, wie scheußlich es doch ist, immer wieder Zumutung für andere sein zu müssen."[23]

Wir wurden erzogen, es sei eine Demütigung, andere um Hilfe bitten zu müssen. Und die mit der Verwaltung der Bedürfnisse befaßten Ämter lassen den Behinderten (und die Eltern) deutlich spüren, was es heißt, bitten zu müssen (obgleich es eigentlich um die Rechte Behinderter geht). Sie zwingen die Betroffenen in eine demütigende Bittstellerhaltung. Gusti Steiner, Rehabilitationsberater und selbst behindert: "Die schwerste Behinderung ist, Sozialhilfeempfänger zu sein und um jede Hose betteln zu müssen."[24]

Der Behinderte wird zum Verzicht erzogen: "Soll der Behinderte - gleich in welcher Altersstufe er erkrankt oder lebt - mit dem Schicksal innerlich fertig werden, und sich im Leben bewähren, dann muß er seine Grenzen erkennen, zum Verzicht bereit sein ... "Pädagogen und Familienangehörige erziehen Behinderte bewußt oder unbewußt zur Verzichthaltung. Wer aber im Verzichtdenken erzogen wird, wird keine Lebenspläne entwerfen, nicht für Kontakte offen sein und sich als Zumutung begreifen. Das äußert sich dann in einer Kontaktanzeige so: "Hübsche verwitwete Frau, 30 Jahre jung, mit elfjähriger Tochter, leider Rollstuhlfahrerin ..."[25] Wenn bereits zehnjährige behinderte Kinder feststellen, daß sie nie heiraten werden - solche Beispiele kenne ich zur Genüge -, dann ist doch wohl klar, daß "Verzichten" keine Eigenschaft der Behindertenpsyche, sondern von klein auf anerzogen ist.

Es ist erst kurze Zeit her, da sprach mich eine Rollstuhlfahrerin an. Ich hatte von Freiheitsberaubung gesprochen, wenn man Heimbewohner, erwachsene Menschen, am frühen Abend vor dem Dunkelwerden schon ins Bett verfrachtet. Die Rollstuhlfahrerin sagte mir: "Sie machen die Behinderten rebellisch. Jetzt wollen die Behinderten in ... ", sie nannte den Namen eines Heimes, um 17 Uhr nicht mehr ins Bett. Sie wissen gar nicht, was Sie anrichten." Das enteignete Bewußtsein plappert die Argumente der Heimleitung nach ...

Jeder Behinderte muß ganz individuell mit dem Umstand fertig werden, daß er behindert ist. Ich will dies am Beispiel von drei sehr unterschiedlichen Behindertengruppen deutlich machen: den Spastikern, die meist von Geburt an behindert sind, den Nierenkranken, die in der totalen Abhängigkeit von einer Maschine leben müssen, und den Querschnittgelähmten, die in der Regel durch einen Unfall behindert wurden.

Beispiel Spastiker: Die berühmteste Biografie eines Behinderten hat der irische Spastiker Christy Brown geschrieben. Er ist im Kreis seiner zahlreichen Geschwister und deren Freunde aufgewachsen, und erfuhr seine schwere Behinderung erst einmal nicht als Isolation. Die Freundesclique nimmt ihn immer mit. Doch eines Tages geht sein alter Kinderwagen, einen Rollstuhl besitzt er nicht, zu Bruch.

Christy Brown ist zehn Jahre alt, als dies passiert. Nun gehen seine Geschwister ohne ihn weg. Der Freundeskreis läßt ihn allein. "Die merkwürdige Idee, mit mir könne was nicht stimmen, die schon vorher manchmal in meinem Geist aufgetaucht war, trat nun deutlicher zutage."[26] Seine Erkenntnis: "Ich war hilflos, aber erst jetzt begann ich mir darüber klar zu werden, wie hilflos ich wirklich war."[27] Christy Brown konnte nie alleine gehen, konnte nicht alleine essen, konnte nicht sprechen und sich nicht alleine anziehen, aber erst in dem Moment, wo ihn die Kameraden verlassen, wird ihm bewußt, "daß ich ein Krüppel war".[28]

Von nun an sieht er sich als Krüppel. Er vergleicht seine zuckenden, verkrampften Hände mit den kräftigen Händen der anderen und beginnt seine Hände zu hassen. Er haßt seinen wackelnden Kopf und den schief herunterhängenden Mund. Er stellt fest, daß er stammelt, daß ihm beim Sprechen Speichel aus dem Mund sabbert. Sein Selbsthaß ist so groß, daß er einen Spiegel von der Wand reißt, um nicht mehr mit seinem Spiegelbild konfrontiert zu werden.

Seine Umwelt, seine Freunde, haben ihm klargemacht, daß er hilflos, ein "Krüppel" ist. Doch die Umwelt kann nicht nur Beziehungen zerstören, sie kann auch heilen: Christy Brown trifft ein Mädchen, das nicht vor ihm zurückschreckt, sondern Kontakt aufnimmt. So findet er zu sich zurück. Er hat später, das steht nicht im Buch, geheiratet.

Vergleicht man diesen Lebensbericht mit der Autobiografie von Jürgen Knop[29], einem deutschen Spastiker, wird deutlich, daß auch hier "Behinderung" über die Reaktionen der Umwelt erfahren wird. Knop stellt dies jedoch als einen Prozeß dar. Er wird als Baby in ein Gipsbett gesteckt, sieht sich von den "wilden Spielen" Gleichaltriger ausgeschlossen. Eines Tages macht er eine schreckliche Entdeckung: Er sieht sich im Spiegel, entdeckt, daß sein Körper in ständiger Bewegung ist.

Doch zu diesem Zeitpunkt hat er bereits erfahren, daß er als "anders" angesehen wird. Die besorgten Eltern und die sorgenvollen Mienen der Ärzte haben ihn dies wissen lassen. Jürgen Knop beginnt, seinen Körper zu verwünschen, denn der ist der Anlaß, an all dem nicht teilhaben zu dürfen, was Gleichaltrige erleben.

Wohl kein Behinderter hat es so schwer, anerkannt zu werden, wie der Spastiker. Ein Poliogelähmter oder Querschnittgelähmter entspricht viel eher den Ansprüchen der Warenästhetik (darüber wird noch zu reden sein) als ein zuckender, zappelnder Spastiker, der lächeln will, aber Grimassen schneidet, der reden will, aber nur einen undeutlichen Wortsalat herausbringt.

Auf Spastiker reagiert die Umwelt besonders erbarmungslos mit Abwehr - nicht nur Nichtbehinderte, auch Behinderte reagieren mit Abwehr. Der Spastiker steht in der Behindertenhierarchie ganz unten. In Behindertengruppen läßt sich beobachten, wie Spastiker in Diskussionen ignoriert werden, daß ihnen keine Zeit zum Artikulieren gelassen wird.

Daß auch Behinderte so reagieren, kann nicht verwundern. Denn Behinderte mit einem enteigneten Bewußtsein versuchen ja, möglichst wie die Nichtbehinderten zu agieren. Sie haben ja deren Normen verinnerlicht.

Behinderte Kinder erfahren sehr früh, daß sie Krüppel sind (in Lebensläufen findet sich an dieser Stelle fast immer das deklassierende Wort "Krüppel"). Viele Eltern glauben, sie könnten ihr Kind vor dieser Erkenntnis bewahren, indem sie das Thema tabuisieren. Das gelingt nie. Das behinderte Kind muß sich mit seiner Behinderung auseinandersetzen können, dann wird es eine Behinderung auch normal verarbeiten.

Wagen es die Eltern nicht, mit ihrem Kind zu reden, entstehen so paradoxe Situationen, wie sie die Diplom-Psychologin Manon Hoffmeister am Beispiel Jugendlicher mit Mucoviscidose beschreibt:

"Aus ihrer eigenen Angst und Unsicherheit heraus, denken sie, es sei besser, vor dem Kind zu verbergen, wie gefährlich seine Erkrankung ist. Die Kinder ihrerseits befürchten, ihre Eltern zu sehr zu belasten, wenn sie über ihre Krankheit sprechen und verbergen ihre Ängste vor ihnen.

Es gibt kein Kind, das nicht die Besorgnis seiner Eltern spürt und aus ihrem Verhalten seine Schlüsse zieht. Und je mehr die Eltern vor dem Kind verbergen, umsomehr Raum geben sie seiner Phantasie, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung ist, daß etwas Schlimmes auf es zukommt."[30]

Beispiel Behinderte an der künstlichen Niere: In einer ganz anderen Situation als die von Geburt an Behinderten stehen Behinderte mit einem Nierenversagen. Sie werden abrupt aus ihrer beruflichen Karriere herausgerissen und sehen sich ganz unvermittelt einer lebensbedrohlichen Extremsituation konfrontiert.[31] Alle bisherigen Lebenspläne müssen aufgegeben werden. Das Leben ist auf die physische Existenz reduziert. Auf die Abhängigkeit von Maschine und Personal reagieren sie mit Schuldgefühlen, Ängsten und Aggressionen. Dreimal wöchentlich hängen sie acht Stunden an der künstlichen Niere, die ihr Blut "wäscht" (entgiftet). Der Nierenpatient fühlt sich als Anhängsel der Maschine, und das Personal leidet darunter, daß all der kostenintensive Aufwand den Nierenkranken nicht gesund machen wird.

Viele Patienten versuchen angesichts der lebensgefährdenden Bedrohung, ihre Situation zu verleugnen, zu beschönigen, zu überspielen. Dies schützt sie zunächst gegen ihre Ängste, wehrt Verzweiflung ab und bewahrt sie vor seinem Selbstmord, verhindert damit aber auch eine realitätsgerechte Verarbeitung und fördert schwere psychische Störungen, die zur eigenen Krise und zur Krise mit den Lebenspartnern (Ehepartner, Kinder, Freunde) führt.

Helfen kann hier nur, die Trauer aussprechen zu dürfen, sagen zu dürfen, daß man am liebsten aufgeben, nicht mehr weiterleben möchte. Nur so kann der Behinderte seine neue Lebenssituation annehmen, jene Haltung finden, die die Maschine als Helfer akzeptiert, weil sie das Leben fortan ermöglicht. Die künstliche Niere wird zu einem Hilfsmittel wie dem Gehbehinderten die Krücke und dem Gelähmten der Rollstuhl.

Während ich dies niederschreibe, muß ich daran denken, wie wenig Trauerarbeit in der Behindertenpädagogik geleistet wird. Verzichten soll der Behinderte. Er soll seine Defizite annehmen (wie die gehobene Redeweise von Verzichten lautet). Nur traurig dürfen wir nie sein. Ich sage bewußt "wir": Der Behinderte darf wenig von seiner Trauer mitteilen, davon, daß sich seine Behinderung fortschreitend verschlechtert, daß er allein, ohne Partner, leben muß, denn sonst ist er für die Nichtbehinderten nicht mehr attraktiv. Und der Nichtbehinderte, ich, soll nicht traurig sein, daß sich eine Behinderung verschlimmert, daß einer allein bleibt, darf nicht an seiner Trauer teilhaben, weil ich nach altbewährtem Betreuerethos den Behinderten ja schonen muß, ihm als Nichtbehinderter "Lebensmut" vermitteln soll.

Beispiel Querschnittgelähmte: Sie werden oft von einer auf die andere Sekunde zum Behinderten. Barbara Winter, eine querschnittgelähmte Psychoanalytikerin, schildert in einem Rundfunkinterview, "daß der Unfall und die Ouerschnittlähmung zunächst kein Schock ist. Weil man die Tatsache, daß man wirklich gelähmt ist, sich nicht mehr bewegen kann und nichts mehr empfindet, erst allmählich wahrnimmt. Ich glaube, das ist ein Phänomen, was immer wieder beobachtet wird, es handelt sich wohl um einen Schutzmechanismus der Psyche, daß die Tatsache zunächst geleugnet wird."[32]

Der Querschnittgelähmte empfindet wohl unklar, daß jetzt etwas anders ist, daß er sich nicht mehr wie zuvor bewegen kann. Aber die Erkenntnis der neuen Situation stellt sich erst allmählich ein. Der Schock beginnt in dem Moment, wenn die Behinderung sichtbar wird, wenn der Behinderte in den Rollstuhl gesetzt wird: "... ich fühlte meine Beine nicht, ich fühlte meinen Po nicht, ich hatte das Gefühl, wie abgestorben zu sein, halbiert zu sein und auf einem aufgeblasenen Gummiball zu sitzen. Und noch dazu ganz unsicher. Bis zu der Stelle, wo dieser aufgeblasene Gummiball war, hatte ich Schmerzen, vor allem Rückenschmerzen, und darunter war nichts ..."[33]

Der Querschnittgelähmte erlebt seinen Körper erst oberhalb der Bruchstelle als seinen eigenen Körper. Er beginnt, durch Hinschauen und Betasten die gefühllosen Körperteile wieder als zu sich gehörig zu entdecken, sich anzueignen, Körpergefühl zurückzugewinnen. Barbara Winter meint, der Querschnittgelähmte habe zunächst die "Erlebnisse von körperlicher Entfremdung, von Taubheit, daß einem was nicht gehört", zu überwinden. Man müsse den eigenen Körper wiederbeleben ("repersonalisieren").

Der Querschnittgelähmte "muß das, was ihm keine Rückmeldung mehr gibt, und was ihn auch enttäuscht, trotzdem als zu sich gehörig erkennen und akzeptieren und auch gerne haben ... Ich glaube, es geht nur über das primäre mit sich selbst versöhnen, denn mit sich selbst versöhnen heißt ja, sich selber gerne haben können, wertvoll finden können, so wie man sich zugestehen kann, daß man Mängel hat und bei Querschnittgelähmten sind wirklich gigantische Mängel, und daß man sich trotzdem dann in einer Beziehung, egal, welcher Art sie ist, als seelisch intakter und auch einigermaßen selbstbewußter Mensch einbringen kann."[34]

In Behindertenheimen läßt sich sehr gut beobachten, wie Behinderte gerade jene Körperteile vernachlässigen, die gelähmt, "beschädigt" sind, denn sie halten sie für wertgemindert oder wertlos. Vor allem bei Männern sieht man, wie sie ihre gelähmten Beine in schlottrige Hosen oder gar in die Hosen eines Trainingsanzugs stecken, sich völlig achtlos anziehen, während sie die "unbeschädigten" Körperteile (zum Beispiel die Bärte!) sorgsam pflegen.

Es gilt, sich den entfremdeten, enteigneten Körper wieder anzueignen. Das Trauma einer körperlichen Schädigung können vor allem jene überwinden, die ihre eigene Identität im Zusammenleben mit anderen gewinnen: "... die das Gefühl hatten, gebraucht zu werden, die ungeachtet ihrer schweren Behinderung über sich selbst hinausgehen konnten, sich um andere kümmern, für andere wertvoll sein konnten, die haben es eigentlich alle überstanden. Aber die, die ihren Lebensinhalt nur noch darin sehen, ja diesen beschädigten Körper entweder mühsam zu pflegen, oder manche auch unbewußt ihn mühsam zugrunde zu richten, die sind eben nicht zurecht gekommen."[35]

Wer über sich hinausgehen, auf andere zugehen kann, gewinnt seine Zukunft, sieht wieder Zukunftsperspektiven am Horizont der Gegenwart. Die Aneignung des Körpers bedeutet die Überwindung des enteigneten Bewußtseins. Damit ist der Weg der Befreiung beschrieben, Identität gewonnen.

6. Die Behinderten-Eltern

"Du hast dir ein Kind gewünscht, es ist neun Monate in deinem Bauch gewesen, du hast es gespürt, du bist voll Freude gewesen, als es geboren war, doch dann kommt die Ernüchterung, - du kannst es nicht vorbehaltlos liebhaben."[36] Da steht der Arzt am Bett der Mutter und sagt: "Frau X, Ihr Kind hat eine Mißbildung!" Die Mutter hört wohl, was der Arzt da sagt, kann aber die Tragweite des Satzes zunächst nicht verstehen, kann nur ahnen, was das bedeutet.

Da sind Hoffnungen, Erwartungen, Pläne zerstört. Doch sollen Eltern (und Kind) eine Lebensperspektive gewinnen, dann müssen sie lernen, mit der Tatsache "Behinderung" umzugehen. Das ist ein langer Prozeß, harte Arbeit, anstrengend und problembeladen.

Und deshalb der wichtigste Satz gleich am Anfang: Reagieren Eltern ihrem Kind gegenüber mit Todeswünschen, dann ist das normal. Abwehrreaktionen sind moralisch nicht verwerflich. Das Eingestehen der eigenen Abwehrgefühle ist im Gegenteil der Anfang der Verarbeitung.

"Eine Mutter von einem behinderten Kind hat sich ihm gegenüber ständig wie die heilige Mutter Maria zu benehmen."

Marlies Menge, in: Die Zeit, Nr. 33/1975.

Der geheime Wunsch, "vielleicht stirbt es" - niemand ist vor diesem Gedanken gefeit. Und es ist auch eine normale Reaktion, denn die Geburt eines behinderten Kindes liegt außerhalb dessen, was Eltern erwarteten und sich vorstellten. Die Erkenntnis kann wie ein Hammerschlag treffen, Niedergeschlagenheit stellt sich ein, Trauer, Depression, Widerstand in Form von Abwehr und Leugnung der Tatsachen. Aber irgendwann, wenn die Chance der Verarbeitung besteht, erblüht auch Hoffnung und Zukunft.

Leicht wird es einer Mutter nicht gemacht, ihr behindertes Kind anzunehmen, dafür sorgen schon Verwandte und Nachbarn. Die Mutter von Therese, die ohne Arme und Beine geboren wurde, erzählt ihrer Tochter: "Am Anfang - gerade nach Deiner Geburt - das ist für mich natürlich nicht leicht gewesen, wenn alle anderen rund herum geweint haben. Ich mag mich noch gut erinnern, wie eine Frau in unserer Stube geweint hat (alle meinten, ich höre das nicht - sie vergaßen aber die Türe zu schließen) und immer wieder gesagt hat: >Nein so ein Kind könnt ich nicht haben.< Auch meine Mutter hat viel geweint und gebetet, immer gebetet und Geld verschickt, damit man Messen lese - aber auch nicht lang. Sie war dann sehr tapfer und hat kräftig mitgeholfen. - Und Du hast ihr ja dann sehr viel bedeutet."[37]

Schuldgefühle - narzißtische Kränkung

Eltern reagieren auf die Geburt eines behinderten Kindes mit Schuldgefühlen. Die Schuldgefühle melden sich auch dann, wenn die Schuldfrage eindeutig geklärt ist, wie bei den thalidomidgeschädigten Kindern, bei denen das Schlafmittel "Contergan" als Ursache bekannt wurde.

Die Geburt eines behinderten Kindes belastet eine Ehe und stürzt die Partner in eine Krise. Erfährt dann die Mutter auch noch, daß sie die Behinderung übertragen hat, wie das bei den Blutern der Fall ist (nähere Informationen zur Vererbbarkeit finden sich im Anhang des Kapitels über Sexualität), dann hat sie Jahre mit Selbstanklagen und versteckten Schuldvorwürfen vor sich.[38]

Erfahren die Eltern, daß sie - wie bei der Mucoviscidose - beide Überträger der Behinderung sein können, kommt es oft zu dramatischen Auseinandersetzungen. Ein Mediziner berichtet über seine Beratungsgespräche: "Bei derartigen Gesprächen erlebe ich nicht selten, daß die Eltern in kurzer Zeit eine intensive Familienforschung nach chronischen Bronchitiden oder Verdauungskrankheiten anstellen, mehr um sich selbst als dem Ehepartner zu beweisen, daß die Familie des Partners eine stärkere Belastung in die Ehe einbrachte als ihre eigenen Vorfahren. Wenn dann auch noch die Großeltern sich in diese Untersuchungen einschalten, manifestiert sich bei ihnen manchmal eine starke, vielleicht unbewußte Aggressivität gegenüber dem Ehepartner des eigenen Kindes, die in Einzelfällen zu geradezu grotesken Beschuldigungen führen kann."[39]

Aber auch da, wo der Versuch, die Ursache der Behinderung beim Partner ausspähen zu wollen, keinen realen Anlaß bietet, weil keiner der Überträger der Behinderung sein kann, fühlen sich die Eltern in Frage gestellt, quälen sie sich mit Selbstvorwürfen. Eine Mutter über ihre Tochter: "Das ist schon eine rechte Infragestellung, so ein Kind; sicher auch für den Partner. Ich identifizierte mich schon mit ihr und muß mich doch einiges fragen. Erstens ist es eine dauernde Auseinandersetzung mit der Umgebung ... und du wirst andauernd in Frage gestellt: Was ist das für eine Mutter, die so ein Kind hat. Und schlußendlich frag ich mich auch: wer bin ich eigentlich. Ich fand das an sich schaurig wichtig, das zu machen, aber da kann auch einer dran depressiv werden."[40]

Das behinderte Kind kann die ursprünglichen Erwartungen der Eltern nicht erfüllen. Das ist die Kränkung, die die Eltern erfahren. Die Behinderung ist in ihren Augen ein Makel, eine Stigmatisierung ihrer Person, eine seelische Wunde (Trauma). Sie fühlen sich in ihrem Innersten verletzt, verwundet, gekränkt, weil das Kind nicht ihren Wunschvorstellungen und Normen entspricht.

Gerade die Mütter geraten dabei in eine fast aussichtslose Situation, denn sie haben ja eine hehre Mutterrolle als Vorbild: Eine Mutter liebt ihr Kind, umsorgt es, gibt ihm Nestwärme. So sehen sich die Mütter Behinderter gezwungen, ihre ablehnenden Gefühle zu verdrängen, zu leugnen, doch die rumoren im Inneren weiter und gebären neue Schuldgefühle.[41]

Die Rolle der Umwelt

Es ist sehr einfach, das Problem individualpsychologisch zu betrachten. Zeigen wir nur das Fehlverhalten der Eltern auf, lasten wir den Schuldsuchenden nur noch mehr Schuld auf. Wir müssen sehen lernen, wie sehr das Verhalten der Eltern von ihrer Umwelt beeinflußt ist.

Behinderte neigen dazu, ihre Eltern für die eigene Entwicklung verantwortlich zu machen. Sie haben ja auch unter der Befürsorgung und Bevormundung ihrer Eltern oft genug gelitten. Dabei machen sich Behinderte jedoch nicht klar, daß auch ihre Eltern Opfer sind, Opfer einer erbarmungslosen Abwertung derer, die ein "minderwertiges" Kind geboren haben.

Therese Zemp berichtet, sie sei beeindruckt gewesen, daß ihre Eltern bereits ab der dritten Woche mit ihr spazierengefahren sind. Denn die Behinderten ihres Dorfes, auch die leicht Behinderten, wurden allesamt versteckt. "Dein Vater", berichtet die Mutter, "ist ja viel schneller als ich über das hinweggekommen. Mir hat es einfach schandbar viel Mühe gemacht, wenn die Leute still gestanden sind, uns angestarrt haben und einfach gefragt haben.[42]

"Hamburg hat für die Ärmsten unter den Armen noch nichts getan! ... Wer sind diese? - Ich meine jene armen Kinder, die mit fast verwischtem Gottes-Ebenbilde, den Tieren ähnlich, eine Plage ihrer Eltern, ein Gegenstand der Furcht für die Nachbarn - zumeist in den Hütten der Armen heranwachsen, die armen Blödsinnigen und Idioten, in deren Seelen kein Strahl der göttlichen Wahrheit fällt."

Pastor Heinrich Matthias Sengelmann, in: "Der Bote aus dem Alstertal," 1862.

Die Behinderung wird als Verhängnis, als Unglück, als furchtbares Schicksal erlebt. Da bereiten Eltern geistig Behinderter einen Familiengottesdienst vor. Die Eltern treffen sich mit dem evangelischen und dem katholischen Pfarrer zu einem Vorbereitungsgespräch. Zögernd fragen die beiden Pfarrer: "Kann man in Gegenwart so schwer behinderter Kinder und Jugendlicher Gott preisen und danken?"[43] Wahrscheinlich versuchten die beiden Geistlichen, einfühlsam zu sein, tatsächlich fällten sie aber ein vernichtendes Urteil.

Das schlimmste ist für die Eltern wie die Behinderten das Mitleid: "Es ist uns oft schwer gefallen, die Betroffenheit der Freunde psychisch auszuhalten. Bemerkungen und Fragen wie >Das tut mir aber ungeheuerlich leid! Kann man wirklich gar nichts dran machen?< gingen uns förmlich durch sämtliche Glieder oder schnürten uns den Hals zu. Es ist schwer gewesen, immer wieder enttäuschte, mitleidsvolle Gesichter auszuhalten. Wir mußten immer wieder die gleichen Fragen beantworten, obwohl wir selbst noch sehr wenig wußten."[44]

Eine Mutter sieht jedoch auch einen Zusammenhang zwischen ihrem eigenen Verhalten und dem Verhalten der Umwelt: "Es hat mich noch mehr belastet, wenn ich mir ihr Mitleid auch noch aufladen mußte ... Ja, es kommt schon fast darauf an, wie man selbst daran geht. Aber du mußt schon immer die Starke sein. Das macht mir manchmal schon Mühe, daß du meistens den ersten Schritt machen mußt. Ich spüre einfach so wenig selbstverständliche Solidarität; viel mehr so: >Gott sei Dank ist das uns nicht passiert!< Ich kann das schon alles verstehen und mir erklären, daß das aus Angst, Abwehr und Bedrohung passiert und trotzdem ist es schaurig verletzend."[45]

Die Rolle von Ärzten und Kliniken

Als Thereses Mutter ein Jahr nach der Geburt noch nicht wieder schwanger war, wurde sie von ihrer Schwiegermutter unwirsch angefahren: "Du willst doch wohl nicht wegen dem Theresli kein weiteres Kind mehr!" Freimütig berichtet Thereses Mutter: "Und von dem Schock von Deiner Geburt her ist das halt dann nicht mehr so gut gegangen. Und wir gingen dann beide zum Arzt und ließen uns untersuchen. Und da ist alles in Ordnung gewesen. Und man hat uns gesagt, wir sollen doch in die Natur hinausschauen, da gäbe es auch - ohne daß man wisse warum - immer wieder Abnormales."[46]

Die "schlimmste Erinnerung" ist für Thereses Mutter die Erinnerung an eine Begegnung im Spital: "Ich war auf eine bestimmte Zeit ins Spital bestellt und habe dann lang mit Dir draußen auf dem Gang warten müssen. Immer sind Krankenschwestern vorbeigelaufen und haben alle Dich angestarrt, einige ließen ihre Sprüche los und ich habe genau gespürt, daß sie weitergingen und der nächsten erzählt haben, was da vorne auf dem Gang für ein Kind sei. Und da kam die nächste und schaute. Endlich konnte ich dann mit Dir in das Sprechzimmer hinein, wo sie nichts anderes gemacht haben als Dich von allen Seiten zu fotografieren. Am Schluß hat mir der Herr Professor nur noch gesagt, es sei ja egal, wenn es wie ein Säuli zum Teller herausesse."[47]

Die Mutter einer behinderten Tochter: "Ich hab mich im Leben nicht so ohnmächtig gefühlt wie in der Zeit. Ich habe eine unheimliche Wut gehabt auf die Schwestern ..."[48] Hintergrund ihres Zorns ist die Tatsache, daß sie die Behinderung ihrer Tochter sehr früh erkannt hatte, ihre Vermutungen von der Klinik aber als hysterisch abgetan wurden. Eine Erfahrung, mit der sie nicht alleine steht.

Viele Eltern mußten erfahren, daß Ärzte sie vertrösteten, ihrem Kind fehle nichts, es sei allenfalls ein Spätentwickler. Einer Mutter, die den Verdacht aussprach, ihr Kind sei geistig behindert, wurde vom Arzt geantwortet, solche Gedanken dürfe sie nicht haben, "das sei ein großes Unrecht".[49]

Viele Ärzte halten die Eltern hin, deuten ihnen nur dunkel an, da stimme was nicht, das sei wohl ein "Sorgenkind".[50] Viele Ärzte können sich den Eltern aber auch nicht verständlich machen, weil ihre Fachsprache nicht nur für einfache Eltern eine Fremdsprache sein muß.[51]

Ärzte - dazu gibt es viele Aussagen - bieten den Eltern selten eine Hilfe, wie das Leben mit einem behinderten Kind zu bewältigen sei: "Die Antworten auf unsere ersten angstvollen Fragen wirkten nicht gerade beruhigend auf uns. Ärzte und Schwestern widersprachen sich auch teilweise bzw. wirkten niederschmetternd auf uns. Äußerungen, die möglicherweise auch tröstend gemeint waren, wie: >Wir hatten mal ein Kind mit einem vollkommen gespaltenen Bauch hier auf der Station. Selbst das haben wir wieder hingekriegt<, oder die eines Arztes, zehn Minuten nach der Geburt, >Das ist gewiß keine Erbkrankheit! Ihre Frau ist ja noch sehr jung und kann noch viele gesunde Kinder bekommen<, erreichten in ihrer Absicht genau das Gegenteil. Unsere Ängste wurden größer und berührten auch andere Bereiche: Wie werden wir selbst damit fertig, ein querschnittgelähmtes Kind zu haben? Was sagen unsere Freunde, unsere Eltern, die Nachbarn? Müssen wir Dinge, die wir bisher gemacht haben, z. B. so oft es geht in Ferien zu fahren, viel zu lesen, beide unseren Beruf auszuüben, müssen wir das, was wir unter Leben verstehen, jetzt aufgeben, um uns nur noch um unser behindertes Kind zu kümmern? Werden wir uns aufgrund der Behinderung unseres Kindes nicht mehr so gut verstehen, leidet unsere Beziehung darunter?"[52]

Eine Untersuchung bei Eltern geistig behinderter Kinder ergab, daß sich fast alle Mütter zunächst an einen Arzt gewandt hatten, aber: "Nur 49 Prozent der aufgesuchten Ärzte verhielten sich - allerdings mit mehr oder oft auch weniger Einfühlungsvermögen - adäquat. Sie nahmen die Verdachtsmomente der Mütter ernst, überwiesen das Kind in eine entsprechende Klinik oder teilten der Mutter die Diagnose mit. Wie bereits angedeutet, bewiesen sie dabei nicht selten erstaunlich wenig Taktgefühl. Eine Mutter berichtete, der Arzt habe den Säugling untersucht und dann zu ihr gesagt, >der sei nichts geworden< und sie solle sich ein neues Kind anschaffen."[53]

Angesichts dieser Erfahrungen ist wohl deutlich, wie schwer es Eltern gemacht wird, zu ihrem Kind ein normales Verhältnis zu entwickeln. Sie sind den Reaktionen ihrer Umwelt ausgeliefert und dem Unverständnis von Fachleuten. So werden aus Eltern Behinderter behinderte Eltern. Wieviel Kraft Eltern behinderter Kinder aufbieten müssen, zeigt eine Erfahrung mit dem Sozialamt: "So haben wir z. B. auf dem Sozialamt bei der Antragstellung auf Pflegegeld zu hören bekommen: >Ja, also Ihrer Tochter geht es schlecht, dann hören wir ja doch sofort davon, wenn sie stirbt.<"[54]

Verleugnung der Behinderung

Eltern reagieren auf die Geburt mit Abwehrgefühlen. Die Umwelt reagiert auch mit Abwehr, amtliche Hilfsstellen, Ärzte und Schwestern verhalten sich verunsichernd, manchmal auch verletzend, so daß sich die Abwehrgefühle verstärken müssen. Die einfachste Möglichkeit, allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, ist dann die, die Behinderung aus dem Bewußtsein zu vertreiben, zu verdrängen, die Behinderung möglichst zu leugnen.

Eine Technik, die Behinderung des Kindes zu leugnen, ist die, es zu verstecken. Immer noch leben Kinder, die vor der Umwelt versteckt werden, die zu Hause wie im Gefängnis leben. Bekanntgeworden ist ein Fall aus Hamburg. Dort befreiten 1973 Polizeibeamte einen schwachsinnigen Jungen aus einem verschmutzten und verdreckten Lattenverschlag. Die Boulevardpresse war sich im Urteil von entmenschten Eltern einig, hatten sie doch ihren Sohn in einer Art Folterkammer eingesperrt.

Wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung standen die Eltern dann vor Gericht. Dort stellte sich heraus, daß die Mutter achtzehn Jahre alt gewesen war, als der Junge geboren wurde. Er kam in ein Heim, dessen Leiterin später wegen Mißstände in der Pflege zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Im Heim gab es nur braunen Brei zu essen. Der Junge lernte weder sprechen noch laufen. Er kam zu seiner Mutter zurück. Sie kümmerte sich intensiv um ihn, brachte den 12jährigen auf das Niveau eines 6jährigen. Gelegentlich tauchte ein Vertreter der Familien- und Jugendfürsorge auf, wußte aber auch keinen Rat. Ein Versuch in einer heilpädagogischen Sonderschule scheiterte.

Der Junge wurde aggressiv, näßte ein, kotete, zerriß seine Betten, tötete Tiere und aß sie, schlug auf andere ein. Schließlich baute ihm sein Vater, Zimmermann von Beruf, einen drei Quadratmeter großen Haus-Anbau mit vergittertem Fenster. Dort mußte der inzwischen 14jährige nachts schlafen. Später durfte er tagsüber nur noch dann heraus, wenn ein Elternteil in der Nähe war. Zweifellos eine qualvolle Form von Eltern-Selbsthilfe, aber sie wußten sich ja nicht zu helfen, und ihre Hilferufe an die Jugendbehörde waren ungehört verhallt.

Insgesamt fünfzehn Behördenvertreter hatten den Lebensweg des Jungen mitverfolgt, Berichte hin- und hergeschickt, nur nicht geholfen. Ein Schulleiter und ein Sonderschullehrer besichtigten den Verschlag des Jungen, der Lehrer soll sich sogar hineingesetzt haben. Angesichts des massiven Versagens der Behörden, die die Eltern in ihrer Überforderung alleingelassen hatten, mochte das Gericht keinen Schuldspruch fällen und sprach die Eltern frei.[55]

Ich habe diesen Fall ausgesucht, weil er die Verlogenheit der Diskussion zeigt: Die Umwelt läßt die Eltern mit ihren Problemen allein, die Behörden tun nichts, aber die Schuldigen sollen dann die Eltern sein.

Fälle, daß Eltern ihre Kinder regelrecht (z. B. im Kuhstall) verstecken, dürften inzwischen selten sein. Aber es gibt andere Formen, Behinderte aus dem Verkehr zu ziehen. Ein Behinderter beschreibt "Warum mich meine Mutter versteckte": "Sie hat versucht, mich einmal vor sich selbst und vor der Umwelt zu verstecken, dadurch, daß sie verhindert hat, daß ich mir überhaupt einen Rollstuhl kaufe. Der Rollstuhl war für sie Manifestation meiner Behinderung ... Wenn ich aber beispielsweise ganz normal in einem Stuhl gesessen habe, hat ein Außenstehender nicht gesehen, daß ich behindert bin. Und in diesem Augenblick war für sie die Welt in Ordnung."[56]

Viele Eltern versuchen, gerade bei fortschreitenden Behinderungen, die Behinderung zu leugnen, indem sie ihren Kindern keinen Rollstuhl kaufen. Denn der Rollstuhl ist ein unübersehbares Requisit einer Behinderung. Ich habe erlebt, wie Eltern, die die Behinderung ihres Kindes nicht akzeptiert hatten, ihre Kinder Torturen unterwarfen und sie prügelten, um ihnen das Laufen beizubringen.

Viele Behinderte leben in der eigenen Wohnung eingesperrt. Eltern hüten ängstlich ihr "Kind", das oft genug schon erwachsen ist, verbieten ihm den Besuch von Behindertenclubs oder setzen ihr "Kind" so massivem psychischen Druck aus, daß der Besuch im Behindertenclub wie eine Entscheidung gegen die Eltern erscheinen muß. Sie programmieren ihr "Kind" auf Abhängigkeit und Unmündigkeit, damit es nicht auf den Gedanken kommt, selbständig zu werden, hinauszugehen. So werden Behinderte dermaßen lebensuntüchtig gehalten, daß sie sich "freiwillig" den Blicken der Umwelt verbergen.

Überbehütung, sagen viele Pädagogen und Psychologen, ist eine Form der Ablehnung des Behinderten. Die feindseligen Gefühle gegen das behinderte Kind, mögen sie noch so weit verdrängt sein, werden dem Gewissen gemeldet. Das Gewissen, als Instanz des Über-Ich, als Kontrollorgan der gelernten Normen, weiß, daß es falsch handelt und versucht die Fehlhandlungen auszugleichen. Es will den Schaden wiedergutmachen und dem Kind auch quantitativ zurückgeben, was ihm an Schaden zugefügt wurde - also übermäßig. Schuldgefühle werden durch übermäßige Zuwendung erstickt. Damit wird das Gewissen beruhigt: Ich tue ja alles für das Kind, was willst du Gewissen denn, du hast eine Falschmeldung bekommen, wenn du denkst, ich würde mein Kind ablehnen.

Unter die Rubrik der Leugnung fällt meines Erachtens auch die Sammelleidenschaft vieler Funktionäre der Elternvereine. Natürlich: Der Verein braucht Geld. Aber beim Spendenbetteln kann das schlechte Gewissen materiell beruhigt werden. Viele Eltern stellen als Funktionäre anspruchsvolle Thesen auf, wie man sein Kind annehmen muß, schaffen es aber gefühlsmäßig nicht. Auch hier entstehen Schuldgefühle, weil sich Anspruch und Wirklichkeit nicht decken. Da ist es eine seelische Entlastung, mit der Sammelbüchse durch die Soziallandschaft zu wandeln.

Die Art und Weise, wie Elternfunktionäre geradezu schamlos die Behinderung ihrer Kinder als elend und zugleich niedlich herausstellen, stellt zugleich eine Abwertung der Kinder dar. Ich kann ein Kind nicht als hilflos zur Schau stellen, es als Spendenobjekt mißbrauchen, zu jeder Wohltätigkeitsfeier Männchen machen lassen, wenn ich seine Gleichstellung fordere, denn ich mache es doch in diesem Augenblick völlig ungleich. Es ist die hilflose Geste: Seht doch mein/unser Elend, da seht ihr's ja, wie es um uns steht. So sagt man mit dem Munde zwar, man wolle die Integration, praktiziert aber zugleich die Desintegration.

Ich weiß, daß ich mir mit diesen Äußerungen Feinde unter den Elternverbänden schaffe. Aber ich denke an die Kinder, denn die müssen lebenslang gegen jenes Behindertenbild ankämpfen, das durch diesen Spendenrummel geprägt wird. Dieser Schaden ist größer als der materielle Gewinn.

Ich habe mich oft gewundert: Eltern klagen über die Behinderung ihres Kindes häufig so herzzerreißend, daß man glaubt, sie seien behindert, sie seien blind, gehörlos, querschnittgelähmt, hätten Spasmen oder einen Wasserkopf. Es sind die Gefühle der Eltern, die in die Kinder hineingedrängt werden, projiziert werden. Die Kinder sehen sich selbst gar nicht so wehleidend. Eltern vergrößern unbewußt die Leiden ihrer Kinder, um die eigene Ablehnung plausibel zu machen. Dies ist kein bewußter Vorgang.

Dies ist keine Anklage, und ich will auch nicht behaupten, alle Eltern handelten aus diesen unbewußten Motiven. Aber wir müssen Möglichkeiten schaffen, über alles frei reden zu können, offen zu werden, Schuldgefühle aufzuarbeiten und auch in schwierigen Situationen ichbestimmt zu handeln (ichbestimmt sind diese Schuldgefühle nicht, sie werden den Eltern aufgedrängt).

Störungen der Elternbeziehungen

Die Geburt eines behinderten Kindes verunsichert nachhaltig das eheliche Zusammenleben. Nicht nur, daß vielfach ein Schuldiger gesucht (und meist in der Mutter gefunden) wird, viele Ehen scheitern, offen oder vor der Umwelt verborgen.

In großer Offenheit schreibt die Mutter eines spastisch gelähmten Jungen: "Jeder Vater, jede Mutter kennt den Stolz und die Liebe, die gesunde Kinder in Eltern erzeugen, aber nur die Eltern von behinderten Kindern wissen um das schlechte Gewissen, das plagt, wenn es einem eben nicht gelingt, ständig >liebevoll< zu sein, wie es die Umwelt von einem erwartet. Es gibt keine Statistik, die aufzählt, wie viele Väter vor diesem Problem kapitulieren. Gerade bei den behinderten Kindern ist die Zahl der alleinstehenden, weil geschiedenen Mütter sehr hoch. Es gibt keine Statistik darüber, wie viele Selbstmordversuche (mit oder ohne Erfolg) Mütter von behinderten Kindern machen."[57]

Die Mütter leiden vielfach am Unverständnis ihrer Männer, die Männer an ihrer Männerrolle. Männer, die ihrer Rolle nach dazu geboren sind, die Familie zu schützen, in allem männlichen Rat zu wissen, die potent sein müssen, wollen sie ein richtiger Mann sein, erfahren sich selbst als schutzbedürftig, ratlos, ohne Kraft, sprich impotent. Viele Männer, in ihrer Rolle so ganz und gar in Frage gestellt, kapitulieren und ziehen die Flucht vor, sei es, daß sie die Ehe verlassen, sei es, daß sie sich fortan nicht mehr als Beschützer aufführen, sondern als Zuschauer distanzieren: Väter begleiten ihre Kinder selten zu Ärzten, Beratern, Behörden, zur Therapie. Meist lesen die Mütter die Fachliteratur, informieren sich, knüpfen Kontakte zu anderen Eltern. Die Väter entziehen sich, selbst aus dem Ehebett treten sie den Rückzug an. Oder sie werden vertrieben, weil die Mutter das behinderte Kind als Waffe gegen den Ehepartner verwendet, endlich mit ihm abrechnen kann, wozu sie bisher keine Gelegenheit hatte.

Zwei Mediziner (die von "Krankengut" reden müssen, obgleich es nicht um Sachen, sondern um Menschen geht) fanden, "daß in einer Befragung unseres Krankengutes festgestellt werden konnte, daß 69 Prozent der von uns untersuchten entwicklungsgestörten Kinder nicht im eigenen Bett, sondern im Ehebett schlafen. Fast immer ist der Vater aus dem ehelichen Schlafzimmer ausgezogen."[58]

Die Gründe, das behinderte Kind mit ins eheliche Bett zu nehmen, klingen zunächst einleuchtend. Die Mutter hat Angst, vor epileptisehen Anfällen, Schreien, Träumen, da ist die Notwendigkeit, das Kind zu drehen. Wo ein Kind einmal mit ins Bett schlupfte, kehrt es fast nie mehr ins eigene Bett zurück.[59] Hinter allen einleuchtenden Gründen verbergen sich tiefliegende Störungen, offene oder insgeheime Vorwürfe gegen den Ehepartner. Die Tatsache, nun mit einem behinderten Kind zu leben, wurde nicht verarbeitet.

Hilfe durch Aufklärung

Zweifel, Selbstbeschuldigungen, Ängste, Unsicherheiten muß der mit sich tragen, den man im dunkeln tappen, den man unsicher läßt, den man nicht informiert. Eltern müssen genau wissen:

1. Was hat mein Kind (Diagnose)?

2. Was ist die Ursache der Behinderung?

3. Wie kann man meinem Kind helfen (Behandlung, Therapie)?

4. Was können Eltern zur Behandlung und Therapie beitragen?

5. Welche Perspektiven hat mein Kind?

Wichtig ist, daß die Eltern wissen, was durch eine Behandlung erreicht und was nicht erreicht werden kann. Eltern werden oft getäuscht, weil der Arzt meint, sie nicht belasten zu können. Eltern werden "geschont", indem man sie über die Schwere der Behinderung täuscht oder ihnen Zukunftsaussichten vor Augen stellt, die völlig unrealistisch sind.

Diese Form von "Schonung" ist für Kind und Eltern schädlich. Denn die Eltern können sich mit ihrem Kind nicht realistisch auseinandersetzen, können die Zukunft ihres Kindes nicht realistisch planen. Sie stellen aufgrund falscher Erwartungen viel zu hohe Anforderungen, überfordern ihr Kind, das so zu seinen Fähigkeiten kein Verhältnis finden kann.

Kein Arzt wird eine exakte Prognose stellen können. Es bleibt immer ein Spielraum, was erreicht und was nicht erreicht werden kann. Wir wissen auch nicht, ob nicht in einigen Jahren medizinische Hilfen angeboten werden, die heute noch unbekannt sind. Die Entwicklung eines Kindes hängt aber auch von subjektiven Einflüssen ab, wie weit sich das Kind angenommen weiß, wieviel Selbstvertrauen es mitbekommt, das heißt, in welchem Maße Eltern lernen, ihr Kind so anzunehmen wie es ist. Wenn sie es wirklich akzeptieren, können sie es auch wirklich fördern, haben sie wieder Zukunft vor sich.

Einem Menschen, der hungert, kann ich einfach helfen, indem ich ihm zu essen gebe. Einem Arbeitslosen kann ich helfen, indem ich ihm Arbeit vermittle. Einem behinderten Kind, das so schwer behindert ist, daß es sein Leben lang mit Einschränkungen leben muß, kann ich helfen, indem ich seine Behinderung und seine Einschränkungen akzeptiere, daß ich seine Behinderung mit allen Konsequenzen bejahe. Dann werde ich auch wieder frei, die Fortschritte zu sehen, die ein Kind in der Therapie oder in der Schule macht. Eltern müssen sich (das alles sind Probleme, die auch Eltern nichtbehinderter Kinder haben) von ihren eigenen Vorstellungen, Träumen, Erwartungen, Normen trennen, wenn sie dem Kind gerecht werden wollen.

"Ich finde es nicht richtig, daß die Eltern nicht ehrlich sagen, was mit einem geschieht. Man wird einfach nach G. in die Frauenklinik geschickt und operiert. Ich habe die Krankenschwester dort gefragt, aber von ihr auch keine Antwort bekommen. Nachher wollte ich mit meiner Mutter darüber sprechen, bekam aber zur Antwort, daß das mich nichts angehe."

Aussage einer geistig Behinderten, in: Zeitschrift "Lebenshilfe", Nr. 1/1974.

Eltern fällt es schwer, ein langsameres Lerntempo ihrer Kinder zu akzeptieren. Ein geistig Behinderter berichtet über seine Mutter: "Zuerst hat sie mich immer allein versuchen lassen. Dann hatte sie aber bald keine Geduld mehr und rief >Ach, laß mich machen< und half mir. Hätte sie mich allein gelassen, hätte ich's vielleicht schneller gelernt."[60]

Natürlich ist es leichter gesagt, Eltern müßten ihr Kind annehmen, als in der Praxis getan. Denn auch Schwiegereltern, Geschwister, Schwager, Schwägerin, Großeltern, Verwandte reden und erziehen mit, bedauern Eltern und Kind, verhalten sich unsicher, distanzieren sich, reagieren mit Mitleid und vorsichtiger Ablehnung. Nicht jede Frau hat eine Schwiegermutter, die in ihrer Einfachheit schlicht feststellt: "Man kann sich's nicht auslesen, man muß es eben so nehmen wie es kommt!" und mit diesem Satz ein vorwurffreies und herzliches Verhältnis aufnimmt.[61]

Am Ende des Verarbeitungspozesses, nach dem Annehmen, der Bejahung, entdecken Eltern die positiven Seiten: "Ich habe die Behinderung meines Kindes akzeptiert", schreibt eine Mutter, "und gesehen, wie viel man helfen kann, ich komme immer wieder mit Menschen in Kontakt, die uns weiterhelfen und solchen, denen ich helfen kann. Ich rege mich nicht mehr auf wegen Nichtigkeiten und konzentriere meine Kräfte auf das Wesentliche. Ich bin offen geworden für die Probleme der Schwerhörigkeit, aber auch jede andere Art Behinderung und deren Meisterung interessiert mich brennend. Ich habe gelernt beweglich zu bleiben, mich ständig neu zu orientieren und abzuklären, welche Lösung für unser Kind die beste ist und die Vernunft über die Sentimentalität zu stellen. Ich verdanke diesem Kind neue Energie und einen Lebensmut, der die bangen Monate des Schocks beim Entdecken der Behinderung längst überwiegt."[62]

Aufklärung der behinderten Kinder

Es gibt nur wenige unter uns, die nicht die Erfahrung gemacht haben, daß unsere Eltern uns möglichst lange als "Kind" behandelten. Manche bleiben sogar noch mit fünfzig und mehr Jahren das "Kind", dem nichts zugetraut wird und das sich vor wichtigen Entscheidungen zu Hause erst Zustimmung einholen muß. Behinderte Kinder haben es begreiflicherweise noch schwerer, dem Hegebedürfnis von Eltern zu entkommen, weil sie abhängig sind. Eltern behinderter Kinder glauben, sie könnten ihr Kind vor Hänseleien, Spott und Verfolgung schützen. Das Thema "Behinderung" wird peinlich vermieden. Man spricht nicht darüber, vermittelt dem Kind aber gerade damit das Gefühl behindert - anders - zu sein.

Ortrun Schott, deren Behinderung "Kleinwuchs" in der Familie immer sorgfältig tabuisiert worden war, berichtet, wie sie einmal zu Hause ihre Eltern zu einer Stellungnahme zwingen wollte. "Und zwar kann ich mich noch gut erinnern, daß es beim Mittagessen war, wo die ganze Familie versammelt war und ich dann doch sehr provozierend gefragt habe: Warum bin ich eigentlich so klein? Ich wußte, daß ich damit alle in Verlegenheit setzte. Mein Vater hat versucht, etwas zu sagen, aber es war für mich sehr unbefriedigend. Und an der Verlegenheit merkte ich, auch die Eltern konnten es nicht richtig einordnen und hatten es nicht verarbeitet."

Hilfe erfährt das Kind nur, wenn es auf alle Fragen eine offene Antwort bekommt. Die Antworten müssen natürlich altersgemäß sein, sich am Verstehenkönnen des Kindes oder des Jugendlichen ausrichten.

Ängste und Unsicherheiten von Kindern haben ihren Grund nicht in der Tatsache, daß sie behindert sind, sondern in der Ungewißheit, daß sie nicht wissen, was ihre Behinderung für sie bedeutet. Wird die Aufklärung über die Behinderung und ihre Folgen hinausgeschoben, wächst die Gefahr seelischer Störungen, weil sich ungerichtete Ängste entwickeln. Dies gilt gerade für Behinderungen, bei denen die Lebenserwartungen eingeschränkt sind. Kinder haben keine Angst vor dem Sterben, aber Ängste, isoliert zu sein.

Hilfe durch Eltern-Organisierung

Die Weisheit, daß gemeinsam getragenes Leid halbes Leid und gemeinsam erlebte Freude doppelte Freude ist, hat sich unter den Eltern noch nicht ausreichend herumgesprochen. Nur wenn sich Eltern mit anderen Eltern organisieren, zusammentun, kommen sie aus der Isolation heraus, verändern sich ihre Perspektiven. Die Eltern lernen dabei, nicht mehr allein auf die Behinderung des eigenen Kindes fixiert zu bleiben, sich nicht länger für ihr Kind "aufzuopfern" und dabei jener Märtyrerpose zum Opfer zu fallen, die auf Dauer das Familienleben ruiniert und das Kind in totaler Abhängigkeit läßt.

Eltern müssen lernen, daß es auf der Welt noch andere Probleme gibt als nur ihr eigenes Kind, daß es aber auch Freuden in ihrem Leben gibt, die sie scheuklappenblind nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Viele Eltern leben in dem Wahn, wer ein behindertes Kind habe, dürfe nicht mehr ausgehen, tanzen, sich freuen, lustig, übermütig sein. Erkenntnis einer Mutter: "Es ist ein großer Mythos, daß die Mutter die ganze Zeit fürs Kind daheim bleiben muß und erst noch fürs Behinderte."[63]

Es ist eine Tatsache, daß den Kindern am besten geholfen ist, wenn die Eltern fähig werden, mit ihrer eigenen Behinderung (d. h. ihrer Elternrolle) umzugehen. Es gibt kaum Schulungsprogramme, Trainingseinheiten, in denen Eltern über ihre eigenen Behinderungen aufgeklärt werden; wo sie lernen, sich aus der eigenen Passivität zu lösen, aktiv zu werden und in die Öffentlichkeit zu gehen.

Eltern müssen trainiert werden, Mitleid und Unverständnis der Umwelt zu ertragen und damit umzugehen. Es geht nicht darum, sich ein dickes Fell anzueigenen. Aber Eltern müssen sich den Realitäten aussetzen, um diese zu verarbeiten. So gewinnen sie die Kraft, ihre eigene Situation und die Situation nachfolgender Eltern umzugestalten.

"Wie tief sitzt doch in uns Müttern die Regung, uns für jede kleine Entgleisung unserer Kinder zu entschuldigen, ja überhaupt ihr Vorhandensein zu entschuldigen! Diese Gefühle müssen wir bekämpfen. Unbewußt sorgen wir mit diesem Verhalten dafür, daß die Öffentlichkeit sich in ihrem Verhalten bestätigt fühlt. Entschuldigendes, selbstverleugnendes Verhalten provoziert geradezu offene oder versteckte Verurteilung! Ein behindertes Kind braucht kein >gnädiges Verzeihen< der Umwelt, sondern Toleranz und Verständnis."

Ingrid Häusler: Kein Kind zum Vorzeigen?, Reinbek 1979, S. 128

Eltern fühlen sich immer in der Defensive, weil sie die Einschätzungen ihrer Umwelt übernommen haben und sich selbst als "minderwertig" einstufen. Es fehlt ein gesundes Selbstbewußtsein: In einer Welt des Funktionierens, dem Mechanismus von An- und Einpassung, der Verwertung des Menschen unter der Kosten-Nutzung-Rechnung, sind sie doch wohl jene, die dieser Sinnlosigkeit menschlichen Lebens Widerstand leisten können, die das Wissen um menschliche Werte nicht verloren haben. Sie sind es doch, die noch differenziert leben, die die Fülle des Lebens erfahren (und das ist immer Freude und Leid), die Mensch-Sein mit all seinen Qualitäten erleben. Eltern Behinderter müssen in die Offensive, dürfen sich um ihrer Umwelt willen nicht länger verstecken, weil sie ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten und ihre Erfahrungen einbringen müssen.

Eltern von Behinderten müssen heraus aus ihrem Getto des Selbstmitleids, wenn sie anderen Eltern helfen wollen: "Daß wir bis zu Annas Geburt noch nichts von dieser Art von Mißbildung und Behinderung gehört hatten", schreibt die Mutter eines Kindes mit Spina bifida, "liegt sicher auch daran, daß sehr viele Eltern sich mit ihren Kindern verstecken." Diese Mutter hat sich nicht verkrochen. Sie und ihr Mann bezogen ihre Freunde mit ein:

"So leben wir mit einer anderen Familie in einer Wohngemeinschaft zusammen, die sofort Annas Behinderung als gemeinsam zu bewältigende Aufgabe betrachtete. Dies ist zwar eine besondere Situation, nur wenige Familien wohnen in einer so engen Gemeinschaft mit anderen, doch auch mit anderen Freunden haben wir in dieser Beziehung sehr positive Erfahrungen gemacht."[64]

7. Entmündigung im Namen der Pflege: Heime

Behindertenheime sind wie Gefängnisse. Die Heimleitung regelt die Bedürfnisse genauso rigoros wie die Gefängnisleitung, sie bestimmt, was für den Bewohner gut oder schlecht ist, förderlich oder schädlich. Im Heim sind die Zimmer nur von außen abzuschließen und nicht selten auch von außen einzusehen - bei der Gefängniszelle ist das nicht anders, nur daß hier dicke Riegel und Schlösser einen Fluchtversuch verhindern. Behinderte flüchten nicht. Sie sind auf Hilfe angewiesen. Das ist der Unterschied: Im Heim geschieht die Entmündigung im Namen der Pflegebedürftigkeit, im Gefängnis wird sie mit der Gefährlichkeit und Sozialschädlichkeit der Eingesperrten legitimiert.

Heimordnungen und Gefängnisordnungen unterscheiden sich graduell. Aber auch im Behindertenheim wird der Tagesablauf von der Heimleitung und nicht von den Bewohnern bestimmt. Aufstehzeiten, Essenszeiten (in der Regel wird zu völlig anormalen Zeiten gegessen), Besuchsregelungen, Schlafenszeiten setzt die Anstaltsleitung fest und wie im Knast ist Sexualität verboten. Das alles geschieht natürlich nur zum Besten der Schützlinge, denn sie müssen geschont werden. Wer Pflege braucht, wird rechtlos. Und obgleich Behinderte, die im Heim leben müssen, sich gegen kein Gesetz vergangen haben, durch kein Gericht verurteilt wurden, werden ihre Rechte auf Entfaltung der Persönlichkeit resolut eingeengt.

Behinderte Heimbewohner sind zwar durch kein Gericht verurteilt, aber sie haben sich gegen ein ungeschriebenes Gesetz vergangen: Sie haben nur eine eingeschränkte oder gar keine Arbeitskraft, sie produzieren nichts, sie leben nur. Der Heimaufenthalt, die Internierung in Anstalten, weit außerhalb der Sozialgemeinschaft, ist die Strafe.

Eingesperrt ins Bett, ein Fallbeispiel

Vor Monaten schrieb mir eine Frau, 50 Jahre alt, Sonderschullehrerin, querschnittgelähmt, wohnhaft in einem Altenheim. Die Umwelt wünsche sich den "idealen Krüppel". Die Zeit des Personals reiche nicht, sie anzuziehen. So verbringe sie ihre Tage im Bett: "Man versucht - sicher unbewußt - mich in bezug auf sozialen Kontakt auszuhungern."

Ich besuchte die Frau. Sie lebt in einem Einzelzimmer. Ich sprach mit ihr einige Stunden, las ihre Lebensgeschichte, die als Manuskript einem Verlag vorliegt. Eine geistig rege Frau, seit bald zwei Jahren in ihrem Bett eingesperrt, weil das Personal sie nicht anzieht: Einzelhaft.

Dann ging ich. Ich ging einfach durch ihre Tür, hinaus, eine Treppe hinunter, einen Weg, blumenbegrenzt, traf am Bahnhof Schulkinder, übermütig, laut. Wenn man am Bahnsteig steht, sieht man auf einen Berg, gelb das Herbstlaub, da tanzen die Vögel den Hang hinauf und hinunter. Und ich dachte an die Frau, die ich so leichtfüßig verlassen hatte, ihr Dasein reduziert auf das Bett.

Ich dachte, was ein Verbrechen: Ich fahre wieder weg, habe ein Ziel, werde erwartet. Und da liegt ein Mensch, eingesperrt zwischen Kissen und Bettdecke. Freiheitsberaubung ist das. Doch da ermittelt kein Kommissar, kein Staatsanwalt erhebt Anklage.

Ich fühlte mich sehr elend. Im Zug las ich die Mitgliederwerbung des Heimträgers. Der Verband verfolge ausschließlich gemeinnützige und mildtätige Zwecke. Er diene "der Förderung aller Werke zur Linderung der leiblichen und seelischen Not". Aber: Die 50jährige ist in einem Bett dieses Verbandes eingesperrt.

Ich schrieb den Heimleiter an. Die Frau habe mir gesagt, sie liege seit fast zwei Jahren nahezu immer in ihrem Bett und es sei kein Personal da, sie anzuziehen. Ich könne mir das beim besten Willen nicht vorstellen, zumal die Frau zu einer Tagung ja auch angezogen werden konnte. Ich bat um eine Stellungnahme.

Nachdem ich gemahnt hatte, kam zunächst ein Zwischenbescheid. Es handele sich um ein Mißverständnis, ich hätte die Frau falsch verstanden.

Dann schrieb mir die Frau selber. Der Heimleiter habe ihr zugesagt, daß sie nun zweimal die Woche eine Hilfe von der Pflegestation bekomme.

Der Heimleiter hat den Brief unterhalb der Unterschrift der Frau mit einem Kommentar versehen, wie ein Gefängnisdirektor Zensurbemerkungen auf einem Gefangenenbrief anbringen kann.

Für "Fräulein H ..." werde das für sie Mögliche getan (eine 50jährige Frau muß sich noch Fräulein nennen lassen). Die "Umsorgung" könne in einem Altenheim auf der "Normalstation" eben nicht so sein wie die "Umsorgung" in einem Heim für Körperbehinderte. Mich packte die Wut, wie jemand von Umsorgung sprechen konnte, obgleich er einen Menschen seit zwei Jahren ins Bett verbannt hatte.

ich muß an dieser Stelle eine persönliche Anmerkung machen: Es gibt viele, die meinen, ein Mensch, der soziales Elend beschreibt, jage hechelnd durch das Land, um die schlimmsten Fälle dem verehrten Publikum vorzuführen, mit dem täglichen Gebet: Den nächsten Skandal schenk mir heute - damit der Stoff zum Schreiben nicht ausgeht. "Da hab ich wieder was >Schönes< für Sie<", mit solchen und ähnlichen Bemerkungen meinen manche, mir eine Freude bereiten zu können, damit im Sozialzirkus eine neue Nummer gezeigt werden kann, wo das Elend Männchen macht, vorgeführt wird.

Sie haben nicht begriffen, daß Elend und Unterdrückung an die Substanz geht, Empfinden, Gefühl, Seele und Körper treffen. Sie wissen nicht, daß Not, die betroffen macht, unter die Haut geht, tiefe Wunden schlägt, das Innere verletzt - mit allen Folgen im Privatleben. Denn jede Not will nicht nur beschrieben - sondern auch behoben werden.

In unserem Fall meinte der Heimleiter: "Nicht, daß wir Sozialkritik ablehnen, wir halten sie sogar für notwendig." Aber bitte nicht bei mir! Es ist der alte Satz: "Schütz unser Haus, zünd's anderer an." Und dann schrieb der Heimleiter weiter: "Frau H. ist aufgrund ihrer spastischen Tetraplegie ein hundertprozentiger Pflegefall, und ist auf der Normalstation völlig fehl am Platz." Nirgends anders als auf Normalstation ist der Platz der Frau. Aber der Heimleiter, der in der Landesarbeitsgemeinschaft der Heimleiter seines Verbandes eine führende Stelle hat, weiß nicht, wieviele Schwerstpflegeabhängige jeden Tag zu ihrem Arbeitsplatz fahren, ein normales Arbeitsleben führen und keinesfalls ins Bett gehören.

Damit nicht genug: "Lähmungen von Händen und Beinen seit Geburt wirken sich meist unweigerlich psychisch aus. Eine derartige dauernde Unzufriedenheit mit sich selbst kann verursacht sein durch ein nicht vollständiges Akzeptieren der eigenen Behinderung." Gewiß, nicht jeder ist ein guter Mensch, weil er behindert ist. Aber einem Menschen eine psychische Anormalität anzuhängen, weil er sich über einen unerträglichen Zustand beschwert, ist teuflisch.

Die Leiterin der Pflegestation schrieb mir, sie sei stolz, in diesem erstklassigen, modernen Haus arbeiten zu dürfen: "... dieses Haus ist Klasse!" Ich habe der Krankenschwester geantwortet, daß ich berücksichtige, daß sie eine Angestellte des Hauses sei. "Was ich an Ihrem Brief vermisse ist, daß Sie auch nur mit einem Satz auf die Situation von Frau H. eingehen. Sie loben nur das Haus, aber über die Situation der Querschnittgelähmten verlieren sie kein Wort. Lieben Sie nur das Haus, nicht den Menschen?" Antwort "Die H. hat in unserem Heim Prioritäten, wie sie keinem unserer Heimbewohner zugestanden werden kann. Ich würde Ihnen raten, einmal ein Praktikum in einem Alten- und Pflegeheim zu absolvieren, damit Sie als Sozialpädagoge nicht nur in der Theorie verhaftet bleiben."

Auch vom Heimleiter erhielt ich eine ähnliche Antwort: "Sie haben bewiesen", schreibt er ironisch, "daß Sie für diese Angelegenheit großes Engagement zeigten. Dieses wäre dann nicht sinnlos, wenn es Ihnen gelingt, Frau H. so unterzubringen, wie Sie es sich vorstellen, bzw. eventuell sogar in Ihre Hausgemeinschaft aufnähmen. Es wäre für Sie und Ihre Arbeit sicher ein Gewinn. Es kann doch nicht alleine Ihr Wollen sein, zu schreiben. Die Tat bewiese Ihre echte Einstellung."

Die Frau wird inzwischen angezogen. Ihr Kommentar: "Man darf nicht alles sagen, was wahr ist, aber was man sagt, muß wahr sein."

Strukturelle Gewalt gegen Behinderte

Die Behindertenheime und Anstalten wurden - wie Gefängnisse - seit jeher außerhalb der Ortschaften gebaut. Viele dieser Einrichtungen - es ist grotesk - liegen auf einem Berg, so daß Rollstuhlfahrer aus eigener Kraft kaum oder schwer wegkommen. Nun kann man einwenden, das war eben früher so, man dachte, die gute Luft habe heilende Kräfte. Die schöne Natur biete der beschädigten Seele einen Ausgleich. Aber noch immer werden Heime und ganze Behindertendörfer in die Prärie gebaut, ländliche Krüppelmuseen, durch die der Strom gafflüsterner Besucher hindurchgeführt wird. Und wie im Kinderzoo die Besucher in die Hände patschen, weil die Meerschweinchen so süß, die Äffchen so putzig sind, so freut sich die Besucherschar, daß es den lieben kleinen Krüppelein doch so gut geht.

Das modernste und gigantischste Beispiel von Fehlplanung steht im lieblichen Neckartal, außerhalb der Stadtmauern des 10 000-Seelen-Städtchens Neckargemünd.[65] Hier werden behinderte Kinder und Jugendliche rehabilitiert. Aus aller Welt reisen die Reha-Experten an und staunen: Da gibt es alle Schulstufen, Berufsausbildungsgänge, Klinik, Wohnheime und Freizeiteinrichtungen.

Das "Modell" liegt an einem sehr steilen Hang. Besucher müssen sich an der Pforte melden. Bis zum Ort ist eine größere Strecke zurückzulegen. Das Städtchen ist hügelig, hat enge, äußerst verkehrsreiche Straßen. Der Skandal ist, daß ein Ort mit 10 000 Einwohnern 1000 (in Worten: eintausend) Kinder und Jugendliche aufnehmen - integrieren! - soll.

"Die Stadträte waren im großen und ganzen nur unzureichend darüber informiert worden, welche sozialen Probleme auf die Bewohner von N. bei der Akzeptierung einer solchen Einrichtung und den mannigfachen Begegnungen mit einer solch großen Anzahl behinderter Kinder und Jugendlicher im Straßenbild, in Kneipen, Geschäften und öffentlichen Einrichtungen wie dem Freibad zukommen würden. Recht gut informiert zeigte man sich über die Vorteile ... Eine Belebung für das Hotelgewerbe erhoffte man sich durch Übernachtungsbesuche von Eltern der Behinderten."[66]

Überlegungen, wie man die unausbleibliche Gettoisierung der Behinderten verhindern könne, gab es nicht: "Man vertraute rückhaltlos dem Träger, der versprochen hatte, für alles, aber auch alles optimal zu sorgen (sozusagen eine Stadt im kleinen zu errichten), und der im übrigen beruhigend versichert hatte, daß keine geistig behinderte Kinder nach N. kommen würden!"[67]

Soviel über die planerische Geburt eines neuen gigantischen Gettos. Nur Zyniker können hier noch von "Integration" reden. Die strukturelle Gewalt gegen Behinderte, ihre planerische Ausgliederung, kann nicht deutlicher programmiert sein.

Heime für Behinderte sind totale Institutionen wie Gefängnisse oder psychiatrische Anstalten. Sie sind Symbole der Ausgliederung. Meistens dokumentiert dies schon der Standort. Die Strukturen eines Heimes oder einer Anstalt zwingen Behinderte und Personal, sich bestimmten Regeln zu unterwerfen. Diese Regeln bestimmen das Leben des Insassen, des Bewohners, reglementieren sein Verhalten, zwingen ihn, sich so und nicht anders zu verhalten. Heimstrukturen haben Macht über den Bewohner, üben ihm gegenüber Gewalt aus, mag das von der Heimleitung beabsichtigt sein oder nicht.

Ich will versuchen, die einzelnen Merkmale struktureller Gewalt darzustellen[68]:

  • Keine Trennung der Lebensbereiche

Im normalen Leben sind die Lebensbereiche Arbeit, Freizeit und Schlafen getrennt. Doch der Heimbewohner ist an einen Ort gebunden, einer Autorität (sei es ein Heimleiter, sei es die Heimleitung) unterstellt, es gibt keine Trennung der Lebensbereiche. Die Regeln der Normalwelt sind außer Kraft. Kontakte mit der Außenwelt sind erschwert, gestört, manchmal auch unterbunden. Das Eingeschlossensein in die Binnenwelt des Gettos fördert Verhaltensunsicherheit gegenüber der Außenwelt. Je gestörter das Verhältnis zur Außenwelt ist, desto ausbruchssicherer ist das Getto.

  • Leben als Massenwesen

Im Heim wird der Behinderte nicht als Einzelperson, sondern als Massenwesen behandelt. Die Abschnitte seines Tagesablaufs sind fremdorganisiert und vollziehen sich in Gegenwart der anderen Bewohner. Die Entpersönlichung vollzieht sich vielfach auch sprachlich, durch die Wir-Sprache: "Na, wie geht's uns denn", oder "Da wollen wir doch mal sehen, was sich da machen läßt ...". Im Heim wird öffentliche Nacktheit praktiziert, der Bewohner, der gewaschen werden muß, muß sich vor anderen waschen lassen. Daß dies ein Identitätsverlust ist, eine Scham-Verletzung, Verlust der Intimsphäre bedeutet, spielt gegenüber der angeblich organisatorischen Notwendigkeit keine Rolle. Die öffentliche Nacktheit, der Verlust des Eigenlebens, kann so weit gehen, daß sich Behinderte auf der Toilette offen gegenüber sitzen.

  • Von oben bestimmter Tagesablauf

Daß der Tagesablauf, einschließlich völlig absurder Aufsteh und Zubettgehzeiten, nicht von den Bewohnern bestimmt wird, sondern von der Heimleitung (manchmal mit anstaltsinternen, organisationsnotwendigen Zwängen begründet), wird von den Einrichtungen als selbstverständlich angesehen. Der Behinderte ist an der Regelung seiner Bedürfnisse nicht beteiligt.

  • Unterordnung aller Regeln unter die Ziele der Institution

Alle Lebens-Regeln werden den Institutionszielen untergeordnet. Die Aussage einer Blinden: "Man erwartete von mir, daß ich mich dieser Welt anschloß. Daß ich meinen Beruf aufgab und meinen Lebensunterhalt durch Mopmachen verdiente. The Lighthouse würde glücklich sein, mich das Mopmachen zu lehren. Ich sollte den Rest meines Lebens damit zubringen, mit anderen blinden Menschen Mops zu machen, mit anderen blinden Menschen zu essen, mit anderen blinden Menschen zu tanzen. Mir wurde übel vor Angst, als das Bild in mir wuchs. Niemals war ich auf solch destruktive Absonderung gestoßen."[69]

Die Unterordnung unter die Regeln kann auch mit feineren Mitteln als mit Anordnungen durchgesetzt werden. In einem Heim, in dem heranwachsende Behinderte leben, kam die Frage auf, ob es festgesetzte Zeiten gäbe, wann das Licht abzuschalten sei. Nein, hieß die Antwort der Heimleitung. Da warf ein Bewohner ein: "Aber die Leute sagen: Das Licht werden wir euch nicht verbieten, wann ihr das ausmacht. Aber denkt immer daran: tausend Augen schauen auf euch!"[70]

Ein nichtbehinderter Besucher meinte daraufhin, die "tausend Augen seien doch uninteressant". "Das ist nicht uninteressant", empörte sich ein Heimbewohner, denn man hatte den Behinderten eingetrichtert, die ganze Umwelt schaue auf sie, sie müßten ein Muster-Beispiel von Wohlerzogenheit geben. Ihr Schuldgefühl veranlaßte sie tatsächlich, das Licht frühzeitig abzuschalten.

Institutionen haben ein Bedürfnis nach störungsfreier und zügiger Erledigung aller Aufgaben. Der reibungslose Ablauf ist oberstes Ziel, hat Vorrang vor den Bedürfnissen der Bewohner. Individuelle Wünsche müssen zurückstehen.

  • Menschliche Bedürfnisse werden bürokratisch geregelt

Einige wenige verwalten die Bedürfnisse der Mehrheit. Die wichtigsten Entscheidungen treffen jene, die den von diesen Entscheidungen Betroffenen am fernsten sind und am wenigsten mit ihnen Umgang haben.

Die bürokratische Regelung kann so weit gehen um ein Beispiel aus der Praxis zu nehmen -, daß sich ein Behinderter nicht mal ein paar Spiegeleier braten darf, weil die Benutzung der "Stations" Küche nur dem Pfleger gestattet ist. Viele Wohnheime oder Wohngruppen haben gar keine Küche, weil eine zentrale Küche das Essen liefert. Wie die Bewohner lernen sollen, mit Geld umzugehen, einzukaufen, für sich selbst zu kochen, das alles interessiert die Verwaltung wenig. Sie will mit einem möglichst günstigen Kostensatz auskommen.

"Laufbahn im Heim heißt, daß du am Ende Dingen zustimmst, denen du in deinem eigenen Interesse gar nicht zustimmen dürftest." Und selbst wenn der Behinderte versucht, "draußen" Kontakte zu finden, kann er auch hier noch hören: "Häng dich nicht an so eine Person dran, du bist wie eine Klette."

Rücksichtnahme auf Heimregeln werden dem Behinderten beigebracht, auch wenn sie seiner Förderung nicht dienen. Menschliche Qualitäten werden dem Funktionieren untergeordnet. Nicht die Qualität "Wohlbefinden" ist Richtlinie allen Handelns, sondern die möglichst rationelle Pflege und Verwahrung.

  • Der Gegensatz zwischen Personal und Bewohnern

Anstalten sind geprägt vom Gegensatz zwischen Personal und Bewohnern. "Das Abhängigkeitsgefühl gegenüber dem Pflegepersonal ist zu groß. Aus Angst, nicht rechtzeitig auf den Abort zu kommen, schluckt man so manches Unrecht hinunter. Wenn man sich nicht fügt, wird eine indirekte Bestrafung verhängt, indem der Pfleger einfach sagt: >Ich muß noch zu dem, und dann kommst du.< Man kann nicht das Gegenteil beweisen, nur wird man das nächstemal dem Pfleger nicht widersprechen. Als Schwerbehinderter mußt du eben gehorchen."

Es gibt viele Möglichkeiten der Disziplinierung. Alleine die Entscheidung, wer morgens in der Frühe zuerst geweckt oder abends in der Frühe zuerst ins Bett gebracht wird, ist vielfach von disziplinierenden Faktoren bestimmt. Ich kenne Heime, wo Behinderte ihre Pfleger mit einer Flasche Bier oder einer Schachtel Zigaretten "belohnen", damit sie am längsten aufbleiben dürfen.

In Einrichtungen, in denen der personale Bezug zum Behinderten fehlt, möchte das Personal seine Arbeit möglichst schnell hinter sich bringen. Aus einigen Heimen ist bekannt, daß Behinderte (und Alte!) gleich zu mehreren gefüttert werden, um die Arbeit zu rationalisieren.

Dauernde Maßregelungen bestimmen das Heimleben und führen zu Ängsten: "Mir ist es so ergangen", berichtet ein leicht behindertes Mädchen, "daß ich meine Heimleiterin, die mich großgezogen hat, nicht lieben tu, sondern ich hab Angst vor der. Sie unterstellt einem Heimkind, man kann nichts, man bleibt ewig doof." Eine andere Aussage: "Ich kann die nicht gern haben, ich hab Angst vor denen. Die können es soweit bringen, daß man denen unter die Füße kriecht."

Ein junger Rollstuhlfahrer berichtet: "Ich stand mal unten im Treppenhaus, hab auf jemanden gewartet, damit ich in die Schule geschoben werde. Kam die Hausmutter, hat gemeint, deine Haare sind zu lang. Ich hatte einen Rollkragenpullover an, da gingen die Haare bis zum Kragen. Hat sie gesagt, ja deine Haare sind zu lang, die mußt du abschneiden. Hab ich gefragt: Wieso? Ja, weil sie zu lang sind. Da hab ich gesagt, das sind doch meine Haare und außerdem ist das mein Kopf. Da hat sie mir eine runtergeschlagen. Und die Brille ist in den Keller reingeflogen. Da war ich 14, 15 Jahre."

  • Der Ausschluß von Entscheidungen

In den Einrichtungen geht der Informationsfluß von oben nach unten. Die Leitung informiert über das, was in ihrem Interesse ist, filtert Informationen nach der Nützlichkeit. Die Bewohner sind von den Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen. Heimbeiräte ändern wenig, denn sie dürfen nur mitreden, aber nicht mitentscheiden. Sie dürfen Vorschläge machen, haben aber für die Durchsetzung ihrer Vorschläge keine Mittel in der Hand. Wenn ein Heimbeirat beim Speiseplan mitreden darf, bei der Ausrichtung eines Heimfestes, so darf er ein wenig so tun, als dürfte er mitentscheiden.

Im Bericht der Bundesregierung über die Heimbeiräte heißt es: "Meist waren die Träger und Leiter der Einrichtung die auslösenden Momente. Der Grund hierfür lag einmal in der relativ geringen Bereitschaft der Heimbewohner, Aufgaben und Verantwortung für andere zu übernehmen."[71] Erst werden die Bewohner von jeder Entscheidung ferngehalten, regelrecht entmündigt - dann wirft man ihnen vor, sie wollten keine Verantwortung übernehmen.

Gewiß, nicht alle Heime sind so rigoros in ihren Beschränkungen, es gibt auch freizügigere Häuser, aber es bleiben Institutionen mit den typischen Eigenschaften von Fremdbestimmung und Bedürfnisregelung durch andere. Die bestehenden Heime machen aus Behinderten Krüppel. Der Kampf der Behindertengruppen muß der Auflösung der Heime gelten. Es müssen neue Wohnformen, Wohngruppenformen, ausprobiert werden.[72]

Exkurs über die Rechtlosigkeit von Heimbewohnern

In einem bayrischen Heim erfuhren Behinderte eine Behandlung, die der Landtag, Heimaufsicht, Staatsanwaltschaft, das Bayrische Verwaltungsgericht und den Ministerpräsidenten beschäftigte. Im Februar 1979 wurde verhandelt. Die Niederschrift über die öffentliche Sitzung des Verwaltungsgerichts (M 316 XV 78) enthält die folgenden Aussagen:

Die Wach- und Schließgesellschaft kontrolliert Mitarbeiter, Besucher und behinderte Bewohner Tag und Nacht. Eine Fernsehkamera überwacht den Eingang. Eine ehemalige Sonderschullehrerin: "Von den Jugendlichen, die im Wohnheim wohnen, wurde mir mitgeteilt, daß ein Verbot besteht, mit den Kräften der Wach- und Schließgesellschaft zu sprechen."

Ein Diplom-Psychologe, Referent im Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung: "Ich hatte den Eindruck, daß im Zentrum eine ängstliche und gedämpfte Atmosphäre herrscht, wie ich sie noch bei keinem von mir besichtigten Heim erlebt habe." Die schon zitierte Lehrerin, die freiwillig ging: Im Zentrum "besteht keine Möglichkeit, pädagogisch sinnvoll zu arbeiten".

Dies liegt ihrer Meinung nach am Leiter der Einrichtung einem Proffessor, der die Einstellung habe, "wonach ein Behinderter nicht unbedingt lernen müsse". Und weiter: "Es fand ein ständiger Personalwechsel statt. Die Kinder haben geäußert, den Namen der Erzieherin brauchten sie sich nicht zu merken, da sie sofort wieder gehe. Die Kinder kannten zum Teil nicht einmal die Namen ihrer jeweiligen Erzieher."

Eine zweite Sonderschullehrerin: "Die Erzieherinnen sind gekündigt worden, weil sie zu freundlich zu den Kindern waren. So haben es mir jedenfalls die Kinder berichtet" Und: "Durch die Diplom-Psychologin ist während meiner Dienstzeit keine psychologische Betreuung vorgenommen worden, sondern es sind lediglich Tests durchgeführt worden. Ich kann mich auch nur an einen einzigen Test erinnern, der bei einem meiner Schüler, Günther S., durchgeführt wurde. Dieser wurde von der Diplom-Psychologin als schwachsinnig eingestuft, was er nach meiner Auffassung und auch nach den Ergebnissen der Untersuchung des Max-Planck-Instituts nicht war."

"Dadurch, daß den Kindern abtheilungsweise Gelegenheit geboten wird, sich zu entleeren, läßt sich allein die dabei nöthige Arbeit ermöglichen. Dennoch wird das Einzel-Austreten nicht ganz verhindert werden."

Aus: Idiotophilius Systematisches Lehrbuch der Idition-Heilpflege von Pastor Heinrich Matthias Sengelmann, Direktor der Alsterdorfer Anstalten, Norden 1885, S. 256

Ein Landtagsabgeordneter sagte über die angegriffene diplomierte Psychologin aus, er habe mit ihr "nur in diesem Fall gesprochen, nämlich über ein Kind, das sie als nicht bildungsfähig beurteilt, das dann später m. W. aber noch das Abitur gemacht hat."

Die Sonderschullehrerin über die Monatsvisiten des Professors: "Bei den Montagsvisiten habe ich mich öfters zu Wort gemeldet und unter anderem darauf hingewiesen, daß bestimmte Kinder gefördert werden könnten. Mir wurde aber schnell das Wort abgeschnitten von Seiten des Professor . . . mit dem Bemerken, daß die Therapie sinnlos sei und das betreffende Kind nur Geld kosten würde und weil es später dann doch nicht in einem Produktionsprozeß eingesetzt werden könne. Das Wort >Produktionsprozeß< ist nicht wörtlich gefallen, aber die Äußerung ist dem Sinn nach so gewesen."

Die 19järige Behinderte Sigrid K. mußte in Unterhemd und Unterhose zur Visite antreten: "Einmal wurde ich gezwungen, mich auszuziehen, obwohl ich meine Periode hatte . . . Zumindest bei den letzten Untersuchungen, bei denen es nur um die Berufsfindung ging, hätte es des Ausziehens nicht bedurft." Die Leiterin der Krankengymnastik: Die Kinder hätten sich "durch die Montagsvisiten nicht gedemütigt gefühlt. Die Kinder sind zu jung, um diese Visiten als eine Verletzung der Menschenwürde zu empfinden."

Der 16jährige Karli K.: "Es hat einen Plan mit Klo-Zeiten gegeben. Wenn man um 9.30 Uhr mußte, wurde man zum Beispiel auf 10 Uhr verwiesen. Klo-Zeiten waren 10, 12 und 15 Uhr. Ich habe es manchmal nicht ausgehalten und dann der Erzieherin gemeldet. Welche das war, weiß ich nicht mehr, weil sie so oft wechselten. Die Erzieherin hat geantwortet, sie habe jetzt keine Zeit, ich müsse noch etwas warten . . . Ich bin mehrmals eine Stunde lang auf dem Klo sitzengelassen worden."

"Einen Protest handelte sich die Festspielleitung von den Tierschutzvereinen in München und Bayreuth ein wegen >der Verwendung eines lebenden Vogels< in der dritten Ring-Oper >Siegfried<. Als >Waldvogel<, der Siegfried die Tarnkappe verschafft und ihn dann zu Brünnhilde führt, fungiert in der Chereau-Inszenierung ein kleiner Kanarienvogel auf der Bühne in einem Vogelkäfig. Die Tierschützer protestieren dagegen, daß der Vogel >weit über eine Stunde lang auf der Bühne nicht nur dem grellen Scheinwerferlicht, sondern auch dem beim bekannten Drachenkampf Siegfrieds ausgeblasenen stinkenden Dampfdunst schutzlos preisgegeben ist<. In dieser Zeit flatterte der Vogel >verschreckt und verängstigt vor den Augen des Publikums in seinem Käfig wild umher<. Nach Informationen des Tierschutzvereines sei sogar ein Vogel schon an dieser >Angst-Tortur< und >Quälerei eingegangen. Man appellierte an die Festspielleitung, künftig einen ausgestopften >Waldvogel< zu verwenden und verwies darauf, daß Richard Wagner selbst ein Tierfreund war und die Zahl der Tierfreunde unter den Wagnerianern besonders groß sei."

Süddeutsche Zeitung, Nr. 168/1978

Der Behinderte Karli K. über eine Spastikerin, die geschrien hatte: "Deswegen hat man ihr den Mund mit Leukoplast zugeklebt. Dies habe ich selber gesehen. Das hat eine Erzieherin gemacht. Wenn man sich mit Petra beschäftigt hätte, hätte sie wohl mit dem Schreien aufgehört. Einmal ist sie in der Mittagspause von der Erzieherin auf die Toilette geschoben worden, damit man ihr Schreien nicht so laut hörte."

Weitere Vorwürfe seien in Stichworten genannt: Die 21jährige Elvira Z.: "Ich war 1977 in der Medizinischen Klinik zur Dialyse. Dann kam ein Anruf, ich dürfe nicht mehr zurück ins Spastikerzentrum. So wurde ich ohne Rollstuhl, nur mit Nachthemd und Strumpfhose bekleidet, bei meiner Großmutter abgeliefert. Ich bin, obwohl erwachsen, in der Kinderabteilung untergebracht gewesen . . . Mir hat man gesagt, ich sei ein Pflegefall, und in der Erwachsenenabteilung sei kein Pflegepersonal vorhanden."

Sigrid K. über die Klinifizierung von Menschen: "Jeder Behinderte hat im Zentrum einen Gesamtplan gehabt, den er entweder am Körper oder am Rollstuhl befestigen sollte." Der Zeuge vom Bayrischen Sozialministerium: "Es wird nicht der ganze Mensch gesehen." Und in einem anderen Zusammenhang: "Das Kind fühlt sich hierbei als Ware."

Die Sonderschullehrerin, die als erste ausgesagt hat, bezeugt, der Professor habe über einen Buben gesagt: "Was wollt ihr denn mit dem, den könnt ihr den Eltern vor den Christbaum legen."

All diese Äußerungen sind nachzulesen in der Niederschrift über die öffentliche Sitzung des Bayrischen Verwaltungsgerichts. Der Professor wurde als Leiter der Einrichtung nicht abgesetzt. Er gilt als honorige Person, ist Chef-Ortopäde der Universitätsklinik, Besitzer der Bayrischen Staatsmedaille für soziale Verdienste und - Landarzt für Behinderte.



[1] Eine Übersicht über die im Amerikanischen üblichen Begriffe von "Behinderung" findet sich bei Günther Cloerkes: Einstellungen und Verhalten gegenüber Körperbehinderten, Eine Bestandsaufnahme der Ergebnisse internationaler Forschung, Berlin 1979, S. 9 f.: "Sinnvoll erscheint zunächst die folgende Dreiteilung: a) Schädigung (impairment) ist jede Abweichung von der Norm, die sich in einer fehlerhaften Funktion, Struktur, Organisation oder Entwicklung des Ganzen oder einer seiner Anlagen, Systeme, Organe, Glieder oder von Teilen hiervon auswirkt. b) Behinderung (disability) ist jede Beeinträchtigung, die das geschädigte Individuum erfährt, wenn man es mit einem nicht geschädigten Individuum des gleichen Alters, Geschlechts und gleichem kulturellen Hintergrund vergleicht. c) Benachteiligung (handicap) ist die ungünstige Situation, die ein bestimmter Mensch infolge der Schädigung oder Behinderung in den ihm adäquaten psychosozialen, körperlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Aktivitäten erfährt.< >Disability< (oder Behinderung) beschreibt also den objektiven Funktionsverlust aufgrund einer Schädigung. Dieser Zustand wird üblicherweise nach objektiven Kriterien von einem Arzt diagnostiziert und ist per se neutral. Ein >handicap< (oder Benachteiligung) ergibt sich als mögliche soziale Folge der Behinderung. Es wird von der Situation her definiert (ein Blinder im Dunkeln ist nicht gehandicapped) und ist kulturell bedingt (beim deutschen Studenten gilt - besser wohl: galt - ein >Schmiß< im Gesicht als Zeichen von Ehre, für einen amerikanischen Studenten wäre es dagegen eine höchst unerwünschte Gesichtsentstellung). Der Begriff >handicap< umschreibt also in wünschenswerter Klarheit den sozialen Aspekt, auf den es uns hier ankommt."

[2] Ernst Klee: Behinderten-Report, Frankfurt 1979 (Fischer Taschenbuch Bd. 1418), S. 9 ff.

[3] Alle Theorien, warum Behinderte abgelehnt werden, findet man bei Cloerkes: Einstellungen, a. a. O., S. 21 ff.

[4] Zeitschrift "Der Körperbehinderte", Nr. 2/1961.

[5] Hans Würtz: Zerbrecht die Krücken, Leipzig 1932, S. 351.

[6] Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen, Frankfurt 1977 (Fischer Taschenbuch Bd. 6349), S. 101.

[7] Würtz: Zerbrecht die Krücken, a. a. O., S. 46.

[8] Ebenda, S. 45.

[9] Irving Goffman: Stigma - Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt 1977, S. 150.

[10] Heide Geiger: Grenzen; in: Rundbrief Nr. 5/1974 (hrsg. vom Jugendwerk der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern).

[11] Würtz: Zerbrecht die Krücken, a. a. O., S. 190.

[12] Ebenda, S. 197.

[13] Ebenda, S. 68.

[14] Wilhelm Bläsig: Die Rehabilitation der Körperbehinderten, München 1967, S. 89.

[15] Ebenda, S. 123 f.

[16] Würtz: Zerbrecht die Krücken, a. a. O., S. 315.

[17] Peter Gstettner: Teilen und herrschen, aussperren und einschließen - Über das geheimnisvolle Zusammenspiel von Produktion, Deformation und "Behinderung"; in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Nr. 2/1978.

[18] Ebenda.

[19] Volker Schönwiese: Untersuchung sozialer Beziehungen zwischen körperlich behinderten und nichtbehinderten Studierenden, Endbericht eines Forschungsprojekts für das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien, Innsbruck 1978.

[20] Ernst Begemann: Die Erziehung der sozio-kulturell benachteiligten Schüler, Hannover 1970, S. 137.

[21] Zeitschrift "Leben und Weg", Nr. 1/1979.

[22] Ebenda.

[23] Luise Habel: Herrgott, schaff die Treppen ab! - Erfahrungen einer Behinderten, Stuttgart 1978, S. 149.

[24] Wilhelm Bläsig: Die Rehabilitation, a. a. O., S. 157.

[25] Zeitschrift "Leben und Weg", Nr. 2/1979.

[26] Christy Brown: Mein linker Fuß, Berlin 1970, S. 49.

[27] Ebenda, S. 50.

[28] Ebenda, S. 51.

[29] Jürgen Knop: Ich stand abseits - Autobiografie eines spastisch Gelähmten; in: Ernst Klee: Behindertsein ist schön - Unterlagen zur Arbeit mit Behinderten, Düsseldorf 1974.

[30] Manon Hoffmeister: Psychologische Probleme bei jugendlichen Patienten mit Mucoviscidose; in: Zeitschrift "mucoviscidose" Nr. 1/1979.

[31] Nach Pressedienst "Informationen zur Rehabilitation", Nr. 7/1977, hrsg. von der Stiftung Rehabilitation, Heidelberg.

[32] Barbara Winter im Gespräch mit Josef Ungerechts: Den eigenen Körper wiederbeleben; in: Zeitschrift "päd-extra sozialarbeit", Nr. 11/1977.

[33] Ebenda.

[34] Ebenda.

[35] Ebenda.

[36] "Frau M., Ihr Kind hat eine Mißbildung!", Bericht in: "Stadt Blatt" (Bielefeld), Dezember 1978.

[37] Therese Zemp: Thereses Mutter, in: Zeitschrift "Puls", Nr. 2/1979.

[38] Günther Cloerkes: Einstellungen, a. a. O., S. 311 f.

[39] Ulrich Stephan: Psychosoziale Aspekte der Mucoviscidose, in: Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Mucoviscidose, Nr. 10/1975/76.

[40] Anne Hermanns: Mjriams Mutter, in: Zeitschrift "Puls", Nr. 2/1979.

[41] Näheres bei Ernst Klee: Behinderten-Report, Frankfurt 1974 (Fischer Taschenbuch Bd. 1418), S. 136 ff.

[42] Zemp: Thereses Mutter, a. a. O.

[43] Ruth Müller-Garnn: Bericht über Erfahrungen bei einem Familien-Gottesdienst mit geistig Behinderten, in: Zeitschrift "Christ in der Gegenwart", Juni 1977.

[44] "Frau M., Ihr Kind hat eine Mißbildung!", a. a. O.

[45] Hermanns: Mjriams Mutter, a. a. O.

[46] Zemp: Thereses Mutter, a. a. O.

[47] Ebenda.

[48] Hermanns: Mjriams Mutter, a. a. O.

[49] Angelika Thannhäuser: Zur Situation geistigbehinderter Erwachsener aus der Sicht ihrer Mütter, Bern 1976, S. 56. Hier finden sich auch weitere Fallbeispiele.

[50] Ebenda, S. 55 f.

[51] Ebenda, S. 57.

[52] "Frau M., Ihr Kind hat eine Mißbildung!«, a. a. O.

[53] Thannhäuser: Zur Situation . . ., a. a. O., S. 55.

[54] "Frau M., Ihr Kind hat eine Mißbildung!", a. a. O.

[55] Berichte in: Frankfurter Rundschau, Nr. 136 und 140/1974; Süddeutsche Zeitung, Nr. 108/1973; Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 25/1974.

[56] Gusti Steiner: Warum mich meine Mutter versteckte, in: Ernst Klee: Behindertsein ist schön, Düsseldorf 1974, S. 43.

[57] Marlies Menge: Anders als wir, in: Die Zeit, Nr. 33/1975.

[58] Andreas Rett und Peter Battistich, in: Zeitschrift "Behinderte" (Graz/Österreich), Nr. 1/1979.

[59] Ebenda.

[60] Zeitschrift "Lebenshilfe«, Nr. 1/1974.

[61] Hermanns: Mjriams Mutter, a. a. 0.

[62] Arsène Brutsche: Peters Mutter, in: Zeitschrift "Puls", Nr. 2/1979.

[63] Hermanns, Mjriams Mutter, a. a. O.

[64] "Frau M., Ihr Kind hat eine Mißbildung!", a. a. O.

[65] Walter Thimm, Mit Behinderten leben, Freiburg i. Br. 1977, S. 105 f.

[66] Ebenda, S. 106.

[67] Ebenda.

[68] Vgl. dazu: Johannes Wickert, Dankward Helmes, Franz Plenker, Annegret Hettwer: Therapie durch Veränderung der Wohnumwelt, Forschungsbericht Band 1, Beiträge zum Thema Nichtseßhaftigkeit, Stuttgart 1976, S. 83 f. Hier sind die Merkmale totaler Institutionen, in Anlehnung an Goffman beschrieben.

[69] Zitiert nach Goffman, Stigma, a. a. O., S. 51.

[70] Die Angst eines Pfleglings vor dem Pfleger (anonym), in: Klee: Behindertsein ist schön, a. a. O, S. 37 f.

[71] Erfahrungsbericht der Bundesregierung über die Auswirkungen der Mitwirkungsverordnung des § 5 des Heimgesetzes, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Nr. 4/1979. Das Heimgesetz gilt für Alten-, Pflege- und Behindertenheime.

[72] Näheres bei Klee: Behindertenreport, a. a. O., S. 65 ff.

Teil II: Die Ausgliederung durch Eingliederung - Rehabilitation als Auslese

1. Eingliederung und Arbeitsfähigkeit

Die Fachleute unterscheiden zwischen Maßnahmen der medizinischen, berufsfördernden und sozialen Rehabilitation. Ziel aller Rehabilitationsmaßnahmen ist es, körperlich, geistig oder seelisch Behinderte "möglichst auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern".[73]

Die Eingliederung in das Arbeitsleben ist das erklärte Ziel aller Rehabilitationsbemühungen. Die medizinische Rehabilitation spielt dabei die Rolle einer Werkstatt, die die ramponierte Arbeitskraft wieder funktionstüchtig macht. Kann der Behinderte in der freien Wirtschaft arbeiten, gilt er auch als sozial rehabilitiert, ist der Behinderte vermindert arbeitsfähig, wird er einer Werkstatt für Behinderte zugeordnet.

Wer nicht arbeiten kann, ist nach gesellschaftlichen Maßstäben nicht rehabilitiert und erfährt Verwahrung, pardon: Pflege. Die Arbeitsunfähigen müssen ins Heim, oft sogar ins Altersheim, wo schon die untergebracht sind, die nicht mehr produktionstauglich sind.

Viele Hilfen gibt es nur unter der Voraussetzung, daß sie dem Fortkommen im Beruf dienen. Ein Beispiel: Ein Mann, etwa 35 Jahre alt, verheiratet, kaufmännischer Beruf, erfährt, daß er einen schweren Nierenschaden hat. Er muß mit Hilfe einer künstlichen Niere (Dialyse) leben. Den Schock, daß sich sein Leben so abrupt verändert hat, verarbeitet er mühsam. Doch dann bemüht er sich um eine Arbeit, die seinen Lebensumständen entspricht, also berücksichtigt, daß er zweimal die Woche an die künstliche Niere muß. Er stellt einen Antrag auf berufsfördernde Leistungen. Die werden ihm von seiner Rentenversicherung verweigert, "da bei der Art der Erkrankung eine Besserung der Erwerbsfähigkeit durch berufsfördernde Maßnahmen nicht erreicht werden kann." Vom Arbeitsamt erhält er Bescheid, nur jene erhielten Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme, "an deren Förderung ein arbeitsmarkt- oder sozialpolitisches Interesse besteht".

In brutaler Deutlichkeit und amtlich mit Dienstsiegel bestätigen die Reha-Instanzen dem Behinderten, daß er für den Rest seines Lebens zu den Akten gelegt ist, weil an ihm weder ein arbeitsmarkt- noch ein sozialpolitisches Interesse besteht. Die Arbeitsfähigkeit ist in allen Industrienationen das Kriterium, wonach ein Mensch bewertet und gefördert wird.

"Lieber querschnittgelähmter Leser!

Erst wenn Sie einer geregelten Arbeit oder Beschäftigung nachgehen, stehen Sie wieder im Leben. Erst dann sind Sie wirklich rehabilitiert. Nur dann werden Sie das Gefühl kennen, die Folgen der Querschnittlähmung überwunden zu haben und wieder >mitten im Leben< zu stehen.

Leben heißt Gesundheit und Zufriedenheit.

Keine noch so hohe Rente oder Pension ersetzt das Ansehen eines Menschen, das er durch Arbeit für seine Familie und die Gesellschaft, in der wir leben, erwirbt. Wenn Sie arbeiten, geben Sie der Gemeinschaft etwas. Sie sind daher wichtig und nicht nur Empfänger von Sozialleistungen."

Ratgeber für Querschnittgelähmte, Eigenverlag der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (Österreichs) 1971.

2. Kindergarten und Schule als Auslese-Instanzen

"Es mutet verwunderlich an: Was auch entschiedene Verfechter der Integration heute noch beim Bemühen um ein behindertes Kind in praxi in aller Regel als erstes tun und veranlassen, ist die Ausgliederung des Kindes aus der Gemeinschaft und seine Aufnahme in immer differenziertere Sparten institutionalisierter Behindertenversorgung. Wie lange noch derartige >praxisorientierte< Ausgliederung vor einer Eingliederung (Integration)?"[74] Wer die Frage stellt, hat sie schon beantwortet. Unter der Fahne "Eingliederung" wird dauerhaft ausgegliedert.

Das beginnt im Kindergarten. Nur wenige behinderte Kinder sind in einem "normalen" Kindergarten, nur wenige können in die hier und da bestehenden Modelleinrichtungen aufgenommen werden, die als integrierte Kindergärten laufen. Und selbst jene Kinder, die im integrierten Kindergarten mit nichtbehinderten Kindern spielten, Kontakt aufnahmen, müssen anschließend dann doch in die Sonderschule. Es ist wie bei der Rassentrennung (Segregation): nur daß hier nicht weiße und schwarze Kinder getrennt werden, sondern nichtbehinderte und behinderte.

Mit dem Eintritt in den Kindergarten, spätestens mit der Einschulung ist das Leben eines behinderten Kindes bereits programmiert. Seine Isolationskarriere beginnt. Spätestens mit der Einschulung wird der Behinderte aus der Sozialgemeinschaft aussortiert. (In Italien sind per Gesetz die Sonderschulen abgeschafft worden, behinderte und nichtbehinderte Kinder werden, wie ich gesehen habe, gemeinsam unterrichtet.)

Der Vorgang ist widersinnig und absurd. Die Schulbehörden erklären, sie wollten Behinderte optimal fördern, wollten die Eingliederung, und schieben die Behinderten in Sondereinrichtungen ab. Die Segregation ist perfekt organisiert. Morgens werden die Sonderschüler mit einem Sonderbus eingesammelt und mittags oder nachmittags wieder ausgeliefert. Die behinderten Schüler werden dabei so lebensuntüchtig, daß sie nicht einmal wissen, wie man mit einem öffentlichen Verkehrsmittel fährt. Sie werden von der Außenwelt systematisch abgeschirmt. Kontakte zu nichtbehinderten Spielkameraden können nicht entstehen. Die Eingliederungsinstanz Schule gliedert aus.

Welche soziale Einstufung Behinderte erfahren, läßt sich alleine am Prestigegefälle vom Studienrat zum Sonderschullehrer ablesen. Wo Leistung vergötzt wird, der Blick allein der Verwertbarkeit gilt, muß derjenige einen Prestigeverlust erleiden, der sich mit dem minderwertigen "Material" befaßt.[75] Sonderschulen, von Ausnahmen abgesehen, sind schlechter ausgestattet als etwa Gymnasien, die Schüler sind oft in tristen Altbauten untergebracht, oft nur in Provisorien, wo verschiedene Jahrgänge in einem Raum unterrichtet werden. Viele Kinder lernen weit entfernt von ihrem Elternhaus, in Sonderschulzentren zentriert, so daß sie ihrem sozialen Umfeld gänzlich entfremdet werden.

Die Förderung der Kinder wird den Gegebenheiten untergeordnet. Ein Beispiel: In einer Großstadt ist keine Sonderschule für Körperbehinderte, nur eine Lernbehindertenschule. So werden körperbehinderte Kinder kurzerhand zu Lernbehinderten erklärt, um sie überhaupt zu beschulen. Die Auswahlprozedur: "Die Ärztin hat sich zehn Minuten mit uns unterhalten, mit dem Kind eigentlich gar nicht, dann meinte sie, das Kind sei auf eine Sonderschule für Lernbehinderte zu geben." In diesem Fall waren die Eltern fähig, sich zu wehren. Sie brachten ihr Kind auf einer Schule für Körperbehinderte unter, wenn auch an einem anderen Ort.

Wie die Förderung der Kinder den Gegebenheiten untergeordnet wird, zeigt ein weiteres Beispiel: Da ist ein Kind mit Spina bifida (d. h. mit offenem Rückenmarkkanal, keine Kontrolle über Darm und Blase). Weil niemand das Kind, das an einer Normalschule eingeschult ist, zur Toilette bringen will, wird es nach der dritten Stunde nach Hause geschickt. Wie mir eine Lehrerin sagte, überlegt nun das Kollegium, ob es das Kind sitzenlassen oder in eine Sonderschule für Lernbehinderte einweisen soll, denn der neue Klassenraum liegt im ersten Stock und niemand will den Rollstuhl die Treppen hochtragen.

Den Angehörigen der Ober- und auch der Mittelschicht gelingt es leichter, ihre Kinder vor der Sonderbehandlung zu bewahren. Obgleich wir annehmen müßten, daß Behinderungen wie Blindheit oder Gehörlosigkeit in allen Schichten in gleicher Häufigkeit vorkommen, zeigt die Statistik der Sonderschulen ein anderes Bild. Bekannt ist, daß an den Lernbehinderten-Sonderschulen zu 93 Prozent Unterschichtskinder sind (7 Prozent Mittelschicht, 0 [in Worten: Null] Prozent Oberschicht.[76] "Aber auch die erfaßten blinden, sehbehinderten, gehörlosen und schwerhörigen Schüler kommen nicht anteilmäßig aus den einzelnen Schichten (also im Verhältnis 8:52:40 Prozent), sondern in erheblichem Maße mehr aus den Unterschichten, nämlich bis zu 66 Prozent statt der zu erwartenden 40 Prozent."[77]

Lernbehinderte gibt es amtlich nur im Schulbereich. Als eigene Behindertengruppe kommen sie amtlich sonst gar nicht vor (Bundessozialhilfe-, Schwerbehindertengesetz). Ihnen wird auch keine "Minderung der Erwerbsfähigkeit" bescheinigt. Sie erhalten keinen Schwerbehindertenausweis.6[78] Ihre Behinderung wird ja auch nur im sozialen Kontext sichtbar, wenn sie als Verhaltensauffällige aus der Allgemeinschule ausgemustert werden. Die Tatsache, daß sie an einer Sonderschule für Lernbehinderte waren, disqualifiziert sie für den Rest ihres Lebens. Sie sind im erbarmungslosen Konkurrenzkampf um Ausbildungsstellen und Arbeitsplätze vom Start an die Verlierer. Die Sonderschule schafft ihnen keine Zukunftsperspektive, sondern erledigt diese geradezu.

"Lebensfreude

durchglühe den Gebrechlichen!

Sie ist die lebende Flamme, die seinen Kleinmut und seine

Denkohnmacht verzehrt."

Hans Würtz: Zerbrecht die Krücken, Leipzig 1932.

Das Selbstbewußtsein der Sonderschüler wird an den Sonderschulen nicht gefördert. Die Betroffenen wissen selbst, daß sie allein der Besuch der Sonderschule als minderwertige Ware ausweist (Sonderschulklassen sind wie Tomaten oder Eier in Handelsklassen abgestuft: In der A-Klasse ist die beste, in der B-Stufe die weniger gute, in der C-Klasse die schlechteste Ware). In der Sonderschule lernen Behinderte, sich an die Normen der Leistungsstarken anzupassen. In der Allgemeinschule lernen die Schüler dagegen nicht, sich Behinderten anzupassen, auf sie zuzugehen, sie anzunehmen. (Das versuchen manchmal sozial engagierte Religionslehrer!) Wo die einen zur Anpassung an die anderen erzogen werden, wo diese Anpassung so einseitig geschieht, ist die Unter- und Überordnung, die Wertigkeit des Materials benannt.

Fazit: Im Kindergarten, spätestens mit der Einschulung, ist die Segregation schon lebensbestimmend vollzogen. Die Pädagogen mögen noch so engagiert, noch so fähig sein, sie können kein Kind durch Ausgliederung eingliedern.

3. Die Sonderschule für Lernbehinderte im "Dritten Reich"

Seit 1979 liegt eine Studie vor, die das Schicksal der Hilfsschule - die heute Lernbehindertenschule heißt - im "Dritten Reich" untersucht. Der Autor, Manfred Höck, zeigt an Hand von Archivmaterial, wie es den Dummen im Lande erging, als die Lehre von der Erbgesundheit, die Eugenik, zum nationalsozialistischen Dogma avancierte. Höck berichtet von jener Zeit, als "Aufartung", "Aufnordung", "Auslese" und "Ausmerze" Vokabeln der Ausrottungsideologen wurden und Mitfühlende mit dem Gerede von der "Humanitätsduselei" abgetan waren - ein Wort im übrigen, das sozialpolitischen Zynikern immer noch über die Lippen kommt, auch wenn von einer "Aufnordung" längst nicht mehr gesprochen wird.

In den zwanziger Jahren waren es Ärzte, Psychiater, Pädagogen, die warnten, der minderwertige Teil der Bevölkerung vermehre sich mehr als der hochwertige Teil, das deutsche Volk werde mit Schwächlichen oder anderweitig erblich Belasteten überflutet. Schuld daran waren die Kommunisten: "Der Marxismus war der große Förderer des Minderwertigen im deutschen Volke auf Kosten der Gesunden", schrieb die "Preußische Lehrerzeitung" am 24.4.1934.[79]

Die Dummen, die Unsozialen, die Hilfsschüler würden zu viel gefördert, hieß es, das Geld solle besser den Guten, den Begabten zugutekommen. Der Krüppelpädagoge Biesalski (die Behindertenpädagogen nannten sich damals so) versuchte 1927, die Körperbehinderten aus dem "Haufen der Unsozialen (Idioten, Epileptische, Geisteskranke, Unheilbare, Trinker, Schwindsüchtige und manchen Anderen)" herauszuhalten, denn die Krüppelfürsorge sei im höchsten Maße produktiv, die Krüppel würden schließlich ja erwerbsfähig.[80]

"Jeder Groschen, der bei den Sonderschulen gespart wird", hieß es damals, "kommt dem normalen Kind zugute."[81] Das ist ein Satz, der auch unsere Realität heute abdeckt, wenn man sich die Situation unserer Sonderschulen ansieht. 1938 hieß es in der "Allgemeinen Anordnung über die Hilfsschulen in Preußen": "Die Hilfsschule entlastet die Volksschule, damit ihre Kräfte ungehemmt der Erziehung der gesunden deutschen Jugend dienen können."[82] So ist es noch heute. Die Sonderschule ist nichts anderes als das Sammelbecken der weniger Brauchbaren oder der ganz Unbrauchbaren, sie sondert nach wie vor die Hilfsschüler und Krüppel von den "Gesunden" aus.

Das Kriterium der "Auslese" war die "Brauchbarkeit". Es gab eine soziale, wirtschaftliche und rassische Brauchbarkeit. Sage keiner voreilig, die Zeiten seien vorbei. Selbst aus Ministerialrats- und Ministermund wird zugegeben, daß unsere Schule die Gastarbeiterkinder zu zweisprachigen Analphabeten erzieht und in die Arbeitslosigkeit aussetzt. Ist das kein Rassismus?

"Nahezu alle Heilpädagogen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, die Begründungen für ihre Arbeit suchen", schreibt Höck, "wollen die Erwerbsfähigkeit, die ökonomische und soziale Brauchbarkeit ihrer Schützlinge herausstellen."[83]

"Lebenszuversicht ist dem Gebrechlichen der behende Flügel, der ihn über Vorurteile und Zurückversetzungsgefühle trägt."

Hans Würtz: Zerbrecht die Krücken, Leipzig 1932.

Noch heute entscheidet die "Minderung der Erwerbsfähigkeit" über das Leben eines Behinderten, nach genau diesem Maßstab werden Behinderte rehabilitiert oder nicht. Erwerbsfähig muß man sein, um gesellschaftlich anerkannt zu werden.

Die Fachleute, jene, denen Eltern ihre Kinder anvertraut hatten, lagen den Rassehygienikern in den Armen: "Eugenik ohne Heilpädagogik ist leer und Heilpädagogik ohne Eugenik ist blind, beide sind aufeinander angewiesen und bedürfen einander",[84] tönte einer der führenden Heilpädagogen. Es waren Fachleute, die mitschuldig wurden, daß Hilfsschüler pauschal als "Schwachsinnige" galten, als geistig-sittlich minderwertig. Es waren Fachleute, nicht alle, gewiß nicht, die meinten, sich zu erbbiologischen Maßnahmen andienern zu müssen, sich erboten aufzupassen, daß ja kein Minderwertiger durch einen der Tests schlüpfe. Es waren Fachleute, die ihre Schüler sogar denunzierten, beim Amtsarzt Anzeige erstatteten, sie hätten die Stammtafeln ihrer Hilfsschulfamilien durchforstet und krankes Erbgut entdeckt.

Höck berichtet, daß sich keine, er unterstreicht das "keine", daß sich keine Stimme aus den Reihen der Hilfsschullehrer und ihrer Verbände erhob, die sich grundsätzlich gegen die Sterilisation gestellt hätte.[85] Einige hofften, würden die Kinder sterilisiert, würden sie vor der Euthanasie bewahrt, andere priesen die Sterilisation dagegen in peinlichster Weise aus Überzeugung.

Auch die Gesundheitsbehörden machten übereifrig mit, wie in Hamburg, wo die Gesundheitsbehörde am 14.9.1933 die Jugendbehörden anschrieb, das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses trete zwar erst 1934 in Kraft, jede Verzögerung sei höchst unerwünscht, die Personen seien bereits jetzt zu melden. Höchste Wachsamkeit galt der Hamburger Gesundheitsbehörde den leichten Formen des angeborenen Schwachsinns, "weil diese Personen frei herumlaufen, sich ungehemmt triebhaft vermehren ..."[86]

"... Auch die Anwesenheit einer Gruppe von jedenfalls 25 geistig und körperlich Schwerbehinderten stellt einen zur Minderung des Reisepreises berechtigenden Mangel dar. Es ist nicht zu verkennen, daß eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann. Dies gilt jedenfalls, wenn es sich um verunstaltete geistesgestörte Menschen handelt, die keiner Sprache mächtig sind, von denen einer oder der andere in unregelmäßigem Rhythmus unartikulierte Schreie ausstößt und gelegentlich Tobsuchtsanfälle bekommt. So wünschenswert die Integration von Schwerbehinderten in das normale tägliche Leben ist, kann sie durch einen Reiseveranstalter gegenüber anderen Kunden sicher nicht erzwungen werden. Daß es Leid auf der Welt gibt, ist nicht zu ändern; aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will. Eine Beeinträchtigung des Urlaubs kommt jedoch erst dann in Betracht, wenn der Anteil Behinderter so hoch ist, und die Auswirkungen, die von einer solchen Gruppe ausgehen, so stark sind, daß der Reisende dem Anblick nicht ausweichen kann. Nach dem nicht bestrittenen Vortrag der Klägerin war dies nicht ohne weiteres möglich. So war sie angesichts ihres Alters und der Lage ihres Zimmers auf die Benutzung des Fahrstuhls angewiesen. Daß sie bei einer solchen Fahrt einen Tobsuchtsanfall eines Behinderten miterleben mußte, stellt mit Sicherheit keine nur noch geringfügige Beeinträchtigung des Urlaubs dar ..."

Aus dem Urteilstext der 24. Zivilkammer des Frankfurter Landgerichts vorn 25.2.1980. Das Gericht verurteilte ein Reiseunternehmen, der Klägerin die Hälfte des Reisepreises zurückzuerstatten. Hinterher stellte sich heraus, daß nicht ein einziger Behinderter geistig behindert war. (Vgl. die Dokumentation >Behinderte im Urlaub?< von E. Klee, Fischer Taschenbuch Bd. 4229)

Krankenhäuser beeilten sich, die Messer zum Sterilisieren zu schärfen, wie in Württemberg, wo sich viele Kliniken bemühten, in die Liste jener Einrichtungen aufgenommen zu werden, die die Unfruchtbarmachung vornahmen. Jedoch, einige Ärzte weigerten sich auch, wie vier Ärzte des Trierer Herz-Jesu-Krankenhauses, einer von Nonnen geführten Einrichtung. Und aus Hamburg ist bekannt, daß der Widerstand vor allem von "katholischen Kreisen" kam. Aktenkundig sind zwei Fürsorgerinnen, die sich weigerten, an Personalerhebungen mitzumachen, was die Verwaltung im übrigen respektierte!

Die Sterilisationen wurden 1938/39 weitgehend eingestellt, wenn auch nicht beendet. Das hatte wohl zwei Gründe: Einmal waren die zahlreichen Todesfälle nicht mehr zu verheimlichen. Viele der Verstümmelten brachten sich um. Die Vorfälle beunruhigten selbst das Reichsministerium des Innern, wie aus einem Runderlaß vom 28.8.1935 hervorgeht. Zum anderen begann der Krieg. Wer dazu tauglich schien, war zum Soldaten noch nicht minderwertig genug. Der "Rest" wurde liquidiert: 1939 begann die "Kinderaktion", bei der 4000 ermordet wurden. Bei der 1941 auf Befehl Hitlers eingestellten "Aktion T 4" kamen wahrscheinlich 100 000 Opfer um. Die Zahl jener, die bei einigen "Sonderaktionen" ausgemerzt wurden, ist unbekannt.[87]

Die Hilfsschule war nicht direkt von der Euthanasie betroffen, weil die schwerer Behinderten beizeiten "ausgelesen" und in Anstalten verbracht worden waren. Ich muß gestehen, ich kann das nicht einfach nur referieren, denn ich habe Anstalten gesehen, von denen aus die Kinder verschleppt wurden. Und in diesen Anstalten leben geistig Behinderte: an Heizkörper gefesselt, ins Bett gekreuzigt, an allen vieren an die Bettenden geschnallt, in elenden Massensälen, manche 24 Stunden ins Bett gebunden. Das ist unser Anstaltsalltag. Nicht unter Hitler, sondern im Zeichen der Demokratie.

Zurück zur Geschichte: Die in der Hilfsschule Verbliebenen wurden als Arbeitskräfte entdeckt: "Zum Straßenkehren und Aschenkübelabfahren muß es auch Menschen geben", lautete die Pädagogen-Devise. Die Heilpädagogen konnten stolz darauf sein, daß immerhin 80 Prozent ihrer Schützlinge "erwerbsfähig" würden (und forderten eine Gehaltserhöhung). Etwa der gleiche Prozentsatz wurde für wehrtauglich befunden, ja, es gelang den Pädagogen sogar durchzusetzen, daß die Hilfsschüler zur Hitlerjugend durften.

Erlösen

kann auch den Gebrechlichen nur das

Schaffensglück der Arbeit!

Hans Würtz: Zerbrecht die Krücken, Leipzig 1932.

Die Argumente, mit denen die Pädagogen kämpften, zeigt der Brief eines Schulleiters aus Hamburg-Altona, den er am 24. 4. 1942 an die Schuldienststelle der HJ schrieb: "Hunderte von meinen früheren Schülern stehen heute als Soldaten an allen Fronten, erfüllen dort ihre Pflicht wie jeder andere Volksgenosse, haben sich vor dem Feind ausgezeichnet, sind befördert worden und haben auch das größte und letzte Opfer gebracht, ihr Leben. Bedarf es noch eines anderen Beweises für die Brauchbarkeit der Hilfsschüler."[88]

Die Bürokratie hat durch alle Wirren hindurch gut funktioniert. Am 4. 5. 1943 gibt das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung einen Erlaß heraus, der die »Zeugniserteilung in Hilfsschulen« regelt. Das Format der Zeugnisse ist von DIN A 4 auf DIN A 5 umzustellen und beidseitig zu bedrucken, die Umrahmungen sind "in einfachem Druck" herzustellen. Trotz "Aufartung" und »Aufnordung" - die Bürokratie hat sich nie wandeln müssen.

4. Die enteigneten Bedürfnisse

Wer nicht oder nur eingeschränkt arbeiten kann, wird finanziell abhängig, muß von den Behörden unterstützt werden. Sein Leben wird gelebt: von Richtlinien, Verordnungen, Gesetzen, Formularen, von Zusagen und Absagen. Der Behinderte gerät in den Machtbereich von Rehakraten - Bürokraten, deren Herrschaftsbereich die Rehabilitation ist. Sie bestimmen, welche Bedürfnisse einem Behinderten zustehen und welche nicht.

Doch nicht nur Integrationsbürokraten bestimmen über die Bedürfnisse Behinderter, sondern auch Politiker und politische Beamte. Da darf ein Parlamentarischer Staatssekretär erklären, Rollstuhlfahrer führen "auf ausdrücklichen Wunsch der Reisenden" im zugig-kalten Gepäckwagen.[89] Er selber fährt Erster Klasse.

Da kann ein Magistratsdirektor behaupten, ein schwerstbehinderter Spastiker brauche kein Telefon, um Bekannte zu Hilfeleistungen anzurufen. Er sehe wohl, daß der Antragsteller ein schwerstbehinderter Mensch sei, der nicht stehen und gehen könne, dem "jede erdenkbare" Hilfe auf gesetzlicher Grundlage zuteil werden müsse. Aber: "Er ist im Besitz einer Schreibmaschine und dadurch in der Lage, wenigstens Postkarten zu schreiben, wenn auch durchaus glaubhaft ist, daß ihn das Schreiben besonders anstrengt."[90] Später, zur Rede gestellt, erklärt der Magistratsdirektor: "Sehen Sie, nach dem Krieg sind die Amis überall in die Kinderheime und haben Schokolade auf die Betten gelegt. Was war der Erfolg? Die haben sich alle den Magen verdorben."

Haben rechtskundige Behinderte das Recht eindeutig auf ihrer Seite, werden die Rehakraten ganz menschlich. "Sehen Sie", sagen sie dann, "wir kennen uns doch schon lange. Lassen wir den ganzen bürokratischen Kram mal beiseite ..." Und dann beginnen sie, sozusagen auf der "menschlichen" Ebene, mit dem Behinderten zu feilschen, seinen Antrag doch zurückzuziehen, beizugeben, seine Bedürfnisse freiwillig zurückzustecken. Und sie lassen die Gelegenheit nicht aus, dem Behinderten nebenbei, aber doch massiv, klarzumachen, diese Maßnahme koste ihn, den Reha-Beamten, wieder viel Geld - als zahle er es aus eigener Tasche, als nähme ihm der Behinderte das letzte Fünfmarkstück weg.

Unbürokratisch wird vorgegangen, wenn der Antragsteller von einem berechtigten Anspruch abgebracht werden soll, bürokratisch wird vorgegangen, wenn der Behinderte die Paragraphen gegen sich hat. Da wird, wie bei der Sozialhilfe, der Antragsteller peinlicher Befragung unterworfen, da muß er mit Formularen umgehen, deren Amtssprache er nicht verstehen kann (Amtssprache ist eine Herrschaftssprache), da muß er jede Bitte begründen: Warum er Kleider braucht, warum er einen Heizkostenzuschuß braucht, warum er in Urlaub will, jede Bitte (obgleich es gesetzlich verankerte Rechte sind) muß ausführlich begründet werden, geprüft werden, genehmigt werden. So kommt sich der Antragsteller lästig, als Bettler, als Schmarotzer vor, meidet den Amtsgang, meidet alles, was mit Ämtern zu tun hat - und beschneidet so seine Bedürfnisse freiwillig, um nicht ständig gedemütigt zu werden.

"Als ein Wohnheim beispielsweise Rasierapparate für die dort untergebrachten geistig behinderten Jugendlichen zu finanzieren gedachte, wurde seitens der Verwaltung zurückgefragt, ob nicht ein Rasierapparat für alle genügte."

Professor Otto Speck, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 81/1979.

In der Sozialhilfe wird dem Antragsteller sein Bettelstatus immer neu vor Augen geführt. Welche konkreten Bedürfnisse ein Sozialhilfeempfänger haben darf, ist in einem Warenkorb präsentiert: Wöchentlich 750 Gramm Kartoffeln und Brot, 200 Gramm Wurst, 160 Gramm Fisch, 20 Gramm Nudeln, vier Eier. Monatlich eine Tube Zahnpasta, ein halbes Stück Seife, vier Briefmarken, ein Päckchen Tabak, drei Flaschen Bier. Ich habe mir einmal angesehen, wer in den Arbeitskreisen sitzt, wer die Bedürfnisse der Armen regelt. Da sitzen Senatsräte, Oberregierungsräte, Stadtverwaltungsdirektoren, Ministerialräte, Verwaltungsdirektoren, Regierungsdirektoren, Kreisverwaltungsräte, alles beamtete Funktionäre, von deren Spesensätzen ganze Familien satt werden können.

Die Bedürfnisse werden nach wirtschaftlicher Brauchbarkeit und gesellschaftlichen Einstufungen gestaffelt. Ein Fallbeispiel: Da ist ein Wohnheim für geistig behinderte Erwachsene, die in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten. Da das Wohnheim als "Modell" galt, wurde ein richtungweisendes Konzept beschlossen: Die geistig behinderten Bewohner sollten möglichst selbständig ihren Tagesablauf organisieren. Auf jedem Stockwerk wohnt eine Gruppe von sechs bis elf Männern oder Frauen. Jede Gruppe hat ihre eigene Küche, ihren eigenen Wohnraum. Dank der Förderung machen zwei Bewohner einen Hauptschulabschluß nach, einer arbeitet inzwischen in einer Autogroßhandlung. Drei sind in Sozialbauwohnungen umgezogen, bei vier der geistig behinderten Bewohner laufen entsprechende Anträge.

Die Mitarbeiter des Wohnheims förderten die Bewohner so, daß einige lernten, selbständig einzukaufen, zu kochen, einen Einkaufsplan zu machen (z. T. mit Bildern), mit dem Haushaltsgeld umzugehen, mit der Straßenbahn zu fahren, Zimmer und Wäsche in Ordnung zu halten, ihre Zimmer selbst zu gestalten und dazu Möbel auszusuchen und zu kaufen.

Dieses selbständige Verhalten lernten nicht alle, aber viele. Doch dann wurde das dem Kostenträger zu teuer. Rehakraten freuen sich nicht am Fortschritt ihrer Schützlinge, sondern blicken auf Kostensätze. Das Sozialhilfegesetz, lautete die Kritik der Geldgeber, schreibe lediglich "ausreichende" Hilfe vor, doch hier werde "optimale" Förderung angestrebt. Und so machten sie sich daran, das Modell wieder auf eine normale Versorgung zurückzustufen. Denn die optimale Förderung rentiert sich nicht, das Kapital verzinst sich nicht, da die Behinderten ohnedies schon in einer Behindertenwerkstatt arbeiten. Die optimale Förderung käme nur den Behinderten selbst zugute.

5. Enteignete Rechte

In einer Stadt wurden siebzehn geistig behinderte Kinder im Vorschulalter ausfindig gemacht, die in keiner Statistik des Gesundheitsamtes auftauchten. In den ersten Lebensjahren hatten diese Eltern in der Hoffnung auf Hilfe und Beratung insgesamt 39 öffentliche Stellen in Anspruch genommen mit dem Ergebnis: Ratlosigkeit, Verwirrung, Verbitterung, keine konkreten Ratschläge, wie es denn eigentlich weitergehen könne. Diese Stellen wurden durchweg zufällig gefunden; die Eltern hatten den Eindruck, daß die verschiedenen Stellen untereinander nichts voneinander wußten. Bei einem einzigen Kind sah die Kette folgendermaßen aus: Kinderarzt, anderer Kinderarzt, Universitätskinderklinik, andere Kinderklinik, Einrichtung für geistig behinderte, spastisch gelähmte Kinder, zeitweise Landarzt-Behandlung, Orthopäde, Spastikerverband, Krankengymnastin, Beschäftigungstherapeutin, Finanzamt, Gesundheitsamt, Schularztstelle des Gesundheitsamtes, Adresse von Sonderschulkindergarten.[91]

Die Betroffenen, in diesem Fall die Eltern, irren im Wald der Zuständigkeiten (besser: der Unzuständigkeiten) herum, überlastet, überfordert, fühlen sich wie Lästige behandelt, die man abwimmelt, überschauen ihre Rechte nicht und resignieren irgendwann.

Ein Behinderter beschreibt den Vorgang so: "Jeder Teilschritt wurde in die Verantwortlichkeit verschiedener Stellen übergeben, so daß die Gesamtrehabiliation zu einem zähen, mühsamen Vorgang wird, der eher noch behinderter macht. Denn der Betroffene ist dazu gehalten, sich von Stelle zu Stelle schicken zu lassen, sich durch die Ungereimtheiten und Widersprüche durchzuboxen, sich in die Bettlerposition zu begeben, um überleben zu können."[92]

Reha-Instanzen halten Behinderte möglichst in Abhängigkeit. Das macht sie beherrschbar. "So werden z. B. Tests durchgeführt, deren Ergebnisse der Sachbearbeiter aber schön für sich behält. Man scheint sich darüber im klaren zu sein, daß Unsicherheit und Angst das Gefühl der Mutlosigkeit unterstützen, allzu große Forderungen so unterbinden. Ist die totale Auslieferung an die Ämter, das ganze über sich Verfügenlassen der Zwangspreis für die durchaus unsichere Aussicht auf eine bessere Lebensperspektive, was immer das sein mag?"[93]

Vor allem jene, die ihre Bedürfnisse nicht artikulieren können, bleiben den Ämtern ausgeliefert. Kein Wunder, daß Reha-Instanzen als Feinde betrachtet werden: "Es mag vielen Menschen aus sozial benachteiligten Gruppen schlicht unvorstellbar erscheinen, daß ein Gesundheitsamt oder eine Sozialbehörde in ihrem anonymen bürokratischen Charakter, abgeschirmt von der Öffentlichkeit durch einen Schutzwall von Formularen und Papieren in unverständlicher Sprache, überhaupt für die Lösung individueller Probleme eines behinderten Kindes in Frage kommen."[94]

Ein Fallbeispiel: "Als R. 1943 mit einer Knochenkrankheit geboren wird, geben ihm die Ärzte kaum eine Überlebenschance. Im günstigsten Fall wird das Kind ein Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen bleiben. Doch den Eltern gelingt es, ihren Sohn vor der Nazi-Euthanasie zu bewahren. Das Kind wächst heran, zwar verkrüppelt und gehunfähig, wie vorausgesagt, doch überaus rege und intelligent. Als der Junge eingeschult werden soll, lehnt die Normalschule eine Aufnahme ab; Sonderschulen für Körperbehinderte befinden sich erst im Aufbau. Der Staat fordert die Eltern auf, das Kind in ein Heim zu geben. Geschreckt durch die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit und im Bewußtsein, daß jedes Elternhaus besser ist als ein Heim, lehnen diese ab. Der Staat >bestraft< sie, indem er sie die Kosten des Privatunterrichtes unter schweren finanziellen Opfern selber bestreiten läßt. Trotz ausgezeichneter Noten ist ein Übergang ins Gymnasium weder nach der 4. noch nach der 8. Klasse zu verwirklichen. Angeblich sei das Risiko eines Unfalls noch immer zu groß, obwohl sich der Gesundheitszustand des Kindes mittlerweile so stabilisiert hat, daß man von einem gehunfähigen Nichtbehinderten sprechen könnte. Eine Private Fremdsprachenschule hat weniger Skrupel. Sie bildet den jungen R. zum Übersetzer, Dolmetscher und Handelskorrespondenten in Englisch, Französisch und Spanisch aus. Die Abschlußergebnisse nach dem vierjährigen Kurs liegen weit über dem Durchschnitt. Als eine Eisenfirma einen Handelskorrespondenten für Englisch sucht, der auch über spanische Sprachkenntnisse verfügen soll, stellt sich R. vor. Den Arbeitsplatz erhält ein Schulkollege, dessen Englischnoten schlechter sind, und der keine Spanischkenntnisse aufweisen kann. R. erteilt zwischenzeitlich Nachhilfeunterricht in den erlernten Fremdsprachen, was ihn weder befriedigt noch eine gesicherte Existenz darstellt. Die Universität Pennsylvania schreibt eine Externenprüfung über Amerikanische Kultur und Zivilisation aus. Die Korrektur der englisch geschriebenen Arbeiten erfolgt in Amerika. So weiß R., als er das angestrebte Diplom in Händen hält, daß sein Erfolg (¾ der Prüflinge sind durchgefallen) kein Mitleidsergebnis ist. Doch die berufliche Situation bessert sich dadurch nicht. Als sich Gelegenheit bietet, über den Zweiten Bildungsweg das Abitur nachzuholen, ergreift R. die Chance. Vier Jahre bringt ihn seine Mutter täglich in ein Abendgymnasium. Dann kann er als Klassenbester mit einem Notendurchschnitt von 1,2 das Reifezeugnis in Empfang nehmen, sechs Jahre später als vergleichsweise Nichtbehinderte. R. entschließt sich, die Universität an seinem Heimatort zu besuchen. Zufällig ist sie eine der wenigen behindertengerechten deutschen Hochschulen. Als er sich erkundigt, welches Studium angesichts seiner Behinderung vorteilhaft wäre zuckt man die Achsel. Der Studienberater ist nicht für Berufsfragen zuständig, der akademische Berufsberater nicht für Behinderte, der Behindertenberater nicht für akademische Berufe. So studiert R. nach seiner persönlichen Neigung Germanistik und Romanistik. Vier Jahre studiert R. ohne fremde Hilfe an seiner Heimatuniversität, dann opfert seine Mutter nochmals Zeit und Kraft, um ihm ein zweisemestriges Studium an der Universität Genf zu ermöglichen. R. wird in die Studienstiftung des Deutschen Volkes aufgenommen. Die Note des Ersten Staatsexamens in Französisch und Deutsch versetzt ihn in die Lage zu promovieren, da er ein Promotionsstipendium der Deutschen Studienstiftung erhält. Mehrere Doktorväter bieten sich dem Studenten zur Wahl. Realistisch entscheidet sich R. nicht für den bekanntesten Professor, sondern für jenen, der ihm die günstigsten Aufstiegsmöglichkeiten in Aussicht stellt. Mit der mündlichen Zusicherung einer Assistentenstelle wagt es R., eine Ehe mit einer leichtbehinderten Volksschullehrerin einzugehen. Eine vorzeitige Beschäftigung als Assistent lehnt der Professor mit Hinweis auf die noch ausstehende Doktorarbeit ab. R. schöpft keinen Verdacht, obwohl andere Assistenten desselben Professors noch nicht einmal ein Staatsexamen aufweisen können. Nach zweieinhalb Jahren intensiver Arbeit ist die Dissertation über Rabelais, Diderot und Claudel fertiggestellt. Die Bedingungen für eine Assistentenstelle wären erfüllt, doch der Professor ist anderer Meinung. Die Arbeit entspreche nicht seinen Erwartungen; es sei zu überlegen, ob sie überhaupt angenommen werden könne. R. ist enttäuscht, sieht aber noch immer keinen Zusammenhang zwischen der Ablehnung und seiner Behinderung. Er glaubt an ein übliches >Universitätsschicksal<. Resignierend verzichtet R. auf wissenschaftliche Ambitionen und deutet seinem Professor gegenüber die Möglichkeit einer Bibliothekarslaufbahn an. Schlagartig ist die Situation verändert. R. erhält ein Empfehlungsschreiben, in dem die Qualität der Dissertation besonders gelobt wird. Die Arbeit passiert mit >sehr gut< die Korrekturhürde; auch das Rigorosum bei drei verschiedenen Professoren wird mit >sehr gut< abgelegt. Doch der Staat lehnt R.s Bewerbung zum Höheren Bibliotheksdienst ab. Bibliothekstätigkeiten seien nicht von einem Körperbehinderten auszuüben. Auch R.s Einwand, er habe sein ganzes Studium über selbständig in der Bibliothek gearbeitet, kann diese Haltung nicht erschüttern. Selbst das Angebot der Verwaltung seiner Heimatstadt, nach erfolgreicher Abschlußprüfung R. zu übernehmen, wirkt sich negativ aus. Dann komme eine Ausbildung auf Staatskosten erst recht nicht in Frage, da der Staat nur den Eigenbedarf berücksichtigen könne. Auf Fürsprache des Regierungspräsidenten stellt man R. schließlich an seiner Heimatuniversität eine Studienberaterstelle in Aussicht. Obwohl man ihn persönlich kennt, oder gerade deshalb, sieht man kein Hindernis für die Ausübung dieser Tätigkeit. Man fordert R. auf, seine Bewerbung einzureichen. Nach Ablauf der Ausschreibefrist erweist sie sich als beste der eingegangenen. Man spricht bereits von einem Einstellungstermin. Doch plötzlich erfolgt eine Kehrtwendung. R. sei doch für den Posten ungeeignet. Verschiedenste Argumente werden auf den Tisch gelegt, bei denen man im selben Atemzug eingesteht, daß sie alle widerlegbar sind. Der wahre Grund, den man verschweigt, der aber auf Umwegen doch ans Tageslicht kommt, lautet: >Was soll ein junger Student denken, der an der Tür >Studienberater Dr. R. liest und sich plötzlich einem kleinen, verkrüppelten Mann gegenübersieht?< R. sieht in dieser Haltung eine Diskriminierung und reicht bei Landtag und Ministerpräsidenten eine Petition ein. Nach fünf Monaten erhält er lediglich den lapidaren Zwischenbescheid, die Universität habe bisher trotz mehrmaliger Aufforderung keine Stellungnahme zum Fall abgegeben. Man werde sich weiter um eine Klärung der Angelegenheit bemühen. Es scheint ein Hohn zu sein, daß R. in seinem Heimatort eine Behindertengruppe leitet, die sich die Integration der Behinderten in die Gesellschaft zum Ziel gesetzt hat. >Wie kann ich mit gutem Gewissen meine Gruppenmitglieder zu einem ersten Schritt in die Gesellschaft ermuntern, wenn sie an meinem eigenen Fall sehen, wie diese Gesellschaft reagiert. Ich habe es weiter gebracht, als die meisten von uns, und muß mich letztlich doch der Übermacht der Vorurteile beugen.<"

Dr. Peter Radtke, der seinen Fall selbst schilderte, war monatelang arbeitslos. Seiner Ausbildung nach für eine Spitzenposition prädestiniert, in der Praxis nicht mal als einfacher Verwaltungsangestellter akzeptiert. Nicht einmal Arbeitslosengeld bekam er, wie es jedem Arbeitslosen zusteht, denn er hatte ja - behördliche Logik - nie gearbeitet. Peter Radtke ist heute Leiter des Fachgebiets Behindertenprogramme an der Münchener Volkshochschule. Er bietet mit das differenzierteste und dichteste Bildungsangebot für Behinderte an, das es an unseren Volkshochschulen gibt. Also ein Happy-End? War die Verbitterung voreilig?

Nein. Es war ihm gelungen, daß sein Fall von den Massenmedien herausgestellt wurde und damit aus der Anonymität anderer Fälle herausragte. Dieser Tatsache verdankt es R., daß er am glücklichen Ende seine durch Zeugnisse ausgewiesenen Qualitäten nun auch in der Praxis beweisen kann.

Die Rechte Behinderter werden von Bürokraten verwaltet, die sich hüten, die Undurchschaubarkeit von Paragraphen durchschaubar zu machen. So sind Behinderte gezwungen, sich durch andere vertreten zu lassen:

"Wir Behinderte sind allzuoft schnell bereit, schwierige und peinliche Verhandlungen mit der Versicherung an Drittpersonen zu delegieren, wie z. B. an den Sozialarbeiter, Arzt, Juristen usw... Das heißt mit anderen Worten: Unsere Rechte werden in erster Linie durch unsere Vertreter verfochten, unsere Abhängigkeit bleibt somit, wenn auch nur indirekt, bestehen. Alle Institutionen, die zur Zeit als Interessenvertreter von Behinderten wirken, sind in irgendeiner Form von Subventionen seitens Ämtern und Versicherungen abhängig ..."

Und am Ende heißt es selbstanklagend: "Folgen von Gesetzesänderungen oder Vollzugsveränderungen nehmen wir Behinderte meist erst dann zur Kenntnis, wenn wir diese am eigenen Leib erfahren, d. h. wenn es zu spät ist und die Änderungen längst in Kraft sind."[95]

Behinderte müssen lernen, sich Rechtskenntnisse anzueignen, um die ihnen enteigneten Rechte wieder selbst einklagen zu können. Wieviel Kraft allerdings dazu gehört, einer oft unmenschlichen Bürokratie zu widerstehen, nicht ohnmächtig zu resignieren, zeigt das Urteil eines Verwaltungsgerichts. Es ging um eine Klassenfahrt. Die Schülerin, von Sozialhilfe abhängig, wollte einen Teil der Kosten von der Sozialhilfe erstattet bekommen. Es führe zu einer unvertretbaren Diskriminierung und zur Bloßstellung sozialschwacher Schüler, wenn sie an Klassenfahrten nicht teilnehmen könnten. Der Oberkreisdirektor, als Vertreter der Sozialhilfe, war anderer Meinung. Das Verwaltungsgerichtsurteil (noch nicht rechtskräftig) liest sich so:

"Die Teilnahme an einer Klassenfahrt gehört nicht zum notwendigen Lebensunterhalt, der nach § 11 BSHG durch die Sozialhilfe sicherzustellen ist. Der notwendige Lebensunterhalt umfaßt die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens, das heißt die Bedürfnisse, die >ständig< vorhanden sind oder doch regelmäßig in gewissen Abständen wiederkehren und ohne deren Befriedigung die Führung eines menschenwürdigen Lebens, das die Sozialhilfe gewährleisten soll, § 1 Abs. 2 BSHG, nicht möglich ist. So führt § 12 Abs. 1 BSHG als Bestandteile des notwendigen Lebensunterhalts besonders an Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens im Sinne der notwendigen Pflege der Beziehungen zur Umwelt und der Teilnahme am kulturellen Leben. Die Teilnahme an einer Klassenfahrt ist demgegenüber kein Bedarf, der im Ablauf des täglichen Lebens regelmäßig wiederkehrt, sondern ein Bedarf, der nur in einer besonderen - zeitlich eng begrenzten - Lebenslage entsteht, nämlich nur während der Schulzeit, und zwar üblicherweise nur in der Abschlußklasse der Hauptschule - bei Hauptschulabgängern also in der Regel nur einmal im Leben -, sowie einmal im Jahr während der letzten vier Klassen der höheren Schulen.

Die Deckung dieses Bedarfs aus Mitteln der Sozialhilfe ist auch keine von der Menschenwürde her gebotene Notwendigkeit. Die Führung eines menschenwürdigen Lebens hängt nicht von der Teilnahme an einer Schulwanderung oder Klassenfahrt ab. Dem kann die Klägerin nicht mit Erfolg entgegenhalten, die Versagung der Hilfe führe zur Diskriminierung und Bloßstellung der sozialschwachen Schüler. Bei einer verantwortungsbewußten, die finanziellen Möglichkeiten aller Schüler berücksichtigenden Auswahl der Klassenfahrt ist eine Diskriminierung oder Bloßstellung sozialschwacher Schüler nicht zu befürchten. Es ist Aufgabe der Schulleitung, im Zusammenwirken mit der Elternschaft und dem Schulträger nur solche Fahrten und Schulwanderungen zu beschließen, an denen bei Ausschöpfung der für diese Zwecke vom Schulträger oder anderen Stellen gewährten Zuschüsse auch der sozialschwächste Schüler teilnehmen kann."[96]

6. Das enteignete Bewußtsein von Behördenvertretern

Ich besuchte einmal mit einer Gruppe eine Werkstatt für Behinderte. Es wurde von der Entlohnung der Behinderten gesprochen. In unserer Gruppe waren auch Behördenvertreter. Ich sagte: "Man muß davon reden, was ein Arbeiter verdient und was ein Behinderter verdient." Darauf kam ein erregter Einwand: "Nun laßt mal die Kirche im Dorf. Man muß auch sehen, was ein Arbeiter leistet und was ein Behinderter in der Werkstatt leistet."

An diesem Tag wurde mir klar, daß auch die Rehakraten ein enteignetes Bewußtsein haben. Denn derjenige, der die Kirche im Dorf lassen wollte, sagte das aus Überzeugung. Wir argumentierten in zwei verschiedenen Welten. Ich dachte und denke es noch: Der Behinderte in der Werkstatt bringt das, was er kann, er setzt sich voll ein und erhält dafür nur ein Taschengeld. Ich dachte also vom Behinderten her (was viele für ein verbogenes Denken halten, weil es so ganz und gar unökonomisch ist).

Der Behördenvertreter argumentierte dagegen ganz institutionsbezogen. Er orientiert sich nicht an der Situation des Behinderten, orientiert sich nicht an der Person, sondern denkt in institutionell vorgegebenen Bahnen, sieht im Behinderten nicht mehr als einen von vielen Werkstattplätzen, die subventioniert und wirtschaftlich kalkuliert werden.

Vielleicht klingt das überheblich, wenn ich die beiden Denkweisen so gegenüberstelle und für mich sozusagen die menschlichere Denkweise beanspruche. Ich will es aber dennoch so persönlich, in der Ich-Form sagen, weil mir an diesem Beispiel klar wurde, daß das Denken der Rehakraten ein enteignetes Denken ist. Denn es ist nicht normal, daß wir institutionsbezogen denken, daß wir die Normen und Ideologien einer Institution, einer Behörde, eines Amtes, eines Berufsstandes als Richtschnur unseres Denkens und Handelns haben. So sind wir nicht aufgewachsen.

Als Kinder haben wir personal gedacht. Wir setzten uns mit Personen auseinander. Gut und schön, werden einige sagen, wir sind keine Kinder mehr, abstraktes Denken setzt entwicklungspsychologisch ohnedies erst später ein, aber das meine ich nicht. Ich meine, daß wir einem langen Erziehungsprozeß unterworfen werden, bis wir nur noch in Sachen, Programmpunkten und ganz aus der Perspektive einer Firma oder Behörde denken. Es bedarf der Gehirnwäsche, bis wir so "betriebsblind" sind, daß wir nur noch aus den Augenwinkeln jener Institution sehen, bei der wir angestellt sind, daß wir nur noch wie ein Verwaltungsapparat denken.

Wenn wir Institutionen naiv sehen ("naiv" ist kein Schimpfwort, wie viele mit ihrem enteigneten Bewußtsein meinen, sondern heißt "natürlich" oder "unbefangen"!), so ist es dem Menschlichen widersinnig, also un-menschlich, wenn beispielsweise in einem Heim der reibungslose Ablauf höheren Wert hat als das Wohlbefinden der Bewohner. Es ist menschenwidrig, wenn Fachleute eine Einrichtung verwaltungsfreundlich, aber nicht menschenfreundlich organisieren. Wieviel ist da in uns kaputtgegangen, daß wir als Menschen die Sachen vor das Menschliche stellen? Hier ist unser Denken einer massiven Deformation unterworfen worden, was viele Mitarbeiter ja auch noch zugeben, wenn sie sagen: "Ach, wissen Sie, am Anfang habe ich ja auch gedacht . . ., aber man gewöhnt sich daran."

Es gibt ganz einfache Beispiele dafür, wie Menschen, die bei einer Behörde angestellt sind, nur noch behördenorientiert denken können. Da ist eine Rollstuhlfahrerin, sie hat Multiple Sklerose, hat diese Diagnose gerade erfahren (und diese Erkenntnis will verarbeitet sein). Die Frau beantragt einen Schwerbehindertenausweis. Monatelang passiert überhaupt nichts. Dann moniert eine Freundin immer wieder beim Amt. Vom Amt hört man nur Ausflüchte, der Fall werde bearbeitet und man brauche noch den Bescheid eines Augenarztes, später den Bericht einer Klinik, noch einmal später den Bericht eines Neurologen. Dann wird mitgeteilt, der Ausweis könne erst ausgestellt werden, wenn die Behinderte zu einer Kur gewesen sei. Als eine Zeitung den Fall aufgreift, erklärt der Amtsleiter: »Das muß alles hieb- und stichfest sein und soll dann ja auch für Jahre halten."[97]

Der Mensch, der erfährt, daß er eine fortschreitende und sich verschlechternde Behinderung hat (und die hat er auch ohne Attest des Augenarztes), erfährt von einer Behörde, die sich schön fürsorglich Versorgungsamt nennt, keine Versorgung, sondern bürokratische Hindernisse. Nicht die behinderte Person ist der Mittelpunkt des Geschehens, sondern die Behörde, der Ausweis, der hieb- und stichfest sein muß und Jahre halten soll.

Der Behinderte existiert nicht als Person, sondern nur als Aktenvorgang, als Verwaltungsproblem oder als technisches Problem, als Defizit-Wesen, dessen "Schäden" oder "Mängel" apparativ beseitigt werden sollen. Krankenkassen, Versicherungsträger und Behindertenbehörden reden längst nicht mehr von Armen und Beinen, nein, das klänge viel zu menschlich-persönlich, sie reden vom "Geh- und Bewegungsapparat". Warum eigentlich?

Werner Boll, bis 1979 Vorstandsvorsitzender der Stiftung Rehabilitation, des größten und modernsten Reha-Konzerns, verdanken wir viele Reha-Zentren ("Bollwerke"). Boll kritisiert inzwischen die fortschreitende Bürokratisierung, wonach "zunehmende Reglementierungen notwendige Entwicklungsspielräume und schöpferisches Handeln einengen oder ausschließen und zur perfekten >Verwaltung des Behinderten< voranschreitet". Die Rehabilitationsfachkräfte würden vielfach zu einseitigen Spezialisten ihres Verwaltungs- oder Interessenbereichs. "Immer weniger verstehen die Sprache der Behinderten oder sprechen sie gar. Zunehmend erhalten Rehabilitationsfachkräfte nur eine am engen Verwaltungsbereich orientierte Aus- und Weiterbildung." Die eigentliche Arbeit am Behinderten werde durch die sich immer stärker ausbreitende Verbands-, Vereins-, Fachgruppen-, Arbeitsgemeinschafts- und Ausschußtätigkeiten zugedeckt. Boll räumt ein, "daß nicht alles, was im Bereich der Rehabilitation geschieht, sich in erster Linie am wohlverstandenen Bedürfnis des Behinderten orientiert, sondern daß oft institutionelle Interessen mehr im Vordergrund stehen."[98]

Die Rehatokratie hat begonnen.

7. Reha-Instanzen produzieren Isolation und Stigmatisierung

Ein Behinderter schildert seinen Lebensweg durch die Reha-Instanzen und beginnt mit dem Satz: "Von klein an wurde ich unterdrückt."[99] Seine Lebensgeschichte und seine "Integration" sind exemplarisch:

Der Behinderte, ein Spastiker, stark sprachbehindert, wurde 1940 geboren. Als er zehn Jahre alt war, bemerkte man seine Behinderung. Sein Lehrer hatte ihn bis dahin verspottet ("Mona Lisa lächelt schon wieder"), da er seine Mimik nicht kontrollieren konnte. Mit 21 Jahren war der Spastiker ein Fall für das Landessozialamt, mit 22 Jahren kam er in ein Altersheim, danach in ein Krüppelheim, danach in die Universitätsklinik. Von dort aus in ein Langzeitkrankenhaus, von dort aus in ein Altersheim, das man »Sanatorium« nannte. Es folgte eine Klinik, dann ein Rehabilitationszentrum. "Ich durfte lernen. Ich versäumte keine Unterrichtsstunde. Jeder Tag war mit neuen Hoffnungen angefüllt." Dann taucht eine Kommission auf, und er muß in ein Heim übersiedeln, weil sich seine Ausbildung nicht lohne. Da wird er krank, wechselt in ein Krankenhaus und von dort in eine Wohngemeinschaft. Danach folgt ein Heim, dann ein Langzeitkrankenhaus. Dort fällt einer Schwester auf, daß er gar nicht schwachsinnig, sondern ein Spastiker ist. Der Behinderte resümiert, nur wer sich anpasse, genieße Schutz: "Von klein auf wurde ich zu einem stillen, lenkbaren, bescheidenen, unauffälligen Menschen erzogen, der keine Ansprüche hat und nichts in Frage stellt, der nicht aufmuckt."

Wie es einem erging, der aufbegehrte, schildert er: "Ich habe erlebt, wie Josef K., der in einer beschützenden Werkstatt arbeitete, dem Direktor des Heimes klarzumachen versuchte, daß er dieses Getto der Unterdrückung nicht mehr länger ertragen könne, daß er raus wolle, um eine Frau zu finden, um endlich als Mensch leben zu können. Josef K. hatte sich etwas Mut angetrunken, weil er nüchtern nicht in der Lage gewesen wäre, auch nur einen Satz an den Direktor zu richten. Obwohl er nicht betrunken war und sich gut verständlich ausdrückte, befahl der Direktor sofort zwei Pflegern, den Trunkenbold abzutransportieren. Aber Josef K. wehrte sich, er ließ sich aus seinem Rollstuhl rutschen und bekam den Direktor am Hosenbein zu fassen. Die anderen Arbeiter gingen wortlos weg, sie hatten Angst, in die Geschichte verwickelt zu werden. Nur die ganz jungen Burschen blieben stehen und schauten fassungslos zu, wie die Hose des Direktors einen Riß bekam. Josef K. wurde in einem VW abtransportiert, ich habe nie erfahren, wohin er gebracht wurde."

Der Behinderte, dessen Heimkarriere hier referiert wird, fährt schließlich nach Lourdes. Dort widerfährt ihm tatsächlich ein Wunder: Er lernt eine Krankenschwester kennen, die zu ihm hält. Beide leben nun zusammen. Keine Klinik, kein Langzeitkrankenhaus oder Heim hatte ihn rehabilitieren können, das konnte nur ein Mensch namens Ursel.

Eigenes Handeln tolerieren die Reha-Instanzen selten. 1973 zog der überörtliche Träger der Sozialhilfe eines Bundeslandes vor das Verwaltungsgericht, weil Eltern für ihr Kind die Initiative ergriffen hatten. Die Kostenübernahme für einen Heimplatz wurde mit der Begründung abgelehnt, die Eltern hätten sich eigenmächtig auf die Suche gemacht. Die Eltern gewannen den Prozeß, weil sie in Übereinstimmung mit dem Gesundheitsamt gehandelt hatten und das Gesundheitsamt nach den landesrechtlichen Bestimmungen auch sonst zur Erfüllung der Aufgaben des überörtlichen Trägers herangezogen wird.[100]

In einer Stadt passierte folgendes: Ein Ehepaar muß seine Wohnung aufgeben. Der Mann, 68 Jahre alt, hat Muskelschwund, seine 25 Jahre jüngere Frau ist Spastikerin. Das Sozialamt schaltet sich ein, vermittelt den Eheleuten eine Wohnung im ersten Stock, wo der bewegungsunfähige Mann festsitzt (er hofft auf einen Rollstuhl vom Sozialamt). Beide haben wohl einen Antrag gestellt, an das allgemeine Stromnetz angeschlossen zu werden, doch vergebens.

So verbringen sie die Abende drei Wochen lang bei Kerzenschein. Bis eines Abends eine Kerze umfällt, ein Brand schwelt und Feuerwehr und Polizei anrücken. Als ein Polizist Licht machen will, merkt er, daß da kein Strom ist.[101]

Die beiden haben es also der Polizei zu verdanken, daß sie schließlich Strom bekamen? Sozialbehörden, die einen gelähmten Mann in den ersten Stock verfrachten und ihm keinen Rollstuhl geben, kann man nicht zutrauen, daß sie sich auch noch ums Licht kümmern.

Ein letztes Fallbeispiel[102]: Eine behinderte Rollstuhlfahrerin kommt auf dem Hauptbahnhof an, läßt sich von der Bahnpolizei ein Taxi besorgen und fährt schnurstracks zum Sozialamt. Mit zwei Koffern als persönliche Habe rollt sie ins Dienstzimmer der Sozialarbeiterin. Sie habe keine Unterkunft, suche aber eine; ins Heim gehe sie aber auf keinen Fall. Das Sozialamt aber hat nur einen Heimplatz anzubieten, denn für Rollstuhlfahrer geeignete Wohnungen sind selten. Das Heim liegt irgendwo auf dem flachen Land: ein paar Bauernhäuser, keine Verkehrsverbindungen, keine Arbeits- oder Ausbildungsplätze. Da will die Rollstuhlfahrerin partout nicht hin. Nein, erklärt sie, sie übernachte eher hier im Amt. Notfalls solle man sie in einem Hotel unterbringen, das Sozialhilfegesetz erlaube dies, wenn zur Überbrückung keine andere Wahl besteht. Im Dienstzimmer kommt es zu einem kleinen Menschenauflauf, es geht auf die Mittagspause der Mitarbeiter zu. Man will zum Mittagstisch einerseits, hat keine Unterbringungsmöglichkeiten andererseits. Und dann diese Uneinsichtigkeit! Draußen ist es bitterkalt, nachts friert es, schließlich kann die Rollstuhlfahrerin ja nicht im Freien schlafen. Störrisch bedeutet die Rebellische, notfalls schlafe sie auch im Freien, ins Heim jedenfalls gehe sie nicht, denn das Leben dort kenne sie. Dies ist ein Punkt, an dem sich sozialbürokratisch ansetzen läßt. Wenn eine hilflose Person sich selber gefährdet, kann sie in die Psychiatrie eingewiesen werden. Also wird die Amtsärztin herbeitelefoniert. Auf diesen letzten Unterbringungsversuch ist die Rollstuhlfahrerin allerdings präpariert. Im Rollenspiel hat sie vorher die Reaktionsmöglichkeiten eines Sozialamts durchgespielt. Dabei ist die Einweisung in die Psychiatrie als eine zwar absurde, aber bedenkenswerte Reaktion, wenn auch mehr aus Spaß, in Betracht gezogen worden. Die Behinderte, die sich nicht einfach abschieben lassen will, erklärt, nur in Gegenwart der Presse mit der Amtsärztin zu sprechen. Sie möchte die Presse anrufen. Die Sozialarbeiterin, die Minuten vorher noch ihr Telefon angeboten hatte, wenn es nötig sei, kann zu solch unbotmäßigem Tun natürlich nicht ihr Diensttelefon zur Verfügung stellen und verweist die Rollstuhlfahrerin an eine der öffentlichen Telefonzellen, die bekanntlich für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich sind. Die Behinderte bittet Passanten auf der Straße, für sie die Geldmünzen einzuwerfen und die Nummer zu wählen. Eher durch Zufall erreicht sie tatsächlich eine Journalistin, die sofort herbeieilt. Um nicht der Amtsärztin unter die Finger zu kommen und mit Hilfe einer Beruhigungsspritze bereits außer Gefecht zu sein, drückt sich die aufmuckende Behinderte noch eine Zeitlang im Flur herum, ehe sie geholt wird. Die Amtsärztin wartet bereits. Wenn es um Zwangsmaßnahmen geht, geht es eben schnell. Die Journalistin, nicht aus Sensationslust, sondern aus dem menschlichen Bedürfnis, Schlimmstes zu verhüten, herbeigeeilt, erscheint auch auf der Bildfläche. Dies wiederum ist für die Amtsärztin Anlaß, von der Bildfläche zu verschwinden. Dann findet sich auch eine Unterbringung für eine Übergangszeit. Nach einer Woche zieht die Aufsässige sogar in eine rollstuhlgerechte Wohnung um.

Ich bin nicht gegen soziale und therapeutische Berufe eingestellt, im Gegenteil, ich bin mit vielen, die in der Sozialarbeit oder in der Therapie arbeiten, befreundet. Und es liegt mir fern, einen von ihnen zu diskriminieren. Aber ich muß nicht schweigen, wie meine Freunde, die dienstrechtlich zum Schweigen verurteilt sind, obgleich sie oft das Unrecht herausschreien möchten. Lasse sich keiner beeindrucken, die Fallbeispiele, die hier wiedergegeben sind, seien Extremfälle, bedauerliche Einzelfälle. Ich habe selbst oft das Bedürfnis, das zu glauben, weil mein Vermögen, Ungerechtigkeit zu ertragen, auch beschränkt ist, weil ich glauben möchte, daß alles ganz anders ist. Aber ich kann die Situation nicht um meines seelischen Gleichgewichts willen schönen.

Ich will ganz persönlich bleiben: Ein Erlebnis hat mich besonders niedergeschmettert. Eines Tages lud mich der Erziehungsleiter eines Heims für Behinderte ein, sein Heim zu besichtigen. Das ist ungewöhnlich, weil Heime meist versuchen, mich aus ihrem Revier fernzuhalten. Ich fuhr hin. Der Mann zeigte mir das Heim, nicht wie sonst Führungen gemacht werden, er zeigte mir Stationen, wo Kinder festgebunden waren, sei es an Heizkörper, sei es, daß sie an Händen und Füßen in ihren Betten festgeschnallt waren. Ich fragte mich während der Führung: Warum zeigt er mir das? Abends bat er mich noch in seine Wohnung. Da offenbarte er das schreckliche Geheimnis:

Der Erziehungsleiter, stellvertretender Anstaltsleiter war er, seine Frau arbeitete als Lehrerin auch in dieser Einrichtung, hatte vier Kinder. Und eines dieser Kinder, ein Mädchen, bekam irgendwann eine Hirnhautentzündung. Sie wurde geistig behindert. Viele Jahre lebte das Kind mit in der Familie. Man hatte ihr den Raum zwischen Küche und Wohnzimmer gegeben, aus Holz eine niedere Wand gezimmert, mit Löchern drin, damit das Mädchen mit der Familie Augenkontakt hatte. Dann schaffte es die Familie nicht mehr, das hirnorganisch geschädigte Kind, das ständige Betreuung brauchte, zu versorgen. Nun stand die Entscheidung an, das eigene Kind in die eigene Anstalt zu geben. Der Mann wußte, fortan würde sein Kind auch ins Bett gefesselt leben, würde die eigenen Aggressionen nicht mehr abreagieren können, würde sich das eigene Fleisch zerkratzen, Wunden reißen, bis man ihm dicke Fäustlinge anzieht, daß es sich nicht mehr rühren kann. Der Mann sah das alles, wußte, daß sein Kind vorher mit der Familie gelebt hatte, nun aber auf eine animalische Existenz zurückgestuft werden würde in dem von ihm mitverantworteten Heim.

Ich habe dem Vater nicht helfen können, ich wußte keine Lösung. Aber ich weiß, daß wir Zustände wie die geschilderten mit allen Mitteln bekämpfen müssen, auch wenn wir uns unbeliebt machen und für unsere Kritik diffamiert werden. Denn die Industrienationen verfügen wohl über die finanziellen Mittel, diese Zustände zu ändern, haben aber kein Interesse an den Unproduktiven. Das ist ein barbarischer Zustand.

8. Die Kongreßintegration

Kongresse, Tagungen, Konferenzen, Reha-Ausstellungen werden veranstaltet, damit es den Behinderten einmal besser ergehe, ihre Isolation aufgehoben werde. Therese Zemp, ohne Arme und Beine geboren, eine der aktivsten in der Behindertenarbeit, hat eine dieser Integrationsveranstaltungen beschrieben. Da ist zunächst ein Kongreß, wo Ärzte, Pädagogen und Heimleiter über Probleme Behinderter konferieren. Als über die Sexualität Behinderter getagt wird, will sie auch zum Kongreß. Doch sie kann erstens den teuren Eintritt nicht zahlen, und sie kommt zweitens ohne ein ärztliches Attest ("welches mir bestätigt hätte, daß ich diese Teilnahme ertragen könne") nicht hinein. Ich blieb also draußen und werde vermutlich sehr bald in einer eigens geschriebenen Broschüre lesen können, welche Probleme viele gescheitere Herrn für mich herausgefunden haben, und was für Lösungsmöglichkeiten sie mir anbieten."[103]

Neben dem Kongreß lädt eine Fachmesse ein. Therese Zemps Eindruck: "Ich stand plötzlich vor einer Eßmaschine - nicht ganz so schlimm wie in Chaplins >Modern Times<, aber ich hatte ein komisches Gefühl, als ich mit einem Knopf den festgeschraubten Blechnapf drehte, und dem Rhythmus des rotierenden Löffels nachzukommen versuchte. Damit würden wir >unabhängiger<, >selbständiger< sein, >nicht mehr so auf andere angewiesen<. In Heimen und Spitälern könne >Personal eingespart werden< ... Mit solchen und anderen Sätzen versuchten sie mir die Abfütterungsmaschine schmackhaft zu machen. Daß solche Maschinen uns noch einer möglichen Kommunikation berauben, uns noch mehr isolieren - darüber wollten sie mit mir nicht mehr reden - das sei >Gewöhnungssache< - sagte man mir."

"Der Freßtrieb ist bei Behinderten oft nicht spezifiziert, sie essen alles, was sie erreichen können, und geistig Behinderte nehmen auch Gras, Kot, Würmer u. a. m. zu sich. Mit zunehmendem Alter steigt das Nahrungsbedürfnis ins Unermeßliche: Kinder räumen in der Nacht Kühlschränke aus, nehmen Essen vom Teller des Nachbarn, horten Nahrängsmittel in ihren Taschen usw."

Fritz Holzinger: Sonderpädagogik, Wien 1978, S. 181.

Neben Kongreß und Fachmesse ist noch eine Ausstellung zu besuchen, wo Organisationen, die für, über und manchmal sogar mit Behinderten arbeiten, sich selbst darstellen und den Behinderten als "Dein Mitmensch" anpreisen. Thereses Kommentar: "Dies alles geschah unter dem großen Stern der Integration für uns! Eine solche Integration, die für mich gemacht wird, stinkt mir nicht nur, sie erdrückt mich. Man macht mir eine Unabhängigkeit vor, die verlogen ist, weil sie mich in ganz neue, viel schlimmere Abhängigkeiten bringt, und ohnehin bestehende Abhängigkeiten verschweigt: Sie bringt mich nämlich in die Abhängigkeit von Maschinen und verhärtet dadurch meine momentane Abhängigkeit von Wohltätigkeits- und Fürsorgeinstitutionen um einiges."

Nach dieser präzisen Beschreibung, wie eine Behinderte von einem Rehakongreß ausgeschlossen wird und statt dessen an die Füttermaschine gerät, bedarf es meines Kommentars nicht mehr. Wir brauchen uns nur die Tagungsvorstände von Rehakongressen anzusehen, um zu verstehen, wessen Bedürfnisse hier abgedeckt werden. Da tummeln sich Landes- und Bundesminister, Direktoren von Versicherungsanstalten, Krankenkassen, Gesundheitsorganisationen, Hauptgeschäftsführer von Wohlfahrtsverbänden, Verbandsdirektoren von Standesorganisationen, Präsidenten irgendwelcher Rehaverbände und Professoren, die sich als Reha-Profis profiliert haben. Grußworte gehen an Honoratioren und an Funktionäre, "die man sich warmhalten will, indem man sie was sagen läßt, mit anschließendem Beifall".[104] Sie alle reden über Behinderte, denken für Behinderte, aber sie agieren nicht zusammen mit Behinderten, Behinderte sind nicht aktiv beteiligt (Ausstellungsstücke einmal beiseite gelassen, die Renommierbehinderten, die es geschafft haben und wie Nichtbehinderte argumentieren). Integrations-Großveranstaltungen sanktionieren die Desintegration.

Ein Standestreffen der Heilpädagogen karikiert Wielfried Merkel, selbst Heilpädagoge: "Das Thema: >Integration Behinderter und Verhaltensauffälliger - Ideologie oder Wirklichkeit?< hätte es nahegelegt, die Tagung mit Behinderten gemeinsam durchzuführen, die Integration zu praktizieren. Allein dies hätte wohl das Vorstellungsvermögen dieser Fachleute überschritten. Die noble Tagungsherberge für das mittlere Management, die sich der Vorstand des Verbandes ausgesucht hatte, wäre möglicherweise auch nicht so ganz der passende Rahmen gewesen für den Auftritt einiger Spastiker oder mongoloider Mitmenschen."

Beim kaltem Büffet und festlichem Tanz, in geschlossener Gesellschaft, tagte die Versammlung über das Thema "Integration" Behinderter. Merkel erbitterte dies so, daß er sarkastisch schreibt: "Solange noch Staatssekretäre und Minister sich in fünf Minuten von dem hohen Niveau sozialer Leistungen überzeugen, durch Musterabteilungen eilen, Pädagogen mittun, weil sie Geld wollen und Journalisten darüber groß berichten, wird sich Integration als Phrase erweisen. Dabei läge es in der Hand von Pädagogen, andere Informations- und Kommunikationskanäle zu öffnen. Wann und wo hat schon die Öffentlichkeit direkten und ständigen Kontakt zu Heimbewohnern, ohne daß Pädagogen dazwischen stehen und den Kontakt >zum Wohle< der Behinderten reglementieren? Wann kommen die oft noch gettoisierten Heimbewohner selbst zu Wort? Wie wäre es sonst möglich, daß der Direktor einer Anstalt für geistig- und lernbehinderte Menschen sich empört über die 17jährigen Heimbewohnerinnen, die sich schminken, Nagellack auftragen und in der Bevölkerung den Eindruck erwecken, doch nicht so behindert zu sein. Je behinderter das Aussehen, desto größer die Spendenbereitschaft, wußte schon Bettlerkönig Peachum."

Gewiß werden viele Fachleute einwenden, dies sei eine sehr einseitige Sicht. Auf vielen Kongressen wird sicherlich auch ernsthaft diskutiert, referieren Referenten von hohem intellektuellen Niveau. Aber wie kann ich mich unter dem Thema "Integration" versammeln und zugleich Desintegration praktizieren? So bestätigt sich der Verdacht, daß Fachleute gar nicht wollen, was sie predigen: Integration. Wollten sie tatsächlich die Integration, müßten sie mit den zu Integrierenden auch Gemeinschaft halten, müßten auf den Kongressen doch auch Behinderte sein, diskutieren, essen, plaudern, flirten, tanzen.

Es ist eine absurde Erkenntnis, daß man Integration fordert und Segregation praktiziert.

9. Die Erfindung der Krüppelseele

Alfred Adlers "Studie über Minderwertigkeit von Organen" von 1907 muß immer wieder herhalten, wenn sich Autoren eine Theorie vom Verhalten Behinderter zusammenbasteln. Tatsächlich entwickelte Adler in seiner kleinen Studie eine Defekt-Theorie, in der er hervorhebt, "daß diese Studie dahin zielt, alle Erscheinungen der Neurosen zurückzuführen auf Organminderwertigkeit, den Grad und die Art der nicht völlig gelungenen zentralen Kompensation auf eintretende Kompensationsstörungen."[105]

Adler behauptet, "es gibt keine Organminderwertigkeit ohne begleitende Minderwertigkeit des Sexualapparates."[106] Bringen Behinderte besondere Leistungen, dann deshalb, weil bestimmte Defekte überkompensiert werden: "Ich habe bereits früher auf die degenerative Anlage der Ohren Mozarts, auf die Otosklerose (Schwerhörigkeit, E. K.) Beethovens, auf die Stigmatisierung des Ohres Bruckners durch einen Naevus (Hautveränderung, E. K.) hingewiesen. Ebenso auf die Kinderfehler in der Sprachentwicklung Demosthenes' (der sich vom Stotterer zum berühmten Volksredner entwickelte, E. K.). Von Moses, dem Volksredner und Führer, wird berichtet, daß er eine schwere Zunge hatte."[107]

Wie auch immer sich ein Behinderter verhält, sein Verhalten wird aus dem Defekt erklärt. Verhält er sich gestört, liegt die Ursache in seinem Defekt, wird er ein berühmter Mensch und glänzt mit außergewöhnlichen Leistungen, hat er eben seinen Defekt überkompensiert. Ganz deutlich wird diese Sicht der Krüppelpsychologie bei Hans Würtz, der auf Adlers Spuren wandelt. Beide, Adler wie Würtz, haben die Krüppelpsychologie entscheidend beeinflußt. Würtz leitete die "Zentrale Forschungs- und Fortbildungsanstalt für die Krüppelfürsorge in Preußen und im Deutschen Reiche" in Berlin-Dahlem. Da er seine Erkenntnisse nicht in ein psychologisches Sprachgewand kleidet, wirken seine Aussagen heute zumindest komisch, während den Adlerschen Aussagen mehr Wissenschaftlichkeit anhaftet.

Würtz erforschte die "Krüppelseele" und fand krüppeltypische Eigenschaften: "Das Krüppelleiden beeinflußt bei vielen Gebrechlichen das Innenleben so entscheidend, daß berechtigt von Schulbeispielen der Krüppelseelenkunde gesprochen werden kann. Ein aufschlußreiches Schulbeispiel ist Lord Byron, der in jeder Lebenslage und in jedem Lebensalter die Tragik seines Klumpfußes empfindet."[108]

Nach dem Preußischen Krüppelfürsorgegesetz vom 6. 5. 1920 entstehen "leicht seelische Entgleisungen und Schwächen, die das typische Krüppeltum begründen: verstärkte Selbstfühligkeit, Benachteiligungs - und Beeinträchtigungsempfinden, erhöhte Empfindlichkeit, Reizbarkeit, Neid, Mißtrauen, Starrheit und Härte der Selbstbehauptung sowie übersteigertes Ehrgefühl."[109]

Daß der Behinderte gesellschaftlich benachteiligt ist, aus der Sozialgemeinschaft ausgesperrt ist, daß er also allen Grund hat, sich benachteiligt zu fühlen, daß sein Mißtrauen gegenüber den staatlichen Instanzen der Krüppelfürsorge und deren Vertretern nur zu berechtigt ist, das kommt in dieser Sichtweise nicht vor, da ist man blind. Es ist schon infam, wie das berechtigte Mißtrauen des Behinderten, sein berechtigter Neid auf die voll Integrierten, sein Empfinden der Benachteiligung, seine Erkenntnis also, ihm als typische Charaktereigenschaften angehängt werden, um ihn isolieren zu können.

"Die großen Könige", zitiert Würtz den französischen Schriftsteller Balzac, "waren vor allem Männer der Bewegung: Julius Cäsar, Karl der Große, Ludwig der Heilige, Heinrich der IV., Napoleon sind schlagende Beweise dafür."[110] Die Lahmen sind keiner großen Taten fähig, zu keiner Körper- und Seelenbewegung tauglich, »wenn sie nicht im religiösen Gemütsleben eine innere Bewegungsfreiheit gewinnen."[111] Demut gleicht Lähmung aus, Religion stiftet Zufriedenheit, um auch in der Benachteiligung still zu bleiben.

Vollends irrsinnig wird die Argumentation, wenn alle, die nicht ins politische Konzept passen, als Krüppel denunziert werden. Der Marxismus läßt sich ganz einfach aus dem "galägen Klassenhasse des Häßlichkeitskrüppels Karl Marx"[112]erklären. Und Revolutionen entstehen in Zeiten, in denen die Krüppel an die Macht kommen: "Ein Blick in die politische Weltgeschichte zeigt den kleinen, schiefhalsigen Alexander den Großen, den kleinen, häßlichen Attila, den kleinen, lahmen Timur, den kleinen, häßlichen Napoleon 1., den kleinen mongoloid-häßlichen Lenin. . . . Ist es Zufall oder spricht sich darin eine Gesetzmäßigkeit aus, daß sich willensstarke Krüppel und begabte Psychopathen so oft zu einer Art Symbiose zusammenfinden? Man sieht neben dem Krüppel Lenin den Ressentimentpsychopathen Trotzki, neben dem buckligen Oskar Klein den Radikalitätspsychopathen Bela Khun, neben der lahmen Rosa Luxemburg den Geltungskrampfpsychopathen Karl Liebknecht. Ist es nicht, als ob sich die Labilität der Psychopathen an dem Willenstrotz des Krüppels zu kompensieren trachtet? In den Gestalten der gebrechlichen Welteroberer und der Agitation scheint sich anzudeuten, daß in Entscheidungszeiten der Willenstrotz des Krüppels leicht in politischen Fanatismus umschlägt. Auch das Zeitalter der großen französischen Revolution stellt den Krüppel an die Front: Mirabeau, Danton, Marat, Couthon und Robespierre. Der Testamentsvollstrecker dieser Revolution, der Mißwuchskrüppel Napoleon, hat zur Seite den körperlich anormalen Foucéund den klumpfüßigen Talleyrand."[113]

Wir alle kompensieren, lenken von dem, was wir als Makel empfinden, ab und verweisen auf das, was wir an uns als angenehm und schön empfinden. Wir alle versuchen, unsere Mängel auszugleichen, ohne daß dies als psychopathologisches Verhalten denunziert würde. Behinderte aber, über Jahrhunderte von der Möglichkeit abgeschnitten, selbst zu publizieren, konnten sich nicht dagegen wehren, daß nichtbehinderte Experten eine Typologie des Krüppels entwarfen.

Es gibt keine typischen Verhaltensweisen der Körperbehinderten, der Geistigbehinderten, der psychisch Behinderten. Und wenn Behindertenpädagogen versuchten, für jede einzelne Körperbehinderung typische Merkmale aufzuzeigen, so mag das einem Bedürfnis nach Klassifizierungen entspringen, aber solche Schemata sind pädagogisch unsinnig. Denn die Entwicklung eines Menschen hängt von vielen Faktoren ab, wobei die Bedingungen, wie er aufwuchs und wie er gefördert wurde (Sozialisation nennt man das mit einem Fremdwort) entscheidend sind, aber nicht seine Behinderungsform.

Wilhelm Bläsig, selbst behindert, hat eine Klassifizierung der Behinderungsformen versucht. Er bescheinigt Polio-Kindern (Poliomyelitis): "Leichte Reizbarkeit, Empfindlichkeit, auch Argwohn und starke Ermüdungserscheinungen, die die Konzentration häufig erschweren."[114] Bläsig meint, dies sei generell die "Psyche der Behinderten", übernimmt dabei aber (unwissend?) die Beschreibung aus dem Preußischen Krüppelfürsorgegesetz von 1920.

"Prognose der Kriminalität

Zwei Drittel der kriminellen Rückfallverbrecher fallen bereits vor dem 10. Lebensjahr durch starke Triebhaftigkeit, übersteigertes Geltungsstreben, Eigensinn, Trotz, Verlogenheit, Reaktionslosigkeit auf Strafen und Arbeitsunlust auf. Vor allem zeigen sie Gemütsarmut, die bei Behinderten häufiger nachweisbar sein soll als bei Gesunden (K. Schneider) und die in Schadenfreude, Brutalität und Hinterhältigkeit zum Ausdruck kommt."

Fritz Holzinger: Sonderpädagogik, Wien 1978, S. 335.

Kinder mit fortschreitendem Muskelschwund (Muskeldystrophie) sind nach Bläsig "leicht ungeduldig und reizbar, was auf ihre starke Unbeweglichkeit zurückzuführen ist . . ...."[115] Doch damit ist die Darstellung negativer Krüppel-Eigenschaften noch nicht erschöpft: "Neben der Verschlossenheit ist bei anderen eine gewisse Geschwätzigkeit auffallend."[116]

"Die meisten Ouerschnittgelähmten müssen zu sauberer und übersichtlicher Führung der Hefte angehalten werden und bedürfen immer wieder eines Appells an den Ordnungssinn. Sie sind für ein Lob empfänglich, Tadel berührt sie dagegen wenig."[117] Das liest sich wie Brehms Tierleben für Krüppel, wonach sich aus jeder Behinderungsform ein rasseeigenes Verhalten ableiten ließe.

Es ist müßig; aus der Fachliteratur weitere Zitate aufzupicken (wie ich es in der Vorbereitung dieses Kapitels eigentlich vorhatte). Es gibt kein rasseeigenes Verhalten von Behinderten, keine Krüppelseele, keine behindertentypische seelische Verfassung, die aus einem speziellen Krüppelinneren abzuleiten wäre.

Jeder Nichtbehinderte, den man im Schonraum erzieht, dem man von Kindesbeinen an beibringt, "das kannst du nicht", den man von Instanz zu Instanz schleppt, ihn nie selbst entscheiden läßt, dem man erklärt, Liebe und Sexualität seien für ihn tabu, den man in Sonderschulen steckt und ihm dabei klarmacht, das sei eben die Institution für die Minderwertigen, den man schließlich in besonderen Heimen isoliert, wird ein "behindertentypisches" Verhalten annehmen und ohne Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen sein.

Die Erfindung der Krüppelseele erlaubte es, den Krüppel aus dem Verkehr zu ziehen.

10. Unsere Zukunft: Die Ent-Therapeutisierung der Behindertenarbeit

Wir müssen erst wieder lernen, Menschen natürlich und unverstellt zu begegnen. Das ist so einfach gesagt, aber wer begegnet dem Behinderten schon unverstellt und natürlich? Der Behinderte ist ja in jeder Begegnung schon als der "Defekte" gebrandmarkt. Pädagoge, Psychologe, Arzt, oder Therapeut nahen sich ihm stets "therapeutisch", mit jener Freundlichkeit, die zum Berufsbild gehört. "Die einzigen, die mich nicht für voll genommen haben, waren die Experten für Behinderte." Der Satz stammt von einem Behinderten, geschrieben am Ende seines Lebens.

Viele denken und sorgen für Behinderte. Der Behinderte ist nicht der selbst Handelnde, es wird für ihn gehandelt: "Hat nun der Behinderte seine Wahl getroffen, der Arzt keine Bedenken gegen eine Ehe (!) und unser Schützling will heiraten, werden wir beide Ehepartner auf den schweren Schritt, den sie zu tun gedenken, vorbereiten."[118] Weiter kann Entmündigung kaum reichen. Ein Behinderter heiratet nicht, er darf heiraten, ärztlich genehmigt und pädagogisch abgesegnet.

Von Geburt an bestimmen Experten über die Zukunft des behinderten Kindes. Den Eltern wird wenig Handlungskompetenz eingeräumt. Die stehen einer professionellen Schwerhörigkeit gegenüber, "dem >Taube-Ohren-Syndrom< als dem Ignorieren elterlicher Vorschläge und Informationen, der professionellen Alleswisserei und Omnipotenz und der Tendenz, die Eltern zu Patienten zu machen".[119]

Otto Speck, Ordinarius für Sonderpädagogik an der Münchener Universität, geht mit den professionellen Therapeuten hart ins Gericht, sieht das Spezialistentum als ein Machtsystem, in dem der einzelne untergeht: "Das Spezialistentum hat die Hilfe entsprechend den wissenschaftlichen Fortschritten ungemein verfeinert und damit im einzelnen verbessert. Es ist aber auch gleichzeitig zu einem Machtsystem geworden, durch das sich der hilfesuchende Mensch in Teile zerlegt und damit beherrscht erlebt. Mütter mit einem Sorgenkind werden von einem Spezialisten zum anderen überwiesen, um von jedem nur Teilauskünfte zu bekommen, die sich u. U. dann noch widersprechen. Je weiter sich die Diagnostik spezialisiert, desto kleiner werden ihre Untersuchungsfelder und desto weiter rückt das Ganze des untersuchten Menschen aus dem Blickfeld. Dem entspricht in der Behandlung der immer spezialisiertere Ansatz von Therapeuten an den verschiedensten Teilfunktionen. Da gibt es Spezialisten für den Bewegungs-"apparat", für defektes Sehen oder Hören, für Kommunikationsprobleme, für Sexualschwierigkeiten, für Sozialtherapie."[120]

In einem Alter, wo Nichtbehinderte ihr Leben selbst zu bestimmen beginnen, ist der Behinderte bereits so entmündigt worden, daß er sich selbst keine Handlungskompetenz mehr zutrauen kann und vom Experten abhängig ist wie der Drogenabhängige von der Droge. Der vertherapeutisierte Behinderte erkennt die Kompetenz der Experten an. Er delegiert seine eigene Verantwortung an den "kompetenten" Fachmann - und fühlt sich damit nicht selten erst einmal entlastet, weil nun ein anderer für seine Probleme verantwortlich ist.

Experten leben von der Hilflosigkeit der von ihnen Betreuten. Sie zeigen wenig Neigung, ihre "Patienten" selbständig werden zu lassen, fördern zumindest tendenziell deren Abhängigkeit. Weiß der Experte nicht weiter, delegiert er einen Teil der Probleme an den nächsten Spezialisten oder an mehrere Spezialisten (die für verschiedene Spezialgebiete zuständig sind). So ist am Ende jeder nur noch für einen Teilbereich verantwortlich. Damit ist eigentlich niemand mehr verantwortlich: der Behinderte nicht, die Experten auch nicht.

Mit der Spezialisierung und Therapeutisierung der Behindertenarbeit und der Behindertenpädagogik tragen die Fachleute zur Dehumanisierung bei. Sie verweigern den Umgang von Mensch zu Mensch, funktionieren jeden Kontakt zur (bezahlten) Therapie um: "So expandiert gegenwärtig alles, was sich >therapeutisch< nennt. In zunehmendem Maße werden pädagogische und soziale Probleme in therapeutische verwandelt ... Erziehung - >Was ist das eigentlich?< - wird durch Therapie verdrängt, Erzieher durch Therapeuten. Früherziehung behinderter Kinder wird zur >Frühtherapie<, zur >Lerntherapie<. Die Eltern werden zu >Kotherapeuten<, also zu >Mitbehandlern< ... Was hier als verdeckter Interessenkonflikt sichtbar wird, könnte man auch als >Kampf um das behinderte Kind< bezeichnen ..."[121]

"Ähnlich wie ich haben viele von uns älteren Stotterern bereits zig erfolglose Therapien auf dem Buckel und spekulieren noch immer darauf, einmal das große Los zu ziehen. Wir als Stotterer werden von der Wissenschaft und ihren Vertretern als Objekte vieler sich gegenseitig widersprechender Theorien und Methoden betrachtet. Wer schon durch zig Therapeutenfinger gegangen ist, zweifelt am Ende an der eigenen Fähigkeit. . . . Am Ende einer solchen Stottererkarriere ist genau das erreicht, was Therapie bezwecken soll; es geht halt nichts ohne Experten."

Klaus Tscheschner, in: Der Kieselstein, Mitteilungsblatt deutschsprachiger Stotterergruppen, Nr. 10/1979.

Seitdem die "Therapeuten" das Kampffeld übernehmen, wird die Behindertenarbeit munter vertherapeutisiert, verpsychologisiert, verpädagogisiert - und entpolitisiert. Denn wo die Therapien blühen, wo "Therapie" zum gepriesenen Allheilmittel wird, die Defekten auf ihre Defekte einzustellen, da werden gesellschaftliche Phänomene ausgeblendet. Die Benachteiligung Behinderter schreitet trotz aller Früherkennung, Diagnostik und Frühbehandlung fort.

Seit Jahren stehen die Fachleute als unpolitische Tränenrührer auf dem publizistischen Marktplatz, klagen Weh und Ach über das Schicksal ihrer "Sorgenkinder", erwähnen aber mit keinem Wort, daß Behinderung eine politisch verantwortete Benachteiligung ist. Denn gesellschaftliche Benachteiligungen fallen in den Kompetenzbereich der Politiker, und die Politiker sind zugleich die Geldgeber von Therapieangeboten.

"In einer Phase zunehmender Dehumanisierung der Lebensbedingungen und inmitten einer allgemeinen Orientierungskrise sind wir alle Betroffene, Klienten wie Therapeuten. Und wir werden gewahr, daß sich sogar innerhalb der betreuenden Berufe und der einschlägigen Versorgungsinstitutionen vielfach durch Überbürokratisierung, Verinnerlichung von Bevormundungsstrukturen und spezialistische Selbstisolierung ähnliche Entfremdungsprozesse abspielen wie diejenigen, die von diesen Berufen bzw. Einrichtungen therapiert werden sollen.«

Horst-Eberhard Richter, Begrüßung zur 2. Arbeitstagung "Analytische Familientherapie und Gesellschaft," 1978.

Die Experten bekunden wohl öffentlich Mitleid mit ihren Klienten, weil ihnen noch so viel Therapie vorenthalten wird, aber sie kämpfen nicht mit ihnen, um soziale Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Die Barriere zwischen Experten und Behinderten ist noch größer als die Barriere zwischen Öffentlichkeit und Behinderten. Da gibt es kein Miteinander im Umgang, keine gemeinsame, gleichberechtigte Ebene, die Beziehung ist einseitig und hierarchisch geregelt.

Dieser Zustand hat einen Hintergrund, den es allerdings zu therapieren gälte: Die bloße Existenz eines Menschen, der nichts oder nur eingeschränkt etwas tun kann, der im materiellen Sinne nicht produktiv ist, wenn wir darunter nur Arbeitsfähigkeit verstehen, muß auf geschäftige Experten als Angriff wirken.

Der Behinderte stellt radikal die Sinnfrage, weil er nur aus sich selbst seinen Wert hat. Er kann sein Prestige nur selten aus seinen Funktionen ableiten. Der Behinderte ist entweder für sich selbst, als Person, wertvoll oder minderwertig. Dies ist eine radikale Frage, die jedes (nicht nur das kapitalistische) Gesellschaftssystem und dessen Vertreter in Frage stellt. Denn hier muß ein Mensch als Mensch seinen Wert haben - und nicht nur als Produktionsnützling.

"Man ging von der Illusion aus, daß erst, wenn die Behinderung durch Behandlung vermindert sei, ein normales Leben möglich werde. Dagegen stellen wir jetzt fest, daß Rehabilitation mit der Einbeziehung des normalen Lebens beginnt und ohne dieses zum Scheitern verurteilt ist.

Die Absonderung ist in sich selbst eine Behinderung. Ich meine damit nicht unbedingt das Einsperren in eine Rehabilitationseinrichtung, sondern die subtile Art der Absonderung, wie sie in so mannigfacher Weise, zum Beispiel in der diagnostischen Prozedur, enthalten ist.

Das ganze Leben eines Behinderten kann auf diese Weise durch Behandlung so bestimmt werden, daß es unausweichlich zur Aussonderung hingeführt wird . . .

Daraus ergibt sich, daß eher die Umwelt zu beeinflussen ist, statt einer direkten Behandlung des Kindes."

Prof. Adriano Milani-Comparetti (Florenz) auf der Jubiläumsveranstaltung des "Bundesverbandes für spastisch Gelähmte" in Berlin (19. 10. 1979).



[73] Gesetz über die Angleichung der Leistungen zu Rehabilitation, Rehabilitationsangleichungsgesetz, vom 7.8.1974, § 1, Abs. 1

[74] Prof. Martin Maneke, in: Zeitschrift für das Fürsorgewesen, Nr. 6/1979.

[75] Gerd Iben, in: Heilpädagogik und ihre gesellschaftliche Bedingtheit - Bericht der 7. Fachtagung des Berufsverbandes der Heilpädagogen in der Bundesrepublik Deutschland, vom 9.-11. 11.1973.

[76] Thimm: Mit Behinderten leben, a. a. O., S. 62.

[77] Ebenda, S. 64

[78] Ebenda, S. 44

[79] Manfred Höck: Die Hilfesuche im Dritten Reich, Berlin 1979, S. 51

[80] Ebenda, S. 17 f.

[81] Ebenda, S. 51.

[82] Ebenda, S. 74.

[83] Ebenda, S. 26.

[84] Ebenda, S. 24

[85] Ebenda, S. 104

[86] Ebenda, S. 108

[87] Ebenda, S. 124

[88] Ebenda, S. 273

[89] Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Haar vom 13.3.1974, 86. Sitzung des Deutschen Bundestages.

[90] Ausführlicher Bericht in: Ernst Klee: Sozialprotokolle, Düsseldorf 1978, S. 88 ff.

[91] Thimm: Mit Behinderten leben, a. a. O., S. 72.

[92] Zeitschrift "Luftpumpe", Nr. 15/1979.

[93] Ebenda.

[94] Thimm: Mit Behinderten leben, a. a. O., S. 77.

[95] Zeitschrift "Puls", Nr. 4/1979.

[96] Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 5.7.1978, 7 K 2140/77 abgedruckt in Zeitschrift für das Fürsorgewesen, Nr. 1/1979.

[97] Frankfurter Rundschau, Nr. 286/1977.

[98] Werner Boll, in: Pressedienst für Fachkräfte der Rehabilitation, hrsg. von der Stiftung Rehabilitation in Heidelberg, Februar/März 1979.

[99] Winfried Leuprecht: "Von klein an wurde ich unterdrückt . . .", in: Zeitschrift "Leben und Weg", Nr. 5/1977

[100] Prozeß vor dem Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht, in: Rundbrief Nr. 24/1973 der BAG "Hilfe für Behinderte" in Düsseldorf.

[101] Frankfurter Rundschau, Nr. 283/1978.

[102] Zuerst abgedruckt in: Ernst Klee: Sozialprotokolle, a. a. O., S. 34 ff.

[103] Alle Zitate aus: Zeitschrift "Puls", Nr. 9/1978.

[104] Zeitschrift "Luftpumpe", Nr. 8/1978

[105] Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen, a. a. O., S. 98.

[106] Ebenda, S. 86 f.

[107] Ebenda, S. 94.

[108] Würtz: Zerbrecht die Krücken, a. a. O., S. 13

[109] Ebenda, S. 67.

[110] Ebenda, S. 60.

[111] Ebenda, S. 62.

[112] Ebenda, S. 67.

[113] Ebenda, S. 18.

[114] Bläsig, Die Rehabilitation, a. a. O., S. 91.

[115] Ebenda, S. 92.

[116] Ebenda.

[117] Ebenda, S. 101.

[118] Germana Edl: Ehevorbereitung und Brautleuteunterricht für behinderte Ehekandidaten durch Eltern und Erzieher, in: K.-J. Kluge / Leo Sparty: Sollen, können, dürfen Behinderte heiraten?, Bonn-Bad Godesberg, 1977, S. 408.

[119] Otto Speck: Verschontsein ist Zufall - Der behinderte Mensch und die Institutionen, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 81/1979.

[120] Ebenda.

[121] Ebenda.

Teil III: Almosen und Euthanasie

1. Mitleid und Almosen

"Wir kamen kurz vor Eröffnung im Behindertendorf Altenhof an. Acht Gendarmen kontrollierten den Weg zum Behindertendorf - nein, sicher sind es mehr, jedenfalls der erste Eindruck ist: Gendarmen! Das Dorf liegt außerhalb von Altenhof, liegt auf einem Hügel (!). Hinauf und hinunter kommt man allein als Rolli da nimmer, ein Haufen Geistlicher steht herum, die ganze Bevölkerung von Altenhof scheint da zu sein, Musikkapelle marschiert an, Trachtenverein (goldene Hauben), der Saal ist zum Bersten voll, wir werden auf die Bühne ganz nach hinten dirigiert, wir verstopfen den Nebeneingang, ein Pater steht drinnen und sagt freundlich verklärt >kommt nur herein, herein<, und als er merkt, daß die Verstopfung nicht so gleich aufzulösen ist, sehr ungeduldig >schnell schnell, laßt mich durch, der Bischof kommt gerade an!< Nacheinander treffen ein: der Bischof, der Landeshauptmann, ein Staatssekretär im Bundeskanzleramt, der Botschafter der königlichen niederländischen Reichsregierung, ein Abgesandter aus dem Vatikan. Alle reden sie salbungsvoll, voll tiefer Würdigung des Geleisteten, hie und da werden auch die Behinderten erwähnt, so z. B. von Pater Gots dem Sinne nach >die Behinderten sind dazu da, die Gesunden zum Gutsein zu provozieren ...<.

Übrigens haben schon viele Leute in Oberösterreich durch die Behinderten gelernt, gut zu sein, was allemal eine Frage des Geldverkehrs ist. Z. B. wurde an allen Schulen Oberösterreichs Geld gesammelt, und allein die im Wohltun aufgeklärten Berufsschüler Oberösterreichs haben mehrere 100 000,- ö. S. aufgebracht. Die Schulsprecher aller Berufsschulen Oberösterreichs durften deshalb auch bei der Eröffnung des Behindertendorfes anwesend sein und ihre Menschlichkeit noch einmal öffentlich zur Schau stellen: sie überreichten Behinderten des Dorfes Blumen. Mir fällt dazu nur das Wort >obszön< ein (öffentliche Zurschaustellung, die geeignet ist, Menschenwürde zu verletzen). Das Bild des Behinderten als arm, bemitleidenswert, als jemand, der grundsätzlich anders ist als ein >Gesunder<, als jemand, der weniger wert ist, wird in einem öffentlichen Akt aufgerichtet, der Stempel auf der Stirn wird erneuert, er ist zwar kein Judenstern, aber er löst einen dumpfen Schmerz der Hilflosigkeit aus, Wut kann sich nur jemand leisten, der ein bißchen frei ist. Wir jedenfalls wollen wenigstens protestieren, die Antwort, die wir bekommen, ist logisch (im nachhinein ist man klug). Mehrere Vereinsfunktionäre vom >Lebenswerten Leben< stürzen sich nach ca. 10 verteilten Flugblättern auf uns, entreißen uns mit Gewalt die Flugblätter und fordern uns auf: >Verschwindets, das ist unsere Feier ...<

Wir gehen nicht und bleiben auf der Hinterbühne sitzen. In der Vorhalle sieht zur gleichen Zeit jemand von unserer Gruppe, wie ein Gendarm mit unserem Flugblatt in der Hand telefoniert und gleich darauf ein Mannschaftswagen mit Gendarmen vorfährt. Als ein Gruppenmitglied von uns auf den Gang geht, wird es gleich in einen kleinen Raum gebracht, umringt von 10 Gendarmen: >Wer seid ihr, was wollt ihr, wir räumen euch, ungesetzlich ...!

Störung . . ., seids ihr politisch? Was, Behinderte sind auch dabei???<

- - - nacheinander werden wir am Gang erwischt, es gibt 4 Identitätsfeststellungen, zwei Gruppenmitglieder sind zu der Zeit gerade in einem anderen Teil des Gebäudes. Sie steigen in einen Lift, die Tür geht zu, da steht ein Gendarmenstiefel dazwischen, die Tür geht wieder auf, den beiden Gruppenmitgliedern wird mitgeteilt, daß sie keine Flugblätter verteilen dürfen, die anderen Gruppenmitglieder hätten auch schon aufgegeben ... wir sind alle recht aufgeregt, diskutieren mit den Gendarmen, viele zeigen im Laufe der Zeit inhaltliches Verständnis, merken, daß wir keine bösen >Irgendwas< sind, ein Gendarm bestätigt uns, daß auch er eine behinderte Tochter nie in dieses Dorf stecken würde ... währenddessen segnet der Bischof mit einem großen Kreuz, mit einem wirklich leidenden, armseligen Christus darauf das Gebäude . . .

Wir ziehen belämmert ab (der Behinderte, der sich im Namen aller Behinderten in Altenhof bedankt, lobt, würdigt, mit dünner leidender Stimme, spricht gerade - ich empfinde nur mehr Scham), wir kommen noch einmal ohne Anzeige davon."

Volker Schönwiese

Mit-Leid

Das Wort "Mitleid" stammt von dem griechischen Wort "Sympatheia" ab. Das heißt Mit-Leiden. Luther hat es so übersetzt. Im 17. Jahrhundert wurde aus dem Mitleiden das "Mitleid". Mitleid haben bedeutet, daß man den, den man bemitleidet, als gleichberechtigt abgeschrieben hat. Der Bemitleidete kann einem nur noch leid tun.

Wollen Menschen ihr Mitgefühl mitteilen, wissen sie sehr genau, wie nichtssagend das Wort "Mitleid" ist. Sie verstärken ihre Aussage, indem sie beteuern, es tue ihnen "aufrichtig" leid, "ganz ehrlich". Das Wort Mitleid ist blaß und kränkelt an seiner Unehrlichkeit wie das wortverwandte Bei-Leid. Sprechen wir einem Trauernden unser Beileid aus, betonen wir, es sei unser "aufrichtiges" Beileid.

Das Wort "Sympathie," das nichts anderes als Mitleiden heißt, hat eine Wandlung erfahren. Sympathie verbindet Menschen, signalisiert, daß wir jemanden mögen, daß uns jemand sympathisch ist. Mit Menschen, die uns sympathisch sind, handeln wir gerne gemeinsam. Mit wem wir dagegen nur Mitleid haben, dem fallen die milden Gaben ab, den bespenden wir allenfalls.

Mit-Leiden setzt Trauerarbeit voraus, Verbundensein, gemeinsames Handeln. Mitleid ist dagegen ausgesprochen be-leidigend, fügt Leid zu, weil es degradiert. Deshalb sind viele Behinderte gegen Mitleid allergisch. "Bin ich denn zu einem Krüppelleben verdammt?" schreibt ein Behinderter. "Ich will endlich die Wahrheit sagen. Ich will nicht mehr hinunterschlucken. Ich will kein Mitleid." Mitleid ist verlogen, es tut nur so, als empfinde man mit einem Menschen.

Viele Behinderte wehren sich gegen das Mitleid, das ihnen allenthalben entgegenklappert, weil es sie im Tiefsten, in ihrer Einschätzung als Mensch, trifft. Es ist leichter, Ablehnung zu ertragen als bemitleidet zu werden. Denn mit einer offenen Ablehnung kann ich mich auseinandersetzen, ich kann sie bekämpfen, Mitleid ist dagegen eine infam verpackte Form der Ablehnung, die die Auseinandersetzung erstickt.

"Ich haßte es, bedauert zu werden," schreibt Christy Brown.[122] "Sie schaute zu mir herüber, aber - es war ein Blick des Mitleids (Hervorhebg. durch Christy Brown, E. K.). Ich erfuhr damals, wie ich es später oftmals erlebte, wie bitter und vernichtend ein Blick des Mitleids für jemanden wie mich sein kann ..."[123]

Wer Mitleid ablehnt, muß mit Bestrafung rechnen. Er wird als undankbar empfunden. "Offen gestanden, ich bin sauer, stocksauer," schreibt eine Behinderte. "Und das Schlimme ist, daß keiner meine Reaktion versteht. Dankbarkeit wird erwartet, wo ich mich verletzt und entwertet fühle und der Vorwurf der Undankbarkeit ist nicht zu überhören, auch wenn er nicht ausgesprochen wird."[124]

Die Behinderte hat ihre Empörung einen Tag vor Weihnachten niedergeschrieben. Dreimal war sie telefonisch zum ersten Weihnachtsfeiertag eingeladen worden. "Keiner hat gefragt, ob ich Lust dazu hätte. Eine Absage ist in ihrem Denken nicht vorgesehen. Die eine Stimme triefte förmlich vor Stolz, daß sie sich gerade noch rechtzeitig meiner erinnert hätten. Als ich ablehne, wird sie eisig."[125]

Sie reagiert, wie bemitleidete Behinderte oft reagieren, mit einem Gemisch aus schlechtem Gewissen (abzulehnen), Zorn, Unsicherheit und Ratlosigkeit. "Muß ich wirklich dankbar sein, daß man sich wenigstens einmal im Jahr meiner erinnert? Verstärke ich mit meinem Verhalten nicht die negative Einstellung zu Behinderten? Andererseits: Bin ich verpflichtet, Objekt für das gute Gewissen von Feiernden zu sein? Warum wurde die Stimme so unmenschlich, als ich wagte zu fragen, ob wir das Treffen nicht auf einen anderen Tag verlegen könnten - auf irgendeinen im Jahr? Man hatte beschlossen, mich einzuladen und ich hatte zur Verfügung zu stehen, ganz gleich, ob es mir paßte oder nicht."[126]

Es ist noch nicht so lange her, daß sich Behinderte ihren Lebensunterhalt erbetteln mußten, daß sie ihr Elend möglichst herzzerreißend zur Schau stellen mußten, wollten sie Geld oder Beachtung. "Im Namen des barmherzigen Gottes, helfen Sie mir!" flehten sie die Passanten an. Einen Rollstuhlfahrer sah ich mehrmals vor der berühmten Wieskirche im Allgäu. Es war ein professioneller Mitleidsdarsteller, der seine Bettelbitte sogar mehrsprachig auf einer Tafel vor sich stehen hatte. In den Ländern der Dritten Welt ist es noch üblich, daß Behinderte ihr Elend zur Schau stellen (müssen). Über einen Besuch in Kolumbien schreibt ein Mitarbeiter der Schweizer Behindertenzeitschrift "Puls":

"Der Behinderte hier hat kein Selbstwertgefühl und er schämt sich der erbärmlichen Bettelmethode nicht. Sein gesunder Stolz ist gebrochen und er stellt keine Ansprüche auf Gleichberechtigung mit dem Nichtbehinderten. Von Menschenwürde ist nicht die kleinste Spur zu finden. Er ist eine erbärmliche schmutzige Kreatur, die sich ganz auf die Tränendrüsen der Passanten verläßt."[127]

Ein hartes Urteil, über einen Menschen, der gar keine Chance besitzen dürfte, seine Menschenwürde zu wahren. Aber wir sehen, daß die Bettler- und Bittstellerrolle dem Behinderten nicht nur jahrhundertelang auferlegt war, sondern noch gegenwärtig ist. Behinderte, die in der Betreuungsarbeit großgeworden sind, nehmen das Mitleid ihrer Umgebung in Kauf: "Es ist doch schön", sagen sie, "daß sich überhaupt jemand um uns kümmert, da können wir die Leute doch nicht verärgern." Sie sind mit Kontakten nicht gerade verwöhnt, und da sollen sie Mitmenschen ablehnen, die wenigstens Mitleid mit ihnen haben?

Doch mit dieser Haltung bleiben sie im Getto, das Mitleid heißt, eingesperrt: Da treffen sich Kleinwüchsige in einem Lokal. Die Kapelle läßt ihnen einen Wunsch frei. Was tun? "Nach einigen Überlegungen kamen wir dahinter, daß Regine eine Spardose besaß, geeignet für Kinder!"[128] Die Spardose, in Form eines Elefanten, wandert im Lokal herum, und die Besucher zeigen sich auch nicht geizig, aber: Hier stigmatisieren sich Stigmatisierte selbst. Spenden tun sie ja, die Lokalbesucher, aber wer von ihnen hätte schon mit einem Kleinwüchsigen getanzt?

Die Dekorationskrüppel

Früher wurden die Krüppel in Schaubuden ausgestellt. Heute benutzt man sie als Dekorationsstücke zu Festessen und Feiern oder zur Reklame. Im Frankfurter Kaiserdom feierten Oktober 1978 der Lions Club und ein Jagdclub eine Hubertusmesse. Über dem Altar prangte ein kapitales Hirschgeweih, den Innenraum schmückte Tannengrün und Eichenlaub. Der Oberbürgermeister feierte auch mit.

"Den Jägern ging's um das Image von Jagd und Jäger. Sie fühlen sich zunächst einmal als Heger."[129] Die Heger hatten auch ein paar Krüppel mitgebracht: "Auf den Ehrenplätzen saßen die Spastiker, >die nicht auf schnellem Pferd den flinken Hirsch erjagen können<, wie es in der Predigt hieß. Die Kollekte des Tages war ebenfalls für das Spastikerzentrum bestimmt. Nicht unter zehn Mark pro Spende, das entspricht zwanzig Schrot- oder sechs Kugelpatronen, sollte sie ausfallen."[130]

Die Spastiker dienten als Dekorationskrüppel, gehörten wie Taunengrün und Eichenlaub zum festlichen Dekor. Sie hatten keinen eigenen Wert. Das ist immer der Fall, wenn auf Wohltätigkeitsbällen dem eigenen Vergnügen ein mildtätiger Anstrich gegeben wird. Geschmacklos genug, zugunsten Armer zu tafeln und zugunsten Gelähmter das Tanzbein zu schwingen, noch geschmackloser erscheint jedoch, daß sich Verbandsvertreter nicht schämen, dabei mitzutun und kriecherische Dankbarkeit verbreiten - was das Bild vom armen Behinderten wohl nicht gerade revolutioniert.

Die Reklamekrüppel

In der Tageszeitung fiel mir ein Foto auf. Da überreicht ein Fußballnationalspieler (ein "Weltmeister") einem Rollstuhlfahrer ein Kuvert, einen Scheck. Um was geht es? Drei Fußballer mußten zwölf grellgelbe Schaumstoffquader auf ein Podium heben und so zusammenstapeln, daß die Embleme von Bahn, Post und Bund zusammenpaßten. Der Gewinner "durfte dann dreitausend Mark an den Rollstuhlfahrer vom Rollstuhlsportclub weiterreichen". Veranstalter war der "Beratungsdienst für Bundeswertpapiere."

Zeitungstext: "Der Beratungsdienst wollte mit dieser Aktion anläßlich des Weltspartages am 30. Oktober die Reize der von Bund, Bahn und Post ausgegebenen Wertpapiere herausstellen."[131] Der Behinderte diente nur als Aufmacher, als Blickfang. Ein billiger Werbegag, eine Zeitungsanzeige wäre ungleich teurer gekommen. Der Rollstuhlfahrer wurde als Reklamekrüppelchen vermarktet.

Mit Behinderten läßt sich gut Reklame machen. Selbst der Bundeskanzler orgelte für sie, der Bildungsminister zupfte für sie öffentlich die Klampfe.[132] Ein Faschings-Prinzenpaar spendete närrische 111,11 DM.[133] Ein smarter US-Boy wollte sogar zugunsten der Behinderten den Kußweltrekord brechen. Für jeden Kuß klapperte eine 50-Pfennig-Münze in die Spendenbüchse.[134] Auf dem Pressefoto küßt er allerdings eine Blondine und keine Spastikerfrau.

Der Arbeitskreis Südhessen des Bundesverbandes Junger Unternehmer sammelte für eine Kindertagesstätte 3500 Mark.[135] Während die jungen Unternehmer mit der Spendenbüchse herumgehen, sperren die alten Unternehmer Behinderte aus dem Arbeitsleben aus. Denn obgleich die Unternehmen durch Gesetz verpflichtet sind, sechs Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen, erfüllen sie diese Quote in der Regel nicht.

Eine Großbrauerei stellt elf "Spendenfässer" auf. Für jeden Kronkorken, der ins Fäßchen fällt, versprechen die Bierbrauer einen Pfennig für wohltätige Zwecke. Bei zehntausend Kronkorken ergibt das die atemberaubende Summe von 100 Mark (allein die Herstellungskosten, inklusive der Reklametransparente, beliefen sich auf 11 000 DM). So wird sogar Bierumsatz wohltätig.[136]

Auch die Bundeswehr hat die Behinderten entdeckt. Soldaten eines Instandsetzungsbataillons trinken mit Behinderten Kaffee und spielen mit ihnen Skat. Man will den "Schwerbehinderten das Gefühl vermitteln, daß sie als gleichberechtigte Partner von gesunden Menschen anerkannt werden," Etappenziel: einen "Flächenbrand des guten Willens" anzuzünden.[137] Soldaten als Flammenwerfer der Nächstenliebe!

Besonders ärgerlich wird es, wenn Heime und Anstalten die lieben Behinderten als Reklamekrüppelein verwenden, um Spendengelder zu erbetteln. Sie prägen damit das Bild vom hilflosen armen Krüppelchen. Ein Anstaltsleiter schwang sich sogar zum Poeten auf. Er vergleicht seine Einrichtung mit einem Futterhaus für hungrige Vögel, gibt's Spenden, können die Kleinen wieder flöten:[138]

"Sie haben sicher längst gefühlt,

wohin mein Schreiben diesmal zielt:

Wir haben hier durch schlechte Zeiten

des Lebens viele zu begleiten.

Sie sind erschöpft und am Ermüden;

sie brauchen Liebe, suchen Frieden,

Geborgenheit und stilles Glück

für ihres Lebens letztes Stück.

Und wer noch jung hier zu uns kam,

ist meistens ziemlich flügellahm.

Ihm gilt es, frischen Mut zu geben,

ein Ziel, für das sich lohnt zu leben.

Nun deute ich dies Gleichnis aus.

Wenn's Futter gibt im Futterhaus,

wird mancher, der zur Zeit in Nöten,

im nächsten Sommer wieder flöten."

Auch die kleinste Spende kann nicht hoch genug geprießen werden. In Lienz in Osttirol passierte folgendes: Michael L., Mitglied des Zentralausschusses der Österreichischen Hochschülerschaft, übergab Oktober 1977 der Lebenshilfe für geistig Behinderte eine Nähmaschine. Das war Anlaß genug, daß auch Nationalrat und Bürgermeister Hubert H. und Bezirkshauptmann Hofrat Dr. Othmar D. der Übergabe beiwohnten.

Der 25jährige Jurastudent Michael L. sagte: "Auf dem Wege zum Licht laßt niemand zurück." Der Österreichischen Hochschülerschaft sei es eine der höchsten und vornehmsten Verpflichtungen, die ihnen geschenkten Geistesgaben in den Dienst der Schwachen zu stellen. Gerade den entwicklungsbehinderten Kindern gehöre die volle Sympathie. Die Nähmaschine sei ein Zeichen dieser Verbundenheit. Die Anwesenheit von Nationalrat und Bürgermeister sowie des Bezirkshauptmanns bedeute Anerkennung und Verpflichtung zugleich. Der Bezirkshauptmann lobt dagegen die großherzige Aktion, gerade in einer Zeit, wo man nicht immer Positives über die studentische Jugend höre. Der Nationalrat und Bürgermeister erinnert daran, daß er Michael L. noch als Nachbarbuben kenne. Es freue ihn daher besonders, welch starke Persönlichkeitsentwicklung der Studentenvertreter genommen habe. Die hohe Berufung in die Hochschülerschaft komme nicht von ungefähr. Auch aus Wien habe er viel Lob über L. vernommen.

Wir haben die Groteske um eine Nähmaschine an den Frankfurter Städtischen Bühnen (siehe weiter unten den Abschnitt "Spott als Waffe") aufgeführt. Im Mittelpunkt das großherzige Geschenk, drumherum die Herrschaften, die sich ständig dazu beglückwünschen, was für ehrenvolle Mitglieder der Gesellschaft sie doch sind. Nur die Behinderten kamen nicht vor. Aber die sind ja bei dieser Lobhudelei auch nicht wichtig. Was wir an dem Theaterabend nicht zeigen konnten: Neben dem Zeitungsbericht, der das denkwürdige Ereignis dokumentierte, befand sich die Anzeige für ein Nähmaschinenfabrikat. Text des anbietenden Geschäfts: "Wir verkaufen nicht nur, wir betreuen auch!"[139]

Wenn Vereine und Wohlfahrtsverbände helfen, sagen sie auch gleich, daß es eine gute Tat ist. Die Zeitschrift des Deutschen Roten Kreuzes nennt sich ohne falsche Scham "Die gute Tat". Die Opfer dieser guten Taten loben ihre Helfer stets auf das Rührendste: "Menschen, die gesund und voll beweglich sind, ahnen selten, was es für Behinderte bedeutet, einmal aus der kleinen Weit der eigenen vier Wände herauszukommen. Der DRK-Kreisverband Zweibrücken veranstaltete für 14 Rollstuhlfahrer einen Tagesausflug nach Saarbrücken und erlebte rührende Zeichen der Freude und Dankbarkeit."[140]

Die Art, wie Behinderte zur Imagepflege eines Verbandes ins Bild geschoben werden, wie dem Spender eingeflüstert wird, mit ein paar Märklein könne man sich vom Umgang mit den Bedauernswerten freikaufen, macht Wohlfahrtsverbände zum Feind der Behinderten. Zu Reklamezwecken, um mit dem Elend zu posieren, wird der Behinderte auf hilflos und tränenvoll geschminkt: "Disco Musik - Bunte Disco-Lichter - lebensfroh tanzende junge Leute. Das Ganze hat Bewegung, Dynamik, gibt den Eindruck von Lebensfreude und Ausgelassenheit. Plötzlich wird's Grau in Grau. Auf der Bildfläche erscheint ein Rollstuhlfahrer, langsam, behäbig, mühsam. Sein Gesichtsausdruck ist die Trostlosigkeit und Traurigkeit selbst. Man sieht, seine Behinderung belastet ihn sehr. Er kann nicht tanzen, ausgelassen sein, er nicht. Man ist erschüttert. Da erleuchtet übergroß eine Briefmarke, die Wohlfahrtsmarke, und eine Stimme fordert den Zuschauer auf, zu helfen. Helfen kann man ganz leicht, mit dem Kauf einer Wohlfahrtsmarke."[141]

Behinderung bedeutet nicht Trost- und Hoffnungslosigkeit, Lahmsein, Resignation, Unfähigkeit, Verbitterung. Sicher, eine Behinderung bringt Probleme, auch schwere Belastungen, auch Einschränkungen, aber auch Nichtbehinderte müssen Probleme, Belastungen und Einschränkungen (nur eben andere) bewältigen.[142] Das Bedürfnis, den eigenen Verband ins helle Licht der Wohltätigkeit zu stellen, macht ihn zum Feind jeder Emanzipation. Wohltätigkeit dient nicht den Behinderten, sondern dem Image der Wohltäter.

Die Show-Krüppel

Die Rolle des Schaubudenbesitzers, der dem sensationsheischenden Publikum die Krüppel-Monster vorführt und ihnen zugleich die Genugtuung vermittelt, daß das Elend glücklicherweise andere getroffen hat, hat das Fernsehen übernommen. So pauschal darf man es natürlich nicht sagen, denn im Fernsehen (und im Rundfunk) laufen auch Features und Filme, die kritisch aufklären. Aber die Werbespots, die zugunsten von Fernsehlotterien ausgestrahlt werden, drücken die, die bespendet werden, in die Rolle des Almosenempfängers. Geradezu verheerende Wirkungen hat eine Sendung, die seit vielen Jahren den Zuschauer einhämmert, Behinderte seien "Sorgenkinder".

Die Schuldgefühle, die entstehen, daß man Behinderten aus dem Weg geht, werden geschickt aufgefangen: Barmherzigkeit per Zahlkarte wird nicht nur als Ausweg, nein, als gute Tat herausgestellt. In einer "Bilanz der guten Taten" werden die drolligsten, originellsten, verstiegensten Spendeneinfälle gefeiert. Da pfeifen, zwitschern, trällern, tanzen, angeln Vereine für die "Sorgenkinder", immer fröhlich, tralalala.

Unvergeßlich ist mir ein Auftritt fettleibiger Herren, die in einem Kurort ihre Pfunde abschwitzen, absporten, ab"hungern". Für jedes abgeschwitzte Pfund Lebendgewicht warfen sie eine Mark ins Sparschwein. Kommentar: "Die Sparschweine werden schwergewichtig und die Hosen weit. 5000 Mark wurden am Ende der Schweinemast gezählt." Alles zugunsten der Behinderten.

Zuschauern, die gegen die showgerechte Vermarktung von Behinderten protestieren, wird mitgeteilt, daß sich die Fernsehanstalt in Übereinstimmung mit den Wohlfahrts- und Elternverbänden weiß - die auch den großen Anteil vom Spendenkuchen kriegen. "Wir sind in Übereinstimmung mit den maßgeblichen Sprechern der Wohlfahrts- und Elternverbände der Überzeugung, daß der Name >Aktion Sorgenkind< erheblich die Aktivitäten zum Wohle behinderter Kinder und Jugendlicher unterstützt und gefördert hat . . . Erst in letzter Zeit regt sich vereinzelt Kritik von Behinderten - einmal am Namen, zweitens auch an den Aktivitäten selbst."[143]

"Im übrigen wehren wir uns auch gegen die Abwertung des Mitleids", schreibt die Fernsehanstalt weiter. "Wir bemühen uns zwar in unseren Sendungen und Schriften, so sachlich wie möglich zu berichten. Wir sehen es jedoch als eine Tugend an, wenn wir am Leid anderer mitleidend und helfend Anteil nehmen. Warum diese Angst vor dem Mitleid?"[144] Mitleiden per Zahlkarte?

Die Schüler einer Sonderschule machten einmal die Probe. Die Schüler einer Realschule hatten für die "Aktion Sorgenkind" gespendet. Man konnte es in der Zeitung lesen, wie vergnüglich es zugegangen und wie glücklich die Schülermitverwaltung über ihre Idee gewesen war. Nun schrieben die Behinderten der Schülermitverwaltung der Realschule und regten ein gegenseitiges Kennenlernen an. Die Antwort: Schweigen. Kommentar der behinderten Schüler: "Geldgeben ist wohl einfacher."[145]

Mitleid, wie es praktiziert wird, basiert auf dem Gefühl der Überlegenheit. Ein Nachmittag, vielleicht auch ein ganzer Tag, wo man sich mit Basaren, Schießbuden, Tänzchen im Mitleid mit den Behinderten übt, ändert keine Strukturen, sondern demonstriert Abhängigkeitsverhältnisse.

Eine Gefangenenzeitung interviewte eine Lehrerin, die im Gefängnis unterrichtete: ">Haben Sie Mitleid mit Gefangenen?< wurde sie gefragt. Antwort: >Nein, ich bin kein Tröstertyp . Da wäre ich mehr Behinderten zugewandt.<"

Quelle: Zeitschrift der Justizvollzugsanstalt Darmstadt, Nr. 3/1976.

"Mitleid ist das Unvermögen, andere Menschen zu lieben: Der Mitleidige akzeptiert sein Gegenüber nicht, er akzeptiert auch dessen Glücklichsein nicht. Der Mitleidige kann ein noch so guter Mensch sein, er bleibt trotzdem ein überheblicher Ignorant. Mitleid ist die größte Gemeinheit, zu der wir Menschen fähig sind. Wir nehmen unseren Opfern ihr Selbstbewußtsein, ihr Glück, wir nehmen ihnen ihre Menschenwürde. Wir reißen ihnen in demselben Moment, wo wir sie streicheln, ihr Rückgrat raus. Die einzige Waffe ist Undankbarkeit ... Liebe ist etwas ganz anderes."[146]

Im Mitleid steckt nicht nur Überheblichkeit, sondern auch die Verachtung gegenüber den Unbrauchbaren, denen eben nur noch Mitleid entgegengebracht wird. Mitleid ist ein Todesurteil. Denn Mitleid tötet.

Mit-Leiden heißt: Gleichheit, Gemeinschaft, Partnerschaft, Engagement, gemeinsam trauern, gemeinsam kämpfen. Dann gibt es auch kein Spendenkonto mehr, sondern ein Unterstützungskonto.[147]

2. Schöne Tode für Behinderte - Euthanasie

Euthanasie in Vergangenheit und Gegenwart

Euthanasie heißt schöner, harmonischer Tod. Der Begriff ist vieldeutig und wird unterschiedlich gebraucht: für die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken wie die Vernichtung unwerten Lebens im "Dritten Reich."[148] Die Literatur unterscheidet die aktive von der passiven Euthanasie. Unterläßt ein Arzt lebensverlängernde Maßnahmen, weil sie die Qualen eines Krebskranken nur hinausziehen, nennen dies einige passive Euthanasie. Hilft er dem Tod mit einer Spritze nach, sprechen wir von aktiver Euthanasie.

Da der Begriff "Euthanasie" durch die Tötung Geisteskranker und Behinderter schwer in Mißkredit geraten ist, reden Fachleute heute lieber von Leidminderung, Hilfe zum Sterben, Gnadentod, Devitalisierung, Mercy-killing oder Sterbehilfe. Dabei wird nicht eindeutig zwischen aktiver und passiver Euthanasie unterschieden.[149] Inzwischen etabliert sich eine Wissenschaft vom Sterben, die sich Thanatologie oder Thanatopsis nennt.

Die Griechen verstanden unter Euthanasie die seelische Vorbereitung auf den Tod. Euthanasie ist die rechte Kunst des Sterbens (ars moriendi). Das schöne Sterben war allerdings ein Privileg der Oberschicht.

Der schöne harmonische Tod ließ sich jedoch nicht immer so schön zelebrieren wie er propagiert wurde. Tacitus schildert das Ende Senecas. Der stoische Philosoph hielt 65 nach Christus seinen Zuhörern eine Abschiedsrede, umarmte seine Gattin und schnitt sich dann die Pulsadern auf. Er war schon ein Greis und das Blut floß nicht. Er riß sich die Adern der Beine und Kniekehlen auf. Die Qualen sind gräßlich. Er läßt sich Gift geben. Doch seine Glieder sind schon kalt, das Gift wirkt nicht mehr. Vergebens läßt er sich in ein Bassin heißen Wassers tragen, damit der Kreislauf zusammenbreche. Schließlich läßt er sich in ein Dampfbad tragen, in dessen Dampf er dann endlich erstickt. Ein schöner, harmonischer Tod?

Statius Annaeus, der Leibarzt Senecas, der die Selbsttötung des Stoikers ärztlich überwachte, handelte gegen den hippokratischen Eid: "Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur den Rat dazu erteilen."[150] Der Arzt der Antike durfte sich an Maßnahmen aktiver Sterbehilfe nicht beteiligen, er kümmerte sich auch nicht um Sterbenskranke, unterschied sogar zwischen arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen Patienten.

In einem Traktat über die "Heilige Krankheit", die Epilepsie, heißt es: "Der Arzt, der die Methode des Heilens kennt, muß nur solche Kranke behandeln, wenn sie jung und arbeitsfreudig sind, aber nicht, wenn eine Bewußtseinsstörung vorhanden ist oder wenn sie einen Schlagfluß erlitten haben."[151] Diese Haltung rechnen wir zur passiven Euthanasie.

Als Prophet der Euthanasie gilt Thomas Morus (1478-1535), der 1935 heiliggesprochen wurde. Sein Buch "Utopia das ist Nirgendland oder Von der besten Staatsform" erschien 1516, in einer Zeit des Massensterbens. Utopia schildert eine ideale Staatsform, in der man sich, anders als in der Antike, zwar um die Pflege unheilbar Kranker bemühte, die qualvoll Leidenden aber zur aktiven Euthanasie zu überreden suchte. Hier taucht erstmals - in der Literatur! - der Gedanke der aktiven Euthanasie auf[152]:

"Die Kranken pflegen sie (die Bewohner von Utopia) ... mit großer Hingabe, und sie versäumen nichts, wodurch sie deren Leiden durch die Arzneikunst oder die Einhaltung von Krankenkost beheben können, ja sogar der unheilbar Kranken nehmen sie sich liebevoll an, indem man sich zu ihnen setzt, mit ihnen plaudert und alles tut, was ihnen Erleichterung verschaffen kann. Wenn dagegen die Krankheit nicht nur unheilbar, sondern eine beständige Qual und Marter ist, dann reden Priester und Obrigkeit dem betreffenden Menschen zu, da er allen Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen sei, andern zur Last falle und - sich selbst unerträglich - seinen Tod bereits überlebe, solle er sich nicht darauf versteifen, die Seuche und das Übel länger zu nähren, und nicht zaudern, in den Tod zu gehen, da das Leben für ihn eine Qual sei ... Weil er dabei aber den Ratschlägen der Priester gehorche, also den Ausdeutern des göttlichen Willens, sei seine Tat fromm und gottgefällig. Wen sie davon überzeugen, der endet sein Leben durch Fasten oder wird einschlummernd erlöst, ohne vom Tod etwas zu merken. Wider seinen Willen jedoch beseitigen sie niemanden, noch vermindern sie irgendwie die pflichtmäßige Sorge gegen ihn. Wer sich überreden läßt, so zu sterben, wird in Ehren gehalten. Wer dagegen ohne Billigung der Priester und des Senats sich das Leben nimmt, den würdigen sie weder der Bestattung, noch der Verbrennung; unbeerdigt wird er irgendwo schimpflich in einen Sumpf geworfen."

Als nächster beschäftigt sich Francis Bacon (1561-1626), ein Philosoph wie Thomas Morus, mit der Euthanasie. In seinem Werk "Nova Atlantis" spricht er von einer "Euthanasia medica". Der Arzt solle sein Können nicht nur in Dienst des Heilens stellen, sondern auch die Qualen der Todkranken lindern. Bacon propagiert einen glücklichen und würdigen Tod, man soll ihm aber nicht nachhelfen?[153]

Die Aufforderung, Unbrauchbare auszurotten, das also, was wir unter "Euthanasie" verstehen gelernt haben, ist ein Produkt unseres Jahrhunderts. 1920 erschien die Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens". Verfasser waren der Strafrechtler Karl Binding (der sich auch für das Vergeltungsstrafrecht einsetzte) und der Psychiater Alfred Hoche. Sie fanden so vernichtende Begriffe wie »lebensunwertes Leben« oder "Ballastexistenzen". Dem "Gnadentod" sollten drei Personengruppen zum Opfer fallen:

  • Die durch Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen, die in irgendeiner Weise den Wunsch nach Erlösung zu erkennen gegeben haben.[154]

  • Die unheilbar Blödsinnigen[155]: "Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte. Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke - außer vielleicht im Gefühl der Mutter und der treuen Pflegerin. Da sie großer Pflege bedürfen, geben sie Anlaß, daß ein Menschenberuf entsteht, der darin aufgeht, absolut lebensunwertes Leben für Jahre und Jahrzehnte zu fristen. - Daß darin eine furchtbare Widersinnigkeit, ein Mißbrauch der Lebenskraft zu ihren unwürdigen Zwecken, enthalten ist, läßt sich nicht leugnen."

  • Personen, die so schwer verletzt wurden, daß sie, sollten sie wieder zu Bewußtsein kommen, zu "namenlosem Elend" erwachen würden.[156]

Das "Dritte Reich" hat schließlich alle Theorien durch seine grausige Praxis überholt. Dem Massenmord an den Unbrauchbaren und Nichtkonformen fielen Juden, Kommunisten, Christen, "Arbeitsscheue", Zigeuner, seelisch Kranke, geistig und körperlich Behinderte zum Opfer. Doch das Grauen hat die gegenwärtige Euthanasie-Diskussion nur kurze Zeit irritieren können.

Mediziner tun so, als diskutierten sie die Euthanasie ganz wertfrei medizinisch. 1967 hat ein Neurochirurg, Professor Peter Röttgen, in einem Nachrichtenmagazin das Recht zu sterben verlangt. Er sprach tatsächlich von einem Recht - und nicht von einer Verurteilung zum Sterben. Über Kinder mit einem Wasserkopf formulierte er: "Diese Kinder werden immer Idioten bleiben."[157] Über einen Querschnittgelähmten konnte er sagen: "Ohne Körper ist dieser Kopf wertlos." Röttgen sieht Belastungen für die Sozialgemeinschaft: "Es kommt hinzu, daß sich nicht selten die ganze Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern auf ein solches Wesen konzentrieren, die gesunde Kinder vernachlässigt beziehungsweise keine gesunden Kinder mehr geboren werden."

"Es ist ein schwerbehindertes Kind. Es muß fort ... Ich werde den Gedanken nicht los, daß ich Noah bald werde töten müssen ... Es wird eine Gnade für ihn sein, getötet zu werden."

Josh Greenfeld: Ein Platz für Noah, in: Welt am Sonntag, Nr. 44/1979.

Ähnlich argumentieren Milton D. Heifetz, Chefarzt der neurochirurgischen Abteilung des Mount Sinai Hospitals in Los Angeles und sein Co-Schreiber Charles Mangel: "Wenn wir ein stark behindertes Kind zu beurteilen versuchen, müssen wir seine gegenwärtige und spätere Verfassung gegen die Auswirkungen abwägen, die es auf Eltern und Geschwister hat."[158] Für die beiden ist das entscheidende Kriterium, ob ein Neugeborenes einen Organismus hat, "mit einem Potential zur Entfaltung menschlicher Eigenschaften."[159]

Was aber sind diese menschlichen Eigenschaften? Die Fähigkeit, andere in Kriegszeiten legal umzubringen? Das Talent, sich rücksichtslos durchzusetzen? Die Begabung, sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern? Dieses Potential menschlicher Eigenschaften haben jene Kinder sicherlich nicht.

"Wir müssen die Berechtigung dieser auch in Zukunft noch entmenschlichten Existenz (Hervorhebungen von Heifetz und Mangel, E. K.), das Recht, dies Leben zu erhalten, gegen das Leid und die Grausamkeit abwägen, die es für Eltern und Geschwister bedeutet, mit solch einem entmenschlichten Organismus leben zu müssen ... Häufig verfallen Eltern, gewöhnlich die Mutter, in eine Märtyrerrolle; sie vernachlässigen den Rest der Familie und den Haushalt, um sich ganz dem behinderten Kind zu widmen ... Geschwister verkrüppelter Kinder verlassen das Elternhaus so früh es geht. Häufig machen auch tiefverwurzelte Haß- und Ablehnungsgefühle letzte Reste von Glück unmöglich."[160]

Donald D. Matson, Neurochirurg am Children's Hospital Medical Center und der Harvard Medical School, berichtet freimütig: "In unserer Klinik ist es nicht üblich, an Neugeborenen oder Säuglingen in den ersten Lebensmonaten ... bei denen völlige Schließmuskellähmung oder völlige Querschnittslähmung nachgewiesen ist . . ., Operationen vorzunehmen ... Wir handhaben dies so, ob nun gleichzeitig Hydrozephalus vorliegt oder nicht. Wenn daher die Untersuchung am ersten Lebenstag das völlige Fehlen neurologischer Funktionen unterhalb des unteren Lumbalbereiches ergibt, empfehlen wir einzig Bewahrpflege."[161] Matson will damit "das Leiden des Individuums, der Familie und der Gemeinschaft nicht unnötig verlängern."[162]

John M. Freeman, ein pädiatrischer Neurologe, Leiter des Zentrums für die Behandlung von Geburtsschäden am Johns Hopkins Hospital in Baltimore, nennt drei ärztliche Verhaltensmöglichkeiten:

  • Man kann aktiv behandeln und damit Leben verlängern oder gar erhalten.

  • Man kann behaupten, im Bewußtsein, daß dennoch eine Minderheit Behinderter nicht stirbt, sondern überlebt.

  • Man kann das Leben schwerbehinderter Kinder beenden.[163]

Heifetz und Mangel kommentieren dies: "Aktive Euthanasie dürfte die humanste Verhaltensweise bei den am schwersten geschädigten Säuglingen sein ..."[164] So sterben in den USA Kinder, "weil ihnen entscheidende medizinische Therapien vorenthalten wurden."[165] Der Arzt, dein Freund und Killer. Mediziner als Scharfrichter über Brauchbare und Unbrauchbare.

Es ist das totale Nützlichkeitsdenken, auch wenn es sich so menschenfreundlich maskiert, man wolle Individuum, Familie und Gesellschaft vor Leid bewahren. Wohl wird heute noch meist mit medizinischen "Extremfällen" argumentiert, aber morgen kann jeder von uns betroffen sein, sei es nach einem Unfall, nach einer Hirnhautentzündung oder wenn wir altersschwach werden.

Ein Fallbeispiel scheint jenen recht zu geben, die Euthanasie als Leidbewahrung ausgeben. 1974 erschien in einer deutschen Illustrierten[166] ein Bericht: ">Warum bringt mich keiner um?< - Ein unheilbar gelähmter Mann, 24 Jahre alt, fordert den Gnadentod." Der junge Mann, von Beruf Elektro-Installateur, wurde während eines Urlaubs in Schweden durch einen Unfall querschnittgelähmt. Zehn Wochen lag er in der Klinik, zwischen Leben und Tod. Dann wurde er in ein deutsches Krankenhaus geflogen. Niemand, weder ein Arzt, noch seine Eltern, klären ihn auf. Das besorgt schließfich ein Pfleger. Alle Hoffnung bricht zusammen. Die Erkenntnis wird zum Schock: Ich werde nie mehr laufen können, ich werde ein Leben wie ein Baby führen, das gewindelt werden muß, weil Darm und Blase gelähmt sind. Wozu dann noch leben? - Der junge Mann bittet, getötet zu werden. Er fordert, allen Hilflosen, die nicht mehr leben wollen, ein schnelles und leichtes Sterben zu ermöglichen. Er bettelt bei Mutter und Bruder, ihm Gift zu geben, irgend etwas zu tun, seiner sinnlosen Existenz ein Ende zu bereiten.

Eines Tages wird ein Behinderter in sein Zimmer geschoben, der von der Hüfte an abwärts gelähmt ist und unerträgliche Schmerzen hat. Beide beschließen, sich zu töten. Der Bettnachbar soll ihm Luft in die Blutbahn spritzen und dann bei sich das gleiche tun. Sie schauen sich im Fernsehen noch das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft an (!), dann hantiert der andere mit der Injektionsspritze, bis er glaubt, eine Vene getroffen zu haben, und drückt ab.

Das Herz beginnt zu rasen, dem Querschnittgelähmten wird schwindelig, dann hat der Körper alles überwunden. Ein zweiter Versuch scheitert ebenso. In der nächsten Nacht erhängt sich der Zimmergenosse am Gerätebalken seines Bettes. Kommentar der Illustrierten: "Gewiß, es gibt andere Halsquerschnittgelähmte, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben und das bißchen Leben, das ihnen bleibt, als wertvoll empfinden ... Aber wer hat ein Argument dagegen, wenn er sagt: >Ich will mein Recht auf Sterben. Was ich hier durchmache in einer Woche, an körperlichen Belastungen, an Schmerzen, an psychischen Belastungen, das macht ein Mensch ein ganzes Leben nicht durch. Ich will nicht mehr.<"

Gewiß, ich habe es einfach, darüber zu schreiben, ich bin nicht querschnittgelähmt und nicht von Schmerzen gepeinigt. Aber es blieben mir Fragen: Sind die Todeswünsche des jungen Mannes nicht das Ergebnis jenes Schocks, angeblich nichts mehr wert zu sein? Das Ergebnis der Zustände im Krankenhaus? Das Ergebnis fehlender menschlicher Begleitung?

Etwa ein Jahr später las ich in den Mitteilungen einer BehindertenInitiativgruppe, der junge Mann sei besucht worden und habe etwas Lebensmut gefaßt, weil er vielleicht in ein Rehabilitationszentrum überwechseln könne. Beim nächsten Besuch wollte er vom Sterben nichts mehr wissen. Jetzt, beim Schreiben, habe ich mich wieder nach ihm erkundigt. Er lebte danach mit einer Freundin zusammen und kommt alleine zurecht.

Alle umbringen, die häßlich sind? Der Fall Hedeby

Berühmt geworden ist ein Fall von aktiver Euthanasie in Schweden. Die Journalistin Berit Hedeby, Sprecherin der Aktion "Das Recht auf unseren Tod", hatte Sven-Erik Handberg, einen an Multiple Sklerose Erkrankten, zur Selbsttötung verholfen. Handberg war 43 Jahre alt. Die Sterbehilfe-Vorkämpferin hatte ihm einen gnädigen Tod bereiten wollen, doch das oberste schwedische Gericht entschied im Dezember 1979 auf Totschlag und verurteilte sie zu einem Jahr Gefängnis. Die Journalistin hat den gnädig gemeinten Totschlag in einem Buch[167] beschrieben:

Ende Mai 1977 ruft der MS-Kranke Berit Hedeby an. Der ehemalige Journalist lebt in einem Service-Haus für Behinderte, ist fast völlig gelähmt und hat Angst, in einer Dauerpflegeanstalt zu enden: "... ich verfluche dieses Leiden, Tag um Tag erleben zu müssen, wie meine körperlichen Funktionen nachlassen."[168]

Berit Hedeby besucht den Behinderten an einem sonnigen Maitag. Er leide sehr, klagt er, den Sommer nur durchs Fenster erleben zu können. Die Journalistin ist erschüttert, daß ein Mensch von technischen Hilfsmitteln abhängig leben muß. Sie notiert: "Das Leben ist wunderbar, solange man gestalten, arbeiten, lieben kann. Wenn man das aber nicht mehr vermag, wenn man an Körper und Seele krank ist, dann ist der Tod der einzige Trost und Ausweg."[169]

Ohne Umschweife erklärt Berit Hedeby, sie habe ein Digitalispräparat, das wolle sie ihm geben. Der Tod käme rasch und leicht. Sven-Erik Handberg ist sofort einverstanden.

Die beiden regeln sofort die technischen Details. Von einer intensiven Auseinandersetzung, warum der Behinderte nicht mehr leben will, findet sich wenig. Dazu sind sich beide zu einig, daß ein gelähmtes Leben ein unwertes Leben ist.

Doch ein Tonbandinterview veranstaltet die Journalistin noch mit dem Sterbewilligen. Berit Hedeby fragt suggestiv, legt Antworten in den Mund, formuliert selbst den Todeswunsch des Behinderten: "Warum kann ich nicht geradeheraus sagen, ich verfluche dieses Leiden, ich verfluche mein Leben ... Sogar wenn man im Rollstuhl sitzt, soll man noch Positives sagen."[170]

Ein weiterer Kernsatz der Journalistin: "Die Seele kann sich nicht frei fühlen in einem gefesselten Körper."[171]

Am Pfingstabend 1977 starten beide das Todesdrama. Sven-Erik besucht mit einem Freund noch einmal ein Musikfestival in einem Park. Abends gegen 20 Uhr treffen sich Handberg und Hedeby. Sie hat Käsebrote mitgebracht. Um 20 Uhr 30 beginnt sie, füttert ihn mit jeweils zehn Tabletten.

40 der tödlichen Tabletten hat Sven-Erik geschluckt. Nichts passiert. Um 22 Uhr flattert der Puls etwas. Um 23 Uhr 30 schluckt er nochmals 25 Tabletten, die tödlich sein sollen, sowie eigene Schlaftabletten. Schweiß bricht aus, der Puls rast, doch nichts passiert. Es ist 3 Uhr nachts. Sven-Erik ist hellwach, 65 todbringende Tabletten im Magen, der Körper brennt vor Hitze, ihm wird übel, er schluckt würgend.

Berit Hedeby muß das Haus verlassen, will sie nicht entdeckt werden. Sie läßt den Sterbewilligen allein. Morgens um 9 Uhr ruft sie einen Pfleger an. Herrn Handberg gehe es gut, erfährt sie. Er habe wohl Blut gebrochen und Durchfall gehabt, sitze aber wieder im Rollstuhl.

Am nächsten Tag besorgt sich Berit Hedeby neue Tabletten bei einem Arzt. Mittags um 12 Uhr treffen sie sich wieder, wieder werden die Tabletten geschluckt, das Digitalispräparat und zahlreiche Schlafmittel. Nachmittags um 5 Uhr schläft der Todessüchtige ein. Sie geht.

Am anderen Morgen ruft sie wieder an. Sven-Erik sitzt jedoch beim Frühstück. Sie eilt in das Service-Haus, gibt ihm erneut Tabletten. Ein Rettungswagen bringt ihn in eine Ambulanz. Die Intensivstation entläßt ihn bald wieder.

Entlassen, treffen sich die beiden erneut. Er hat hohes Fieber, redet wirr, phantasiert. Sie gibt ihm noch mehr Tabletten, spritzt Insulin. "Ich sage ihm, wie elend ich mich fühle, wie eine Mörderin."[172]

Berit Hedeby muß Angst haben, daß ein Pfleger dazwischenkommt, daß der Selbstmordbereite wieder auf die Intensivstation kommt, wieder nicht stirbt. "Es geht nicht mehr um einen >schönen Tod<. Es ist auch nicht mehr Zeit für gute, liebevolle Worte."[173]

Sven-Erik geht es schlecht. Er ringt um Atem. Da ruft ein Pfleger an, will vorbeikommen, helfen, nachsehen. Nein, nein, keucht, stammelt, preßt mit letzter Kraft der MS-Kranke, an der Schwelle des Sterbens. Der Pfleger läßt sich täuschen. Nach der zweiten Insulin-Spritze wird Sven-Erik bewußtlos. Berit Hedeby hastet aus dem Haus. Es ist halb elf. Sie fährt durch die "bleiche, schimmernde Frühlingsnacht" heimwärts.

In der "bleichen, schimmernden Frühlingsnacht" ist er dann endlich gestorben. Ohne Beistand, ohne ein liebes Wort, ohne den versprochenen schönen Tod.

Ich bin für Sterbehilfe. Ich bin dafür, einem Menschen einen qualvollen Tod zu ersparen. Er soll nicht an Drähten und Schläuchen hängend dahinverenden, nur weil der technische Fortschritt einen Leichnam lebend erhalten kann. Ich bin nicht dafür, Leben zu erhalten, das verloschen ist. Aber ich bin entschieden gegen dieses Buch.

In ihrer Einleitung steckt Berit Hedeby den Kreis derer ab, die ruhig sterben sollen: Alte, senile Schwachsinnige, unheilbar Kranke, zum Beispiel Krebspatienten, Menschen nach einer Gehirnblutung, Herzinfarkt, bei Diabetes, MS und überhaupt bei totaler Lähmung. Ein kunterbuntes Angebot, um es so zynisch zu formulieren, wie es dasteht.

"Ich will es nicht", schreibt die Autorin, "daß mein Körper häßlich, alt, faltig, eklig und übelriechend wird."[174] Wenn andere ringsum lieben, leben, will sie nicht abseits stehen. Berit Hedebys ganz persönliches Motiv zur Sterbehilfe entpuppt sich als Angst vor dem Alter, Häßlichwerden, Unattraktivsein. Es ist die Angst, nicht mehr so zu funktionieren, wie es die Umwelt vorschreibt.

Sie haßt den Tod und will ihn deshalb selbst bestimmen. "Ich will meinen eigenen Tod sterben, wenn es mir paßt, nach meinen eigenen Bedingungen. Wenn ich sterben muß, dann will ich schnell sterben, schneller als ein Licht im Windzug verlischt."[175] Sie fordert den "leichten, raschen und freundlichen Tod"[176], sauber und adrett. Einen kundenfreundlichen Tod!

"Wie war es möglich, daß im Ostkrankenhaus der südschwedischen Stadt Malmö innerhalb von vier Monaten 17 Menschen getötet werden konnten? Diese Frage beschäftigt die schwedische Öffentlichkeit, nachdem ein 18jähriger Hilfspfleger gestanden hat, von Oktober 1978 bis Anfang dieses Monats mindestens 17 Personen zwischen 75 und 100 Jahren aus Mitleid umgebracht zu haben. Vom Chefarzt des Krankenhauses war eine Untersuchung der plötzlich sehr hohen Todesrate unter den Patienten auf den beiden Stationen angeordnet worden. . . . Seine Hauptaufgabe bestand darin, den Langzeitpatienten soziale Wärme zu vermitteln: Er sollte ihnen zur Hand gehen, den Kranken vorlesen und Besorgungen machen. Das Ausmaß des menschlichen Elends habe ihn derart getroffen, erklärte er jetzt, daß er auf seine Art auf Abhilfe gesonnen und sich schließlich entschlossen habe, die Patienten mit einem Desinfektionsmittel der Phenol-Gruppe umzubringen, das er ihnen im Fruchtsaft zu trinken gab."

Süddeutsche Zeitung, Nr. 11/1979.

Berit Hedeby schildert ihren Dienst auf einer Pflegeabteilung. Was sie schildert, ist grauenhaft, doch wie sie es schildert, berührt mich nicht, weil die Absicht die Hand führt. Die Pflegestation wird in all ihrer Unmenschlichkeit beschrieben: ein Gemisch aus Urin, Kot, Eiter, Wundbrand, Gestank und Brechreiz. Die Menschen werden als Tiere charakterisiert: "Hilflos liegt er in seinem Bett", heißt es über einen Beinamputierten, "wie ein großes Insekt, dem mit grausamer Hand alle Beine ausgerissen wurden."[177]

Ich weiß, wie tierisch Menschen auf Pflegestationen behandelt werden. Aber für Frau Hedeby reduziert sich das auf die Ästhetik: "Ich, die höchstens hier und da in der Sauna einen unschönen Körper sah, muß nun so viele furchtbar entstellte Körper ansehen."[178] Mein Gott, soll man alle umbringen oder allen einen schönen Tod nahelegen, die meiner Ästhetik widersprechen?

Berit Hedebys Denken entspringt, so lese ich es, nicht der Menschlichkeit. Sie denkt nicht daran, daß Pflegestationen menschlicher umgestaltet werden können, sondern jagt den Würgeengel durch. Sie ist ein Opfer der Wegwerfgesellschaft, die nur schöne Gebrauchsgegenstände konsumiert und veraltete Modelle auf den Müll schmeißt.

Wer vom Sterben redet, sollte leben können. Gerade wer zur Sterbehilfe ja sagt, für ein menschliches Sterben eintritt, sollte nachdenken, bevor er schreibt. Soll ich alle Alten, Häßlichen, Mißgestalteten, Gebrechlichen Todesdragees schlucken lassen? Was soll ich meinen Freunden sagen, die MS haben? Daß sie sich gefälligst selbst aus dieser Gesellschaft der Nützlichen, Brauchbaren, Warenästhetischen entfernen, ehe sie mir widerlich werden?

Jeder Anfang ist zu bekämpfen, alles Nichtfunktionierende eliminieren zu wollen. Berit Hedeby hat keinen schmerzschreienden Krebskranken erlöst, wie der 80jährige Nobelpreisträger und Physiker Percy W. Bridgman den Vorwurf formulierte, als er sich selbst erschoß: "Es ist nicht anständig in unserer Gesellschaft, daß ein Mensch dies selbst erledigen muß."

Die Journalistin hat einen Behinderten beseitigt, der seinem Leben keinen Sinn mehr abgewinnen konnte. Sie hat keinen Beistand versucht, gemeinsam dieses gelähmte Leben lebenswert zu gestalten. Diese Frage hat sich für sie nie gestellt.

Unsere alltägliche Euthanasie

Die Spartaner, so habe ich noch in der Schule gelernt, waren so grausam, daß sie verkrüppelte Kinder aussetzten und sterben ließen. Nur, wie behinderte Kinder in allen Ländern der Welt heute noch leben, das hat mein Lehrer nicht gesagt. Der Unterschied ist so wesentlich nicht. Auch wir setzen behinderte Kinder aus, in Sondereinrichtungen, in Heimen. Und ist das Kind mehrfach behindert, schwer geistig behindert, weiß Gott, dann kann man Rechenkünste anstellen: Ist es schlimmer, mißgebildete Kinder im Gebirge auszusetzen, wo sie schnell sterben, oder in einer Pflegeanstalt, wo sie ein langes Sterben erwartet?

Etwa zwei Wochen bevor ich dieses Kapitel schrieb, im Juni 1979, besuchte ich eine "Heilerziehungs-, Heil- und Pflegeanstalt" für etwa 1300 meist geistig Behinderte (siehe S. 270 ff). Bei meinem Besuch kam ich in einen Gruppenraum. Da standen neun Betten, dichtgedrängt. Ein Junge lag in einem Bett, das viel zu klein für ihn war. Die jungen Mitarbeiterinnen bedauerten dies, aber ein richtiges, großes Bett passe nicht mehr ins Zimmer. Im Raum stand eine Badewanne, über die man eine Holzplatte gelegt hatte. So war die Badewanne zugleich der Tisch.

"Mit einem Freispruch endete am Donnerstag vor dem Amtsgericht Northeim vorläufig eine Affäre um ein Heim für geistig schwer behinderte Kinder. Der Träger des Hauses, Julius E., war der Mißhandlung Schutzbefohlener oder zumindest der fahrlässigen Körperverletzung beschuldigt worden. Zwar wurde im Prozeß deutlich, daß unruhige Kinder in dem Heim des gelernten Fleischers zum Teil mit Mullbinden an ihre Betten gefesselt worden waren, was nach Aussagen von Zeugen zu Verletzungen der Kinder geführt habe. Dem Heimträger konnte jedoch in der Hauptverhandlung nicht nachgewiesen werden, daß er der Verantwortliche für diese unsachgemäße Behandlung gewesen sei. In der Urteilsbegründung hieß es unter anderem, daß E. nicht wissen konnte, daß Mullbinden nicht unbedingt die geeigneten Mittel zum Festbinden von Kindern gewesen seien, zumal er von dem Heimarzt offensichtlich falsch beraten worden sei."

Frankfurter Rundschau, Nr. 137/1979.

Die Kinder kommen nur aus ihren Betten, wenn die Sonne mal scheint. Dann werden Matten hinters Haus gelegt und die Kinder draufgelegt. Ansonsten liegen sie 24 Stunden in ihrem Bett. Manche bekommen wöchentlich eine halbe Stunde Krankengymnastik. Die Kinder lagen wie tot in ihren Laken. Nur der Junge, dem das Bett zu klein geworden war, blies gegen seine halboffenen Lippen, so daß ein blubberndes Geräusch entstand. Es war das einzige Geräusch. Ich schaute den Jungen an, schaute ihm in die Augen, da hörte er einen Moment mit seinem monotonen Blasen auf. Ich ging an das Bett eines Mädchens, das stumm vor sich hin stierte. Es hatte ein Mobile über seiner Stirn. Ich blies das Mobile an, es begann sich zu drehen, da begannen sich auch die Augen des Mädchens mitzubewegen.

In allen Häusern, durch die ich kam, saßen junge Mitarbeiter beim Kaffeetrinken. Das ist kein Vorwurf, sie waren alle sehr jung, hilflos, wußten nicht, was sie tun sollten. Aber niemand spielte mit den Kindern. Es herrschte der reine Stumpfsinn. In einem Haus fand ich einen Pfleger im Bett eines Pfleglings liegen. Er schlief. Der hat seine Mittagspause, sagte entschuldigend mein Begleiter. Schön und gut, aber der Pfleger würde sicher nicht dulden, wenn sich einer seiner Pfleglinge in seinem Bett zur Mittagsruhe niederlegte.

Die Anstaltsleitung gab zu, die Zustände seien zum Teil menschenunwürdig, wehrte sich dennoch gegen Kritik. Einige aufbegehrende Mitarbeiter waren entlassen worden, die anderen, Ärzte, Pfleger, Besucher, Angehörigen hielten den Mund oder fanden alles normal. Die menschenunwürdigen Zustände gediehen nicht im geheimen, hinter finsteren Anstaltsmauern, sondern waren bekannt und von den Behörden geduldet.

Die Anstaltsleitung sagt: Wir tun ja das Mögliche, aber es fehlt am Personal, an Geldern und Gebäuden. Sie kann die Kritik wahrscheinlich wirklich nicht verstehen, denn bislang war sie immer gelobt worden, den menschlichen Schutt so preisgünstig auszulagern.

Zum Wesen der Euthanasie, wie sie im "Dritten Reich" geübt wurde, gehört, daß grausige Vernichtung euphemistisch umschrieben wurde. Daß man für menschenunwürdige Verhaltensweisen beschönigende, verhüllende Worte fand. In der eben beschriebenen Anstalt geschah nichts anderes. Die Häuser tragen so gottesfürchtige Namen wie "Friedenshort" und "Haus unterm Gottesschutz". Der Besucher findet Sprüche wie "Der Herr vergißt nicht das Schreien der Armen". "... wir helfen Behinderten leben!" heißt es in einem Faltblatt, das um Spenden wirbt und unter der Überschrift "Glücklicher Stadtteil" findet sich der Satz:"... wenn man das Maß irdischen Glücks nach dem Maß der Dankbarkeit und Freundlichkeit messen darf, dann gehört A. zu den glücklichsten Stadtgebieten in Norddeutschland."

"Die Todesfabriken in Auschwitz, Chelmno, Maidanek, Belczek, Treblinka und Sobibor werden offiziell als >Gemeinnützige Stiftungen für Anstaltspflege< bezeichnet."

Thomas S. Szasz: Die Fabrikation des Wahnsinns, Frankfurt 1974, S. 423.

Um ein neues Jugendhaus zu bauen, hat sich ein Förderkreis gebildet. Von den Kuratoriumsmitgliedern ist der erste Vorstandsmitglied einer der größten Banken, der zweite Vorstandsvorsitzender einer Versicherungsgesellschaft, der dritte ein Bank-Direktor in Ruhe, der vierte ein evangelischer Bischof und der fünfte Vorstandsvorsitzender eines großen Mineralölkonzerns (die sechste im Bunde ist die Frau des Verteidigungsministers). Ich habe diesen Konzern öffentlich verdächtigt, daß er Heime, die Behinderte aus der Öffentlichkeit fernhalten, mit Spenden unterstützt, aber im eigenen Haus nicht sechs Prozent seiner Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten besetzt hat, wie dies das SchwerbehindertenGesetz vorschreibt. Ich bekam daraufhin den Anruf eines Herrn "Schmidt", der sich beschwerte. Der Vorwurf sei unberechtigt, es stimme zwar, daß man nicht sechs Prozent der Arbeitsplätze mit Behinderten besetzt habe, aber das sei was ganz anderes.

Kein Zweifel für mich, daß alle Kuratoriumsmitglieder gegen eine aktive Euthanasie sind. Kein Zweifel, daß die verantwortlichen Politiker gegen aktive Euthanasie sind. Kein Zweifel auch, daß sie gar nicht verstehen, daß ich die Heimsituation von Behinderten, wie oben geschildert, unter dem Kapitel "Euthanasie" darstellen muß. Die Spartaner setzten die Kinder im Gebirge aus, wir setzen sie in Heimen aus. Ich kann die Qual eines langsamen Dahindämmerns nicht menschlicher nennen.

"Es geht gar nicht darum, welches Leben >unwert< ist (nach gängiger Überzeugung anscheinend das Leben aller Tiere und Pflanzen auf dieser Erde), sondern welches Leben wir auf Kosten welchen Lebens verlängern wollen. Dadurch, wofür wir heute unser Geld ausgeben, bestimmen wir nämlich:

Wie viele gesunde Inder verhungern müssen, damit ein behindertes Kind in der BRD 30 Jahre lang am Leben erhalten werden kann (100? 1000? Oder sogar 10 000?).

Wie viele Tierarten aussterben müssen, weil das Leben eines sterbenden Menschen um einen Monat verlängert werden soll."

Leserbrief in: Die Zeit, Nr. 31/1976.

Das schöne Sterben in einem schönen Heim

Therese Zemp hat das Leben einer Schweizer Behinderten geschildert. Diese ist 37 Jahre alt, cerebral gelähmt und als "nicht eingliederungsfähig" (das meint: nicht arbeitsfähig!) eingestuft. Mit 26 Jahren, die Mutter war gestorben, mußte die Behinderte in ein Alters- und Pflegeheim. Als ein neuer Trakt eröffnet wurde, überreichte ihr ein Festredner einen Blumenstrauß, weil sie die jüngste Heiminsassin war.

Das Heim ist schön: weiter Park, gepflegter Rasen, geordnete Blumenbeete, ein Teich mit fröhlichem Springbrunnen.

Im Heim leben 240 Männer und Frauen, davon sind vier jünger als vierzig Jahre. Jeden Tag um 6 Uhr 45 wird die Behinderte angezogen. Um 11 Uhr gibt es Mittagessen, um 17 Uhr Nachtessen. Die Behinderte (und eine andere Frau) genießt ein Privileg. Sie muß nicht um halb sechs ins Bett. Sie darf zwischen 21 und 23 Uhr der Nachtschwester läuten, die sie dann zur Nachtruhe bettet.

Das Zimmer: ein metallenes Spitalbett, ein kleines Büchergestell, das der Heimleiter ausnahmsweise erlaubt hat, ein kleiner Balkon, den sie mit dem Rollstuhl nicht erreichen kann. Käme sie raus, sähe sie nichts außer dem Himmel, denn das betonierte Geländer ist zu hoch ("wegen der Leute auf der Straße, damit die uns nicht so angaffen können.")

Stolz des Heimes ist eine Aula mit farbigen Glasfenstern. Dort wird die Messe gelesen, jodeln Chöre für die Alten, gibt es Dia-Vorträge über die Tulpenpracht in Holland, alles nachmittags, damit die lieben Alten auch rechtzeitig ins Bett kommen. Die Behinderte meint, "das mag alles schön und vor allem gut gemeint sein, aber das ist doch nicht das, was ich gerne möchte: mit Leuten zusammen sein, mit denen ich auch etwas gemeinsam habe, wo etwas läuft, wo es lustig und interessant ist".

Will die Behinderte außer Haus, muß sie die Erlaubnis vom Heimarzt einholen; bis vor zwei Jahren mußte auch noch die Oberschwester einwilligen. Um einen Hausschlüssel bat sie vergeblich. Die Bitte, auswärts arbeiten zu dürfen, vielleicht halbtags, wurde abgeschlagen. Wenn es ihr nicht passe, könne sie ja gehen.

Die Behinderte: "Ich begreife, daß in einem solchen Heim ein Rahmen sein muß; aber er ist natürlich überhaupt nicht auf mich zugeschnitten; es ist das gleiche, wie wenn einem ein zu enges Kleid angezogen wird. Ich möchte eine Gemeinschaft, wo ich Verantwortung mittragen kann und selbst aktiv am Entstehungsprozeß mitbeteiligt bin."[179]

Behinderte werden ausgesetzt. Auch wenn es Heime mit Springbrunnen sind. Große Sprünge der Selbständigkeit dürfen die Bewohner nicht wagen. Selbst da, wo Zwangsjacken als Zwangsmittel fehlen, wird die Heimordnung dann doch zur Zwangsjacke. Das Aussetzen ins Heim ist der Beginn des sozialen Todes, passive Euthanasie. Wo zwischen Nützlichen und Unnützlichen geschieden wird, beginnt Euthanasie. Wer nichts mehr leisten kann, wird selektiert. Die Rampe, auf der hier selektiert wird, heißt "Leistungsfähigkeit". Wir haben heute verfeinerte Methoden, Menschen um ihr Leben zu bringen.



[122] Brown: Mein linker Fuß, a. a. O., S. 36.

[123] Ebenda, S. 74.

[124] Hannelore Bach: Als Körperbehinderter Objekt für ein Fest, Rundbrief der offenen Behindertenarbeit der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, Nr. 5/6 1976.

[125] Ebenda.

[126] Ebenda.

[127] Florian Arnold: Konfrontation mit den Behinderten Bogotas; in: Zeitschrift "Puls" Nr. 11/1978.

[128] Gisela Straub, in Zeitschrift "Trotzdem", Nr. 9/1977.

[129] Frankfurter Rundschau, Nr. 230/1978.

[130] Ebenda.

[131] Ebenda, Nr. 252/1977.

[132] Süddeutsche Zeitung, Nr. 169/1976.

[133] Darmstädter Echo vom 21.2.1976.

[134] Süddeutsche Zeitung, Nr. 103/1977.

[135] Frankfurter Rundschau, Nr. 31/1976.

[136] Die Zeit, Nr. 20/1977.

[137] Frankfurter Rundschau, Nr. 224/1978.

[138] Rundbrief von Pfarrer Hans Adolf Oelker, Evangelisches Johannesstift Berlin-Spandau, vom 22.11.1977.

[139] Osttiroler Bote, Nr. 40/1977.

[140] Die gute Tat. Die Deitsche Rotkreuz-Illustrierte, Nr. 1/1979.

[141] Zeitschrift "Luftpumpe", Nr. 10/1979.

[142] Ebenda.

[143] Brief des ZDF an die Klasse 5a und 5b des Herdergymnasiums in Frankfurt, 29.5.1978, Aktenzeichen: KB/we-.

[144] Ebenda.

[145] Der Kellerschlüssel, Zeitschrift der Schule für Körperbehinderte in Bochum, Nr. 8/1973.

[146] Rolf Hocke: Montagsbote, Informationen für Theologiestudenten der Evangelischen Kirche von Kurhessen und Waldeck, November 1977.

[147] Zeitschrift "Luftpumpe", Nr. 13/1979.

[148] Hans-Dieter Hiersche unterscheidet in: Euthanasie - Probleme der Sterbehilfe, München 1975, S. 9: "Eine kritische Analyse der Realität zeigt, daß es sich bei der Euthanasie um eine vielfältige Problematik handelt, zu der man nur dann sinnvoll Stellung beziehen kann, wenn eine differenzierte Unterscheidung durchgeführt wird: 1. Sterbehilfe ohne Lebensverkürzung, 2. Sterbehilfe durch Verzicht auf Therapie mit daraus folgender Lebensverkürzung, 3. Sterbehilfe durch erforderliche Therapie mit möglicher lebensverkürzender Nebenwirkung, 4. Sterbehilfe durch gezielte Therapie zur Lebensverkürzung, 5. Vernichtung lebensunwerten Lebens."

[149] Hans Schadewaldt: Euthanasie, Eine medizinische Einführung, in: Hiersche, Euthanasie, a. a. O., S. 12 f.

[150] Ebenda, S. 14.

[151] Ebenda, S. 15.

[152] Volker Eid: Geschichtliche Aspekte des Euthanasieproblems, in: Euthanasie oder Soll man auf Verlangen töten, hrsg. von Volker Eid, Mainz 1975, S. 17.

[153] Ebenda, S. 16.

[154] Ebenda, S. 20.

[155] Ebenda.

[156] Ebenda.

[157] Alle Zitate aus: Peter Röttgen: Das Recht zu sterben, in: Der Spiegel, Nr. 41/1967.

[158] Milton D. Heifetz / Charles Mangel: Das Recht zu sterben, Frankfurt 1976, S. 55.

[159] Ebenda.

[160] Ebenda, S. 55 f.

[161] Donald D. Malson: Surgical Treatment of Myelomeningocele, zitiert nach: Heifetz/Mangels: Das Recht zu sterben, a. a. O., S. 61.

[162] Ebenda.

[163] J. M. Freeman, To Treat or Not to Treat: Ethical Dilemmas of Treating the Infant with a Myelomeningocele, zitiert nach: Heifetz/Mangel: Das Recht zu sterben, a. a. O., S. 61.

[164] Ebenda.

[165] R. S. Duff und A. G. M. Campbell, Moral and Ethical Dilemmas in the Special-Care Nursery, zitiert nach: Heifetz/Mangel: Das Recht zu sterben, a. a. O., S. 63.

[166] Der Stern, Nr. 45/1974.

[167] Berit Hedeby: Ja zur Sterbe-Hilfe, Zug 1978 (demnächst als Fischer Taschenbuch).

[168] Ebenda, S. 147.

[169] Ebenda, S. 149.

[170] Ebenda, S. 157.

[171] Ebenda, S. 162.

[172] Ebenda, S. 182.

[173] Ebenda, S. 183.

[174] Ebenda, S. 12.

[175] Ebenda, S. 14.

[176] Ebenda, S. 15.

[177] Ebenda, S. 49.

[178] Ebenda, S. 41.

[179] Therese Zemp, vervielfältigtes Manuskript, Hausen/Schweiz, 1979.

Teil IV: Hilfreiche Helfer

"Warum arbeite ich als Nichtbehinderter in der Behindertenarbeit?

Ich habe oft genug am eigenen Leib erfahren, was >Diskriminierung< bedeutet: Arbeitersohn auf dem Gymnasium, Langhaariger in einer >normalen< Umgebung, Kriegsdienstverweigerung, also Gewissensprüfung, als Hilfsarbeiter chronische Sehnenscheidenentzündung, Zivildienst, nur ein paar Stationen ...

Behinderung - das ist ein gesellschaftliches Phänomen. >Die Umwelt lähmt mehr als die Lähmung<, schrieb Christa Schlett. Sie muß es wissen: sie ist gelähmt. Verdammt oft wurde ich selbst gehindert, behindert, unterdrückt. Grund genug, anderen dabei zu helfen, sich zu wehren. Natürlich versuche ich, im persönlichen Umgang jeden als vollwertigen Menschen zu betrachten, egal, ob er Neger, US-Soldat, Frau, behindert oder sonst etwas ist. Aber: dadurch ändert sich kaum etwas. Mein persönliches Verhalten hat gesellschaftlich keine Bedeutung, solange es auf den zwischenmenschlichen Bereich beschränkt bleibt. All diese Behinderungen ändern sich erst, wenn eine genügend starke Kraft ansetzt, Forderungen stellt."

Hannes Heiler

1. Dein Leid, die Helfer

Helfen ist eine Tugend. Und Helfer gelten gemeinhin als selbstlos. Doch so selbstlos ist ihr Handeln nicht. Um nicht mißverstanden zu werden: Das ist auch nicht schlimm.

Mit dem Helfen ist es wie mit dem Lieben. Wir meinen wohl, uneigennützig zu handeln, doch so uneigennützig sind wir gar nicht. Denn wir erfahren die Bestätigung, liebenswert - oder aufs Helfen bezogen: hilfsbereit - zu sein. Und es ist mir angenehm, so eingeschätzt zu werden, wertvoll zu sein, sinnvoll zu handeln. So ist im Helfen auch positiver Eigennutz. Wir sind nun einmal soziale Wesen und finden Bestätigung folgerichtig auch über andere, durch unsere Umwelt.

Im Helfen sind immer auch narzißtische (auf das eigene Ich bezogene) Bedürfnisse nach Bestätigung enthalten, die befriedigt werden. Doch das ist keine Spur negativ, macht unser Handeln nicht zweifelhaft. Denn Helfen heißt: den Bedürfnissen des anderen gerecht zu werden. Und das ist die richtige narzißtische Befriedigung, wenn ich vor mir sagen kann: Ich freue mich, jemandem geholfen zu haben, er selbst zu sein.

Doch viele Helfer - nicht nur in der Behindertenarbeit - wollen ihre Selbstbestätigung, mißbrauchen Schwächere, um sich selber stark zu machen. Sie haben nur sich vor Augen und so kommt es, daß sich viele Behinderte in der Beziehung mit ihren Helfern als Opfer erleben: "Gefragt ist im Grunde meist nur der kritiklose Behinderte", schreibt mir eine Frau, "der den Nichtbehinderten Erfolgserlebnisse und Selbstbestätigung garantiert." Nicht die Bedürfnisse des Behinderten interessieren, es geht nur um die Bedürfnisse der Helfer - und dafür soll sich der Behinderte auch noch dankbar erweisen.

Ein Beispiel, wie es zwei Rollstuhlfahrern erging: "Wir hatten die Fahrt so geplant, daß wir in Heidelberg Zeit zum Abendessen und Toilettenbesuch hatten. Unser Ärger begann schon mit der Schwester von der Rot-Kreuz-Station. Dieser Dame war nicht klarzumachen, daß auch Behinderte >menschliche Bedürfnisse< und Hunger haben. Sie ignorierte unsere Bitte, mich zur Bahnhofsgaststätte zu schieben, obwohl ausreichend Zeit zur Verfügung stand. Sie schob mich trotz heftiger Proteste auf den Bahnsteig des Anschluß-Zuges. Erst dort war ihr klarzumachen, daß Behinderte eben doch Hunger und andere >Bedürfnisse< haben. Aber jetzt war bereits eine gute halbe Stunde vergangen, und die Zeit zum Rückweg hätte nicht mehr gereicht."[180]

Häufig wird der Behinderte nicht gefragt, ob er überhaupt Hilfe benötigt und ob sie erwünscht ist. Der Behinderte ist dabei in einer schwierigen Lage, einerseits ist er ja froh, daß überhaupt jemand auf die Idee kommt zu helfen, andererseits will er selbständig handeln. "Man gibt zum Beispiel dem Nichtbehinderten die Chance, ohne Gesichtsverlust von der Hilfe Abstand zu nehmen, indem man mit freundlicher und selbstironischer Distanz auf seinen eigenen Mangel und die Notwendigkeit der selbständigen Kompensation hinweist (z. B. >ich brauche Training<). Erweist sich der Helfer jedoch als verständnislos, oder es bedeutet ihm die Hilfe soviel, daß er nicht zurücktreten kann, wägt der Behinderte die Interessenlage ab und läßt sich unter Umständen helfen."[181]

In diesem Falle hilft der Behinderte dem Helfer, sein Helferimage zu retten. "Aber was ich überhaupt nicht ausstehen kann ist - manchmal kommt das vor -, wenn mich jemand von hinten nimmt und schiebt, weil er denkt, es ist mir so zu anstrengend, oder so, auf einmal - flip - hat mich jemand geschoben, irgendwie, ohne mich zu fragen. Der hat sicher ein soziales Werk machen wollen, aber ich kann das nicht ausstehen. Da bremse ich, da zeig ich ganz klar - entweder ich sage dann >nee, danke, es geht, ich will alleine fahren< oder >ich brauch Training<, was natürlich auch wahr ist, oder >unterstütze meine Faulheit nicht< und irgendwie solche Sachen sag ich dann."[182]

Würgt der Behinderte das Hilfsangebot einfach nur ab, wird es der Helfer das nächste Mal nicht mehr wagen, seine Hilfe anzubieten. Ich meine, der Rollstuhlfahrer handelt falsch, wenn er dem Helfer gegenüber nicht offen ist. Er sollte seine Situation nicht vage andeuten ("unterstütze meine Faulheit nicht"), sondern ihm sagen, daß er selbständig ist. Er kann dem Helfer, der ja nicht wissen kann, wie er mit Behinderten umgehen soll und in welchem Maße sein Gegenüber Hilfe braucht, doch erklären, er brauche keine Unterstützung, aber es gäbe andere Behinderte, die Hilfe benötigen. Und daß es am einfachsten ist, den Behinderten zu fragen, ob man ihm und wie man ihm helfen soll.

Warum Helfer Hilflose brauchen und hilflos machen

Niemand hat die (professionellen) Helfer psychologisch so bloßgestellt wie Wolfgang Schmidbauer, der in seinem Buch "Die hilflosen Helfer. Über die Problematik der helfenden Berufe" vom Krankheitsbild der Helfer, vom "Helfersyndrom" spricht. Schmidbauer sieht die Ursache des Helfersyndroms in Enttäuschungen, die die angeblich so Edelmütigen in frühester Kindheit erlebt haben: In der Ablehnung durch die Mutter. Psychoanalytisch gesehen hilft demnach der Helfer, um vom Hilflosen jene Bestätigung zu erhalten, die ihm von der Mutter versagt wurde. Er handelt nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche. Und deshalb muß er eigene Schwäche und eigene Hilfsbedürftigkeit auch bei sich selbst leugnen. Er hilft, um nicht mit den negativen Seiten seiner Person konfrontiert zu werden. Der Helfer, der so charakterisiert ist, "hilft anderen, um seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse nicht wahrzunehmen. Er bekämpft durch sein Verhalten seine Unfähigkeit, etwas für sich zu tun. Er füllt seine innere Leere aus, die durch die Angst vor spontanen Gefühlen entstanden ist und sich auf die unbewußte, archaische Wut aus dem Bereich des abgelehnten Kindes zurückführen läßt."[183]

So muß dieser Helfer bestrebt sein, sein Objekt, an dem er sich selbst aufbauen will, in Abhängigkeit zu halten. Denn der "Schützling," der "geheilt" ist, selbständig geworden ist, braucht seinen Helfer ja nicht mehr, wird ihn verlassen. Dies muß dem Helfer unerträglich sein, weil er ja den Hilfsbedürftigen - und nicht den Emanzipierten - braucht, um seinen Hunger nach Akzeptiertwerden zu stillen. Der Helfer entmündigt sein Objekt, indem er sich zur unersetzlichen Figur macht.

Schmidbauer meint in seinem Buch die professionellen Helfer wie Ärzte, Psychiater, Krankenschwestern, Lehrer, Sozialarbeiter, Psychologen - aber dieser Typ des Helfers findet sich natürlich auch unter den nichtprofessionellen Helfern der Behinderten-Betreuungsarbeit. Die Analyse ist wichtig, um die versteckten, negativ narzißtischen Bedürfnisse des Helfers deutlich zu sehen. Die Schwäche von Schmidbauers Thesen dürfen jedoch nicht übersehen werden:

Gesellschaftliche Bedingungen jeder Sozialarbeit sind völlig ausgeblendet. Denn auch Helfer, die nicht aus versteckt narzißtischen Trieben helfen, fühlen sich in der Arbeit überfordert. Sie scheitern nicht nur an persönlichen Problemen, sondern an gesellschaftlichen Zuständen, daß Aus-der-Norm-Fallende ausgesondert, asyliert, abgeschrieben werden. Eine der Schwächen der Psychoanalyse ist, daß sie gesellschaftliche Einflüsse zu wenig beachtet, Konflikte noch immer zu sehr an Mama und Papa bindet. Die Tatsache, daß Nicht-Produktive abgehalftert werden, kann nicht nur individualpsychologisch angegangen werden.

Schmidbauer entpolitisiert die Helferprobleme. Die Gefahr: Wenn jeder Helfer seinen Therapeuten bekommt, dem Therapeuten wiederum ein Therapeut beigesellt wird, führt dies zur permanenten Selbstbespiegelung, die nicht weniger narzißtisch ist. Der Umgang zwischen Helfern und "Hilflosen" ist schon genug überfrachtet: Natürlichen Umgang gibt es kaum noch. Die Professionellen nähern sich ihren "Schützlingen" bereits anormal, nämlich therapeutisch, verbannen jede Natürlichkeit in das Schongehege der Befürsorgung, die den Partner nicht akzeptiert.

So stellt sich das Motto "Jedem Therapeuten einen Therapeuten" auch als ein Helfersyndrom des Analytikers dar. Auch dieser braucht Hilflose, um sich aufzubauen. So müssen wir uns der Frage zuwenden: Wie hilft man denn nun richtig?

Wie helfen?

Ich war einmal auf einer Behindertenfreizeit und traf dort eine junge, schwerstbehinderte Spastikerin. Sie konnte nicht sprechen, hatte dafür je ein Zeichen, wenn sie "ja" oder "nein" sagen wollte. Ich saß bei ihr, sehr unglücklich, weil ich mich nicht unterhalten konnte, unglücklich aber auch deshalb, weil ich irgendwie den Anspruch an mich selber stellte, in allen Situationen das Richtige tun zu wollen. Und da saß ich nun und wußte nicht, was ich unternahm und wie ich der Situation gerecht werden sollte. Ich war hilflos und versuchte dies zu überspielen.

Da kam ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt, einen Cowboyhut auf dem Kopf, ein sonniger Lausbub. Der setzte sich dazu, redete mit Händen und Füßen, mit dem ganzen Körper, und die Spastikerin redete mit. Sie waren glücklich, närrisch, schäkerten miteinander, hatten ihren Spaß, und das Mädchen, das nicht reden konnte, hatte überhaupt keine Probleme, sich zu, unterhalten. Der Bub hatte keine Konkurrenzprobleme, der bessere Helfer zu sein. Er bezog mich in diese so übermütige Beziehung mit ein, half mir, mich aus meiner Steifheit zu lösen. Er tat nichts anderes, als natürlich zu bleiben, spürte nicht den Leistungsdruck, einer schwierigen Situation gerecht werden zu müssen, fühlte sich nicht als Helfer. Er war einfach er selbst.

Eines meiner Probleme war immer, daß ich nicht "nein" sagen konnte, mich für jedwede Not verantwortlich fühlte und als Feuerwehr herbeibrauste, aktuelle Brandherde gleich zu löschen. Feuerwehr zu spielen ist sicher eine schöne Aufgabe und tut auch dem eigenen Selbstwertgefühl wohl. Aber so bleibe ich immer "Helfer". Ich fühle mich dann als "Stellvertreter", der anderer Leid stellvertretend findert, aber ich ermögliche anderen in keiner Weise, mit ihren Schwierigkeiten selbst umzugehen lernen.

Ich lehne die so oft verhöhnte "Einzelfallhilfe" nicht kategorisch ab. Ich finde es unmenschlich und brutal, jemanden verelenden zu lassen, weil sich erst einmal die Strukturen ändern müssen. Ich war selbst über viele Jahre ein "Einzelfall", hatte jedoch das Glück, an einen professionellen Helfer zu geraten, der mir half, mich zu entwickeln, nicht nach seinem Bilde, sondern nach meinen Fähigkeiten. So mußte ich mich auch nicht von meinem Helfer trennen, als die Jahre der Not vorbei waren. Denn aus dem Helfer war längst ein Freund geworden.

Nun gut, ich bin also schon aus persönlichen Gründen nicht gegen Einzelfallhilfe. Aber ich werde aggressiv, wenn einzelnen demonstrativ geholfen wird, als Alibi, während die Masse der gleichzeitig Betroffenen verkommt. Deshalb gibt es für mich keine Einzelhilfe, ohne jene Strukturen ändern zu wollen, die Leid und Verelendung produzieren.

Wollen wir sinnvoll helfen, geht es nicht an, dem Hilfesuchenden alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Probleme werden nicht gelöst, indem ich löffelweise schlaue Ratschläge verabreiche.

Wer an seiner Situation leidet, muß auch an der Behebung seines Leidens mitarbeiten. Der Hilfsbedürftige ist aus seiner Verantwortung sich selbst gegenüber nicht entbunden. Wir können nicht für jemanden Lösungen ausarbeiten, wir können nur zusammen Wege einer Lösung suchen und mitgehen.

Das Helferunwesen bringt es mit sich, daß Betroffene meinen, sie könnten ihre Probleme wie ein Gepäckstück abgeben: Eines Tages ruft mich die Sprecherin einer Elterngruppe an. Sie hätten Schwierigkeiten in der Schule. Ich hätte doch schon Demonstrationen gemacht ("ich" habe noch nie eine Demonstration gemacht). Jetzt solle ich einmal für ihre behinderten Kinder eine Demonstration organisieren. Es täte ihr leid, sie selber könne nicht mitmachen, morgen begännen die Ferien, und da seien alle Eltern im Urlaub.

Das Normalitätsprinzip

Ich unterhielt mich mit einer behinderten Frau. Wir kennen uns schon lange, haben etwa zur gleichen Zeit begonnen, uns in der Behindertenarbeit zu engagieren. "Wir haben uns am Anfang vorgenommen", sagte sie, "jeden Behinderten sympathisch zu finden, weil er behindert ist. Ich kann das nicht mehr."

Ich kann das auch nicht mehr. Das ist auch nicht normal. Aber ich habe mich schon oft anormal verhalten. Ich weiß sehr genau, wie in einer Veranstaltung eine Behinderte großen Blödsinn redete und nicht zu stoppen war, obgleich sie völlig am Thema vorbeiredete. Die anderen Teilnehmer griffen nicht ein, ich griff auch nicht ein, weil wir alle dachten: "Es ist eben eine Behinderte." Wir trauten uns nicht, uns so zu verhalten, wie wir uns sonst verhalten hätten. Einem Behinderten gegenüber tut man das eben nicht! Warum eigentlich nicht? So lange wir uns nicht normal verhalten (darunter verstehe ich allerdings nicht jene Rücksichtslosigkeit des Umgangs, der oft für "normal" ausgegeben wird), so lange bleibt der Behinderte Betreuungsobjekt. So lange ist er für mich kein Partner. So lange spielt sich zwischen uns nichts davon ab, was Partnerschaft ausmacht: daß der eine dem anderen Gesprächspartner ist, daß wir uns zustimmen oder uns korrigieren.

Eine Gruppe, in der wir jeden sympathisch finden müssen, in der wir jeden mögen müssen, ist das unnatürlichste, was ich mir vorstellen kann. In dieser Gruppe stimmt etwas nicht. In dieser Gruppe gibt es garantiert die Trennung zwischen Helfern und Hilflosen, wo die einen befinden, was richtig ist und die anderen befinden müssen, daß das richtig ist, was die anderen für richtig befunden haben.

Jeder Behinderte ist so sympathisch oder unsympathisch wie jeder Nichtbehinderte. Auch er muß sich in eine Beziehung einbringen, muß sich mit seinem Partner auseinandersetzen und ihn fordern, sonst bleibt er Betreuungsobjekt. Diese Auseinandersetzung muß stattfinden, wenn das Gefälle vom Helfer zum Hilflosen aufgehoben werden soll. Ein Behinderter: "Ich brachte es fertig zu sehen, daß Krüppel schön, charmant, häßlich, liebenswert, dumm, brillant - grade wie alle anderen Menschen sein können, und ich entdeckte, daß ich einen Krüppel trotz seines Handikaps hassen oder lieben konnte."[184]

Wir wollen die Offenheit lernen, miteinander ehrlich zu sein, ohne - und das ist wichtig! - zu verletzen.

Nicht wenige denken, Offenheit im Umgang sei schädlich. Das ist sicher falsch. Im Gegenteil: Unser Schonverhalten, jene Unehrlichkeit, die wir als "pädagogisch" oder "therapeutisch" ausgeben, macht einen Menschen ja erst zum "Behinderten", weil es ihm zeigt, daß er "anders" ist. "Wenn mir Leute sagen, sie hätten ein schlechtes Gewissen, wenn sie mir nicht schrieben oder mich nicht anriefen", so eine Behinderte, »bekomme ich innerlich öfters einen Tobsuchtsanfall. Ich mag das nicht, wenn das Gefühl der Pflicht im menschlichen Zusammensein eine zu große Rolle spielt."

Zur Offenheit gehört jedoch auch ein Thema, das gerne tabuisiert wird: Nicht nur Nichtbehinderte bevormunden Behinderte, Behinderte unterdrücken auch Nichtbehinderte, indem sie ihre Schwäche tyrannisch ausspielen.

Wir haben in unserem Volkshochschulkurs einmal über diese Probleme gesprochen. Behinderte benutzen ihr "Leiden", um Fürsorge zu erpressen, obgleich sie vieles selber tun könnten. Dahinter stecke ein Stück Rache, meinten die behinderten Kursteilnehmer, nach dem Motto: "Der ist gesund, dafür laß ich ihn springen."

Das Verhängnisvolle an dieser gar nicht seltenen Form des Umgangs ist, daß sich viele Nichtbehinderte irgendwann still und leise zurückziehen. Sie trauen sich nicht, die anstehenden Konflikte zu besprechen und entziehen sich der Überforderung durch Flucht. Dabei wäre es ein leichtes, notwendige Hilfsdienste so zu organisieren, daß es keine Belastung für den einzelnen wird.[185] Verhängnisvoll ist für den Behinderten, daß er sein eigenes Verhalten so nicht ändern kann, daß er sich wohl wundert, Helfer zu verlieren, dies aber darauf schiebt, daß Behinderte nun einmal diskriminiert und abgelehnt werden.

2. Dem Behinderten ein Behinderter werden - Erfahrungen von freiwilligen Krüppeln

Ich habe das Dasein als "Krüppel" vor zehn Jahren zum erstenmal an mir ausprobiert. Ich setzte mich in einen Rollstuhl, ließ mir eine Decke über die Knie legen und ließ mich losschieben.[186] Meine erste Erfahrung war die: In dem Moment, wo ich im Rollstuhl saß, änderte sich alles. Die Mitmenschen begafften mich, redeten ganz ungeniert über mich, duzten mich, behandelten mich eben wie einen "Behinderten".

Aber ich machte noch eine andere, für mich damals überraschende Erfahrung. Mitten im Versuch änderte ich mein Verhalten. Bis dahin hatte ich mich so verhalten, wie ich es für behindertentypisch hielt, demütig, hilflos, die Augen niedergeschlagen. Dann rollte ich auf die Leute zu, sprach sie an, gab ihnen eine Möglichkeit, ihre Befangenheit abzulegen, sich normal zu verhalten, weil ich sie in Situationen brachte, in denen sie sich zu verhalten wußten (z. B. knüpfte ich Gespräche an, indem ich nach der Uhrzeit fragte). Ergebnis: Gab ich mich passiv, demütig-behindert, ignorierte mich die Umwelt, gab ich mich selbstbewußt, wurde ich beachtet.[187]

Ich lernte, mich zu identifizieren. Identifikation ist die gefühlsmäßige Bindung an eine andere Person. Wir überschreiten die Grenzen des eigenen Ich, können uns in den anderen hineinversetzen, uns einfühlen. Die wichtigste Voraussetzung, einen anderen zu begreifen, ist die Möglichkeit, uns einfühlen zu können.

Wer gelitten hat, kann Leidenden helfen. Wer betroffen wurde vom Leiden anderer, von der Situation anderer, kann aus seiner Betroffenheit heraus so handeln, daß der andere sich emanzipieren kann. Im Selbstversuch lernen wir nicht nur, die Situation des anderen zu verstehen, wir erleben am eigenen Leib, welche Fehler die Umwelt begeht, wie falsch sich Helfer verhalten.

Doch Betroffenheit alleine hilft uns nicht, zum rechten Handeln zu kommen. Wir müssen lernen, nicht nur gefühlsmäßig zu reagieren, in Mitleid auszubrechen, wir müssen in kritischer Distanz überlegen, welche Schlüsse wir aus dem Erlebten ziehen. Wir müssen Handlungsmuster zur Veränderung entwickeln.

Eine wichtige Voraussetzung, ehe wir einen Selbstversuch unternehmen, ist die: Ich muß wissen, welche Behinderung ich spiele, denn Passanten fragen danach. Ich muß wissen, wodurch die Behinderung entstanden ist, welche Folgen die Behinderung für mich hat. Ich muß mir vor dem Versuch klarmachen, welchen Lebenslauf ich mit meiner gespielten Behinderung habe. Das ist eine Einübung, denn plötzlich muß ich mir überlegen, wie mein Leben aussähe, wenn ich die und die Behinderung hätte. Die Überlegung zeigt jedem, wieviel er über eine Behinderung weiß und gibt ihm die Möglichkeit, sich über Nichtgewußtes zu informieren.

Ich will auf den nächsten Seiten die Erfahrungen von drei Gruppen auswerten. Die erste Gruppe besteht aus Studierenden der Pädagogischen Hochschule Rheinland (Abteilung für Heilpädagogik), die zweite aus Studenten der Fachhochschule Wiesbaden (an den Tests und an der Auswertung nahmen zum Teil auch Behinderte teil), die dritte Gruppe aus Schweizer Berufsberatern und Behinderten. Die Erfahrungen der beiden ersten Gruppen werde ich zum Teil im Vergleich darstellen. Die Erfahrungen der dritten Gruppe stehen für sich alleine, weil der Versuch durch die Konfrontation mit Behinderten einen eigenen konflikt- und lehrreichen Verlauf nahm.

Selbsterfahrungen im Rollstuhl

Jede Gruppe, die damit konfrontiert wird, sich einem Selbsterfahrungsversuch auszusetzen, reagiert zunächst einmal mit Ängsten und mit Abwehr. Das Experiment wird als sinnlos angesehen. Die Mehrzahl der Behinderten sei ja körperlich verunstaltet und mache ganz andere Erfahrungen als geradegewachsene Testpersonen. Die Situation sei uneinfühlbar. Außerdem würden die Gefühle der Behinderten verletzt und die Gefühle der Passanten ebenso, wenn diese erfahren sollten, daß die Behinderung nur gespielt war. Viele artikulieren aber auch ihre Angst, die Situation nicht auszuhalten und aus dem Rollstuhl zu springen, ohne dies mit vorgeschobenen Einwänden zu vertuschen.

Der Einwand, der Test bringe nichts, Behinderung sei uneinfühlbar, ist der Versuch, die eigenen Ängste zu rationalisieren. Doch nach kurzer Zeit findet eine Identifikation mit der Rolle statt: "Ich habe nicht gedacht, daß man sich in die Rolle hineinversetzen kann, aber auf der Fahrt in die Stadt habe ich gemerkt, wie hilflos man ist. Und ich habe echt gemeint, ich währe gelähmt, weil ich gezwungen war, nichts zu tun. Ich war sehr beklommen, jetzt bin ich dabei, das aufzuarbeiten." Und mit einem Seufzer fügt die Studentin noch hinzu: "Es ist noch viel in mir drin."

Die Erfahrungen der Kölner Gruppe liegen mir als schriftliche Auswertungen vor und sind als Zitate durchnumeriert. Ich selber bin als Lehrbeauftragter an einer Fachhochschule anders vorgegangen: Wenn die Teilnehmer nach ihrem Test zurückkamen, habe ich sie sofort auf Tonband erzählen lassen, was sie erlebt und empfunden hatten. Sie sprachen zuerst mit mir, konnten erst danach vor der Gruppe berichten. So erzählten sie unter dem Druck des Erlebten und konnten ihre Erfahrungen mit denen der anderen nicht vergleichen.

Eine grundlegende Erfahrung bei allen Tests ist die, daß man sich als Hindernis empfindet. Eine Studentin: "Ich hab mich zuerst ziemlich unsicher gefühlt. In einem Geschäft, wo wir Tee einkaufen wollten, hat die Verkäuferin nur mit meinem Begleiter gesprochen. Ich habe den Eindruck, daß man vom Behinderten viel verlangt, sich offensiv zu verhalten. Ich mußte mich überwinden, in den Buchladen reinzugehen, weil es da ziemlich eng ist, ich hatte einfach Hemmungen, wollte nicht auffallen."[188]

Die Abhängigkeit vom Begleiter ist wohl die schlimmste Behinderung: "Man gewöhnt sich relativ schnell an den Rollstuhl, jedoch verspürt man mit der Zeit ein beklemmendes Gefühl, da die Bewegungsfreiheit derart eingeschränkt ist, das Handeln- und Bewegen-Wollen ist zum großen Teil von der Begleitperson abhängig. Dieses Angewiesensein auf eine andere Person kann leicht zu einem Gefühl der Ausgeliefertheit führen. Bedingt durch die Unselbständigkeit empfindet man sich schnell als Last für die Begleitperson ... Durch die Sonderstellung, die man als Rollstuhlfahrer unter Nichtbehinderten automatisch einnimmt, fällt es einem schwer, sich als normal und nicht als Sonderling zu begreifen."[189]

Ein Student, den man samt Rollstuhl in eine Straßenbahn gehoben hatte: "Es war nicht die Angst, als Nichtbehinderter identifiziert zu werden, sondern die konkrete Angst, niemanden zu finden, der einen aus der Bahn hinaushebt. Beim Hinausheben wurde dann das Gefühl empfunden, kein Mensch, sondern ein Objekt zu sein."[190]

Eine Studentin: "Ich hab es mir nicht so schlimm vorgestellt. Ich kam mir doch ziemlich hilflos vor. Auch wenn sie mit mir über den Bordstein gegangen ist, kam ich mir ziemlich verlassen vor. Daß du da sitzt und nichts machen kannst. Und die Leute starren dich an." Eine andere ergänzt diese Aussage: "Ich kam mir vor wie ein Kind im Kinderwagen. Erst mal, daß ich die Leute nur bis zum Bauchnabel angucken konnte. Und je länger ich fuhr, desto passiver wurde ich. ich hatte auch eine ganz schlechte Orientierung. Die Kinder guckten einen an: Was will denn die Große im Kinderwagen?"

Der erste Test an der Fachhochschule fand im Mai 1978 statt. Als wir den Versuch sechs Monate später, zum Teil mit neuen Studenten, wiederholten, äußerten einige, sie hätten sich wie ein Kind gefühlt, seien wie ein Kind behandelt worden. Viele fühlten sich bevormundet: Die Begleiter bestimmten, redeten von sich aus mit Verkäuferinnen und Verkäufern und übergingen dabei den "Behinderten" im Rollstuhl. Im Extremfall schoben sie den Rollstuhl auch dann noch, wenn der "Behinderte" seinen Rollstuhl selbst fortbewegen wollte.

Viele Passanten reagieren in ihrer Unsicherheit Behinderten gegenüber übertrieben nett. Mitleid, fast immer von Älteren, fällt reichlich ab: "Furchtbar, furchtbar", beteuern drei alte Damen, "so ein junger Mensch, ganz furchtbar!" Doch härter als Äußerungen dieser Art sind die Mitleidsbekundungen durch Blicke.

Bestimmte Verhaltensweisen gelten als so unüblich, widersprechen so dem Rollenvorbild, daß sie Aufsehen oder Unverständnis provozieren. Sind beispielsweise Behinderter und Begleiter ausgelassen und fröhlich, reagiert die Umwelt völlig irritiert. Und wenn ein Rollstuhlfahrer ein Bier bestellt, kann es ihm passieren, daß der Kellner mehrmals nachfragt, ob die Bestellung auch ihre Richtigkeit habe.

Völlig irritiert reagiert die Umwelt, wenn beispielsweise ein Mädchen auf dem Schoß eines Rollstuhlfahrers mitfährt. Das ist so, als wenn man bei einer Beerdigung lacht. Und sollten sich die beiden auch noch küssen, sich so verhalten wie sich junge Liebespaare eben verhalten, reagieren alle betreten. Es ist eine Rollenverletzung, wie sie einer Gruppe in Mainz gelang: Da rollen zwei Frauen ins Café, rollen zu einem Tisch, an dem zwei ältere Männer sitzen. "Dürfen wir uns dazu setzen?" fragen die beiden artig. "Ja, bitte." Dann bestellen sie den beiden Herren ein Bier. Entsetzt winken die ab: "Wieso sollen wir uns von Behinderten ein Bier ausgeben lassen?" Die Rolle, daß der Behinderte der ist, der beschenkt wird, dem die Almosen zukommen, ist auf den Kopf gestellt. Die Gruppe beschenkte auch Passanten mit Geld. Reaktion der Passanten: "Wer läßt sich schon auf der Straße Geld schenken?" Eben. Bei Behinderten macht man es.

Doch nicht immer verhält sich die Umwelt so, wie es von ihr erwartet wird (denn auch bei Behinderten und Begleitern gibt es Erwartungshaltungen!): "Sofort nach Betreten des Geschäfts kam die einzige anwesende Verkäuferin, die mit einer Kundin im hinteren Verkaufsraum stand, auf uns zu und fragte: >Bitte schön, was wünschen Sie?< Ich schaute meine Begleiterin an, da ich durch die bereits gemachten Erfahrungen der anderen Gruppenmitglieder darauf eingestellt war, daß die Verkäuferin meine Begleitung ansprechen würde. Erst als die Verkäuferin ihre Frage wiederholte, wurde mir klar, daß sie mich angeschaut hatte und von mir den Verkaufswunsch erfahren wollte. Ich beging also den Fehler, daß ich mein Verhalten nach einer Klischeevorstellung ausrichtete, anstatt nach der tatsächlichen Begebenheit."[191]

Es werden auch ausgesprochen positive Erfahrungen gemacht. Da will eine Studentin im Rollstuhl von einer Telefonzelle aus anrufen. Sie fragt eine ältere Frau nach dem Weg. Diese zeigt ihr den Weg zum nächsten Postamt, dann fällt ihr jedoch ein, daß das Postamt nicht zugänglich ist und erklärt den Weg zum nächsten Telefonhäuschen.

An der Telefonzelle spricht die "Behinderte" eine etwa 30jährige Frau an. Die hilft sofort, wählt die Nummer einmal an, ein zweites Mal, reicht dann der "Rollstuhlfahrerin" den Telefonhörer, vergewissert sich, daß alles in Ordnung ist und geht. Nach einigen Metern fällt der Frau ein, daß ein Rollstuhlfahrer ja den Hörer nicht zurückhängen kann, weil die Gabel zu hoch sitzt und kommt zurück.

Ein zweiter Versuch endete nicht anders. Die Versuchsperson wartet vor zwei besetzten Telefonzellen. Dann kommt eine etwa 20jährige Frau heraus und erklärt spontan, für die Rollstuhlfahrerin wählen zu wollen. Sie will auch warten, bis das Gespräch zu Ende ist, um dann den Hörer wieder aufzulegen. Die "Rollstuhlfahrerin" bedankt sich, sagt, das sei nicht nötig, es werde sich schon jemand finden. Als sie dann das Telefonat beendet hat, sieht sie sich nach Passanten um. Da gibt die Frau aus der Nachbarzelle durch Handzeichen zu verstehen, sie solle den Hörer liegen lassen, sie werde den Hörer schon einhängen.[192]

Nun kann man bei diesem Beispiel einwenden, daß die Passanten wahrscheinlich deshalb so positiv reagierten, weil gerade die Probleme, die Behinderte mit der Post haben, durch viele Aktionen und durch die Massenmedien bekannt sind. Das wird wohl auch so sein. Dennoch reagiert die Bevölkerung insgesamt viel aufgeschlossener, als dies immer wieder behauptet wird. Nachbetrachtung der Studentin, deren Versuche zu telefonieren gerade geschildert wurden, "Die Leute, mit denen ich in Interaktion trat, z. B. Kunden, Verkäufer, Passanten, zerrissen sich fast vor Hilfsbereitschaft, wußten aber oft nicht genau, wie sie helfen sollten."

Das erinnert mich an heftige Diskussionen, die sich in unserem Behindertenkurs an der Volkshochschule abspielten. Wir spielten ein Rollenspiel, worin ein Rollstuhlfahrer auf eine Fußgängerbrücke wollte, die eine steile Treppe aufwies. Die Nichtbehinderten waren empört, wie ein Behinderter verlangen könne, da hinaufgetragen zu werden. Und auch die Behinderten fanden, das gehe zu weit, das könne man den Passanten nicht zumuten.[193]

Ein Jahr nach dieser Diskussion wollte das Fernsehen einen Beitrag drehen, in dem Passanten Behinderten die Hilfe verweigern. Ein Behinderter sprach also vor der Brücke Passanten an, und eine versteckte Kamera verfolgte das Geschehen. Doch was geschah? Die Passanten wollten - mit einer Ausnahme - alle helfen!

Die Selbsterfahrungsversuche zeigen, daß sich etliche der Testpersonen nach einiger Zeit im Rollstuhl sogar wohlfühlen, weil ihnen jede Entscheidung abgenommen ist und weil sie umsorgt werden. Sie empfinden es als ausgesprochen angenehm, betreut zu werden, empfinden ihre Passivrolle als lustvoll. Dies ist eine Erfahrung, die allgemein mit Behinderten gemacht werden kann, daß sie sich gerne betreuen, "bemuttern" lassen und die Früchte der Emanzipation für nicht begehrenswert halten (die negativen Aspekte der Betreuung werden dabei ausgeblendet).

Wie auf einen Rollstuhlfahrer reagiert wird, hängt davon ab, zu welchen Reaktionen er seine Umwelt provoziert. Studenten, die als Behinderte Reisebüros testeten, indem sie sich dort als Kunden vorstellten, berichteten hinterher: "Es war zu beobachten, daß der Rollstuhlfahrer ernstgenommen und gut beraten wurde, wenn er selbstbewußt auftrat. Machte der Rollstuhlfahrer ungenaue Angaben und trat nicht so selbstbewußt auf, überreichten die Angestellten dem Rollstuhlfahrer einen Reiseprospekt und glaubten, seinem Wunsch nach Information gerecht geworden zu sein."[194]

Damit wird unsere Arbeit, wenn wir realistisch sind, nicht leichter. Wir können, mit einiger Anstrengung, die Umwelt zu normalem Verhalten trainieren, indem mehr natürliche Kontaktmöglichkeiten geschaffen werden. Damit verschieben sich aber unsere Aufgaben. Es ist einfach, auf behindertenfeindliches Verhalten der Öffentlichkeit einzuschlagen, die Ignoranz der Mitmenschen anzuprangern, das können wir deutlich machen. Aber Normen und Gesetze zu ändern und damit verbundene Einstellungen, die besagen, der Behinderte sei ein regelwidriger Zustand, sei als Arbeitskraft nicht oder nur bedingt tauglich und damit gesellschaftlich unbrauchbar, das ist weitaus schwieriger. Denn Normen werden gemanagt und dienen als Waffen zur Unterdrückung.

Der Ohnarmer-Test

"Ohnarmer" nennt die Fachsprache jene Menschen, die keine Arme mehr haben. Der Ohnarmer-Test fand im Juni 1978 an einer Fachhochschule statt. Während beim Rollstuhlversuch praktisch alle Studenten teilnahmen, sich auch selbst die Rollstühle besorgten, verweigerten sie sich diesmal. Nur sieben (von 25) erschienen. Und die erschienen waren, weigerten sich, allein loszugehen. Nur in der Gruppe wollten sie sich diesem Versuch aussetzen. Es bildeten sich zwei Gruppen. Die erste Gruppe ging in den Imbißraum eines Supermarktes. Eine Studentin ließ sich die Arme auf den Rücken zusammenbinden und eine Jacke drüberhängen, so daß sie wie eine Armlose aussah. Die anderen waren nur Zuschauer. Die kleine Gruppe blieb auch geschlossen an einem separaten Tisch, so daß keine Konfrontation mit den Gästen gegeben war.

"Was war für dich am schlimmsten?" wurde die Versuchsperson nachher gefragt.

"Am Anfang, als ihr alle geguckt habt, wie mich die Renate gefüttert hat, das war schlimm." Sie sagt "gefüttert", weil sie sich wie ein Kleinkind, wie ein Baby fühlte.

"Was hast du beim >Füttern< empfunden?"

"Daß man immer wieder sagen muß, mach das, mach jetzt das und dann das. Man nimmt jemand ganz in Beschlag, nur für sich. Das fand ich sehr schlimm, daß ich immer wieder sagen muß, jetzt will ich das machen."

"Du hast auch bei jedem Bissen >Danke< gesagt."

"Ich habe mich als Kind gefühlt, vor allem, wie ich beim Naseputzen hinten festgehalten wurde, wie ein kleines Kind, dem man beim Naseputzen hilft." Die Studentin empfand eine wesentlich stärkere Abhängigkeit als beim Rollstuhltest, eine Abhängigkeit, in der sich nicht nur Menschen ohne Arme befinden, sondern beispielsweise auch jene Querschnittgelähmte, die nahezu völlig gelähmt sind. Die Testperson hatte stets das Gefühl, von allen angestarrt zu werden:

"Zuerst habe ich mir eingebildet, daß alle Leute gucken, bis ihr gesagt habt, das stimmt gar nicht. Da hab ich erst gemerkt, daß es wirklich nicht wahr ist. Ich hab dann immer nur in eine Richtung geguckt, schräg gegenüber zum Hund, also in die Richtung."

Schließlich wurde sie völlig passiv:

"Am Schluß hab ich der Ingrid gesagt, sie soll das Portemonnaie herausholen, und da hat sie gleich zur Bedienung gesagt: >Eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen.< Und da ist mir aufgefallen, daß ich das ja eigentlich hätte sagen müssen."

Die Erfahrung der Hilflosigkeit macht sie hilflos:

"Es war einfach zu viel, um jeden Handgriff bitten zu müssen, immer fragen zu müssen. Das kann man sich gar nicht vorstellen, für was man jemanden in Anspruch nehmen muß. Ich habe dann abgewogen, was wichtig war und was nicht, ehe ich um etwas gebeten habe."

Als der Test vorbei war, sagte sie: "Ich fühle wieder Freiheit." Aber nicht nur sie fühlte sich angestarrt, auch die Nichtbehinderten, die mit ihr am Tisch saßen, fühlten sich mitbegafft, mitbetroffen: "Ich habe gezittert, weil ich mich beobachtet fühlte."

In der zweiten Gruppe wurde versucht, die Befangenheit mit losen Sprüchen zu überspielen ("Kannst du mir nicht mal die Hand vor den Mund halten, ich muß gähnen"). Ein Student berichtet: "Zuerst sind wir in die Bahnhofskneipe und haben uns was zum Trinken bestellt. Das war an sich nicht so beeindrucked, da ich gefüttert (!) wurde, und da ich die Isa kenne, war es nichts Besonderes." Auch er fühlt sich ins Baby-Dasein zurückversetzt und spricht vom "Füttern", obgleich ihm beim Trinken geholfen worden war.

Probleme gab es innerhalb der Gruppe:

"Beeindruckend war gleich am Anfang, da hatte ich ein Haar im Mund, das hab ich nicht herausbekommen ohne Hände, hab also gespuckt."

"Warum hast du diesmal nicht um Hilfe gefragt?"

"Ja, das hätte doch etwas Überwindung gekostet."

"Wieso hätte es dich Überwindung gekostet, du hast doch gesagt, du kennst die Isa."

"Ja, das ist eben ein direkter Kontakt vom Finger zu meiner Zunge, aber ein Glas an den Mund zu reichen, das ist ein indirekter Kontakt, das ist etwas anderes."

Der Ohnarmer-Test zeigt, wie schwer es uns fällt, Hilfe zu akzeptieren, weil wir ja zur Selbständigkeit erzogen wurden. Hilfe wurde in diesen Tests immer als Abhängigkeit erfahren, als Unterwerfung. Wenn wir aber zum Beispiel auf Freizeiten Behinderten helfen, sie aus- oder anziehen oder waschen, dann tun wir so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, daß sich der Behinderte entblößen muß und auf seinen Intimbereich zu verzichten hat.

Der Blindentest

Zum Blindentest traten wieder viele Studenten an. Sie hatten Brillen mit schwarzer Plakatfarbe bemalt und verbargen darunter die mit Mull und Heftpflaster verklebten Augen. Beim Blindentest passierte etwas Überraschendes: Etwa der Hälfte der Studenten gefiel der Versuch ausgesprochen gut, weil sie neue Erfahrungen machten, ihre Sinne wiederentdeckten.

Sie erlebten Geräusche und Gerüche viel intensiver, spürten am Wind, daß sie auf einen freien Platz kamen, genossen Sonne und Schatten. Als negativ empfanden sie, daß sie kein Gefühl für Entfernungen hatten und die Angaben ihrer Begleiter ("Noch zwei Meter") nichts nutzten (denn zwei Meter schätzt man mit den Augen ab).

"Es war ganz anders als beim Rollstuhltest. Ich habe mich sehr auf mich konzentriert, während ich im Rollstuhl den Umweltreaktionen stark ausgeliefert war. Im Rollstuhl habe ich mich mehr diskriminiert gefühlt, heute nicht. Ich habe mich in der Blindenrolle wohler gefühlt als im Rollstuhl."

Die Meinung, daß sie sich als Blinde wohler gefühlt hätten, wollten allerdings nicht alle teilen. Aber nahezu Übereinstimmung bestand darin:

"Ich habe >Blindsein< als nicht so diskriminierend empfunden, im Rollstuhl ist man den Blicken der anderen ausgesetzt."

Wenn sie sich auch nicht so diskriminiert fühlten, so fühlten sich die meisten doch hilfloser:

"Wir wollten was einkaufen und da hab ich gesagt: >Dann stell mich hier irgendwo ab.< Die Konzentration gilt ganz der eigenen Person und nicht mehr der Umwelt."

Ein Student: "Ich hatte wahnsinnige Angst, meinen Begleiter zu verlieren. Ich hätte mich total verlassen gefühlt, einsam, hilflos. Wir haben in einem Kaufhaus gefrühstückt. Da wollte ich ihm mein Geld mitgeben, habe das Portemonnaie hingehalten, aber er war schon weg. Wäre er nicht dabei gewesen, ich glaube, ich würde nie in die Stadt gehen, wenn ich blind wäre. Ich würde zu Hause sitzen, in meinen vier Wänden, da weiß ich Bescheid, da könnt ich mich bewegen. Das war für mich das dominierende: Angst und Alleinsein, richtig einsam, verlassen, hilflos. Diesmal war es schlimmer. Man ist total isoliert, aber ich habe mich nicht so diskriminiert gefühlt."

Einige lernten, ihre Umwelt besser wahrzunehmen. Eine Studentin: "Ich habe registriert, wie unterschiedlich man Leute gehen hört! Die einen klappern, die anderen hört man kaum, die huschen vorbei. Und manchmal wird man gestreift und weiß nicht, wer es ist. Diesmal fühlte ich mich hilfloser, aber nicht diskriminiert."

Eine andere: "In den Kaufhäusern merkt man, daß die Leute wirklich wie blind (!) da rumlaufen. Daß die überhaupt nicht merken, daß da einer ist, der an ihnen vorbei will und der jetzt warten muß, wie er sich drehen und wenden soll. Die Leute registrieren das gar nicht. Man ist sehr auf Geräusche konzentriert. Mir ist aufgefallen, daß die meisten Männer, die mir entgegenkamen, mit Schlüsseln klimpern. Mir ist aufgefallen, daß man wenig mitkriegt, weil die Leute viel mit Blicken ausdrücken."

Zum Schluß ein Student: "Das erste, was ich festgestellt habe, daß Blindsein eine ganz andere Behinderung ist als im Rollstuhl zu sitzen oder ohne Arme zu sein. Man ist so in sich gekehrt, man kommuniziert überhaupt nicht mit seiner Umwelt. Aber das Gehör! Und man spürt den Wind, das war ein schönes Gefühl. Bewußt den Wind oder die Sonne zu spüren! Was bei den anderen Behinderungen so schlimm war, die Leute sehen jetzt auf dich und du wirst irgendwo als armer Behinderter abgestempelt, das war in diesem Fall nicht, weil. . ., man sieht ja niemanden."

"Einmal, im Bus, da hat eine Frau gesagt: >Stellen Sie ihn doch hier in die Ecke." Das war das einzig negative. Die Frau hat mit meiner Begleiterin gesprochen, nicht mit mir. Schlimm sind die Geräusche von den Autos. Wenn man am Straßenrand steht, hat man das Gefühl, eben wirst du übern Haufen gefahren. Oder wenn man vorm Bus steht und will einsteigen, da nehmen die Leute überhaupt keine Rücksicht. Sie rempeln einen an. Was mich allerdings sehr verunsichert hat: Meine Begleiterin hat so leise mit mir gesprochen. Ich wollte aber alles laut und deutlich gesagt bekommen, um zu wissen, wie es langgeht."

Ein halbes Jahr später, nach einem zweiten Blindentest, die anderen sitzen schon im Nachbarzimmer, haben die Augenbinden bereits abgelegt und sind fröhlich, berichtet derselbe Student:

"Ich freue mich jetzt unheimlich auf den Moment, wo ich wieder unabhängig bin, das ist dann, wenn ich wieder sehen kann. Das hab ich diesmal viel schlimmer wahrgenommen als beim ersten Versuch. Da war ich etwas überwältigt durch Empfindungen wie Wärme, Kälte, Wind, Geräusche. Aber diesmal war es schlimm, zu merken, daß andere Leute sich unterhalten und man kann sich nicht in das Gespräch einmischen."

"Ich war sehr gehemmt, irgendwo mitzusprechen, bzw. selber ein Gespräch anzufangen. Und einmal, das war für mich nicht schön, da hat die Doris jemand getroffen, den sie schon vier Jahre nicht mehr gesehen hat, und da hat sie gelacht und ist zu dem hin, hat sich mit dem unterhalten - und ich stand da, so richtig abseits. Um mich hat sich in dem Moment überhaupt keiner gekümmert. So unheimlich verloren kam ich mir vor. Du stehst jetzt da, und sie: >Ach Mann, solange nicht mehr gesehen!< Das Gefühl war schlimm, so dazustehen und nicht mitfühlen zu können, sich nicht mitfreuen zu können und unheimlich abhängig zu sein. Man kann ja auch nicht, wenn man sich jetzt ärgert, einfach sagen: >So, jetzt geh ich.<"

"Bei dem ersten Versuch fand ich es schön, so eine eigene Welt zu haben, mehr introvertiert zu sein. Die Leute sehen einen nicht an, wie beim Rollstuhltest, wo's einen stört, wie die einen angaffen. Bei dem Versuch jetzt fand ich es schon schlimmer, die eigene Welt zu haben, weil - die eigene Welt erdrückt einen dann. Ich glaube, es fällt einem schwerer, richtig lustig zu sein, die Freude mit anderen zu teilen ... ich weiß nicht, ob das stimmt, man kann sich eigentlich nur äußern über verbale Äußerungen."

"Also wenn ich die Leut jetzt da draußen lachen hör, dann hab ich das Gefühl, daß es sehr schwer ist, da jetzt mit fröhlich zu sein, weil man nichts sieht."

"Und dann hab ich mich halt unheimlich geärgert, als ich über die Stufe gestolpert bin und mit dem Kopf wider die Tür gerannt bin. Erstens, weil's weh getan hat und zweitens wieso der Partner nichts gesagt hat. Und dann vielleicht auch die Wut: Man muß sich immer wieder auf den verlassen, man kann jetzt nicht sagen, komm, laß mich in Ruh, scher dich zum Teufel, nein, ich muß wieder mit ihm weitergehen, die nächste Türe rein, wieder das Risiko eingehen, der paßt mal nicht auf, flupp ... mit dem Kopf da an der Tür."

Im Januar 1979 traf sich die Gruppe mit einer blinden Frau. Zunächst berichten die Studenten von ihren Erfahrungen. Die Blinde warnt, Blindsein nun nicht als schlimmer einzuschätzen als es tatsächlich sei. Wörtlich sagt sie aber: "Ich bin von Geburt an blind. Ich kann viel verdrängen."

Ihr Hauptproblem sind die Begleiter. "Bei Freunden und Bekannten empfinde ich keine Abhängigkeit. Aber wenn man einen fremden Begleiter hat, dann kommt unweigerlich: >Ach, das arme Wesen.< Sie bedauern einen, und das unterscheidet meine Situation von Ihrem Test, weil Sie sich kennen. Wenn Sie zum Beispiel gestolpert sind, dann ärgern Sie sich über Ihren Begleiter. Aber bei mir ist es so, da bedauert mich der Begleiter: >Ach Gott, Sie sind gestolpert.< Mein Problem und mein Gedanke ist immer der: Hoffentlich verhält sich der andere normal."

Wir kommen darauf, daß Blinde ja nicht durch Blicke Kontakte aufnehmen können ("es war Liebe auf den ersten Blick"), daß Blinde einen Menschen nicht nach seinem Mienenspiel einschätzen können, ob einer nun lächelt, errötet oder höhnisch dreinschaut. Die Blinde meint, das stimme wohl, aber sie lese Zuwendung aus der Stimme ab. Und am Tonfall erkenne sie einen Menschen besser als viele Sehende. Es entspinnt sich ein Dialog:

"Was ist schlimm im Umgang zwischen Sehenden und Blinden?" "Wenn Sehende keinen Kontakt haben mit Blinden, stellen sie sich die Behinderung ganz schrecklich vor. Und treffen sie dann einen Blinden, brechen sie total zusammen. Und wenn mich einer nicht kennt und mich führt, dann ist er ganz unruhig und ich muß ihn dann trösten."

"Leiden Sie denn nicht unter Ihrer Behinderung?"

"Man leidet nicht immer an seiner Behinderung, man leidet, ja, aber nicht immer."

"Was ist notwendig im Umgang zwischen Nichtbehinderten und Behinderten?"

"Ich strebe danach, möglichst normal behandelt zu werden, ohne Rücksicht."

Ich mische mich ein, erzähle von Goffmans Buch "Stigma", daß der Behinderte versuche, über seine Behinderung hinwegzutäuschen, beispielsweise, daß Sehbehinderte so tun, als könnten sie noch lesen. Daraufhin sagt sie spontan:

"Oder man tut so, als sei die Behinderung halb so schlimm." Und sie fügt noch hinzu: "Ich habe noch nie so offen geredet wie heute."

Betroffene können betroffener miteinander reden.

Der Test mit den Berufsberatern

Im Herbst 1978 hatte ich eine Tagung mit Schweizer Berufsberatern. Auch Behinderte waren erstmals dazu eingeladen. Wenn sich die Rehabilitations-Profis und die Behinderten gegenübersitzen, steht zwischen ihnen nicht nur der Schreibtisch, sondern auch mangelndes Wissen und mangelnder Umgang. Denn beide kennen sich nicht als Menschen, die sich auf der Straße begegnen, in der Straßenbahn, beim Einkaufen, im Schwimmbad oder gar ein Bier zusammen trinken. Die einen kennen die anderen nur als Aktenvorgang.

Die Reha-Berater wollten am eigenen Leibe erfahren, was es heißt, behindert zu sein. Sie mußten als Behinderte in die Öffentlichkeit. Wählen konnten sie, ob sie im Rollstuhl sitzen (zwei ältere Berufsberaterinnen: "Wir gehen als Rollstuhl-Patienten!" - als könne man am Rollstuhl erkranken) oder als Blinde oder Armlose loslaufen wollten. Viele verbrachten eine schlaflose Nacht. Sie nahmen ihre Aufgabe sehr ernst, hatten Angst, wie es ihnen ergehen würde (auch die Ehefrau eines Querschnittgelähmten setzte sich erstmals in einen Rollstuhl, um die Situation ihres Mannes zu erleben).

Ich erschien morgens zum Frühstück als Armloser. Meine Tischnachbarn überschlugen sich vor Hilfsbereitschaft. Sie schmierten die Brötchen, besorgten mir eine Kaffeetasse, schenkten mir ein. Damit ich von ihrer Hilfe unabhängiger würde, organisierte mir ein Helfer sogar einen Strohhalm.

Doch die Hilfsbereitschaft war damit noch nicht am Ende. Ein Tischnachbar nahm meinen Strohhalm einfach wieder aus der Tasse und bog ihn etwas. Ein anderer legte mir einen Kaffeelöffel dazu, der sollte den Strohhalm beschweren. Sie fragten mich nicht, ob mir das recht sei, sie handelten einfach für mich.

Sehr lieb, sehr aufmerksam, sie schoben mir das Brötchen in den Mund, ob ich nun schon fertig gekaut hatte oder nicht. Sie waren freundlich, aber ich hatte nichts mehr über mich zu bestimmen, ich wurde bestimmt. Wer Hilfe braucht, wird von seinem Helfer entmündigt. Gar nicht böswillig, nein, im Gegenteil, oft aus übergroßem Helfereifer.

Einer der Berufsberater ging "ohne Arme" in die Stadt. Niemand denkt vorher daran, was das bedeutet: Man ist extrem abhängig, kann keine Tür mehr allein öffnen, kann sich nicht mehr kratzen, an die Nase fassen, die Haare nicht mehr aus dem Gesicht streichen. Der Mann merkte plötzlich, er mußte mal. Was tun? Einfach auf eine öffentliche Toilette gehen, jemand ansprechen, er möge ihm den Hosenlatz öffnen? Nein, das wäre zu peinlich. Da fällt ihm ein, er könnte ja zu einem Arzt gehen, oder noch besser: Er könnte ja ins Krankenhaus gehen, zu einer Schwester. "Die ist doch dafür da." Der Mann ging nicht auf die Toilette, denn der Selbsterfahrungsversuch ging ja zu Ende, er wartete.

Besonders intensiv erlebten die "Blinden" ihren Test. Sie bekamen die Augen verklebt, eine ganz dunkle Sonnenbrille auf. Später trafen sie sich mit echt Blinden. Sie mußten während des Gesprächs ihre Augenbinden aufbehalten.

Wenn einer der Sehenden etwas sagte, fuhr sofort einer der Test-Blinden auf: "Wer spricht gerade? Bitte stellen Sie sich vor." Sie merkten plötzlich, wie schwer Blinde in ein Gruppengespräch kommen, wie schwer ein Gespräch ohne Augenkontakt ist, wie achtlos sie selber schon Blinden gegenüber gewesen waren.

"Ich hab erlebt, was blindes Vertrauen ist", sagte einer der Test-Blinden. "Ich hab erlebt, wie wahnsinnig ich meiner Begleiterin ausgeliefert war", sagte ein zweiter. Ein echter Blinder: "Gestern hatte ich das Gefühl, jetzt machen die sich lustig über meine Behinderung. Als sie zurückkamen, habe ich gedacht: Endlich erleben sie mal, wie es uns ergeht. Und jetzt denke ich: Endlich ergeht es denen, die immer über uns verfügen, mal so, wie es uns armen Teufeln ergeht."

Er bestätigt ihnen, daß sie in kurzer Zeit die Schwierigkeiten erfaßt haben, "die wir Blinde täglich haben".

Ein Berufsberater: "Ist das befreiend oder negativ, was wir hier tun?"

"Es ist gut, es ist ganz wunderbar."

Ein anderer Blinder schaltet sich in das Gespräch ein: »Ich möchte die Berufsberater fragen, ob sich in ihrer Einstellung etwas geändert hat. Welche Lehren sie daraus ziehen?"

Eine Frau, die die Augen noch verbunden hat, antwortet: "Ich bin jetzt in einer schwierigen Situation. Ich weiß nicht, wie ich ins Gespräch komme und ich denke an meine blinde Kollegin. Es ist jetzt für mich viel schwerer, als heute morgen, als ich eine Begleitung hatte, die mich führte, jetzt kann ich nicht sehen, wer spricht, ich fühle mich jetzt alleingelassen, isoliert."

Ein Blinder sagt: "Ich finde das Gespräch schaurig-schön."

Eine "blinde" Testperson, die auch noch die Augen verbunden hat: "Ich weiß, daß der Richard neben mir sitzt, aber ich spüre ihn nicht, ich spüre die Leute hier im Raum nicht, ich bin im Niemandsland. Das einzige, was ich spüre, ist der Stuhl, auf dem ich sitze."

Es diskutieren fast nur jene Testblinden, die die Augen noch verbunden haben.

Ein Blinder: "Ich war gestern erschrocken. Und ich hab mich gefragt, für welche Gruppe würde ich mich entscheiden, für die Armlosen, die Rollstuhlfahrer oder die Blinden. Und ich wußte es nicht. Ich hätte mich für jene Gruppe entschieden, die sich zu nichts entschieden hat. Ich dachte, es wird ein Affentheater, aber heute finde ich es gut."

Ein Nichtblinder: "Ich habe heute nacht nicht geschlafen. Ich hatte Angst. Ich hätte nie einen Test über einen ganzen Tag gemacht, aber für nur zwei Stunden dachte ich, das geht. Aber jetzt muß ich sagen, man müßte es einen ganzen Tag machen. Das schlimmste für mich waren die Türen: Geht sie nun nach innen auf oder nach außen?"

Ein Nichtblinder: "Ich weiß jetzt, daß der Erblindete in der alten Umgebung rehabilitiert werden muß."

Es folgte eine erregte Diskussion. Sie haben gemeinsame Erfahrungen gemacht. Erfahrungen der Hilflosigkeit, Abhängigkeit, Ohnmacht, aber auch, daß sie intensiver Gerüche wahrgenommen haben, intensiver gehört haben. Ein Blinder greift dies auf: "Mir ist aufgefallen, daß vom Kompensieren gesprochen wurde, vom Gehör, vorn Geruch. Aber niemand sprach vom Betasten. Das heißt, da wurde einmal sogar gelacht."

Nun kommen die Nichtblinden:

"Ja, wir haben Scheu vor dem Taktilen", sagt der erste. "Wir haben als Kind immer gesagt bekommen: >Hände weg!<", sagt der zweite.

"Ich kann doch eine Frau nicht abtasten", sagt der dritte.

Der Blinde, der bereits geredet hat, wird deutlich: "Ich habe grauenhafte Erlebnisse. Abtasten gilt als etwas Unanständiges. Ich möchte manchmal ein Gesicht abtasten, Haare, die Stirn. Aber das darf ich nicht. Kinder lernen übers be-greifen. Man sagt, es berührt mich. Wir haben das alles verlernt. Betasten gilt als Besitzergreifen und nicht mehr als Abgeben von Mitgefühl."

Doch da wird es den Berufsberatern zu nah, zu bedrängend. Es kommen Äußerungen wie: "Ich bin Berufsberater und kein Sozialarbeiter." Ein anderer meint: "Ich bin doch kein Pfleger." Ein Dritter: "Es muß auch eine Psychohygiene sein, ich muß doch überleben, muß doch am nächsten Tag wieder fit sein." Und so drängen sie die Nähe der Behinderten wieder weg. Berufsberater, sagen sie, sind für die Berufsberatung, Sozialarbeiter für soziale Fragen und Pfleger für den Rest. Der Behinderte wird aufgeteilt in Fachbereiche, in Zuständigkeiten.

Und damit wird er auf Abstand gehalten. Daß sich einer der "Gesunden", wie sie immer sagen, in einen "Behinderten" verlieben könnte, ist undenkbar, gehört er doch eigentlich zu einer anderen Rasse, in eine ganz andere, rein pflegerische Zuständigkeit.

Massive Berührungsängste tauchen auf. Ein Psychotherapeut, der nicht an den Selbsterfahrungsversuchen teilgenommen hat, schlägt ein Sensibilisierungsspiel vor ("dann fassen wir Stoff an"). Daß wir einen Menschen einfach mal in den Arm nehmen könnten, ihn streicheln könnten, zärtlich sein könnten, haben die Fachleute verlernt. "Mal ganz ehrlich, von Mann zu Mann", nimmt er mich auf die Seite, "haben Sie bei einer Behinderten schon mal einen sexuellen Reiz verspürt?" Von Therapie- und Rehabilitationsobjekten gehen ja auch keine Reize mehr aus.



[180] Josef Wanschura: Auf dem Bahnhof in Heidelberg, Zeitschrift "Luftpumpe", Nr. 10/1979.

[181] Volker Schönwiese: Untersuchung sozialer Beziehungen, a. a. O.

[182] Ebenda.

[183] Wolfgang Schmidbauer: Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe, Reinbek 1977, S. 195.

[184] Goffman: Stigma, a. a. O., S. 54.

[185] Eine Einführung in die Arbeit und Ratschläge zur Begleitung körperlich und geistig Behinderter, Blinder, Taubblinder, Schwerhöriger, psychisch Kranker sowie mit Eltern findet sich in: Ernst Klee: Behinderten-Report 2, Frankfurt/Main 1974 (Fischer Taschenbuch Bd. 1747), S. 151 ff.

[186] Eine Stadt aus dem Rollstuhl betrachtet - Erfahrungen eines >freiwilligen Krüppels<, in: Klee: Behindertenreport, a. a. O., S. 175 ff.

[187] Ebenda, S. 178.

[188] Renate Gabriel, Ulli Greve, Gundi Kütt, Veronika Meyendriesch, Thomas Niehaves, Stefanie Robens, Katrin Peters, Willi Sühling: Studienmöglichkeiten eines Behinderten an der Universität Köln - Erfahrungsbericht einer >Rolistuhlgruppe(, vervielfältigtes Manuskript. Der Bericht wurde im Sommersemester 1978 im Seminar "Probleme der Interaktion zwischen Behinderten und Nichtbehinderten" (Prof. Gerd Jansen), an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abteilung für Heilpädagogik (Köln), geschrieben.

[189] Bernadette Cramer, Anita Engermann, Franz Brocks, Elisabeth Koller, Anette Kolschewski: Freizeitbereiche für Rollstuhlfahrer; siehe Fussnote 188.

[190] Renate Gabriel u. a., siehe Fussnote 188.

[191] Claudia Brinker, Ulrike Haas, Hans Werner Horn, Wolfgang Micelaisen, Heidi Mertz, Iris Schröder: Erfahrungen im Rollstuhl; siehe Fussnote 188.

[192] Ebenda.

[193] Ein ausführlicher Bericht ist in: Klee: Behinderten-Report 11, a. a. O., S. 26 ff. veröffentlicht: ">Als Gesunder geh' ich ja auch nicht die schwierigsten Wege< - Nichtbehinderte bestimmen ganz selbstverständlich die Bedürfnisse der Behinderten - aufgearbeitet im Rollenspiel«.

[194] Bernadette Cramer u. a.; siehe Fussnote 188.

Teil V: Sterben und Lieben

1. Tod und Sterben Behinderter

Behinderte haben, je nach Behinderung und je nach Schwere der Behinderung, vielfach eine kürzere Lebenserwartung. Das ist eine statistische Tatsache. Doch in der gemeinsamen Arbeit reden wir nicht darüber, wir überspielen das Thema, den Tod eines Behinderten übergehen wir als Betriebsunfall. Schließlich muß jeder mal sterben, denken wir.

Ich habe, als ich dieses Kapitel zu schreiben begann, mehrmals angesetzt und die Manuskriptseite immer wieder aus der Schreibmaschine genommen. Denn ich bin über den Satz gestolpert: Behinderte haben vielfach eine kürzere Lebenserwartung. Das hat zwei Gründe: Erstens weiß ich über meine eigene Lebenserwartung gar nichts. Ich kann in naher Zukunft tot sein, befinde mich also objektiv in keiner anderen Situation, sondern betrachte es nur als ein Privileg Nichtbehinderter, länger zu leben. Ich verdränge den Tod nicht minder als andere.

Der zweite Grund, warum ich im Schreiben innegehalten habe, ist ein einziges Wort: "Lebenserwartung". Wir gebrauchen es einfach so, wenn wir vom Sterben reden, ohne nachzudenken: Erwartungen vom Leben, Erwartungen an das Leben. Welche Erwartung an das Leben hat ein Behinderter, der auf der Siechenabteilung eines Heimes "lebt", hermetisch abgeriegelt von dem, was wir "Leben" nennen: Kontakte, Fröhlichkeit, Traurigkeit, Menschen, die ich liebe, die mich lieben. Viele Behinderte leben unter Bedingungen, die kein Leben ausmachen. Das Leben im Heim (nicht in allen, nicht generell) kann einen sehr frühen sozialen Tod bedeuten, man ist für die Sozialgemeinschaft gestorben, bevor man tot ist.

">Bleib bei mir<, sagte mir das Mädchen, bevor sie starb. Aber ich hatte alle 3 Stunden 30 Querschnitte zu drehen."

Eine Krankenschwester im Unfallkrankenhaus.

Die Bedingungen, unter denen wir heute sterben müssen, gleich ob wir behindert sind oder nicht, sind brutal. Doch die Opposition gegen die Brutalität des organisierten Sterbens wächst. Und die Literatur, die wir im Fachjargon Sterbeliteratur nennen, wächst ebenso. Ich habe 1976 für »Die Zeit« Bücher über Sterbehilfe, Tod und Euthanasie rezensiert.[195] Ich habe bald 4000 Seiten über das Sterben gelesen. Manche Buchseite habe ich nur überblättert, überflogen, es betraf mich nicht, langweilte. Nur wenige Bücher haben mich gepackt, haben mir etwas vom Leiden und Sterben in dieser Gesellschaft vermittelt, haben mich mit meiner eigenen Sterblichkeit, mit meinem einmal zu sterbenden Tod konfrontiert. Inzwischen habe ich noch viele Hundert Buchseiten mehr gelesen. Nirgendwo war das Sterben Behinderter, nimmt man die Euthanasie einmal aus, ein Thema. Behinderte sind ganz offensichtlich, ich wiederhole mich, schon sozial gestorben, bevor sie leiblich sterben.

Vom Sterben behinderter Kinder und Jugendlicher

Vor Jahren war ich auf einer Tagung mit Eltern von muskelkranken Kindern. Auch viele Kinder und Jugendliche waren dort. Die Muskeldystrophie ist eine Behinderung, die fortschreitet. Ein Teil der Muskeldystrophiker hat keine große Lebenserwartung, die Gehunfähigkeit tritt zwischen dem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr ein, der Tod kommt vor dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr (dies gilt aber nur für wenige Verlaufsformen). Da kam eine Lehrerin zu mir. Sie habe an ihrer Sonderschule einige dieser Kinder und wisse nicht, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten solle. Sie traue sich nicht, mit ihren Schülern darüber zu reden.

Ich wußte auch nicht, was ich tun, wie ich handeln sollte. Ich bat meinen Freund Gusti Steiner, der selber Muskeldystrophie hat, ob er nicht mitkommen wolle. So fuhren wir hin. Patentrezepte hatten wir keine. Wir versuchten, uns dem Thema anzunähern, gemeinsam mit den Lehrern zu reden. Sicher ist, daß wir nicht auf einen Jugendlichen zugehen können, betreten, beklemmt, mit sorgenvoller Miene und ihm sagen können: "Du, ich muß mit dir mal reden." Und dann klären wir ihn auf. Die Folge wäre ein Schock.

Was wir tun können, und das ist vor allem für die Eltern wichtig, wir können eine Atmosphäre herstellen, in der über alles gesprochen werden kann. Wir müssen offen über die Schwierigkeiten einer Behinderung reden. Die meisten Eltern und Erzieher können dies nicht, auch dann nicht, wenn sie merken, daß das Kind oder der Jugendliche in ernsten Schwierigkeiten ist. Sie versuchen, den jungen Behinderten über die Ernsthaftigkeit seiner Behinderung hinwegzutäuschen. Sie handeln aus Angst und Unsicherheit, machen sich aber nicht klar, daß sich Angst und Unsicherheit nicht verbergen lassen, daß das Kind beides wohl erfaßt. Die Kinder befürchten dann, das mag vielen erst mal nicht einleuchten, daß sie ihre Eltern nicht belasten dürfen, weil diese mit ihm, dem Behinderten, schon genug Lasten zu tragen haben.[196]

Ein Kind spürt immer die Ängste und die Unsicherheit seiner Eltern oder Erzieher. Es zieht daraus den Schluß, daß etwas ganz Schlimmes vorgehen muß, etwas gräßlich Unbekanntes, vor dem es Angst bekommt. Je weniger das Kind weiß, um was es geht, desto bedrängender wird seine Phantasie von Angst besetzt.[197] Irgendwann erfährt der junge Behinderte, der eine lebensverkürzende Behinderung hat, daß er früh(er) sterben wird. Das ist dann der Schock. Er hat dann kein Vertrauen mehr zu Eltern, Erzieher oder Arzt, weil er sich hintergangen fühlt. Er wird ihnen gegenüber mißtrauisch bleiben, zumal er ja nach einer Untersuchung oft rausgeschickt wird, während im Behandlungszimmer Arzt und Eltern ihre Geheimnisse haben, über ihn reden. An den besorgten Gesichtern und an der Ängstlichkeit seiner Umgebung liest er ganz deutlich ab, daß Schreckliches im Gange ist.

Irgendwann wird jeder versuchen, über die Folgen seiner Behinderung Aufklärung zu erfahren, mag es bei den Eltern, bei Lehrern, Ärzten oder vertrauten Personen sein. Wenn ein Behinderter (aber diese Regel gilt für jeden Menschen, ob jung, ob alt, ob behindert oder nicht) vom Sterbenmüssen zu reden beginnt, oder mit Signalen deutlich macht, daß er über die Konsequenzen seiner Behinderung reden möchte, dann müssen wir zuhören und ihn alles aussprechen lassen. Es ist sicher eine Versuchung, dieses Gespräch mit Aussprüchen wie "Ach, was sind das für Gedanken!" abzublocken, doch das hilft dem Fragenden nicht, steigert nur seine Ängste.

Wir können keine Prognosen stellen, was die Zeitspanne des verbleibenden Lebens angeht. Es leben viele Muskeldystrophiker, die nach ärztlicher Prognose längst tot sein müßten. Gleiches gilt für Jugendliche, die beispielsweise Mucoviscidose haben. Gerade bei diesen Behinderten ist die Lebenserwartung in den letzten Jahren steil angestiegen. Oder denken wir an Kinder mit Hydrocephalus. Früher bedeutete die Diagnose, daß sie das Erwachsenenalter nicht erreichen, heute gibt es Erwachsene oder Heranwachsende mit dieser Behinderung. Wir wissen nicht, ob nicht medizinischer Fortschritt die Lebensspanne verändert, wie dies bei den Blutern geschehen ist.

Damit will ich nicht provozieren, daß die Eltern zu allen möglichen Quacksalbern rennen, denn auf der Gerüchtebörse werden gerade bei Behinderungen, die lebensverkürzend sind, viele (kostspielige) Therapien gehandelt. Wir müssen dem standhalten, daß eine Behinderung auch diese Konsequenz hat oder haben kann, dies müssen wir annehmen, akzeptieren. Aber wir dürfen auch niemanden ohne Hoffnung lassen, Prognosen haben nichts endgültiges, können morgen überholt sein. Wir wollen niemanden betrügen, dazu gehört wohl auch, daß es anders verlaufen kann - aber nicht verlaufen muß, wahrscheinlich auch nicht anders verlaufen wird.

Kinder reden von ihrem Sterben-Müssen. Da ist ein vier Jahre und elf Monate altes Kind mit einem bösartigen Tumor. Es fragt: "Muß ich sterben?" und antwortet dann gleich selbst: "Ja, ich sterbe bald."[198] Ein achtjähriger Junge: "Bringt mich in die Klinik, zu Hause könnt ihr mir nicht mehr helfen, aber ich weiß, daß ich bald auf den Friedhof komme, wo ich mit der Tante spazierengegangen bin." 24 Stunden vor seinem Tod erklärt er der Stationsschwester: "Heute muß es kommen."[199]

Ein neun Jahre und sieben Monate altes Mädchen sagt zu seiner Mutter, als es unten einen Leichenwagen auf das Klinikgelände fahren sieht: "Nicht wahr, Mutti, solch einen schönen großen Wagen holst du bald auch für mich, wenn ich tot bin."[200]

Ein vierzehn Jahre und acht Monate alter Junge mißtraut der falschen Diagnose, die man ihm gesagt hat. Er ruft unter falschem Namen im Labor an und fragt nach seinem Blutbild. Er spricht nie über seine Situation, aber wenige Stunden vor seinem Tod fragt er die Nachtwache: "Muß ich diese Nacht sterben?"[201]

In einer Atmosphäre, in der der Gesprächspartner nicht verbietet, über die letzten Dinge zu reden, werden die Betroffenen darüber reden wollen. Die Angst vor dem Sterben (Kinder realisieren bis zum Alter von zehn Jahren nicht, daß der Tod endgültig ist) ist die Angst vor dem Alleingelassen-Werden. Wer aus Ängstlichkeit schweigt, eine Aussprache verhindert, indem er das Thema tabuisiert, vermehrt die Sterbensangst.

Das langsame Sterben bei fortschreitenden Behinderungen

In der emanzipatorischen Behindertenarbeit, in der ich mitarbeite, deren Entwicklung ich auch ein Stück weit mit vorantreiben konnte, waren wir in den ersten Jahren voller Kampfeslust. Es gab unendlich viel zur gleichen Zeit anzupacken, durchzusetzen. Wir haben gekämpft und fröhlich gefeiert, wenn wir neue Breschen in die Mauern des Behindertengettos geschlagen hatten, wenn wir unsere Kraft erproben konnten, bis dahin Undenkbares gedacht hatten. Die Frische unseres Elans wollen wir auch nicht verlieren, aber: Einige, die forsch oder zaudernd mitgekämpft haben, sind inzwischen tot. Und einige, die von Anfang an dabei sind, gingen damals an einem Stock, als wir uns wiedertrafen, gingen sie an zwei Krücken, treffen wir sie heute, sind sie im Rollstuhl. Wie stehe ich dazu? Wie sehen das die Betroffenen? Ich fürchte, wir haben in der Vergangenheit viel verdrängt. Aber in einer emanzipatorischen Arbeit, in der ich mich und meine Umwelt zu begreifen versuche, müssen wir uns auch diesen Tatsachen unseres Lebens stellen.

Eine Zeitlang besuchte ich in regelmäßigen Abständen ein Heim, in großen Abständen, muß ich hinzufügen, denn das Haus war ein paar hundert Kilometer entfernt. Dort lebten viele Behinderte mit Muskeldystrophie. Und immer, wenn ich hinkam, war einer, den ich kannte, in der Zwischenzeit gestorben. Eines Tages unterhielten wir uns darüber.

"Man registriert zwar, wenn jemand stirbt. Aber man darf sich nicht vorstellen, daß jetzt im Haus die große Trauer ausbricht."[202] Die 31jährige hatte bereits zwanzig Jahre im Heim verbracht und war auch Muskeldystrophikerin.

Ein 52jähriger Mann, ebenfalls mit der Behinderung Muskelschwund, meinte, das sei eben ein natürlicher Abgang. Man merke den Tod eines Nachbarn erst, wenn ein "Neuer" auftauche.

Die Lebenslustigste im Kreis, sie ist später aus- und zu einem Freund gezogen, 32 Jahre alt, davon zweiundzwanzig Jahre im Heim, sprach es dann aus: "Wir sind alle ja eher dran als Nichtbehinderte." Ein 43jähriger, 36 Jahre Heimleben hinter sich, mit einem kleinen, geschrumpften Körper und wächsernen Händen, der in einem Wagen wie in einem Sarg lag: "Mir kommt der Gedanke an den Tod immer dann, wenn ich an einer Erkältungskrankheit leide."

Der 52jährige, der älteste im Kreis, meinte, er könne gar nicht alle aufzählen, die er überlebt habe. Da müsse er schon verdammt nachdenken. "Ich meine", sagte er, "wenn draußen ein Familienvater stirbt, von 50 oder 40 Jahren, dann ist das natürlich ganz was anderes, als wenn bei uns einer von 30 Jahren stirbt, der keine Familie hinterläßt und alles." Draußen sei man traurig, weil der Verstorbene eine Familie hinterlasse. "Aber hier bei uns heißt es manchmal: Ach ja, er hat sich so lange gequält. Er ist endlich erlöst. Bei uns sterben Leute früh. Mit 20, mit 25 Jahren, aber das ist ein ganz anderes Sterben."

Warum ist dies ein anderes Sterben? Doch wohl deshalb, weil ein Heim nichts anderes ist als eine Aufbewahrung für sozial bereits Tote. In Häusern dieser Art wird nicht gelebt, sondern langsam gestorben. Doch dies sind Zustände, die wir ändern können, wenn wir Verbündete finden.

"Die Zukunftsaussichten für mich waren ziemlich trübe. - Heim, im besten Fall Heim mit angeschlossenem Werkstattbetrieb (Schräubchen eindrehen), im schlechten und wahrscheinlicheren Fall Asyl. Irgendein Asyl, das gerade einen Platz frei hat und gezwungen ist, mich aufzunehmen. Muskelschwünde hat man nirgends gern. Sie geben viel Arbeit in der Pflege und können nicht viel oder überhaupt nicht arbeiten. Das einzige positive ist, daß sie meist bald sterben."

Ursula Eggli: Herz im Korsett, Bern 1977, S. 100.

Mit der schonungslosen Offenheit eines Menschen, der nichts mehr zu verlieren hat, nichts mehr hat, was man ihm nehmen könnte, beschreibt Christoph Eggli solche Heime als Sterbe-Verwahrhäuser. Er wohnte eine zeitlang in der Westschweiz, wo etwa sechs bis acht Behinderte zu familienähnlichen Wohngruppen organisiert sind, in einer Gruppe, in der nur Muskeldystrophiker zusammengefaßt sind. Er war der älteste, hatte am längsten überlebt, mußte deshalb unter viel jüngeren leben, die seine Ansichten und seine Gesellschaftskritik nicht verstanden.

"Ich finde es in psychologischer Hinsicht ziemlich ungeschickt und auch grausam, daß man eine Gruppe von Muskeldystrophikern bildet, weil es sich wie gesagt um eine progressive Erkrankung handelt, welche meistens zum frühen Tod führt. Es gibt verschiedene Formen von Muskeldystrophie mit verschieden hoher Lebenserwartung, und das kann manchmal auch ein Grund zur Eifersucht sein. Letzthin hat einer meiner Kollegen vom maison neuf nach einer Meinungsverschiedenheit mit mir geschimpft: >Der Blödste lebt am längsten.<"[203]

"Besonders schmerzhaft berührt hat mich der Tod des siebzehnjährigen Antonio, der sich bis zu seinem Ende wünschte, einmal eine nackte Frau zu sehen - ein Wunsch, der sich für ihn nicht erfüllte. In Wahrheit wünschte sich Antonio die Liebe einer Frau, die ihre Gefühle auch auf sexueller Ebene ausdrücken konnte."

Christoph Eggli, in: Zeitschrift "Puls", Nr. 5/1979.

In einer Gemeinschaft, wo keine oder kaum Außenkontakte sind, wo man die gesellschaftlich Abgeschriebenen konzentriert, müssen sich die Aggressionen gegeneinander richten. Dann wird "Überleben" zur Leistung schlechthin, dann ist der König, der am längsten lebt, egal wie. Ein schauriger Zustand, für den man nicht die Behinderten verantwortlich machen kann. "Es entspricht nicht dem biologischen Bedürfnis des Menschen", sagt Christoph Eggli, "in jungen Jahren zu sterben; aber das größere Unglück kommt von der Gesellschaft her, weil sie nicht Gemeinschaftsformen entwickelt hat, in der Muskeldystrophiker und andere Behinderte und auch alte Menschen integriert sind."[204]

Nicht die langsame Abnahme der Körperfunktionen ist schrecklich, sondern die Perspektiven, die sich damit auftun. Ursula Eggli, Christophs Schwester, auch ein "Muskelschwündchen" (Selbstbezeichnung), hat diesen Prozeß des Abbaus der Kräfte als einen Prozeß des Trauerns beschrieben, aber auch als einen Prozeß der Annahme: Früher konntest du essen und trinken, ohne dir groß Gedanken zu machen, schreibt sie sinngemäß, dann kannst du die schweren Gläser nicht mehr halten. Früher hast du dich selbst geschminkt, dann müssen dich andere schminken. »Fremde Finger fahren dir über die Haut, reiben, verstreichen. - Und alle diese Finger haben einen anderen Rhythmus, nicht den deinigen. Hanni verreibt die Creme, wie es dir angenehm ist, mit runden, ausführlichen Bewegungen, andere verstreichen mit zaghaften kurzen Strichen, tappen auf den Wangen herum wie lästige Fliegen. Am Anfang empfandest du das als peinlich, erniedrigend, diese fremden Finger da in deinem Gesicht. Heute verschwendest du kaum mehr einen Gedanken daran."[205]

Es ist schmerzlich, nicht mehr Frau über den eigenen Körper zu sein, Hilfe zu benötigen, es ist schmerzlich, das Nachlassen der Körperfunktionen so präzise verfolgen zu können, aber das eigentlich niederschmetternde ist der Verlust sozialer Wertigkeit. Wir wissen, daß es leichter ist, zu sterben, wenn man weiß, daß man Wünsche seines Lebens realisieren konnte, auf ein erfülltes Leben zurückblicken kann. Doch am Beispiel von Christoph Eggli und den Heimbewohnern wird deutlich, daß hier Leben zu Ende geht, ohne daß ein Bruchteil der Wünsche erfüllt wurde. Das Leben hat noch nicht begonnen und endet bereits.

Sterbende erleben ihren Tod häufig als die letzte von vielen Trennungen. Ich habe die letzten zehn Jahre als glücklich erfahren, weil ich in diesen Jahren meine Möglichkeiten und Fähigkeiten entdecken konnte. Ich habe das genossen, war glücklich, wieviel ich lernen konnte, wie viele Menschen ich kennenlernen, nah sein, Freund sein konnte, es gibt für mich bis heute nichts Schöneres als Menschen nahezukommen. Doch in diesem Glücklichsein bin ich erstmals damit konfrontiert worden, alt oder sagen wir: älter zu werden. Das Gefühl, älter zu werden, habe ich in dem Augenblick gespürt, wo Freunde starben, wo sie plötzlich nicht mehr da waren. Da wurde ich an mein eigenes Sterben erinnert. Beziehungen sterben ab - auch das heißt Sterben.

Wann einer von uns stirbt, ob mit siebzig oder achtzig, zwanzig oder dreißig, ist eigentlich gleich. Wir müssen unseren Tod mit achtzig genauso meistern wie mit dreißig. Und auf die Frage: "Warum gerade ich?" oder "Warum gerade jetzt?" werden wir uns immer die Gegenfrage gefallen lassen müssen: "Warum ich nicht?"[206] Denn wir wissen, daß wir sterben müssen und daß wir diesen Zeitpunkt nicht kennen. Sterbende verhandeln, möchten noch eine Zeitspanne gewinnen, möchten beispielsweise noch einmal den Frühling erleben. Ich werde das wohl genauso tun. Ich habe darüber nachgedacht: Würde ich so verhandeln wollen, noch einmal den Frühling zu erleben, müßte ich mir sagen lassen: Denk daran, wie du deinen letzten Frühling durchgearbeitet hast, ihn nicht beachtet hast. Während draußen die Kastanien blühten, und die Blumen duftend aus der Erde kamen, hast du an deinem Schreibtisch gesessen und gearbeitet und gearbeitet. Du hast ihn ausgesperrt und spürst nun den Verlust.

Ich bin da altmodisch: Im Psalm steht, wenn das Leben viel ist, dann ist es Mühsal gewesen. Das meint: Man hat nicht auf Kosten anderer gelebt, sondern mit anderen, für andere, und damit war das Leben auch für mich sinnvoll. Herr, heißt es im Psalm, lehre mich, mein Ende zu sehen und daß mein Leben ein Ziel hat. Wenn jemand früh stirbt, wird dies als unschicklich empfunden, denn er hätte ja noch so viele Jahre arbeiten können. Jeder Tag aber kann das Sterben bedeuten. Dies zu bedenken heißt: jeden Tag als den letzten und ganz neu zu erfahren. Das Sterben bedenken, heißt das Leben neu gewinnen.

Das führt mich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück. Was lernen wir daraus, daß einige, die mit uns gekämpft haben, schon tot sind, andere, die damals noch am Stock gingen, heute im Rollstuhl sitzen? Daß viele eine verkürzte Lebenserwartung haben? Wir wollen nicht weiterhin verdrängen. Wir müssen akzeptieren, daß wir sterben und daß einige früher sterben werden. Aber damit werden wir empfindlich für die Dimensionen des Miteinanderlebens.

Ich sah meine Schwierigkeiten nicht losgelöst, sondern merkte, daß es zu anderen Randgruppen und Schichten Parallelen gibt. So wurde ich kein typisches "Musterkrüppelchen" mit Hausaufgaben, Essen, Schlafen, Herumsitzen oder Fernsehen.

Wolfgang Robionek

Todesanzeige eines 20jährigen Muskeldystrophikers, 1979.

Viele aus unserer gemeinsamen Arbeit haben erstmals gelernt, Kontakte zu schließen, haben gelernt, auf andere zuzugehen, obgleich sie gelähmt sind. Sie lernten, völlig verschüttete Fähigkeiten zu entdecken. Sie lernten, sich neu zu begreifen, andere neu zu begreifen. Lernten die Kraft gemeinsamen Tuns, die Gemeinschaft beim Bewältigen gemeinsamer Ziele. Das Glück, sich diesen Zielen anzunähern oder sie sogar zu erreichen.

Wer etwas davon erfahren hat, hat trotz fortschreitender Lähmung Leben gelernt. Hat trotz verkürzter Lebenserwartung Erwartungen an das Leben stellen und verwirklichen können. Hat Lebensperspektiven gewonnen, die viele, die besser sehen, hören, laufen, nie gewinnen. Es ist völlig belanglos, ob ich behindert oder nichtbehindert bin. Lebenserwartungen müssen, erst einmal formuliert und erarbeitet werden.

Das ist die immer neue und immer gleich schwere Arbeit: Lebensziele zu formulieren und in die Tat umzusetzen, ob im Rollstuhl oder gut zu Fuß, ob taub oder hörend, ob blind oder sehend. Kein Funktionsteil zu werden, kein stumpfsinniger Verbraucher, sondern ein Mensch, das ist allemal mühevoll und geht nicht ohne Anstrengung ab.

Suizide Behinderter

Eine verblüffende Tatsache gleich am Anfang: Es töten sich weit häufiger die Angehörigen der helfenden Berufe (Ärzte, Sozialarbeiter, Schwestern usw.)[207] als Behinderte.

Wer sich selbst töten will (ich rede von Selbsttötung oder mit einem Fremdwort von Suizid, aber nicht von Selbstmord, weil es kein heimtückischer Mord ist), kann seine Lebenssituation nicht mehr ertragen. Weiterleben zu müssen, ist dem Tod gegenüber das größere Übel. Der Suizid ist der verzweifelte Sprung ins Paradies, der Tod erscheint als bessere, erträglichere Welt. Ein Mensch, der sich umbringen will, lebt im Widerstreit zwischen jenem Teil seiner Person, der sterben will, und jenem Teil, der leben möchte.[208]

In 80 Prozent aller Selbsttötungen hat der Verzweifelte seine Tat direkt oder indirekt angekündigt. Er sendet Signale aus: "Bitte, helft mir!" Er möchte nicht sterben, aber er sieht keinen Weg zu leben. Seine Probleme sind übermächtig, Konflikte lassen sich nicht mehr lösen. Selbsttötungsankündigungen sind immer ernst zu nehmen.

Einen Menschen mit Selbsttötungsabsichten einfach zu trösten: "Es wird schon wieder", oder: "Denken Sie doch an ihre Familie", muß dem Verzweifelten wie Spott erscheinen.[209] Ich kann ihm nicht helfen, wenn ich sage, er solle doch vernünftig sein, das Schöne, das Positive im Leben sehen. Das vertieft nur seine Verzweiflung, nicht verstanden zu werden. Helfen kann nur der, der offen ist und die Selbsttötung als eine mögliche Lösung akzeptiert. Helfen kann nur der, der sich solidarisch weiß, Konflikte aushalten kann, sie nicht mindert, verschleiert, überspielt, sondern ihnen auf den Grund geht.[210]

Selbsttötungen geschehen dann, wenn ein Mensch seine Aggressionen nicht mehr nach außen richten kann, sondern gegen die eigene Person richtet. Der Tod erscheint dann als Freund, als Liebhaber (Heinz Brenner). Wo alle Freundschaften unsicher sind und Enttäuschungen brachten, da ist der Tod eine sichere Bindung. Wir wissen nichts über Selbsttötungen Behinderter, die statistischen Erfahrungswert hätten. Ich weiß, daß es Selbsttötungen im Berufsförderungswerk gibt, weil Behinderte es nicht schaffen, mit ihren Lebenskonflikten umzugehen, zumal der Leistungsdruck in Rehabilitationseinrichtungen enorm ist - denn hier werden die Leistungstüchtigen von den Versagern geschieden.

Behinderten fehlt oft die manuelle Möglichkeit, sich selbst zu töten: "Kurz nach Weihnachten stand ich kurz vor dem Selbstmord. Das klingt eitel, ist im Grunde aber bitter, weil mir einfach die manuellen Fähigkeiten fehlten und das Unvermögen in Apathie umschlug. Sage da noch einer, Weiterleben sei eine heroische Leistung."[211]

Es ist eine deprimierende Erfahrung letzter Abhängigkeit, dieser Form letzter, verzweifelter Freiheit beraubt zu sein: "Lieber bringe ich mich um, dachte ich wirklich. Aber wie? Wie bring ich mich um? Ich kann mich nicht aufhängen. Um die Pulsadern aufzuschneiden, habe ich zu wenig Kraft. Ich kann auch nicht in die Apotheke gehn, um Schlaftabletten zu kaufen. Wer von meinen Freunden würde sich schon bereit finden, mir zwei Röhrchen (oder wieviel braucht man?) zu holen?"[212]

Mit einer Selbsttötung will der Betroffene ein Zeichen der Anklage setzen: "Ihr habt mich nicht geliebt!" So ist diese Gesellschaft beschaffen, daß Menschen in ihrer Mitte vereinsamen und sich umbringen müssen! "Ich möchte nicht hier in der cité radieuse sterben; ich möchte nicht wie die anderen vom maison neuf in das Spital eingeliefert werden und mich dort alleine fühlen und mich nach Liebe und Harmonie sehnen, bis der Tod meiner Existenz ein Ende setzt. Wenn dies wirklich eine unausweichliche Realität für mich ist, so möchte ich lieber freiwillig den Tod wählen. Ein Selbstmord reißt eine Wunde auf, er zeigt, daß etwas nicht in Ordnung ist an meinem sozialen Glück."[213]

Dies ist ein trauriger Trugschluß. Selbsttötungen als Proteste gegen soziale Mißstände werden als Protest gar nicht anerkannt. Ich denke an die häufigen Selbsttötungen im Strafvollzug. Sie bewirken keinen besseren Strafvollzug. Denn die Fachleute, die Psychiater etwa, die sich die Autorität angeheftet haben, über normales und krankhaftes Verhalten entscheiden zu können, werden eine Selbsttötung immer als "krank" interpretieren. Und auch die Öffentlichkeit versteht eine Selbsttötung nicht als Protest, sondern als krankhafte Handlung einer krankhaften Person.

Selbsttötungen Behinderter sind - gesellschaftlich betrachtet - nichts anderes, als eine gegen das eigene Ich gerichtete Euthanasie. Der sich minderwertig Einstufende besorgt an sich selber, was andere gerne an ihm vollzogen sähen.

Suizidgefährdet sind weniger die Körperbehinderten als die körperlich Entstellten (und natürlich die seelisch Behinderten!). Körperbehinderte sind weniger aggressiv als andere, weil sie zum Verzichtdenken erzogen wurden, zum demütigen Annehmen des Schicksals. Daß sie oft den Tod ihrem Dasein vorziehen würden, ist bekannt. Viele Behinderte spielen mit dem Gedanken, sich umzubringen, haben schon an Selbsttötung gedacht. Doch wenige trauen sich darüber zu sprechen, weil sie Angst haben, das Aussprechen von Selbsttötungsgedanken könnte sie ihren Helfern entfremden.

Selbsttötungsankündigungen sind SOS-Rufe. Unsere Antwort kann nur sein, die Lebensbedingungen zu verbessern, ein Klima der Menschlichkeit zu schaffen und Gemeinschaft zu halten. Das ist auch eine politische Aufgabe, denn die Maßstäbe, an denen der Wert oder Unwert eines Menschen gemessen und nach denen er isoliert wird, sind das Ergebnis politischer Entscheidungen.

2. Die Sexualität Behinderter

Sexualität als Lebensenergie

Bis zum Tode empfindet sich der Mensch als ein geschlechtliches Wesen. Nur beim Behinderten soll es anders ein, wird das Widernatürliche als natürlich ausgegeben: Der Behinderte gilt als geschlechtsloses Wesen.

Sonderpädagogen und Fachleute beschäftigen sich seit einigen Jahren häufiger als früher mit der Sexualität Behinderter. Die überwältigende Erkenntnis dieser Forschung: Auch Behinderte haben sexuelle Empfindungen! Seitdem forschen nichtbehinderte Experten, das Besondere in der Sexualität Behinderter zu ergründen, so, als seien Behinderte eine eigene Rasse, als sei die Sexualität Behinderter von der ihren unterschieden.

Wir wissen heute, daß die Sexualität zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört, genauso wie Essen und Trinken. Wir wissen, daß sich Sexualität nicht auf "Sex", auf den Geschlechtsverkehr, reduzieren läßt. Denn in jeder Zärtlichkeit, in jedem angenehmen und lustvollen Empfinden, in jeder liebevollen Begegnung ist auch Sexualität. Sie ist eine Energie, eine Kraft, Freude zu empfinden. Sexualität motiviert uns, auf andere zuzugehen, von anderen bestätigt zu werden und sich bei anderen zu bestätigen. Sie ist damit auch eine Triebfeder zu sozialem Verhalten.

Sexualität, als Energie Beziehungen aufzunehmen, Zärtlichkeit, Liebe zu erfahren, motiviert Behinderte nicht anders als Nichtbehinderte. Es gibt keinen Anlaß, eine spezielle Sexualpädagogik für Behinderte zu schreiben. Die Tatsache, daß viele Behinderte beim Geschlechtsverkehr ihre Praktiken und Techniken ihrer Behinderung anpassen müssen, ändert daran nichts. Jeder muß ausprobieren, wie er seinen Partner am intensivsten erfahren kann und wie er am intensivsten erfahren wird.

Der Behinderte ist nicht anders, aber anders erzogen - Erziehungsfehler, die Behinderte behindern

Für die Entwicklung eines Kindes ist es entscheidend, wie es von seinen Eltern angenommen und geliebt wird. Nun erfahren die Eltern behinderter Kinder die Geburt als Schock. Sie reagieren meist mit Ablehnung und Abwehr. Nachbarn, Arbeitskollegen, Schwestern und Ärzte lassen die Eltern spüren, daß ein behindertes Kind ein Unglück sei.

In dieser Atmosphäre spürt das Kind, daß es den Erwartungen nicht entspricht. Angst, Unruhe und Sorgen der Eltern übertragen sich, verhindern, daß das Kind ein positives Verhältnis zu seinem Körper gewinnt. Wird es gar abgelehnt, wächst es ohne die nötige Zuwendung, ohne Hautkontakt und ohne Zärtlichkeit auf.

Ein Kind muß gestreichelt, liebkost, in die Arme genommen werden. Ein Kind, das geliebt wird, kann später auch selbst lieben. Wer nicht geliebt wurde, hat es später schwer, einen Partner zu lieben. Er hat viele Defizite, fühlt sich zu kurz gekommen und hat nicht gelernt abzugeben.

Wer nicht abgeben kann, macht häufig die Erfahrung, daß sich andere von ihm abwenden. Derjenige, der große Liebesdefizite hat, klammert sich an den ersten, besten (?) Partner. Er erdrückt ihn richtig, will ihn ganz für sich, besetzt ihn, bestimmt ihn und je mehr sich der Partner abwendet, desto heftiger versucht er, ihn an sich zu pressen. Soll es eine gute Beziehung werden, in der sich beide aufgehoben fühlen, muß sich jedoch auch der Partner entfalten können. So gehen viele Beziehungen zu Bruch, weil sich der eine des totalen Zugriffs des anderen erwehrt. Und je häufiger der Partner, der nie angenommen war und damit nicht annehmen kann, einen Partner verliert, desto vehementer wird er zugreifen, an sich pressen, weil er das Trauma ("Wunde") des Verlassenwerdens erfahren hat. Die Angst, verlassen zu werden, führt zum Verlassen-Werden.

Eltern behinderter Kinder erziehen ihre Kinder häufig asexuell. Sie haben, aufgrund ihrer eigenen Erziehung, ein schlechtes Verhältnis zur eigenen Sexualität und unterliegen zugleich dem Vorurteil der Umwelt, ein behinderter Körper sei ein minderwertiger Körper. Alles, was mit diesem Körper zu tun hat, wird ignoriert.

Wichtig wäre beispielsweise, jede Prüderie abzustreifen, wichtig wäre, daß Nacktheit zwischen Eltern und Kindern etwas normales wird. Nacktheit zwischen Eltern und Kindern ist notwendig, um ein natürliches Verhältnis zum fremden und zum eigenen Körper zu finden.

Ein Beispiel: Ein Mann von dreißig Jahren hat noch nie eine Frau nackt gesehen. Er ist behindert und wünscht sich natürlich nichts sehnlicher als die Beziehung zu einer Frau. Er kauft sich Pornohefte, die er versteckt. So wachsen seine Schuldgefühle, weil er denkt, etwas Verbotenes und Unanständiges zu tun.

Der junge Mann ist in einer Gruppe von Behinderten und Nichtbehinderten. Er ist unfähig, zu werben, zu flirten, Gespräche zu führen, in Ruhe eine Bindung wachsen zu lassen, denn er ist ja darauf konzentriert, endlich eine Frau nackt zu sehen. Ein Mädchen aus der Gruppe besucht ihn. Er fordert es ohne Umschweife auf, sich auszuziehen, er habe noch nie eine nackte Frau gesehen.

Das Mädchen fühlt sich durch die Direktheit abgestoßen. Weil er ein "Behinderter" ist (hier haben wir den unnatürlichen Umgang, der aus dem Schonverhalten stammt), läßt es die Geschichte auf sich beruhen.

Aber welche Verhaltensmöglichkeiten hatte er gehabt? Wie hätte er sich einer Frau gegenüber verhalten sollen? Er hatte ja nie Umgang mit Frauen, war nie natürlich mit ihnen aufgewachsen, war ganz reduziert, endlich einen nackten Frauenkörper zu sehen.

Die falsche Scham, sich den Kindern nackt zu zeigen, verhindert natürlich auch, daß kleinere Kinder den Penis des Vaters, die Brüste oder die Scham der Mutter anfassen dürfen. Dies wäre für die Entwicklung des Kindes aber förderlich:

"Nun haben gerade kleinere Kinder aber auch das Bedürfnis, alles anzufassen. Begreifen, Tasten und Fühlen sind für das Kind wichtige Möglichkeiten, um Gegenstände kennenzulernen. Sieht es nun Vater oder Mutter nackt, dann ist es nicht ungewöhnlich, daß das Kind Vater und Mutter anfaßt; und weil für das Kind - wenn es bisher nicht falsch erzogen wurde - alle Körperteile gleichwertig sind, macht es z. B. zwischen der Nase des Vaters keinen Unterschied zu seinem Glied und möchte es ebenfalls anfassen, um es kennenzulernen. Viele Eltern schrecken bei einem solchen Wunsch des Kindes zurück, halten es vielleicht gar für sexuell verdorben oder bestrafen es dafür. Das aber würde nur wieder für das Kind bedeuten, daß diese Körperteile nicht >gut< sind, weil sie nicht angefaßt werden dürfen und Strafe dabei zu erwarten ist. Das Kind hat an den Geschlechtsorganen der Eltern kein anderes Interesse als an den anderen Körperteilen auch. Deshalb sollte das Kind, wenn es bei irgendeiner Gelegenheit (Baden, Anziehen, usw.) das Glied oder die Brüste berühren möchte, ruhig die Geschlechtsorgane seiner Eltern ansehen und auch anfassen dürfen. Bei einer völlig normalen Reaktion seiner Eltern, also weder Strafe noch besonderes Aufmerksammachen, hat das Kind bald seine Neugier befriedigt, wird sich anderen Dingen zuwenden und hat ein Stückchen mehr von seiner Umwelt positiv erobert."[214]

Die mangelnde Sexualaufklärung ist nicht nur ein Problem von Eltern Behinderter. Hier kommt jedoch ein behindertenspezifisches Problem hinzu, daß nämlich Eltern Behinderter ihr Kind nicht aufklären, weil sie denken: "Es wird ja sowieso keinen Partner finden." Eltern meinen tatsächlich, ihr Kind werde keine sexuellen Gefühle und Wünsche entwickeln, wenn sie nicht davon sprechen. Sie sind dann ganz erstaunt, daß sie die Wünsche nur steigern, weil das Unbekannte, Verschwiegene, Tabuisierte ja besondere Sensationen verspricht.

Eine behinderte Ehefrau schilderte mir einmal sehr anschaulich, daß mangelnde (oder fehlende) Aufklärung mit der Ablehnung der Behinderung in Zusammenhang steht: "Ein Thema war bei uns immer tabu, die Sexualität. Ich wurde von meinen Eltern nie aufgeklärt. Als ich in das Rehabilitationszentrum kam und dort die Berufsgrundschule besuchte, wurden wir gut aufgeklärt. Als ich das freudestrahlend meiner Mutter erzählte, daß ich jetzt aufgeklärt sei, sagte sie nur: >Na, dann weißt du ja, was du nicht zu tun hast.<"

Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende: "Als ich dann verheiratet war und mal wieder zu einem Frauenarzt gehen wollte, um die Bestätigung zu bekommen, daß ich auch wirklich gesunde Kinder bekommen kann, bekam ich diese Bestätigung auch von diesem Arzt. Ich war überglücklich und rief sofort meine Mutter an und erzählte es ihr. Ihre Antwort auf diese, für mich sehr schöne Nachricht: >Wenn das geschieht, dann ist das mein Tod.<"

Eine behinderte Frau (Muskelschwund) berichtet, ihre Eltern und Geschwister glaubten, sie hätte nie sexuelle Gefühle, wisse nicht mal, was das sei. Treffe sie sich zu Hause mit einem (nichtbehinderten) Mann, stürze immer wieder ein Familienmitglied ins Zimmer, nicht, um "sexuelle Handlungen" zu verhindern, nein, aus Ahnungslosigkeit, weil niemand daran denkt, sie könnte sich küssen oder gar mit Petting beschäftigt sein.

Ihr Verhältnis zur Sexualität ist folgerichtig angstbesetzt: "Petting im Rollstuhl ist bereits schwierig, noch dazu, wenn man ein Stützkorsett tragen muß. Läßt man es sich ausziehen und zieht es irgendwie anders wieder an, fällt es später sofort zu Hause der lieben Mutter auf. Einer Mutter, die nichts wahrhaben will, solche Momente zu schildern, ist für meine Begriffe schlimmer als vor einem Mann nackend zu liegen und sich zum ersten Mal überhaupt hinzugeben."[215]

Wo Sexualität negativ besetzt ist (auch kein behindertenspezifisches Problem) werden Liebe und Sexualität zum Gegensatz erklärt: "... ich leide nicht sonderlich darunter, daß ich mich nicht auf dem Sex-Gebiet abreagieren kann, aber ich sehne mich danach, in den Arm eines Mannes genommen zu werden, der mich irgendwie trösten kann, der meine Hand hält, der mich streichelt, der an mich denkt, für mich da ist, mit dem ich über alles reden kann, der versucht, mich zu verstehen."[216]

Besonders die Eltern geistig Behinderter tun sich schwer, anzuerkennen, daß ihr "Kind" ein Mensch mit sexuellen Bedürfnissen ist.

Manchmal sollen sogar Psychopharmaka die sexuellen Bedürfnisse eindämmen:

"Unser behinderter Sohn, 24 Jahre alt, wird mit seinen Problemen nicht mehr fertig. Er möchte auch eine Freundin, er möchte heiraten und ein Baby haben wie seine Schwester und sein Schwager. Es kommt kein anderer Gedanke bei ihm auf, er redet den ganzen Tag ununterbrochen darüber. Ich versuche immer wieder, es ihm auszureden, aber dann bekomme ich zur Antwort: >Sag's doch gleich, daß wir dumm sind und uns niemand will.< Mein Sohn ist nicht sehr behindert und sehr unglücklich über seine Situation. >Wenn ich gewußt hätte, daß ich so bin, dann hätte ich lieber gar nicht leben wollen<, ist ein häufiger Ausspruch von ihm. Das bedrückt mich natürlich sehr. Wie könnte man ihm helfen? Welche Erfahrungen haben Sie? Gibt es ein Mittel, das die sexuellen Wünsche etwas dämpfen kann, ohne ihm gesundheitlich zu schaden und die übrigen Reaktionen zu stark zu beeinträchtigen?"[217]

Diskriminierung durch Fachleute

Es wäre zu einfach, die Eltern zu den Schuldigen zu küren, wenn Behinderte in ihrer Sexualität keine positive Lebensenergie, sondern etwas Schlechtes, Schuldhaftes sehen. Denn die Eltern sind ein Produkt ihrer Umwelt und durch Fachleute erzogen.

Einen Anteil an den Mißständen sexueller Erziehung hat offensichtlich die Sonderschule: "Ein Großteil der Zeit und Energie von Eltern und Erziehern erschöpft sich in einer Bewacherfunktion, um eine Trennung der Geschlechter aufrechtzuerhalten und die heranwachsenden oder bereits erwachsenen Behinderten unter ständiger Kontrolle zu haben."[218] Fatales Ergebnis dieser Kontroll-Pädagogik: "Ein Mädchen dachte, sie sei schwanger, weil sie irgendwer im Abstellraum geküßt hatte. Aber darüber redete man nicht mit den Erziehern, denn man wußte ja nie, wie sie reagieren würden ..."[219]

Die Erzieher berufen sich auf die Behinderung ihrer Arbeit durch Gesetzgeber und Rechtsprechung: "Solange es genügt, wenn ein Lehrer einer Schülerin übers Haar streichelt, um ihm einem Disziplinarverfahren auszusetzen und Lehrern empfohlen wird, bei Filmvorführungen sich nicht an die Bank einer Schülerin anzulehnen, müssen wir es als die Regel nehmen, daß auch Lehrer in Schulen für Behinderte eher auf Distanz als auf emotionale Zuwendung, die Körperkontakte einschließt, hin tendieren."[220]

"Wohl gibt es einzelne Idioten, die zu weinen anfangen, wenn die Töne eines Instruments ihr Ohr berühren, im Allgemeinen aber werden sie durch Musik heiter gestimmt. Viele prägen sich auch mit Leichtigkeit die gehörten Melodieen ein. Daher gestatte man gern, wenn nicht etwa Bläserchöre unter den Angestellten sind, dem vorüberziehenden Leiermann den Eintritt. Seine Töne werden vielleicht auch die Füße in Bewegung setzen. Diesen Tanz (bei Vielen nur ein Hüpfen) gestatte man gern, wenn die Geschlechter geschieden sind."

H. Sengelmann: Idiotophilus. Systematisches Lehrbuch der Idioten-Heilpflege, Norden 1885, S. 241.

So angreifbar der Staat in seiner Gesetzgebung ist, wir dürfen nicht übersehen, daß es die Fachleute der Behindertenarbeit waren, die Behindertenpädagogen, die den Behinderten Sexualität absprachen oder besondere Triebhaftigkeit nachsagten. Die Literatur bietet das Verklemmteste, was sich zum Thema Sexualität auftreiben läßt:

Sublimierung des Triebes im Sinne des christlichen Zölibates wurde empfohlen, reizlose Kost, hartes Bett, lebenslängliche Jungfräulichkeit, geschützte Räume.[221] Noch 1977 gab der Rehabilitationsverlag in Bonn einen Wälzer von 400 Seiten heraus: "Sollen, können, dürfen Behinderte heiraten?" Heiliger Hippokrates, wie können so viele Fachleute, Professoren, Praktiker, Sonderpädagogen, Theologen so dumm fragen? Schlaumeier, wie einige sind: Behinderte können, mit Einschränkungen, Bedenken, Zweifeln tatsächlich heiraten. Denn der Behinderte hat einiges - kompensatorisch, das heißt: "ausgleichend" - zu bieten: "Gemüt, Anhänglichkeit, Dankbarkeit, Entgegenkommen, Bereitschaft zum harmonischen Zusammenleben."[222] Es sind allesamt Eigenschaften, die den treuen Haushund auszeichnen.

Wir können uns nicht wundern, wenn in der Öffentlichkeit Vorurteile gegenüber Behinderten vorherrschen, wenn sie von den Fachleuten propagiert werden. Da fragt ein Arzt die Frau eines Behinderten, wie das denn möglich sei, über Jahre mit einem Behinderten zusammenzuleben, wo doch Behinderte impotent seien?

Da erklärt ein Psychotherapeut vor Behinderten und ihren nichtbehinderten Ehepartnern, ihre Motive (mit einem Behinderten zusammenzuleben) seien, analytisch gesehen, natürlich sehr verdächtig.

"Der Sexualtrieb ist bei einem Teil der Behinderten nicht oder nur gering ausgebildet, bei anderen übermäßig ... Bei geistig Behinderten finden sich exzessive Onanisten, die ohne jede Rücksicht auf die Umgebung den Akt vollziehen ... Viele Behinderte werden schon früh mißbraucht. Um das 10. Lebensjahr schließen sich sexuell interessierte Mädchen öfter zu Gruppen zusammen, deren einziger Zweck der Austausch von Erfahrungen ist ... Allmählich wird der Geschlechtsverkehr zu einer Gewohnheit, durch die gleichzeitig materielles Gewinnstreben, Kontaktbedürfnis und sexuelle Lustbefriedigung gesättigt werden können."

Fritz Holzinger: Sonderpädagogik, Wien 1978, S. 182.

Da wird einer ganzen Bevölkerungsgruppe das Normalste, die Sexualität, abgesprochen. Der Nichtbehinderte, der sich mit einem Behinderten einläßt, sexuell verkehrt, wird gleich mitgeächtet. Denn mit den gesellschaftlich Ausgemusterten läßt man sich eben "normalerweise" nicht ein. Das kann nicht normal sein. Die Methode ist nicht neu: "Man" heiratet auch keinen Neger, Kanaken, Strafgefangenen, Psychisch Kranken - oder früher: keinen Juden.

So muß man das Entsetzen von Eltern verstehen, wenn Tochter oder Sohn antreten, sie wollten einen Behinderten/eine Behinderte heiraten. Ein Nichtbehinderter hat das beschrieben: Er wollte mit seiner behinderten Frau zu den Eltern kommen. Keine Antwort. Dann reisen die Eltern in Urlaub. Die beiden fahren, gegen den Rat des Schwagers, nach. "Mutter weinte und sagte: >Nein sowas nicht, sowas nicht, was du uns antust.< Beim Nachtessen wurde es immer schlimmer, Vater versank in sich, Mutter weinte und sagte: >Kommt bloß nicht nach Hause, tut uns das nicht an.< Die Eltern hatten Angst, das könnte man wissen in Regensburg. Am Morgen fuhren sie weg, bevor Therese aufgestanden war. Im Bad sagte mir Mutter: >Also ich versteh dich einfach nicht, bist du verrückt, willst du das ganze Leben lang Pfleger sein, es gibt doch andere Formen von Betreuung.<"[223]

Dabei ist Therese eine außergewöhnlich schöne Frau, von Ausstrahlung, Intellektualität, liebens- und begehrenswert. Aber sie ist eben behindert.

Der Behinderte ist als Geschlechtspartner nicht vorgesehen, weil er von Geburt an aus dem allgemeinen Leben ausgemustert wurde. Man kann sich nur ein Pflegeverhältnis vorstellen: »Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch, daß eine Reihe von Leuten der Meinung waren, daß meine Frau den Beruf einer Krankenschwester ausgeübt hätte. In ihren Überlegungen schwang hierbei sicherlich mit, daß dieser Beruf sstand wohl besonders dafür prädestiniert erscheint, einen Körperbehinderten zu heiraten."[224]

Weitere Aussagen dazu: "Als ob es nicht genug andere Männer gäbe! ... Es ist doch nicht Ihr Ernst, freiwillig ein Leben lang einen Rollstuhl vor sich herschieben zu wollen!"[225]

Schon früh wird es den Kindern eingeimpft. Da begegnet ein 14jähriger Kleinwüchsiger einem 13jährigen Mädchen. "Ich glaube, ich weiß, warum du oft so traurig bist", sagt das Mädchen, "du hast wohl Angst, daß du keine Frau bekommst."[226]

Der Behinderte hat keine andere Sexualität als der Nichtbehinderte. Aber Vorurteile prägen und bestimmen schließlich sein Verhalten, züchten Minderwertigkeitsgefühle. Am Ende glaubt der Behinderte, was ihm aufgeschwatzt wurde: "In die Rolle von Wohltätern möchten neuerdings sogar Körperbehinderte ihre Ehepartner drängen. Ein namhafter Selbsthilfeverein hat kürzlich ein Aktionsprogramm verabschiedet, in dem ein Verdienstorden für die Ehepartner von Schwerst-Behinderten gefordert wird, der sie für ihren >schweren Dienst< am Versehrten entschädigen soll."[227] Hier spricht der Sender "unterdrücktes Bewußtsein".

Die Ideologie vom schönen Körper - Warenästhetik

Unsere Bedürfnisse werden von der Industrie gesteuert. Was begehrenswert ist, zeigt uns die Werbung. Wir orientieren uns nicht mehr an Inhalten, Werten, wir orientieren uns an der schönen Verpackung, seien es Waren, seien es Menschen.

Ein Behinderter: "Man muß ganz schön klar sehen, daß die äußeren Erscheinungsformen vieler Behinderungen, seien es nun Unstimmigkeiten der körperlichen Proportionen, eine Skoliose, verkrüppelte Hände oder Füße, das Fehlen von Gliedmaßen, Sprachstörungen oder deren orthopädische Folgen wie Rollstuhl, Krücken, Schienen, Prothese oder Korsett ganz und gar nicht mit dem heutigen, von den Massenmedien publizierten und gepriesenen Schönheitsideal vereinbar sind. Und in einer zweigeschlechtlichen Beziehung spielt das ansprechende Äußere des einen Partners für den anderen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ein wichtiger Teil dieses Verhältnisses baut darauf auf: die Sexualität."[228]

Ursula Eggli, Schriftstellerin, selbst behindert ("Wir sind keine Frauen, die Männer in Verwirrung setzen."[229]), formuliert es noch schärfer: "Wenn ich dann an die Cerebralgelähmten denke, die zuckend ausschlagen, wenn sie zärtlich streicheln wollen und lallen, wenn sie liebevolle Worte flüstern wollen möchten. Die klein und verschrumpelt, verzerrt und verkrüppelt sind statt hübsch und stark und gesund, wie es das Wunschbild vorgaukelt, die Erwartung vorschreibt. Du Spastiker, du Gelähmter, Amputierter, du Kleinwuchs, du Krüppel, mißgestalteter Troll, idiotischer Invalider - laß es sein, gib es doch auf, halte dich endlich an die Vorstellungen, die sich ein jeder von dir macht: Du bist ein geschlechtsloses Wesen, nicht Mann, nicht Frau - geschlechtslos!"[230]

Ihr Bruder Christoph erkannte das Ausmaß seiner Behinderung, als er Liebesbeziehungen anknüpfen wollte:

"Dadurch habe ich gemerkt, daß ich nicht dem Ideal entspreche. Ich habe mich dann vor allem mit Männern verglichen, die gut ausgesehen haben. Ich habe sehr kurze Arme und Beine, und von der Seite sehe ich nicht gut aus, weil man da mein Korsett gut sieht. Zudem hatte ich bis vor zwei Jahren keinen Bart, während meine gleichaltrigen Kollegen alle schon längst einen hatten. Und ich hatte dann auch eine Zeitlang das Bedürfnis, mich möglichst viel im Spiegel zu sehen und Positionen auszuprobieren, wie ich am besten aussehe, aber meinen Körper habe ich noch nie ganz im Spiegel gesehen. Aber ich weiß auch, daß ich einen dicken Bauch habe, und meine Füße und die linke Hand habe ich nicht gern, weil sie krumm sind. Und das alles wurde mir vor allem dann bewußt, wenn ich mich verliebte. Das war zum ersten Mal in Affoltern. Ich verliebte mich in ein behindertes Mädchen, das auch in diesem Heim war und mußte dann einmal zuschauen, wie sie von ihrem Freund abgeholt wurde - sie küßten sich und flirteten, und ich war dabei."[231]

Der Behinderte hat im Vergleich mit einem Nichtbehinderten verloren. Eine Erfahrung, die viele Behinderte gemacht haben.

Enteigneter Körper - enteignetes Bewußtsein - Verzichtdenken und Leistungszwänge

Die meisten Behinderten wurden erzogen, ihr Körper habe einen Defekt, einen Mangel: "Weil du so bist wie du bist, mußt du verzichten." Niemand verzichtet freiwillig. Behinderten wird das Verzichtdenken von früh auf eingetrichtert: "Heiraten wirst du nie", hat man ihnen beigebracht, "Sexualität ist nichts für dich." Und aus Angst, es könnte so sein, bauen nicht wenige einen Schutzwall um sich, eine Mauer der Unnahbarkeit. Die Angst vor der Enttäuschung ist groß (und nicht unberechtigt): "Ich war in meinem Leben nicht so oft verliebt. Da ich weiß, daß es doch immer einseitig ist, habe ich mich natürlich gegen solche Gefühle gewehrt. Schon als junges Mädchen von 15, 16 Jahren war ich sehr vernünftig. Ich habe versucht, eine Mauer um mich herum aufzurichten, und das ist mir auch ziemlich gut gelungen. So gut, daß meine Freunde denken, ich sei erhaben über solche Sachen wie Liebe, über den Dingen stehend."[232]

Verzichtdenken bedeutet, sich als Partner aufzugeben, große Erwartungen in die Schublade zu packen: "Ich studierte somit den samstäglichen Heiratsmarkt einer örtlichen Tageszeitung. Dabei ging ich davon aus, daß es sich um eine möglichst einfache Annonce handeln müsse, in der an den Partner keine besonderen Wünsche oder Anforderungen gestellt wurden."[233] Die Aussage einer nichtbehinderten Frau: "Da er nach seinen Aussagen nie damit gerechnet hatte, je einmal zu heiraten, konnte er nun lange nicht verstehen, daß jemand trotz allem glücklich war, mit ihm zusammenzuleben. Nach langen Gesprächen gelang es mir, ihn davon zu überzeugen."[234]

Besonders betroffen sind jene, die durch einen Unfall behindert wurden, denn sie sind mit dem Klischee vom gesundheitsstrotzenden Menschen aufgewachsen. Ein Mann, Kraftfahrzeugschlosser-Lehre, dann Fernfahrer, dann mit 24 Jahren Autounfall, Amputation beider Beine, verkraftet dies nicht: "Mir vorzustellen, ich würde, so wie ich nun aussah, mit ihr im Bett liegen, machte mich sowieso impotent. Ich konnte ihre Liebe, ihr Verstehen, ihre Freundlichkeit nicht mehr ertragen, und die Freunde von früher, wenn sie kamen und erklärten: >Das kriegen wir schon wieder hin<, hätte ich am liebsten erschossen. Ich wollte nicht nach Hause, ich wollte nicht der Verstümmelte sein, ich wurde böse, höhnisch, kränkend, aber es nutzte nichts."

Sein Selbsthaß kennt kaum Grenzen: "... ich bin ein Torso. Ein paarmal bin ich heimgefahren. Einer meiner Fußballfreunde hat mich in den dritten Stock in unsere Wohnung getragen - ich habe geweint, wie ich auf meinem Bett lag, vor Scham und Ohnmacht. Hannelore war wie eine Krankenschwester - und sie hatte Angst -, am liebsten hätte ich die Bettdecke hochgeschlagen und die Stümpfe gezeigt, und ich merkte, wie sie davor Angst hatte. Wir haben uns an den Händen gehalten, jeder Tag wurde schlimmer als der vorige. Aber ich konnte meinem Zustand nicht entfliehen."[235]

Diese Ehe ist gescheitert. Seine Männlichkeit war durch die Amputation zu tief verletzt. Er wollte sich während eines Urlaubs im hoteleigenen Schwimmbad das Leben nehmen, doch vier Stufen trennten ihn vom Bassin. Böse Ironie: Die baulichen Barrieren wurden zum Lebensretter.

Nicht nur die Nichtbehinderten, auch die Behinderten, und gerade sie, unterwerfen sich der Warenästhetik und ihren Normen, denen sie leidend erliegen müssen. Viele Behinderte wollen keinen Behinderten als Partner: "Wir Behinderten sehen uns selbst viel zu sehr mit den Augen unserer Mitmenschen ... Darum erscheint dem Behinderten oft der unversehrte Ehepartner als das erstrebenswerte Ziel aller Erwartungen und Träume: die Ehe mit einem Auch-Behinderten wird nur als >zweite Wahl< angesehen, auf die man sich nur dann verläßt, wenn man das Traumziel nicht erreichen kann."[236]

Seit Jahren verfolge ich die Kontakt-Anzeigen einer Behindertenzeitschrift. Es sind Dokumente des Selbsthasses, wo sich Behinderte als brav und lieb anpreisen: "Bin zu 50% körperbehindert", steht da, "man sieht es mir jedoch nicht an. Ich bin nicht wählerisch." Oder: "... leider durch Unfall gehbehindert, sonst angenehme Erscheinung."[237] Oder: "... ich bin zwar Rollstuhlfahrer (38 Jahre, kein Querschnitt), aber dafür sehr lieb."[238] Und manchmal werden dabei eben auch andere Behinderte diskriminiert: "Sie kann auch leichtbehindert sein, nicht im Rollstuhl."[239]

Ich bin zwar Rollstuhlfahrer, aber wenigstens kein Querschnitt, so spricht der Behinderte, dem man von Kindheit an beibrachte, sein Körper sei minderwertig. So spricht der Behinderte, dem man das eigene Bewußtsein nahm und es durch ein fremdes Bewußtsein ersetzte.

Nicht nur der Behinderte, wir alle unterliegen den gesellschaftlichen Normen, die uns einflüstern, wer sexy ist und sexuell etwas leistet. Gerade den Frauen wird täglich von der Werbung vor Augen geführt, wie die ideale Frau auszusehen hat. Doch wer sieht schon aus wie ein Mannequin? Und wer von jenen, die dieses Idealbild anstreben, käme auf die Idee, die Mannequins als Opfer zu bedauern, obgleich bekannt ist, daß sie ihre Haut nicht lange zu Markte tragen, daß man sie angesichts der ersten Falten wegwerfen wird wie eine Einwegflasche.

Die "sexuelle Befreiung", nichts anderes als ein Werbeslogan der Sex-Industrie, die mit unserer Verklemmung Geschäfte macht, hat keine Befreiung, sondern neue Leistungszwänge beschert. Die Erfolgs- und Konkurrenzzwänge verlangen Hochleistungen: Der Penis muß möglichst lang sein und möglichst lange erigiert bleiben können. Eisernes Muß jedes Zusammenseins ist der Orgasmus. Mit gespannter Ängstlichkeit achten beide darauf, daß die Genitalien gut funktionieren, oft genug mit der Folge von frühzeitigem Samenerguß, Orgasmusunfähigkeit, Erektionsstörungen. Ein Betriebsschaden der Orgasmustechniker, die meinen, ein stattlicher Penis und gute Technik führten zum Orgasmus: "Um die wichtigsten für sexuelle Reizung sensiblen Stellen bei der Frau zu erreichen, reicht tatsächlich auch ein kleiner Penis ... Der Penis sollte nicht wichtiger und nicht unwichtiger genommen werden als die vielen anderen Attribute und Aspekte, die Weiblichkeit und Männlichkeit im sexuellen Sinn ausmachen. Sicherlich sind Schweißfüße störender als ein paar fehlende Zentimeter."[240]

Besonders schwer haben es die Frauen. Eine Frau soll für den Mann schön sein (ein Blick in die Frauenzeitschrift zeigt, welches Schönheitsmodell gerade auf dem Markt ist), attraktiv, begehrenswert. Sie hat gelernt, ihren Körper herauszuputzen und sich ganz auf den kommenden Ehepartner einzustellen. Eine Frau ist nicht in erster Linie Frau, sondern Ehefrau oder Beischlafgespielin. Eigene Werte braucht sie nicht, die Unterordnung unter den Ehepartner ist höchstes Ziel der Erziehung gewesen und ist es noch.

Behinderte Frauen sind doppelt behindert, als Frau und als Behinderte. Eine behinderte Frau wird als Frau kaum wahrgenommen, ist als Partner abgeschrieben.

Als wir an der Fachhochschule den Rollstuhltest machten, sagte nachher eine Studentin: "Ich stand allein vor dem Geschäft, hab dann die Männer angegrinst. Und die Jungen haben immer weggeguckt. Ich hab die Männer angegrinst wie sonst auch. Aber diesmal ist nichts zurückgekommen." Nachdenklich fügte sie noch hinzu: "Wenn mir das oft passieren würde ..." Eine andere Studentin sagte es kürzer: "Kein Bauarbeiter hat mir nachgepfiffen."

Frauen, die erzogen wurden, ein attraktiver Körper sei der funktionstüchtige, haben es unerträglich schwer, ihren behinderten Körper als attraktiv zu empfinden. Vielfach umgeben sie sich - davon war schon die Rede - mit der Aura der Unnahbarkeit. Sie vermeiden Situationen, in denen sie eine Ablehnung erwarten. So sehnen sie sich nach intimen Kontakt, verhindern ihn aber gleichzeitig durch ihre Unnahbarkeit.

Wie so oft ist dies leichter analysiert als gelebt. Denn eine Frau, die infolge einer Querschnittlähmung keine Kontrolle über ihre Blase hat, hat es objektiv schwerer, ihren Körper und sich attraktiv zu finden als eine Frau, die sich mit den gängigen Schönheitsvorlagen in Übereinstimmung glaubt. Eine Querschnittgelähmte:

"Meine Flirtereien mit Männern fanden immer in einer >geschützten< Atmosphäre statt, wie auf Sportwochen, in Rehabilitationszentren usw., wo also Männer waren, die in irgendeiner Weise beruflich oder persönlich in Behindertenproblemen engagiert oder selbst behindert waren. Ich bin sicher für Zärtlichkeiten von Männern offen, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze. Da ich meine Körperfunktionen von der Lähmung an nicht mehr beherrsche, fällt es mir auch schwer, ein positives Verhältnis zu meinem Körper und zu meiner Weiblichkeit zu haben. - Daher habe ich die Männer von einer bestimmten Situation an abgewiesen, sie nicht mit meinen Problemen vertraut gemacht ... und meine Sexualität einfach verdrängt. Übrig bleiben Träume und Wünsche nach einem Mann/Menschen, und dann doch wieder Ängste . . ."[241]

Die zärtlichste Liebesgeschichte fand ich in einer Schweizer Behindertenzeitschrift. Ursula Eggli beschreibt die Begegnung mit einer Freundin, wohl kein Zufall, daß es eine Begegnung zwischen zwei Frauen ist, weil Männer auf genitalfixierte Sexualität hin erzogen wurden:

"Wir haben ein bißchen getrunken, meine Freundin und ich. Whisky orange.

Durch eine ungeschickte Bewegung habe ich den Saft über mein Nachthemd vergossen, und wir haben sehr darüber gelacht. Dann hast du mir das feuchte Zeug ausgezogen. Nackt lag ich neben dir, und weil mir das komisch vorkam, hast du dich auch entblößt.

>Du bist so warm<, sagte ich, >... so rund, so weich. Du bist hübsch. - Ich bin nicht hübsch, nicht weich, nicht rund: Ich habe Knochen, wo keine sein müßten, eine krumme Figur und am ganzen Körper häßliche Druckstellen vom Korsett. Ich könnte auch nie zärtlich sein zu einem Mann, ich bin ja gelähmt. Ich kann nie einem Mann gefallen. <

>Das stimmt doch nicht<, sagtest du, meine Freundin, >Du hast doch Brüste und eine Vagina und alles, was eine Frau braucht. Du bist schön. <

Da waren wir zärtlich zusammen. Du hast meine Brüste liebkost und du hast mich geküßt. Du hast meinen Arm genommen und ihn um deinen Hals gelegt, so daß ich dich im Haar kraulen und dich streicheln konnte.

Es war ein schönes Erlebnis für mich, meine Freundin. Und auch für dich, nicht wahr? - Du weißt, ich würde gern mit einem Manne schlafen. Aber ich finde es auch schön mit einer Frau. Es kann sein, daß eine Frau eher fähig ist, meinen behinderten Körper zu lieben.

Vielleicht lernt es auch einmal der Mann, dann, wenn ich selber meinen Körper akzeptiert habe.

Und vielleicht sagt dann auch er: >Du bist schön, meine Freundin. Du hast Brüste und eine Vagina. Ich habe dich lieb. <"[242]

Selbstbefriedigung - keine pubertäre Durchgangsphase

Die Selbstbefriedigung (Masturbation) ist in der Entwicklung eines Kindes ein normaler Vorgang. Darüber sind sich die Pädagogen heute weitgehend einig. Die Selbstbefriedigung hat für die Entwicklung des Kindes eine wichtige Funktion, denn das Kind (dies gilt für nichtbehinderte wie für behinderte Kinder gleichermaßen) entdeckt seinen Körper, seine sexuellen Gefühle, erfährt seinen Körper als lustvoll. Es sind angenehme, wohlige, entspannende, freudige Gefühle. Das Kind wird deshalb Selbstbefriedigung von sich aus nicht als etwas Negatives sehen. Erst die Eltern flößen dem Kind Schuldgefühle ein, wenn sie die Selbstbefriedigung als etwas Schlechtes hinstellen.

Das Kind, der Jugendliche, wird sich trotz aller Verbote auch weiterhin selbst befriedigen, wenn auch mit einem schlechten Gewissen. Gewonnen ist damit für beide Seiten nichts. Der Junge, das Mädchen, erfahren bei der Selbstbefriedigung lustvolle Gefühle. Das heißt: Die eigenen Erfahrungen decken sich nicht mit dem, was die Eltern sagen. Die Schlußfolgerung liegt nahe: Deinen Eltern kannst du in den ganz persönlichen Fragen nicht trauen, du kannst nicht mit ihnen reden.

Kinder und Jugendliche gewinnen bei der Selbstbefriedigung ein positives Verhältnis zu ihrem Körper. Sie lernen: Durch eigene Aktivität ist es möglich, angenehme Erfahrungen zu machen. Bei den "Doktorspielen", sexuellen Berührungsspielen, gewinnen sie eine weitere Erfahrung. Nicht mehr der eigene Körper ist der Mittelpunkt, sondern der Partner (sei es der gleichgeschlechtliche oder der andersgeschlechtliche). Die beiden Geschlechter nähern sich, erfahren sich, entdecken sich, be-greifen sich. Hier mit Verboten dazwischenzufahren ist ein schwerwiegender Erziehungsfehler, weil der natürliche Umgang traumatisiert wird, als negativ vorgezeichnet wird. Verbote, zumal wenn man sie gar nicht einsehen kann, behindern nicht nur die gesunde Entwicklung zu einem kontaktfähigen Partner, sondern pervertieren das Lustvolle und Angenehme in Schlechtes und Unangenehmes. So werden natürliche Gefühle in die Dunkelzone der Begierden, Sehnsüchte und Phantasien abgedrängt.

"Große Vorsicht ist bei den Knaben, die Hang zur Selbstbefleckung haben, in der Anfertigung der Hosen, namentlich auch in der Anbringung der Taschen anzuwenden."

H. Sengelmann: Idiotophilus. Systematisches Lehrbuch der Idiotenheilpflege, a. a. O., S. 251.

Damit ist nicht dem hemmungslosen Austoben des eigenen Trieblebens Tor und Tür geöffnet, wie gerne behauptet wird. Im Gegenteil: Wer gelernt hat, mit seinem Körper umzugehen, den eigenen Körper als Lustquelle erfahren hat, kann viel leichter mit seinen Bedürfnissen umgehen, frei von Schuldgefühlen, die in Perversionen treiben. Verbote sind das Treibhaus sexueller Anormalität.

Viele Behindertenpädagogen (sofern sie das Thema nicht überhaupt ausklammern) sind heute bereit, die Selbstbefriedigung bei Kindern und Jugendlichen als Notlösung zu tolerieren. Es geht aber nicht um eine Notlösung. Gerade der Behinderte, an dessen Körper Ärzte und Therapeuten schon genug herumgewerkelt haben, erfährt in der Selbstbefriedigung seinen Körper als ihm ganz eigen. Er ist nicht nur Last, sondern auch Lust. Und wer sich selbst angenehm erfahren kann, kann auch eher Partner sein. Denn der kann andere positiv annehmen, der sich selbst zuvor angenommen hat.

Nun stört manche, daß es sich eben um Selbstbefriedigung handelt, wo Sexualität doch auf Partnerschaft angelegt ist. Sie tolerieren Selbstbefriedigung deshalb als eine Durchgangsphase der Pubertät, die dann jedoch in partnerschaftliche Sexualität überzugehen hat.

Ich möchte zu bedenken geben, daß eine Zweierbeziehung nicht davor schützt, daß einer Selbstbefriedigung mittels Partner betreibt. In vielen Ehen schreitet beispielsweise der Mann zum Geschlechtsakt, ohne auf die Frau Rücksicht zu nehmen, zu warten, bis es ihr auch Spaß macht. Hat er seinen Orgasmus gehabt, wird die Frau uninteressant. Er schläft ein, während sie unbefriedigt, als Lustobjekt gedemütigt, zurückbleibt. Die Zweierbeziehung allein verhindert die Eigenbefriedigung, die Selbstbefriedigung, nicht.

In jeder Liebesbeziehung trachtet jeder der beiden Partner nach Selbstbestätigung. Er will sich als liebenswert erfahren, will als Mensch und Geschlechtspartner bestätigt sein. Auch dies ist, wenn auch in einem anderen Sinne, Selbstbefriedigung. Denn in jeder Beziehung sind narzißtische Bedürfnisse, die befriedigt werden, Bedürfnisse, sich selbst durch einen anderen als begehrenswert zu erfahren.

Wenn Behindertenpädagogen sagen, Selbstbefriedigung sei eine zu tolerierende Durchgangsphase beim Jugendlichen, so müssen sie sich auch damit auseinandersetzen, wie es nachher weitergeht. Denn nachher, das ist realistisch der augenblickliche Zustand, bleiben viele Behinderte, Männer wie Frauen, allein, ohne Partner. Auch sie wollen ihren Körper als angenehm erfahren. Ich kann ihnen wohl schwerlich, als Nichtbehinderter, der mit einem Partner zusammenlebt, sagen, Selbstbefriedigung sei eine pubertäre Durchgangsphase. Dann sei aber Schluß.

Werfen wir einen Blick auf die Geschichte: Sexualität wurde in Verhaltensmuster gepreßt, wonach der Mann sich zunächst zu enthalten hatte, um dann zu heiraten, Kinder zu zeugen und die eheliche Gemeinschaft zu versorgen. Dies hat gesellschaftlich durchaus seine Funktion, weil menschliches Zusammenleben geordnet wird und die Nachkommen, die Arbeiter und Steuerzahler von morgen, gesichert sind. Ich will mich hier nicht mit einem kritischen Beitrag zu diesem Eheverständnis und den gesellschaftlichen Hintergründen aufhalten, ich will nur darauf hinweisen, daß wir unter diesen vorgegebenen Normen nicht gelernt haben, die Situation jener zu sehen, die in diesem Schema "unversorgt" bleiben. Selbstbefriedigung wurde doch gerade deshalb als negativ tabuisiert, weil hier der einzelne an sich selbst Lust erfährt und Sexualität nicht als Fortpflanzung verstanden wird. Moral ist kein ehernes Sittengesetz in mir, sondern mir anerzogen, um bestimmten Verpflichtungen nachzukommen, weil sie dem Staate nützlich sind, zum Fortbestand der Sozialgemeinschaft nützlich sind. Nur kann ich daraus keine Verpflichtung für alle machen.

Wer sich selbst befriedigen will, soll es sich so schön und angenehm wie möglich machen, nicht heimlich auf dem Klo. Er soll sich entspannt hinlegen. Vielleicht mag er dazu Musik hören. Wie wir beim Beischlaf in einer guten Beziehung ja auch nicht gleich »zur Sache« (zum Koitus) kommen, sondern unseren ganzen Körper miteinbeziehen, zärtlich uns streicheln, so sollte der, der sich selbst befriedigt, auch den ganzen Körper einbeziehen, sich streicheln und sich nicht stumpfsinnig mechanisch, zack-zack, selbstbefriedigen.

Was aber machen jene, die aufgrund ihrer Behinderung sich gar nicht befriedigen können, weil sie dazu manuell nicht in der Lage sind? In dieser Situation sind ja nicht wenige. Es gibt Behinderte, die ihre eigene Technik entwickelt haben, auch ohne den Gebrauch der Hände (durch Pressen, sich an etwas Reiben) zur Selbstbefriedigung zu kommen. Andere haben diese Möglichkeit nicht.

Ich weiß so wenig Patentrezepte wie sonst jemand, ich weiß nur, daß wir nur dann eine dem Behinderten gemäße Lösung finden werden, wenn wir die Offenheit gewinnen, darüber zu reden und die Probleme nicht einfach übergehen. Ich meine (dies ist mein Erkenntnisstand heute, morgen weiß ich vielleicht mehr), daß wir zuerst das Klima untereinander verändern müssen, daß sich unser Umgang ändern muß.

In einer Atmosphäre des Vertrauens und der Offenheit wird es möglich werden, daß ein Behinderter, der sich nicht selbst befriedigen kann, von einem anderen, der ihm vertraut und zugetan ist, befriedigt wird. Ich weiß, welche Ängste das auslöst, wenn man das Thema anspricht. Viele, die mit Behinderten umgehen oder selbst behindert sind, sind peinlich berührt, betreten, reagieren verschämt oder mit angstvoller Abwehr. Wir haben in der Behindertenarbeit diese Atmosphäre des Miteinander-Vertrautseins noch nicht, aber Ansätze dazu sind da, es gibt Gruppierungen, die auf dem Weg dahin sind. Es ist möglich, eine neue Qualität menschlicher Beziehungen zu erreichen. Dann wird es auch möglich sein, Probleme dieser Qualität zu lösen.

Sexualität im Heim

Alle meine Kinder

Jeden Abend im Bett kommen alle meine Kinder

Sie versammeln sich in meiner Nachthose

Dann werde ich von ihnen gefragt

Warum sie nicht geboren werden

Ich sage ihnen, daß ich ein Krüppel bin

Und keine Frau haben darf

Dann sind alle meine Kinder froh

Daß sie nicht in dieser Welt der Ungerechtigkeit leben müssen

Und lassen sich bei der nächsten Wäsche wegspülen

Jürgen Knop, Heimbewohner

Der Behinderte unterliegt im Behindertenheim den gleichen Einschränkungen wie ein Straftäter in einer Strafanstalt: Sexualität ist verboten, da kann der Behinderte so erwachsen sein wie er will. Die einen werden bestraft, weil sie kriminell wurden, die anderen werden bestraft, weil sie unproduktiv sind, "nutzlose Esser", "Ballastexistenzen", wie man bei den Nazis sagte. Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß behinderte Erwachsene ihre Sexualität nicht leben dürften. Und dennoch, nirgends sind Behinderte geschlechtslosere Wesen als in einem Heim.

Jürgen Knop, Spastiker, Heimbewohner: "Sprach man im vergangenen Jahrhundert von der sogenannten >Krüppelseele<, die in ihren sexuellen Begierden kein Maß kenne, so werden heute sexuelle Wünsche totgeschwiegen. Deshalb wunderte ich mich auch nicht, als mich eine nichtbehinderte Bekannte fragte, ob wir auch sexuelle Gefühle haben."

Bei einer Umfrage in Schweizer Heimen wurde von den Heimleitern die Sexualität der Heimbewohner schlichtweg geleugnet: "Die Problematik haben wir nicht, da die Leute sehr schwer körperbehindert sind ... Wo es vereinzelt zu Problemen kam, wurde das mit dem Arzt oder dem Seelsorger besprochen. Überhaupt wird heute auf der ganzen Welt die Sexualität hochgespielt. Ich sehe keinen Sinn darin, auch noch die Körperbehinderten damit zu konfrontieren, sie haben schon genug Probleme."[243] Es ist also die pure Menschenfreundlichkeit, pflegerische Verantwortung, die regelt, welche Probleme und Bedürfnisse ein Behinderter haben darf und welche nicht.

Im Heim gibt es in der Regel keine Intimsphäre. In den Mehrbettzimmern leben eben mehrere Bewohner zusammen. Selbst wenn die Mitbewohner für einige Zeit das Zimmer verließen, sind die Zimmer doch nicht von innen abzuschließen, und das Personal kommt häufig noch ohne anzuklopfen herein. Vielfach gibt es ausgesprochene Sexual-Verbote, so daß im Wiederholungsfalle Entlassung droht. Und Entlassung aus dem Behindertenheim heißt oft, daß der junge Mann / die junge Frau in ein Altersheim überwechseln müssen.

Ein krasses, aber leider kein außergewöhnliches Beispiel: "Da gibt es das schwerkörperbehinderte Ehepaar in einem Pflegeheim, dem nahegelegt wurde, sich doch für ihre Hochzeitsnacht ein Hotelzimmer zu nehmen. Er wohnt jetzt oben auf der Männerstation und sie auf der Frauenstation. Ihr einzigster Treffpunkt ist die Kantine. Obwohl Zweibett-Zimmer in dem Haus freistehen, sind diese nur für Gleichgeschlechtliche bestimmt."[244]

Völlig pervers: Heime unterdrücken andersgeschlechtliche Beziehungen - "zur Dämpfung des sexuellen Dranges"[245]sogar unter Anwendung von Medikamenten; homosexuelle und lesbische Beziehungen dulden sie dagegen.[246] Und wo sie gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht ausdrücklich dulden, fördern sie sie mit ihrer unterdrückenden Unpädagogik:

Ein zwanzigjähriger Mann, spastisch gelähmt und stark schwerhörig, berichtete mir, wie sich ihm eines Tages ein zwei Jahre jüngerer Heimbewohner auf die Oberschenkel setzte und an seinen Genitalien zu spielen begann. Er war nie aufgeklärt worden, wehrte sich zunächst, erlebte dann aber den Samenerguß als angenehm, als Entspannung. Den Gedanken, den Vorfall dem Heimleiter zu melden, verwarf er sehr schnell, weil er kein Vertrauen zu ihm hatte. "Seitdem muß ich jeden Abend ejakulieren, um besser einschlafen zu können; dabei denke ich an Jungen." An wen sollte er auch sonst denken, wo er Mädchen nicht kennenlernte?

Er befriedigt sich nun dreimal täglich, was er als Suchtverhalten - wie "Rauschgift" - empfindet. Mit seinen Eltern kann er nicht reden, weil sein Vater lautstark verkündete, daß er gegen Homosexuelle sei. So muß der junge Mann seine heimbedingte Homosexualtät verbergen, zumal er Gefahr läuft, von einer "Terrorbande" behinderter Heimbewohner fertiggemacht zu werden, die von anderen Heimbewohnern sexuelle Dienstleistungen erpreßt.

Sein Schlußkommentar: "Ich möchte gerne von dieser Homosexualität loskommen, aber meine Gefühle sprechen dagegen. Ich meine, daß die Leute in sexuellen Dingen so prüde und verklemmt sind, hat mir persönlich nur geschadet. Wenn man nicht nur cerebral gestört, sondern auch noch hochgradig schwerhörig ist, dann sind fast sämtliche Informationskanäle abgeschnitten. Ich würde beinahe sagen, in solch einer inhumanen Gesellschaft werden diese Fehlentwicklungen geradezu provoziert."

Im Behindertenheim regiert die Peinlichkeit. Da schämen sich die männlichen Behinderten, wenn sie nachts einen Samenerguß haben. Da leert ein Behinderter seine Urinflasche ins Bett, damit man auf dem Leinentuch den Samenerguß nicht sehen kann.[247] Da müssen sich Behinderte von ihren Pflegerinnen rügen lassen, wenn sie Samenerguß hatten. Zitat aus einem Bericht: "Aber Jules hat jedesmal Angst vor dem Augenblick, in dem das Personal den Samenerguß sieht. >Oh - was ist denn da passiert!< hat sie ausgerufen, als sie mich heute morgen abgedeckt hat. Jules wehrt sich nicht, wenn er an Penis und Hoden kaum oder gar nicht gewaschen wird. Wichtig ist vor allem, daß - nachdem >etwas passiert ist< - die Leintücher und das Nachthemd gewechselt werden."[248]

Geschlechtslose Wesen haben keinen Samenerguß zu haben. Im Falle von Jules vertieft diese Form der Unheilpädagogik nur seinen Ekel vor sich selbst. Jules: "Ich hatte auch einen Ekel vor mir selbst ... Ich hatte ja von Zuhause gelernt, daß das, was unter der Hose ist, etwas Ekliges ist und daß man es nicht berühren darf."[249]

Im Herbst 1979 war ich als Gruppentrainer - wie man das so hochgestochen nennt - auf einer Tagung, Thema: "Partnerschaft - Körperbehinderung - Sexualität". Auf dieser Tagung trafen sich die Mitarbeiter einer Behinderteneinrichtung, um sich fortzubilden. Daß sie sich überhaupt mit dem Thema auseinandersetzen wollten, bedeutet einen Fortschritt.

In meiner Gruppe waren meist Erzieher, aber auch der Leiter der Einrichtung und die Heimärztin. Die Teilnehmer formulierten zunächst ihre Bedürfnisse, dann begannen wir, reale Heimsituationen durchzuspielen. Ich ließ jeden das spielen, was er auch sonst war: den Leiter den Leiter, die Ärztin die Ärztin und die Erzieher die Erzieher.

In der ersten Spielszene ging es um zwei volljährige Behinderte. Das Mädchen war leichtbehindert, der junge Mann schwerbehindert. Sie baten einen Erzieher, er möge den jungen Mann zu ihr ins Bett legen, damit beide zusammen schlafen könnten. Junge Erwachsene außerhalb des Heimes müssen niemanden um Erlaubnis bitten, in diesem Fall mußten sie es.

Der Fall wurde schließlich dem Leiter vorgelegt. Der wollte einerseits liberal sein, andererseits fühlte er sich für die Hausordnung verantwortlich. Er wollte zunächst geklärt wissen, ob die beiden auch auf ewig zusammenbleiben würden. "Ist da eine menschliche Beziehung vorhanden?" fragte er, obgleich es sich ja um zwei Menschen handelte. Den beiden Behinderten sagte er: "Daß ihr euch mögt, das ist doch schon ein Glück."

Doch die beiden wollten es nicht nur platonisch miteinander treiben. Da wand sich der Leiter, bis ihm einfiel: "Die Eltern haben uns ihr Kind anvertraut." Das Heim wolle eine Delegation zu den Eltern schicken, um deren Zustimmung einzuholen. Denn die Eltern hätten ein Mitspracherecht, so, als schliefen sie mit. Die beiden Behinderten beharrten darauf, sie seien volljährig, das sei ihre ganz eigene Sache. Daraufhin meinte der Leiter, begütigend zum Behinderten gewendet: "Warum hast du solche Eile?" Nun, der Mann ist verheiratet und kommt wahrscheinlich sexuell auf seine Kosten. Er hatte keine Eile und ihm dämmerte auch nicht, daß er hier einfach bestimmte, zwei volljährige Behinderte hätten keine Eile zu haben, er bemerkte nicht, daß er ihre Bedürfnisse einfach zensierte.

Die geschilderte Einrichtung ist ein Haus der offenen Türen. Es ist üblich, daß alle Türen offen bleiben, abzuschließen sind sie ohnedies nicht. Es wird öffentliche Nacktheit praktiziert. Das geht so weit, daß erwachsene Querschnittgelähmte von 18jährigen Mädchen das Kondom (zum Urinal) angelegt bekommen. Daß ein junger Mann mit 21, 22 Jahren sexuell stimuliert wird, wenn ein junges Mädchen an seinem Penis fummelt, wurde nie bedacht, ganz offensichtlich, weil man Behinderte, speziell Querschnittgelähmte, für geschlechtliche Neutra hält.

Einige Mitarbeiter waren von Behinderten mit der Frage konfrontiert worden, sie litten sexuelle Not und ob sie nicht mit ihnen schlafen wollten. Diese Szene ließ ich spielen. Keiner der Gruppenteilnehmer wußte, was er spielen sollte. Alle warteten vor der Tür und wurden einzeln hereingerufen. Zwei Nichtbehinderte spielten je eine behinderte Frau und einen behinderten Mann. "Als Mann bist du mir gleichgültig", bekam der, der den Behinderten spielte, zu hören. Oder: "Ich hätt' keinen Bock, mit dir zu schlafen, weil du nicht mein Typ bist." Alle waren sich einig, da müsse erst eine tiefere menschliche Beziehung vorliegen, ehe man miteinander ins Bett gehe. Schön und gut, aber wie viele gehen miteinander nach kurzer Bekanntschaft ins Bett, ohne sich auf ewig binden und alle Tiefen der gegenseitigen Charaktere ausloten zu wollen? Die Zusatzfrage, ob man denn wenigstens Beihilfe zum Onanieren leisten wolle, wurde als geradezu schockierend empfunden. Ein junger Mann antwortete sehr ehrlich: "Da wird' ich echt verlegen, da bin ich zu verspannt zu. Ich bin nicht so locker."

Eine Erzieherin hatte berichtet, wie sich ein 15jähriger und eine sehr entwickelte 13jährige vorm Fernseher zusammensetzten, Händchen hielten und schließlich, als die Erzieherin einen Moment in der Küche zu tun hatte, im Zimmer verschwanden und die Türe hinter sich schlossen. Was hätte sie tun sollen? fragte sie uns. Ins Zimmer stürzen und die beiden auseinanderreißen? Wir spielten auch diese Szene, wobei in der Spielanleitung nur gesagt war, die beiden seien hinter der Tür verschwunden. Daß sie miteinander schliefen, war in keiner Weise gesagt worden, wurde aber von allen als selbstverständlich angenommen.

Nach der Spielanleitung kam der Leiter hinzu und riß die Tür auf. Es war ein Phantasiespiel, er hätte zwei junge Menschen sehen können, die zusammen Zeitung lesen oder zärtlich zueinander sind, aber nein, er sah die beiden natürlich beim Geschlechtsverkehr. Und nun beriet man, wie man die Beziehung auseinandertreiben, das Schlimmste "verhüten" könnte. Nur wie man die Beziehung glücklich fördern könnte, das ging im Entsetzen um den angeblichen Beischlaf unter.

Wir diskutierten. Da sagten Erzieher, die körperliche Häßlichkeit sei Voraussetzung von Minderwertigkeit. Wer keine Arme oder Beine habe, sei minderwertig. "In der Natur", hieß es, "werden behinderte Kinder von der Hundemutter auch totgebissen." Ein anderer Beitrag: In der eigenen Familie ging es der Oma gesundheitlich sehr schlecht. Da fragt die Enkelin: "Wird die Oma jetzt abgeschossen?" Das Euthanasiedenken ist noch in den Köpfen des leitenden Personals.

Es gibt viele Gründe, die Heime abzuschaffen, abzureißen, statt dessen neue Wohnformen zu entwickeln. Einer der gewichtigsten Gründe ist der, daß sie behinderte Menschen zu sexuellen Krüppeln erziehen.

Die Sexualität geistig Behinderter - Wie sie unterdrückt wird - und was wir von geistig Behinderten lernen könnten

Meine Erfahrungen mit geistig Behinderten sind vergleichsweise gering. Ich fühle mich nicht kompetent, Aussagen zur Sexualität geistig Behinderter zu machen, will nicht mehr sagen, als sich mit meiner Erfahrung deckt.

Auffällig ist, daß sich die Sexualpädagogik geistig Behinderten gegenüber in Abwehr befindet. Viele Pädagogen haben beschrieben, wie man die sexuellen Empfindungen geistig Behinderter unterdrückt: reizarme Kost wird empfohlen, "zweckmäßige" Kleidung (nicht zu eng, damit die Geschlechtsteile - was für ein Wortungetüm! - nicht gereizt werden), keine Zärtlichkeiten. Auch die Eltern sollten sich "in ihrer Bekleidung einem strengen Reglement unterwerfen und nicht durch nacktes Herumspringen" den geistig Behinderten auf dumme Gedanken bringen.[250]

Der Leiter einer Anstalt für geistig Behinderte sieht es ähnlich: "Es ist die Umwelt, die durch die äußere Sauberkeit den Behinderten auch zu einer inneren Sauberkeit verhilft."[251] Nach diesen mehr sauberkeits-philosophischen Anwandlungen belehrt uns der Mann, wie diese innerliche wie äußerliche Sauberkeit zu erreichen sei: "Nicht mehr dem Lebensalter entsprechende Zärtlichkeiten sollten vermieden werden, insbesondere Küssen, Streicheln und übertriebene Zärtlichkeit. Ebenso können Gespräche oder unbedachte Äußerungen ... geschlechtliche Regungen wecken."[252] Die Sexualität, die nach solchen Schilderungen im geistig Behinderten schlummert und nicht geweckt werden soll, muß wie ein Raubtier sein, das man nicht aus dem Käfig lassen darf.

Mich haben geistig Behinderte immer beeindruckt. Sie haben ein unverstelltes Verhältnis zu Körperkontakten. Sie streicheln sich, berühren sich, drücken sich. Sie drücken einfach ihre Freude aus, sind für Eindrücke und Kontakte offen. Sie sind noch voller Interesse für ihre Umwelt und ihre Mitmenschen. Sie kennen weniger das fintenreiche Spiel, mit dem wir werben, kommen nicht so trickreich. Sie sagen, ob sie uns mögen oder nicht mögen, nehmen uns einfach an der Hand. Das mache sie verführbar, sagen die Fachleute. Hand aufs Herz: Sind wir, die so klug darüber reden und schreiben können, etwa nicht verführbar?

Gewiß, der geistig Behinderte kann weniger verbalisieren, mit Worten lieben, wenn ich das mal so frei übersetzen darf. Er ist direkter, kommuniziert mit seinem Körper, eine Fähigkeit, die wir weitgehend verloren haben. Und was die Verbalisierung angeht, muß ich gestehen, ich habe die klarsten Analysen über Erzieher in der Behindertenwerkstatt und über Eltern von geistig Behinderten gehört.

Die Geistig-Behinderten-Pädagogik zerbricht sich den Kopf, wie man unerwünschte Schwangerschaften unterbinden kann. Sie diskutiert die Sterilisierung[253] geistig Behinderter, um unerwünschte Nachkommenschaft auszuschalten. Sie diskutiert, wieweit geistig Behinderte zu einer dauerhaften Beziehung fähig seien (und das bei einer hohen Scheidungsrate der Nicht-geistig-Behinderten!) und wie man ihre Triebhaftigkeit eindämmen kann.

Wir sehen, daß das Fach Sexualpädagogik bei geistig Behinderten negativ ansetzt: Wie man was verbieten kann. Wie man wie manipulieren kann. Da zermartern sich Pädagogen das Hirn, um Sexualität zu verhindern. Aber wie der geistig Behinderte zu einer glücklichen Sexualität kommen kann, diesem Gedanken sind sie kaum nachgegangen. Und was wir von geistig Behinderten gar für unser Sexualverhalten lernen könnten, diese Frage ist am Horizont der Fachleute nie aufgedämmert. Statt dessen findet sich in der Fachliteratur ein so glanzvoller Satz wie dieser: "Ein geistigbehindertes Kind hat nach unseren Erfahrungen ebenso sexuelle Gefühle wie andere Kinder auch."[254] Man sieht, zu welch tiefen Erkenntnissen wissenschaftliche Arbeit vordringen kann.

Beispiel Schweden

Schwedische Pädagogen haben sich intensiv mit der Sexualität geistig Behinderter auseinandergesetzt. Nicht Unterdrückung, sondern Befriedigung ist das Ziel. Geistig Behinderte werden mit dem Eintritt in die (Sonder-)Schule systematisch in Sexualkunde unterrichtet. Der Unterricht an der Grundstufe der Gesamtsonderschule sieht so aus:

Im 1. Schuljahr werden die Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen den Geschlechtern unterrichtet. Die äußeren Geschlechtsorgane werden bezeichnet. Im 2. Jahr wird gezeigt, wie eine schwangere Frau aussieht. Im 3. Jahr erfahren die Schüler alles über Entbindung und neugeborene Kinder. Das 4. Schuljahr hat die Zeugung und Entwicklung des Kindes im Mutterleib auf dem Lehrplan, ebenso die Bedeutung eines Zuhauses für das Kind.

Im 5. Jahr geht es um Menstruation, Samenerguß (Pollution) und Hygiene. Das 6. Jahr bringt das Thema Sexualorgane, Geschlechtsverkehr, Schwangerschaft, Entbindung, Schwangerschaftsverhütung. Im 7. Jahr steht die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität, auch Homosexualität, Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Sexualität auf dem Lehrplan. Das 8. Jahr thematisiert Sterilität, Sterilisierung, Abtreibung und Geschlechtskrankheiten. Im 9. Jahr geht es darum, was das Gesetz nicht erlaubt, Gewaltanwendung, abweichendes Sexualverhalten, Hilfen und Probleme sozialer Beziehungen. Im 10. Schuljahr geht es dann um die Verantwortung, die ein erwachsener Mann / eine erwachsene Frau haben.

Nach den zehn Grundschuljahren wechseln die meisten geistig Behinderten auf die Berufsschule über.

Ziel des Sexualunterrichts ist es, dem Behinderten die eigene Begrenzung durch die Behinderung bewußt zu machen. Sie sollen einsehen, daß sie aufgrund ihrer geistigen Behinderung keine Kinder haben dürfen.

Neben dem Grundschulunterricht gibt es Lehrpläne für die Erwachsenenbildung (in Arbeitskreisen). Ein Entspannungstraining (mit Hintergrundmusik) gehört dazu. Die Gruppenmitglieder lernen, den Körper des anderen zu entdecken. Auch ein Wahrnehmungstraining steht auf dem Lehrplan (Zuhören, Berühren). Dias von einem nackten Mann und einer nackten Frau und Dias von Sexualorganen zeigen Unterschiede und Übereinstimmungen von Mann und Frau. Der Gebrauch von Monatsbinden, der Umgang mit Menstruation und Pollution werden trainiert, Möglichkeiten sexuellen Umgangs werden besprochen, vor allem Masturbation und Petting. Formen des Zusammenlebens sind das letzte Unterrichtsthema.

1973 führten drei Psychologen in einer großen Anstalt in Gothenburg eine Untersuchung über das Sexualverhalten schwer geistig behinderter Erwachsener durch. Das Ergebnis: Nur etwa 30 Prozent zeigten irgendein Sexualverhalten (das Märchen von der großen Triebhaftigkeit, das es einzudämmen gilt, scheint einer Projektion der Pädagogen zu entspringen). Nur 20 Prozent der Beobachteten zeigten partnerschaftliches, heterosexuelles Verhalten. Geschlechtsverkehr war die Ausnahme.

Die Schwierigkeiten der Sexualerziehung geistig Behinderter liegt darin, daß sie, je nach Schweregrad der Behinderung und je nach den sozialen Bedingungen, in denen sie leben, einen sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand haben. Und daß der Erzieher lernen muß, diesen Entwicklungsstand auch zu akzeptieren.

Welche Konflikte Mitarbeiter erfahren können, wenn sie sich nicht nur theoretisch mit der Sexualität geistig Behinderter auseinandersetzen, zeigt dieser Bericht:

"Wie sollen wir z. B. schwer geistig behinderte Jugendliche mit dem Masturbieren vertraut machen, wenn wir zu dem Schluß gekommen sind, daß es für sie gut wäre? Wenn wir die verschiedenen Stufen des konkreten Trainings betrachten, können wir sagen, daß es wahrscheinlich nicht ausreicht, über Masturbieren nur zu lesen oder zu sprechen. Das Training muß konkreter sein. Wir benutzen dann Bilder als Unterrichtsmaterial und Dias, die männliche und weibliche Sexualorgane zeigen und auch masturbierende Männer und Frauen. Reicht das aus? Ja, für viele. Andere aber können das, was sie sehen, nicht auf ihre eigene Situation und ihren eigenen Körper übertragen. Hier stehen wir vor einem pädagogisch-ethischen Problem, das schwer zu lösen ist. Wir gelangen zu der Frage, ob wir den geistig Behinderten manuelle Hilfe leisten können, um ihnen beim Masturbieren zu helfen. Diese Frage wird sehr oft in Diskussionen mit Mitarbeitern aufgeworfen, wenn über die Sexualität in Anstalten gesprochen wird. Viele Mitarbeiter in Einrichtungen sagen, daß sie manchmal einigen geistig Behinderten beim Masturbieren helfen, wenn die Situation so ist, daß sie das Gefühl haben, daß dies für den geistig Behinderten sehr wichtig ist.

Dies ist jedoch etwas, über das wir ihrer Meinung nach im allgemeinen nicht sehr laut reden sollten, weil es zu sensationell sei und bei den Angehörigen geistig Behinderter Anstoß erregen könnte. Viele Mitarbeiter sagen auch, daß sie es als Problem empfinden, bei sexuellen Handlungen mit Behinderten in der Einrichtung ohne ausreichendes emotionales Engagement aktiviert zu werden. Es kommt sehr leicht zu einem schweren Konflikt zwischen einem funktionierenden privaten Sexualleben und einer Einbeziehung ins Sexualleben des geistig Behinderten in der Anstalt."[255]

Auswirkungen der Behinderung auf die Sexualfunktion

WelcheAuswirkung habe bestimmte Behinderungen auf das Sexualleben des Behinderten? Welche Behinderungen machen einen Geschlechtsverkehr - medizinisch gesehen - unmöglich? Es gibt kein Thema, das so mit Unwissenheit, Ängsten und Tabus besetzt ist. Unwissenheit und Ängste sind jedoch schlechte Partner zu einem intakten Sexualverhalten.

Den Behinderten behindert nur selten die Behinderung, sondern sein Bewußtsein "behindert" zu sein: Weil er behindert ist, denkt er, er sei nicht liebenswert, sei weniger wert, niemand wolle ihn. Schließlich hat man ihm von Kindheit an eingepaukt, Sex und Liebe seien für ihn tabu.

Nicht nur Behinderte müssen sich von den Leitbildern einer idealen Frau oder eines idealen Mannes freimachen. So schöne Beine wie auf der Anzeige einer Strumpfreklame haben nur wenige Frauen und so feste, volle Brüste wie auf dem Werbefoto für einen Büstenhalter wohl auch. Und mit männlichen Kino-Vorbildern kann ich auch nicht (und will ich auch nicht) konkurrieren.

Wir wurden erzogen, Schönheit mit guter Figur gleichzusetzen, auf das Äußere, die Fassade zu schauen. Darüber war unter dem Stichwort "Warenästhetik" schon die Rede. Wir haben verlernt, daß Schönheit etwas Ganzheitliches ist, daß der ganze Mensch dazu gehört: was er ausstrahlt, was er ist. Ein Mensch ist wegen seines Wesens liebenswert: was er fühlt und welche Gefühle er auslöst, was er verwirklichen möchte und wozu er mich motiviert.

Einige Behinderte müssen sich aufgrund ihrer Behinderung von den gängigen Mustern eines "normalen" Geschlechtsverkehrs befreien, müssen Phantasie entwickeln (und ihre Partner natürlich auch). Dies betrifft vor allem Männer, deren Behinderung es nicht erlaubt, den "aktiven" Mann, den Verführer zu spielen.

Es fehlen Beschreibungen der Betroffenen, die anderen hilfreich sind, für ihre individuelle Situation individuelle Techniken zu entwickeln. Evald Krog, einem dänischen Behinderten mit Muskelschwund, verdanken wir einen Vortrag, der in seiner Offenheit eine hilfreiche Ausnahme bildet.

Wichtig für jede Begegnung ist natürlich, nicht nur für Behinderte, daß beide Partner Ruhe haben, entspannt sind, sich ganz auf sich einzulassen. Beide müssen sich geborgen fühlen. Krog: "Wenn wir uns sehr gut kennen, können wir z. B. zusammen schlafen, indem sie auf dem Rücken liegt und ich gegen sie gewendet auf der linken Seite. Wenn sie nun das rechte Bein beugt und das linke streckt, kann ich mit meinem linken Bein unter ihrem Gesäß liegen. Mein rechtes Bein kommt unter ihr rechtes und über ihr linkes Bein. Dies ist eine wirklich gute Stellung, bei der die Vereinigung am intensivsten wird. Phantasie und Flexibilität sind eine große Hilfe. - Ich kann auch einen Arm um das Mädchen legen - aber sie muß mir dabei helfen."[256]

Krog beschreibt auch den Verlust, nicht aus eigener Kraft seinen Arm um das Mädchen legen zu können: "Wenn man z. B. einmal Lust bekommt zum Küssen, und man muß erst sagen: >Leg mal eben deinen Arm um mich, ich möchte dich etwas liebkosen<; in solchen Situationen fühle ich, daß es schwierig ist."[257]

Es gibt Verluste, wie eben beschrieben, und die Trauer darum. Aber Trauer und Verlust zu empfinden, gehört auch zum intensiven Erleben einer jeden Beziehung, gehört zur Sensibilität des Menschen. Es gibt keine Beziehung, die uns nur Lustgewinn vermittelt. Viele Beziehungen scheitern, weil die Erwartungen nur auf Lustgewinn aus waren, weil Traurigsein, Trauer, Verzweiflung nicht eingebracht werden konnten.

Ich sehe keinen Sinn darin, eine Tabelle aufzustellen, bei welcher Behinderung welche Beeinträchtigungen der Sexualfunktion möglich sind. Wir wissen heute, daß auch bei Querschnittgelähmten, die immer mit dem Stigma "Impotenz" abgebucht waren, die sexuelle Unfähigkeit nicht automatisch gegeben ist. Es hängt davon ab, wieweit sich der Behinderte als Sexualpartner akzeptiert und sexuell umstellen kann, es hängt aber auch entscheidend vom Verständnis des Partners ab. Zu einem Partner, der mich unter Leistungsdruck setzt, werde ich kaum eine befriedigende Beziehung finden.

Professor Ludwig Guttman hat bereits 1964 eine Untersuchung veröffentlicht, wonach von 108 querschnittgelähmten Männern 200 Kinder gezeugt worden waren.[258] Dennoch hat sich das Märchen von der generellen Impotenz der Querschnittgelähmten erhalten. Damit soll nicht wegdiskutiert werden, daß behinderungsbedingte Sexualstörungen auftreten, wobei zu unterscheiden ist zwischen der Unfähigkeit der Erektion (Versteifung), des Samenergusses (Ejakulation) und zum Orgasmus.

"Es ist nicht wahr, daß für jeden einzelnen Menschen die Sexualität zur unerläßlichen Wesensvollendung gehört. Nur dem Menschengeschlecht als Ganzem obliegt die gesunde am Plane Gottes orientierte Sexualität ... Nicht alle Einzelmenschen sind zur sexuellen Betätigung berufen. Es sollen eben nur gesunde und opferfähige Menschen in die Ehe treten."

Pater Thimotheus Hartmann, verantwortlicher geistlicher Beirat im "Franziskanischen Kranken-Apostolat", in: Zeitschrift "fraternität", Nr. 39/1976.

Es ist für den Behinderten schmerzlich, sich in einer Gesellschaft behaupten zu müssen, wo nur der ein "ganzer Mann" ist, der mit seiner Potenz angeben kann, und die eine tolle Frau, die Orgasmushöchstleistungen bringt. Doch damit muß nicht nur der behinderte Mann/die behinderte Frau leben. Das ist zwar kein Trost, wer wollte hier trösten, aber eine Erfahrung, die die Erfahrungen des Behinderten in den Erfahrungszusammenhang mit anderen stellt. Lernen könnten wir gemeinsam daraus, daß befriedigende partnerschaftliche Beziehungen nicht von der Koitusfähigkeit abhängen, daß der Umgang des zärtlichen Annehmens, die Trauer eingeschlossen, eine neue Qualität des Zusammenlebens, des Liebens, ermöglicht.

Beziehunsprobleme zwischen Nichtbehinderten und Behinderten - Ein Problem der Nichtbehinderten

Auf einer Tagung sagten 1979 zwei Behinderte: "Die Nichtbehinderten sind es, die Behinderte unfrei machen, mit ihrer Pädagogisierung unterdrücken. Die Nichtbehinderten sollten sich - am Beispiel der Sexualität - mit ihren eigenen Schwierigkeiten beschäftigen und nicht glauben, es gäbe für sie eine Berechtigung, die Sexualität Behinderter zu reglementieren."

So ist es. Beim Thematisieren der Sexualität tun nichtbehinderte Pädagogen, Helfer, Begleiter auf Freizeiten, Mitarbeiter in Behindertenorganisationen so, als seien es die Behinderten, die Probleme mit der Sexualität hätten, während sie, die Nichtbehinderten, als glorreiche Helfer über den Problemen stehen. Nichtbehinderte befragen Behinderte nach ihrem Intimleben, aber über ihre eigenen Schwierigkeiten verlieren sie kein Wort.

Beziehungsprobleme zwischen Nichtbehinderten und Behinderten sind vorwiegend Probleme der Nichtbehinderten. Der Behinderte will ja eine Beziehung aufnehmen, will ja mit dem nichtbehinderten Partner flirten, will lieben und geliebt werden, will sexuellen Kontakt. Die Probleme entstehen, weil sich der Nichtbehinderte erschrocken zurückzieht, wenn ihm ein Behinderter zu nahe kommt. Helfer will er sein, aber als Geschlechtspartner möchte er verschont bleiben. So war das Helferdasein nicht gemeint.

Wie das in der Praxis aussieht, zeigt ein Beispiel. Eine Behinderte: "Später verliebte ich mich in Peter, aber als seine Eltern es merkten, unternahmen sie alles, um das zu verunmöglichen, wegen meines Körpers. Wir waren zärtlich zueinander, aber dann schrieb er mir, seine Freunde halten ihm vor, er habe mich nur, weil er keine andere finde. Das war für mich eine große Niederlage", schreibt sie, obgleich es wohl eher seine Niederlage gewesen sein dürfte, "weil nichts anderes zählte als körperliche Behinderung oder Nichtbehinderung. Daraufhin hatte ich schreckliche Angst, mich wieder zu verlieben, ich wehrte mich dagegen, obschon es mir wieder einige Male passierte, aber ich zeigte es nicht nach außen."[259]

Eine Möglichkeit, sich des Umgangs mit Behinderten zu erwehren, ist der psychologische Trick, die Bedürfnisse des Behinderten zu verkennen. Ein Nichtbehinderter und eine Behinderte sind öfters auf Freizeiten zusammen. Dort werden sie interviewt. Er sagt: "Ich glaube, die Beziehung zwischen mir und Ursula ist in den schönsten Momenten Zärtlichkeit, auch nicht nur Zärtlichkeiten der Berührung, ich meine auch im Miteinanderreden, Lachen, Lustigsein ... alle diese Sachen, das sind die besten Momente, die wir haben ... aber ob sie jetzt das Bedürfnis hätte ... gegenüber mir, das ... nein ... das ... glaub ich nicht ... ich glaube nicht, daß sie mit einem Mann schlafen möchte. Ich glaube nicht, daß sie das mit mir möchte."

Die Behinderte daraufhin: "Das stimmt natürlich nicht, daß ich nicht mit dir schlafen möchte, ich will ja nur nicht, weil du es nicht willst ... Ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen. Und ich überlege mir dann, ob das denn eigentlich normal sei, oder ob ich da nicht einfach etwas zu wenig habe und zu kurz komme ... etwas, das noch schön ist und ich noch entdecken könnte."

Fazit der Behinderten, die weiß, daß er eine Freundin hat: »Ja, doch, der Körper macht schon viel aus. Ich glaube, wenn ich gesund gewesen wäre, so wäre er doch mit mir ins Bett gegangen, auch wenn ich nicht seine große Liebe gewesen wäre."[260]

Der Behinderte geht ein Risiko ein, wenn er einem Nichtbehinderten seine Liebe offenbart. Denn er muß damit rechnen, daß sich der Freund, Helfer, Begleiter zurückzieht. So ergibt sich die widersinnige Situation, daß ein Behinderter seine Liebe gesteht, der Partner erschrocken oder bedrückt abwehrt und schließlich vom Behinderten getröstet wird: er möge es nicht übelnehmen, solle die Liebeserklärung nicht so ernst nehmen. Ursula Eggli beschreibt eine solche Szene, die mit dem Satz schließt: "Schlußendlich war es so, daß ich ihm zuhörte und ihn tröstete und daß ich mit allen Kräften versuchte, meinem Geständnis die Schwere zu nehmen."[261]

Normalität zwischen Nichtbehinderten und Behinderten ist vorerst nur ein Ziel, aber keine Realität, wenn es um die Begegnung der Geschlechter geht. Das kann auch kaum anders sein, solange sich Behinderte und Nichtbehinderte nicht unter normalen Bedingungen begegnen, sondern im Freigehege von Freizeiten und Clubarbeit.

Normalität bedeutet, sich normal zu begegnen. Das bedeutet auch, daß mir ein Mensch als Mensch gefällt, mich anspricht, liebenswert ist, gleich ob er nun behindert oder nichtbehindert ist. Wer die Verklemmung, die zwischen Behinderten und Nichtbehinderten steht, aufheben, umwandeln will, muß die Betreuungspfade verlassen, denn Betreuung schafft immer nur Betreuer und Betreute, Starke, die sich herabbeugen, und Schwache, denen das Mitleid abfällt.

Was können wir lernen? Die Qualität Zärtlichkeit

Über die Sexualität Querschnittgelähmter liegen mehrere Untersuchungen vor. Sie beschäftigen sich vorwiegend mit der Funktion von Ejakulation und Erektion des Mannes.[262] Wir wurden eben erzogen, Sexualität fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Geschlechtsverkehrs zu sehen. Nicht zufällig beschäftigt sich die Wissenschaft mit der Sexualität des Mannes. Alles dreht sich um die Bedürfnisse des Mannes, um seine Sexualität, Frauen sind ja nur das willige Anhängsel der Männer.

Es gibt Behinderte (eine Minderheit), die aufgrund ihrer Behinderung keinen Geschlechtsverkehr haben können. Die Pädagogik ist ratlos: "Wie aber diejenigen, die zu einer Erektion und somit über eine sichtbare genitalgeschlechtliche Voraussetzung nicht mehr verfügen, mit dieser Tatsache fertig werden, und welche Wege zu partnerschaftlichen Beziehungen zu gelangen ihnen offenstehen und von ihnen begangen werden, oder ob sie sexualpsychisch verkümmern, darüber ist nichts bekannt."[263]

Das Verhängnis ist, daß viele Pädagogen dem Vorurteil unterliegen, man könne zwischen Eros (der verfeinerten geistig-seelischen Seite eines Liebesverhältnisses) und dem Sexus (dem negativ bewerteten Sexualtrieb) unterscheiden. Wir sind aber in allen Beziehungen ein Sexualwesen. Auch der Eunuch, der Impotente, der Greis, sind nicht asexuell, sondern geschlechtliche Individuen. Die Sexualität als Lebensenergie, die unsere Beziehungen zu anderen (auch gleichgeschlechtlichen) Menschen bestimmt, endet nicht mit einem Unfall, einer Verstümmelung, sondern erst mit dem Tod.

Gewiß, wir wollen den Geschlechtsverkehr nicht abwerten, Wollust, Orgasmus gehören zu den schönen Erfahrungen, aber wir können lernen, daß mit der Fixierung auf den Genitalbereich unsere Erfahrungsmöglichkeiten verkümmern. Es gibt viele Möglichkeiten, den anderen zu erfahren, glücklich zu erfahren. Die Qualität einer Beziehung reduziert sich nicht auf den Sexualakt. Niemand von uns ist in seiner Beschaffenheit ganz Mann oder ganz Frau. Wir wurden nur darauf getrimmt, es gäbe typisch männliche und typisch weibliche Eigenschaften. (Ob Frau, ob Mann, wir sind alle schwach und stark, empfindsam und "herr-isch".)

Wir haben nur selten gelernt, unsere Gefühle auszusprechen und zu ihnen zu stehen. Wir sind so verarmt, daß wir zeitweise vergessen konnten, daß wir Gefühle nicht nur mit Worten ("verbal"), sondern auch körperlich mitteilen können. "Ich mag dich", kann ich sagen, und viele können es sehr zärtlich-sinnlich sagen. Ich kann es auch sagen, indem ich den anderen berühre, streichle, zärtlich zu ihm bin, ihn in den Arm nehme. Wir können auch mit dem Körper sprechen. "In einer idealen Gesellschaft", schreibt Christoph Eggli, der nicht sterben möchte, ohne Liebe auch körperlich wahrgenommen zu haben, "wird der Mensch gelernt haben, seine Geschlechtlichkeit als Kommunikationsmittel zu gebrauchen, das in verschiedener Hinsicht sogar die Sprache übertrifft, weil es unmittelbar das Gefühl berührt."[264]

"Berührt". Nicht umsonst sind die "Unberührbaren" die Aussätzigen. Und nicht umsonst sagen wir, wenn uns etwas nahegegangen ist, "es hat mich berührt". Diese Erfahrung, daß uns nahegeht, was uns berührt, was wir mit den Sinnen körperlich wahrnehmen, hat sich in der Sprache noch erhalten.

In vielen Zweierbeziehungen, sei es in einer Freundschaft, sei es in der Ehe, wacht der eine Partner ängstlich über den anderen, daß jede gefühlsmäßige Zuwendung auf die eigene Beziehung beschränkt bleibt. Ob dies eine Bereicherung der beiden ist, kann man bezweifeln, denn Bereicherung erfahren wir selten in der Selbstisolierung. Gerade in einer intakten Beziehung müßte es eher möglich sein, von der eigenen Befriedigung, der eigenen Wärme abzugeben, ohne dem Vorurteil unterworfen zu sein, zärtlich zu sein, bedeute nichts anderes als das Vorspiel zum Haupt-, sprich Geschlechtsakt.

Unerträglich werden Zweierbeziehungen, wenn beispielsweise auf Behinderten-Freizeiten (man muß es nicht auf diesen Bereich begrenzen) die Paare allen Alleinstehenden demonstrieren, wie glücklich man als Paar zu sein hat. Zwei Menschen bringen ihre Körper als Produktionsmittel ein, um Sicherheit, Glück, Gemeinschaft zu produzieren. Sie sind unfähig, von der eigenen Körperwärme abzugeben. Eine Zweierbeziehung kann die kleinste bestehende Fabrik sein, die nichts anderes fabrizieren soll, als ein Stück Sicherheit in der Welt der Unsicherheit.

Wir haben in den letzten Jahren unsere Umgangsformen verändert. Wir kommen in fremde Städte, in fremde Gruppen, zu fremden Menschen, und wissen uns auf- und angenommen. Wir sagen "Du" zueinander. Wir kommen an und nehmen uns in den Arm. Das ist nicht mit allen so, aber es ist Praxis geworden. Wir haben das - ohne es je theoretisch aufgearbeitet zu haben oder aufarbeiten zu müssen - irgendwann einfach getan. Und freuen uns daran.

Wir haben eine neue Dimension des Umgangs gefunden: die Zärtlichkeit.

In einer Zeitschrift für psychisch Kranke fand ich die zarteste Beschreibung, was Zärtlichkeit im Miteinander-Umgehen bedeutet: "Zärtlichkeit ist das spontane Jasagen zu einem Du. Zärtlichkeit ist die herzliche Zuneigung zu einem anderen Menschen. Zärtlichkeiten können in Worten, Gesten, in Anteilnahme, in Zeithaben geäußert werden. Zärtlichkeiten sind Spiel. Es steht für das Schöpferische, nicht zu berechnende, Spontane, Aufregende und Entspannende. Sie setzen immer ein Gegenüber voraus; Einverständnis, Offenheit, Bereitwilligkeit."[265]

"Zärtlichkeiten nehmen wir durch unseren Körper wahr. Wir haben einen Körper und sind Körper. Er stellt Ansprüche und hat Sehnsucht. Über ihn erfahren wir alles Schöne und Schwere: die Schönheiten der Natur, des Geistes, die Wärme der Geborgenheit und der Liebe, das Liebkosen, die Umarmung, die Freude der Freundschaft, der Partnerschaft, der Elternschaft, aber auch Ängste, Depressionen, Krankheit und Schmerz."[266]

Zärtlichkeit und Zuwendung verändern den Umgang. Wir lernen, behutsam und liebevoll miteinander umzugehen, ohne daß dies Leisetreterei im Austragen von Argumenten bedeuten würde. Zärtlichkeit bedeutet den Abbau von Macht, die Aufgabe des Machtanspruchs über den Körper eines anderen. Das verändert unsere Einstellung zur Sexualität und zu uns. Wir erfahren die Wärme des anderen, wir erfahren, wie lustvoll es sein kann, wenn zwei Menschen beieinander sind, sich streicheln, ansehen, auf sich hören, den anderen und sich entdecken.

Zärtlichkeit hat aber auch eine politische Dimension, eine systemsprengende Kraft. Denn wer gelernt hat, im anderen nicht den Konkurrenten zu erleben, kann leichter gemeinsam (solidarisch) handeln. Die eigene Geborgenheit ist eine Energie, sich zu wehren, Unterdrückung abzubauen, schöpferisch zu werden und neue Möglichkeiten - Alternativen - auszuprobieren.

Exkurs Über die Vererbung von Behinderungen

Nur wenige Behinderungen werden vererbt. Die Risiken, daß ein Kind behindert sein wird, sind unterschiedlich. Dies zeigt eine Aufstellung, die einem Aufsatz von G. Gerhardt Wendt folgt.[267]

Achondroplasie (Kleinwuchs):

Heiratet ein kleinwüchsiger Partner einen normalwüchsigen Partner, beträgt das Risiko 50 Prozent. Sind beide kleinwüchsig, liegt das Risiko bei 75 Prozent.

Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit):

Das Risiko ist gering, ärztliche Beratung ist jedoch notwendig. Ein besonderes Risiko trägt jedoch die Diabetikerin während der Schwangerschaft, so daß sie sich vor der Schwangerschaft ärztlich beraten lassen muß.

Epilepsie:

Das Risiko ist gering, ärztliche Beratung ist jedoch notwendig.

Hämophilie (Bluterkrankheit):

Die Behinderung wird nicht vom Vater auf den Sohn vererbt, aber die Frauen aus Hämophilie-Familien können die Erbanlage verdeckt in sich haben. Man heißt sie Konduktorinnen. Heiratet ein Bluter eine gesunde Frau, sind die Töchter alle Konduktorinnen, die Söhne bleiben aber von der Behinderung frei. Die Tochter überträgt also die Hämophihe. Heiratet diese einen gesunden Mann, beträgt das Risiko, daß die Söhne Hämophilie haben, 50 Prozent. Die Töchter aus dieser Ehe sind zu 50 Prozent Überträgerinnen.

Hydrozephalus:

Die Ursachen sind in der Regel nicht genetisch (erblich) bedingt. Eine genetische Diagnostik und Beratung ist empfehlenswert.

Lippen-Kiefer-Gaumenspalten:

In der Umgangssprache werden diese Behinderungen als Hasenscharte oder Wolfsrachen bezeichnet. Das Risiko liegt bei 4 bis 6 Prozent.

Mongoloismus:

Kinder männlicher Mongoloider sind nicht bekannt, Kinder mongoloider Frauen beziffert die Fachliteratur auf nur 25, die nur zum Teil mongoloid sind. Ob das Kind einer schwangeren Mongoloiden auch mongoloid sein wird, läßt sich durch eine Fruchtwasseruntersuchung feststellen.

Mucoviscidose:

Mucoviscidose ist die häufigste erbliche Stoffwechselkrankheit. 4 bis 5 Prozent der Bevölkerung sind (gesunde) Überträger. Heiratet ein Behinderter mit Mucoviscidose einen gesunden Überträger, liegt das Risiko, ein behindertes Kind zu zeugen, bei 50 Prozent. Bei der Heirat mit einem Nichtüberträger sind alle Kinder gesund, aber zugleich auch alle Überträger.

Muskelschwund:

In einer Ehe, in der bereits ein Kind mit Muskelschwund geboren wurde, ist das Risiko groß, daß ein weiteres Kind auch Muskelschwund hat. Behinderten mit Muskelschwund empfiehlt die Fachliteratur genetische Beratung.

Sehbehinderung oder Blindheit:

Vor einer Schwangerschaft muß geklärt werden, daß die Behinderung keine genetische Ursache hatte.

Spastiker:

Eine genetische Beratung wird empfohlen.

Spina bifida:

Das Risiko wird mit 7 Prozent angegeben, aber ausreichende Erfahrungen liegen nicht vor.



[195] Tabu Tod, in: Die Zeit, Nr. 40/1976.

[196] Manon Hoffmeister: Psychologische Probleme bei jugendlichen Patienten mit Mucoviscidose, in: Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Mucoviscidose, Nr. 15/1979.

[197] Ebenda.

[198] Deutsche Medizinische Wochenschrift, Nr. 84/1959, S. 1437 ff ., zitiert nach: Lothar Witzel: Das Verhalten Sterbender, in: Alter und Tod - annehmen oder verdrängen? Ein Tagungsbericht, hrsg. von Wilhelm Bitter, Stuttgart 1974, S. 84.

[199] Ebenda.

[200] Ebenda.

[201] Ebenda, S. 85.

[202] Klee: Sozialprotokolle, a. a. O., S. 121 ff.

[203] Christoph Eggli: Warum ich nicht mehr in der Cite Radieuse leben möchte, in: Zeitschrift "Puls", Nr. 5/1979.

[204] Ebenda.

[205] Ursula Eggli: Herz im Korsett, Tagebuch einer Behinderten, Bern 1977, S.149.

[206] Elisabeth Kübler-Ross: Was können wir noch tun?, Stuttgart 1974, S. 27.

[207] Schmidbauer: Die hilflosen Helfer, a. a. O., S. 9 ff.

[208] Klaus Dörner / Ursula Plog: Irren ist menschlich - oder: Lehrbuch der Psychiatrie/Psychotherapie, Wunstorf 1978, S. 161.

[209] Ebenda, S.162.

[210] Ebenda, S. 164.

[211] Selbstmordgedanken (Verfasser anonym), in: Klee: Behindertsein ist schön, a. a. O., S. 83.

[212] Eggli: Herz im Korsett, a. a. O., S. 101.

[213] Christoph Eggli: Warum ich nicht mehr in der Cite Radieuse leben möchte, a. a. O.

[214] Fredy Fuchs: Sexualverhalten und Partnerbeziehungen junger Körperbehinderter, Reihe "Puls wissen", Nr. 2, Luzern O. J. (1978), S. 22.

[215] Zeitschrift "Leben und Weg", Nr. 1/1979.

[216] Ebenda.

[217] Zeitschrift "Lebenshilfe", Nr. 3/1974.

[218] Hermann Klöcker: Der Körperbehinderte und seine Sexualität, Rheinstetten 1976, S. 55.

[219] Ebenda, S. 40.

[220] Ebenda, S. 56.

[221] Klee: Behinderten-Report, a. a. O., S. 162 ff.

[222] Heinrich Schade: Allgemeine Bemerkungen zu Fragen der Eheschließung und Nachkommenschaft bei Behinderten; in: K. J. Kluge, Leo Sparty: Sollen, können, dürfen Behinderte heiraten?, a. a. O., S. 241.

[223] Behinderte Liebe, Filmexposè von Brigitt Baumeler, Ursula Eggli, Marlies Graf, Matthias Loretan, Wolfgang Suttner, Therese Zemp, O. J. (1976). Das Filmexposé wurde von einer Gruppe Schweizerischer Behinderter und Nichtbehinderter erarbeitet.

[224] Kluge/Sparty: Sollen, können, dürfen Behinderte, a. a. O., S. 30 (Verfasser anonym).

[225] Ebenda, S. 35.

[226] Fredi Saal: Mut zum Selbstverständlichen. Zur Frage der Ehefähigkeit des Körperbehinderten, in: Kluge/Sparty: Sollen, können, dürfen Behinderte, a. a. O., S. 16.

[227] Fredi Saal: "Einen Behinderten kann man doch nicht heiraten." - Antworten auf ein Vorurteil; in: "Leben und Weg", Nr. 1/1977.

[228] Norbert Brings: Meine Eheerwartungen als behinderter Mann; in: Kluge/Sparty: Sollen, können, dürfen Behinderte, a. a. O., S. 42 f.

[229] Eggli: Herz im Korsett, a. a. O., S. 173.

[230] Ebenda, S. 207.

[231] Filmexposé Behinderte Liebe, a. a. O.

[232] Eggli: Herz im Korsett, a. a. O., S. 167.

[233] Kluge/Sparty: Sollen, können, dürfen Behinderte, a. a. O., S. 28 (Verfasser anonym).

[234] Ebenda, S. 34 (Verfasserin anonym).

[235] Kurt Joachim Fischer: Manfred, ein Mann im weißen Kittel, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 19/1974.

[236] Fredi Saal, in: Kluge/Sparty: Sollen, können, dürfen Behinderte, a. a. O., S. 13.

[237] "Leben und Weg", Nr. 3/1978.

[238] Ebenda, Nr. 3/1976.

[239] Ebenda, Nr. 3/1978.

[240] psychologie heute, Nr. 8/1978.

[241] Zeitschrift "Commit" (Club der Behinderten und ihrer Freunde, Mainz), Nr. 2/1978 (Verfasserin zeichnet mit "Gabriele").

[242] Zeitschrift "Puls", Nr. 9/1976.

[243] Bernhard Bächinger: Sexualverhalten und Sexualberatung von Körperbehinderten, Reihe "Puls wissen", Nr. 1, Luzern O. J. (1978), S. 155.

[244] Jürgen Knop: Behinderte - Geschlechtslose Wesen?, in: Zeitschrift "Publik-Forum", Nr. 15/1977.

[245] Heidenreich, K. J. Kluge: Befreiende Sexualität -sexuelle Partnerschaft, Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 77.

[246] Bächinger, Sexualverhalten, a. a. O., S. 162.

[247] Ebenda, S. 48.

[248] Filmexposé Behinderte Liebe, a. a. O.

[249] Ebenda.

[250] Klee: Behinderten-Report, a. a. O., S. 169 f.

[251] Fritz Stöckmann: Geschlechtserziehung bei geistig behinderten Kindern und Jugendlichen, vervielfältigtes Manuskript O. J. (Stöckmann schrieb den Aufsatz als Leitender Arzt der Rotenburger Anstalten der Inneren Mission in Rotenburg/Hannover).

[252] Ebenda.

[253] Die Bundesvereinigung der Eltern geistig Behinderter, "Lebenshilfe", hat die Möglichkeit der freiwilligen Sterilisation geistig Behinderter 1974 gefordert. Daraufhin bat das Bundesjustizministerium das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland um eine Stellungnahme. Diese wurde in der "Diakonie-Korrespondenz" in der Nr. 20/1975 veröffentlicht. Dort heißt es: "3. Eine Regelung für Personen, die zur wirksamen Einwilligung nicht fähig sind und in absehbarer Zeit nicht fähig werden, darf aber gerade dann nicht unterbleiben, wenn das Ziel ihrer Förderung eine möglichst weitgehende Angleichung an die Lebensformen der sie umgebenden Gesellschaft ist (Normalisierungsprinzip). Berücksichtigung finden müssen dabei das Recht des geistig behinderten Menschen auf Entfaltung seiner Persönlichkeit und der Schutz, dessen der geistig behinderte Mensch in besonderem Maße bedarf. Das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit verbietet eine nach Geschlechtern getrennte Verwahrung geistig behinderter Menschen. Möglich sein sollten neben der Teilnahme am Leben der Gemeinschaft auch partnerschaftliche Beziehungen geistig Behinderter untereinander. Dabei ist unter anderem zu berücksichtigen: - die Erkenntnis, daß die stimulierenden Anreize, denen Behinderte unter dem "Normalisierungsprinzip" ausgesetzt sind, nur teilweise gesteuert werden können, - der ungenügende Schutz durch Antikonzeptionsmittel, - das Unvermögen, verantwortliche Elternschaft zu praktizieren und - die Gefahr folgenschweren Mißbrauchs durch Nichtbehinderte. Dagegen kann im Einzelfall wirksam nur eine Sterilisation den erforderlichen Schutz bieten. 4. Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland unterstützt deshalb die Stellungnahme der Bundesvereinigung Lebenshilfe vom 21. 2. 1974. Das Diakonische Werk fordert, daß bei einer vorgesehenen Neuregelung des § 226 StGB die Möglichkeit der Sterilisation geistig behinderter Menschen beiderlei Geschlechts ohne Altersbegrenzung im Einzelfall unter bestimmten und begrenzten Voraussetzungen erhalten bleibt bzw. geschaffen wird. Um die Gefahr eines Mißbrauchs weiter zu verringern, hält es das Diakonische Werk darüber hinaus für erforderlich, daß im individuellen Entscheidungsverfahren auch Personen gehört werden, die dem betroffenen geistig Behinderten nahe stehen, insbesondere Eltern und mit der Fürsorge für ihn befaßte und sein Vertrauen genießende Personen. Die Berücksichtigung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses soll sicherstellen, daß Sterilisationen nicht gegen den Willen geistig Behinderter und ohne zwingende Notwendigkeit durchgeführt werden. 5. Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland setzt sich dafür ein, daß eine Sterilisation einwilligungsunfähiger geistig Behinderter möglich sein soll, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind: a) Antrag des gesetzlichen Vertreters und b) Feststellung der Indikation durch eine unabhängige ärztliche Gutachterstelle und c) Anhörung des Behinderten, soweit dies möglich ist und d) Zustimmung des Vormundschaftsgerichts nach Anhörung mindestens einer Persönlichkeit, die der geistig behinderten Person nahe steht. Von einer Altersbegrenzung sollte abgesehen werden."

[254] Heidenreich/Kluge: Befreiende Sexualität, a. a. O., S. 48.

[255] Berichtet und zitiert nach: Hans Wrenne: Sexualerziehung der geistig Behinderten, Vortrag auf dem Internationalen Symposium der Bundesvereinigung Lebenshilfe über geistige Behinderung, Partnerschaft, Sexualität, 8. bis 11. Sept. 1975.

[256] Evald Krog: Sexualität und Ehe bei Muskelkranken, in: Zeitschrift "Muskelreport", Nr. 2/1976.

[257] Ebenda.

[258] Pressedienst "Informationen zur Rehabilitation", hrsg. von der Stiftung Rehabilitation, Heidelberg, Mai 1977.

[259] Filmexposé Behinderte Liebe, a. a. O.

[260] Ebenda.

[261] Eggli: Herz im Korsett, a . a. O., S. 51.

[262] Literaturangaben bei Fuchs: Sexualverhalten, a. a. O.

[263] Klöcker: Der Körperbehinderte, a. a. O., S. 43.

[264] Christoph Eggli: "Modell einer idealen Gesellschaft", in: Zeitschrift "Puls", Nr. 9/1976.

[265] Club Dagobert Informationen (hrsg. vom Caritas Verband Mainz), Nr. 3/1978.

[266] Ebenda.

[267] G. Wendt: Genetische Beratung und Kinderwunsch bei Behinderten, in: Kluge/Sparty: Sollen, können, dürfen Behinderte, a. a. O., S. 216 ff.

Teil VI: Die Betreuung Behinderter

1. Aus dem Wörterbuch des Unmenschen

Behinderte werden betreut. Das Wörterbuch des Unmenschen registriert eine Reihe von Wörtern, deren Vorsilbe "be-" die Absicht verkünden, den Gegenstand, auf den es ankommt, zu unterwerfen: Beherrschen und Betrügen, Beschimpfen und Bespeien, Bestrafen und Benutzen, Beschießen und Bedrücken, aber auch Belohnen und Beruhigen. "In allen diesen Fällen wird das Objekt, eben der Jemand, mindestens zeitweilig des eigenen Willens beraubt oder soll des eigenen Willens beraubt werden oder hat seine Freiheit schon verloren ..."[268]

"Man betreut jemanden und damit basta. Dieses Verhältnis ist total. Die Betreuung ist diejenige Art von Terror, für die der Jemand - der Betreute - Dank schuldet. Und das tut dem Unmenschen wohl."[269] "Betreuer" gab es in den Konzentrationslagern und "Betreuen" ist ein Wort aus dem Umkreis der Euthanasie, sagt Bevormundung und Vernichtung an. Um so erstaunlicher, daß sich keiner scheut, von der Betreuung Behinderter zu sprechen. Selbst Behindertenverbände "betreuen" Behinderte. Wo aber Behinderte betreut werden, haben sie nichts selbst zu entscheiden, bleiben sie Objekte der Be-Fürsorgung.

Kennzeichen der Betreuung ist es, daß sich Nichtbehinderte um die Behinderten kümmern. Man versorgt sie für einen Nachmittag, man handelt für sie. Der Behinderte hat eigentlich keine andere Aufgabe, als sich die Wohltaten gefallen zu lassen. Der Behinderte ist das Objekt, an dem die Nichtbehinderten, die sogenannten Gesunden oder Normalen, ihre gute Gesinnung betätigen können. Behindertenbetreuung ist die gute Chance, sich mit Wohltaten an den Bedauernswerten das Himmelreich zu erwerben.

Eines der krassesten Beispiele dafür, daß ein Behinderter keine andere Rolle, keine andere Funktion hat, als dem Nichtbehinderten als Trostspender zur Verfügung zu stehen, fand ich in einem Buch "Auch aus behinderten Kindern werden Erwachsene", das im Untertitel "Ratschläge für Eltern und Erzieher" verspricht. Eine Sonderschulpädagogin schildert darin, wie ihr die Sinnfrage auf dem Friedhof beantwortet wurde. Sie hatte immer mit Gott gehadert und gezürnt, daß er soviel Elend zuließ, doch auf dem Gottesacker kommt ihr die Erleuchtung:

"Es war, als ich einmal durch die Wege des Friedhofs ging. Da stand vor dem Grab eines Kindes seine Mutter. - Und ich erinnerte mich: Mit diesem Kind war ich aufgewachsen. Es hatte die eine Hälfte des Gehirns gelähmt, ganz schwere Krampfanfälle, war vollkommen blind und hatte lebensgefährliche Wutanfälle. Hatte das Kind einen schlechten Tag, durfte nur ich in seine Nähe. Meine ganze Kindheit verbrachte ich mit ihm. Auch seine Mutter war ratlos nach der Frage nach dem Warum. Und als ich die Mutter am Grabe ihres Kindes stehen sah, wußte ich plötzlich eine Antwort auf das Warum. Das Kind hatte nur gelebt, um mich (Hervorhebung vom Verf.) für meinen schönen Beruf vorzubereiten. Keine hundert Lehrbücher hätten mir so viel Rüstzeug für meine schwere Arbeit geben können, wie das Zusammenleben mit diesem Kind. Nachdem ich mein Ziel erreicht hatte, legte es sich, um zu sterben. Seine Mission war erfüllt."[270]

Gott hat also dieses behinderte Kind so lange am Leben erhalten, bis die Dame ihre Berufswahl getroffen hatte. Das Kind diente als lebendiges Anschauungsmaterial, als Übungspuppe. Der Lebenssinn des behinderten Kindes war ganz dem Lebenssinn des Nichtbehinderten untergeordnet (ich bin sicher, daß Gott auch andere Wege findet, zu einem sinnvollen Beruf zu verhelfen).

"Herr Drutzel von der Feuerwehr bemerkte richtig: >Für einen gesunden Menschen ist ein Brand ein Unglück, aber für den Behinderten kann er eine Katastrophe sein.<"

Bericht über einen Informationsabend im Betreuungsbereich Aschaffenburg Stadt und Land, in: Zeitschrift "Leben und Weg", Nr. 3/1978.

Viele Behinderte wurden zur Passivität erzogen. Sie sollen dankbar warten, bis sich ein "Gesunder" ihrer erbarmt. Diese anerzogene Haltung haben sie übernommen, verinnerlicht, wie man sagt. Man ist schon froh, wenn sich eine Berühmtheit des öffentlichen Lebens oder des Show-Gewerbes einmal zu den Armen begibt (was wohl eher dem gesunden Sinn für Reklame als dem Willen zur Mitarbeit entspringt).

Wie verarmt muß das Leben sein, wenn einem Behinderten ein Olympiasieger gottähnlich wird und er davon einen ganzen Winter lang zehren muß? -: "Im sonnenbeschienenen Englischen Garten sah ich die russische Weltmeisterin im weißen Hütchen ... elegant und ruhig, . . . und Tropfen vom Olympiastar Mark Spitz berührten mich, als er zu einer seiner zahlreichen Siegerehrungen geholt wurde, so nah plazierte man die Rollstühle im wunderbaren Schwimmstadion!! ... Wie dankbar muß ich sein, das alles mitzuerleben! Ich werde den ganzen langen Winter darüber nachzudenken haben!"[271]

Für viele Behinderte bedeutet es natürlich viel, überhaupt einmal aus dem eigenen Getto herauszukommen. Doch in der Betreuungsarbeit wechselt der Behinderte nur vom privaten Getto ins Vereinsgetto, in einen Lamentierkreis, wo wohl gejammert, aber nicht so laut kritisiert wird, daß es "draußen" gehört werden könnte. Es fehlt der Mut und die Kraft, die Rolle des Betreuten abzuwerfen, weil ja Betreuung auch angenehme Seiten hat:

"In den letzten Februarwochen waren wir eifrig darum bemüht, einen geeigneten Unterstellplatz für unseren neuen Behindertenbus zu bekommen. Nach langen Verhandlungen mit der Stadtverwaltung konnte uns diese nur einen Platz im Freien auf dem Siegburger Schlachthof anbieten."

Zeitschrift "Leben und Weg", Nr. 3/1979.

"Ich habe jetzt schon des öfteren beobachtet, daß die Zugehörigen von Behindertenvereinen sich bei Feten, Kaffeekränzchen und ähnlichem treffen (und siehe da, es kommen auch die, denen es sonst unmöglich ist, von zu Hause wegzukommen!) und dann wird in gemütlichem Rahmen auf alles das geschimpft, was Behindertsein so schwer macht. Man fühlt sich wohl hinterher, man hat schließlich mal seine Meinung gesagt. Dabei bewegte man sich in vertrautem Rahmen, konnte der Zustimmung der anderen sicher sein. Die hier geredet und sich bitter beklagt haben, gehen dann wieder nach draußen und sind arme, unterdrückte Krüppelchen wie vorher. Sie haben nicht begriffen, daß das Geschimpfe in der Abgeschirmtheit des trauten Kämmerleins gar nichts bewirkt. Es fällt ihnen auch nicht ein, mal Rückgrat zu zeigen und sich in der Umwelt, gegen die sie im geheimen so sehr opponieren, zu behaupten. Es könnten ja Vergünstigungen, wie das Bedauern wegfallen, das dem Selbstmitleid so gut tut. Ihre Forderung lautet also: >Wir sind ganz normale Menschen wie die Nichtbehinderten auch, trotzdem: nehmt bitte Rücksicht auf uns bemitleidenswerte Wesen.< Sie wollen die Nachteile ihrer Außenseiterstellung aufgeben und voll integriert sein; die Vorteile, die ihr Randgruppendasein nun aber auch mit sich bringt (wie etwa mehr Rücksichtnahme) möchten sie aber nicht missen."[272]

2. Die Irrelevanzregel oder die Rettung der Scheinnormalität

Kommen Nichtbehinderte in die Betreuungskreise, bricht der große Jubel über die ach so Edelmütigen aus. Und wenn die Betreuten sogar noch gelobt werden, freuen sie sich wie Kinder: "Sogar zwei Polizisten waren unserer Einladung gefolgt. Sie lobten unseren Eifer."[273]

Behindertenarbeit kann durchaus Spaß machen, attraktiv sein, mindestens so attraktiv wie jede andere Vereinsarbeit. Doch die Behinderten der Betreuungsarbeit sind so gedemütigt, daß sie Ansprüche erst gar nicht mehr stellen. Wer sich aber nur anbietet, betreut zu werden, dem hält man eben nur eine schöne Rede von Integration, auch Behinderte gehörten zur Gesellschaft, der Behinderte sei ein Mensch wie jeder andere auch - und was der Sprüche mehr sind. Wer sich selber nur zur Betreuung anbietet, degradiert sich als Partner.

Nur die unbequemen Behinderten sind auf Dauer als Partner interessant, weil sie den Nichtbehinderten zur Auseinandersetzung zwingen, weil sie ihm gedanklich, menschlich, sozial, vom Empfinden her etwas abverlangen. Betreuen kann ich auch Katzen, Hunde, alle Haustiere. Auch die sind dankbar, lassen sich füttern und dafür streicheln.

In vielen Vereinszeitschriften der Betreuungsvereine liest man stets von fröhlichen Behinderten, ein Hallo auf den Lippen, Dankbarkeit im Blick. Von Sorgen, Problemen, Benachteiligungen liest man nichts. Die Treffen verlaufen in "vergnüglicher Harmonie", die Helfer sind stets freundlich, alles ist auf das Beste hergerichtet. Geselligkeit und Frohsinn triumphieren. Alle sind "eine große gemeinsame Familie" (die allerdings offensichtlich getrennt lebt), die schönen Stunden verrinnen allzu schnell. Die Veranstaltung war, wie immer, ein voller Erfolg.

Ich habe mich oft gefragt, warum das so geschrieben wird. Denn so vergnüglich-erfolgreich sind die Treffs ja nicht immer und voller Harmonie sind die Vereine auch nicht. Ich kann es mir nicht anders erklären: Die Berichte sind für die Nichtbehinderten geschrieben. Die sogenannten Gesunden werden hofiert, bitte, seid so nett, kommt doch wieder, ihr habt es so schön gemacht.

Hinter dieser Haltung steckt das, was die Fachleute mit der "Irrelevanzregel" bezeichnen. Die nichtbehinderten Gäste tun so, als sähen sie die Behinderung der Behinderten nicht, als sei das körperliche (oder geistige) Stigma irrelevant, für eine Beziehung unwichtig. Sie verkehren ganz gesellig mit den Behinderten, solange es Rahmen dieser Veranstaltungen bleibt, man tut so, als seien soziale Positionen, gesellschaftliche Bewertungen und körperliche Gebrechen in keiner Weise von Bedeutung. Der Anschein einer "Scheinnormalität" wird aufrechterhalten und einen Abend lang durchgespielt.[274]

Behinderte mit der Betreut-werden-Mentalität wissen natürlich auch, daß sie gesellschaftlich benachteiligt sind, daß sie angeblich nicht den Normen entsprechen. Aber auf diesen Veranstaltungen wird wenigstens so getan, als seien sie ganz normal, als gehörten sie tatsächlich zur großen Familie. Und dieses Trugbild möchten sie möglichst lange erhalten. Wollen Behinderte diesen Anschein retten, müssen sie sich dem Nichtbehinderten als dankbares Betreuungsobjekt anbieten. So helfen Behinderte, ohne es zu wollen, daß ihre Rolle als Betreuungskrüppel weiterbesteht.

Denn der Schwache darf sich keine Kritik erlauben. Er hat den Stärkeren zu loben. Dies ist das Verhalten von Unterworfenen, Gedemütigten, Geduckten, vom Schicksal und der Umwelt Geschlagenen. Über ein Frühlingsfest ("und vornweg kann man sagen, daß auch dieses Fest wieder wohl gelungen war") las ich in einer Behinderten-Zeitschrift:

"Das Stadtgartenamt ... hatte den nötigen Blumenschmuck für ein Frühlingsfest zur Verfügung gestellt, und so konnten wir die Tische hübsch mit Tulpen und Osterglocken dekorieren. Der Osterhase kam auch nachträglich, denn die Firmen T. und Z. hatten eine Menge Schokoladenhasen sowie Schoko- und Marzipan-Eier gestiftet. So konnte allen Anwesenden, also den Behinderten, Angehörigen, Gästen und Helfern ein großer Beutel mit Leckereien überreicht werden. Zum Kaffee gab es leckeren selbstgebackenen Kuchen. Einige Damen hatten diesen Kuchen beigesteuert als >Hilfe zur Selbsthilfe<. Für die Unterhaltung sorgte das Perry-Winters-Trio. Es gab Melodien von klassisch bis modern zum Besten, welche sich vornehmlich um die Liebe und Frühling drehten, so daß für jeden Geschmack etwas dabei war ... Am Ende der Veranstaltung, die von 14.00 Uhr bis 18.30 Uhr dauerte, ging noch das >große Dankeschön< an alle Helferinnen und Helfer, die DRK-Angehörigen, die Musiker, die Kuchenbäckerinnen, das Stadtgartenamt und die Firmen T. und Z."[275]

Die, das muß ich hinzufügen, ihre alten Osterhasen und Ostereier, die nach Ostern unverkäuflich waren, auf diese Weise mildtätig loswurden. Den Behinderten gehört der Ramsch, das Ausrangierte. Und sie bedanken sich noch dafür, vom Abfall auch etwas zu bekommen (den Firmen wäre wohl kaum eingefallen, bei einem Empfang für Geschäftspartner eine Woche nach Ostern Osterhasen zu verteilen).

"Am Sonntag, dem 7. November, löste Herr Pfarrer Müller von St. Elisabeth, Siegburg, sein Versprechen ein und hielt vor über 30 Behinderten im >Blauen Salon< des Siegblick einen Dia-Vortrag über Thailand. Er fand in den gehbehinderten und zum Teil auf den Rollstuhl angewiesenen Menschen aufmerksame, interessierte und dankbare Zuhörer. Es war eine Freude, an all dem Schönen teilnehmen zu können, weil allen infolge ihrer Behinderung es niemals möglich ist, so etwas persönlich zu erleben."

Zeitschrift "Leben und Weg", Nr. 1/1977.

Man wirbt um Verständnis. Doch mit Bitten bewegt man keine Vorurteile. Geradezu grotesk wird es, wenn sich eine Stadt weigert, einen einzigen Bordstein abzuflachen, mit der Begründung, die Finanzlage der Stadt sei zu angespannt! Und als dieser Bordstein schließlich doch noch abgeflacht wird, wird dies im Mitteilungsblatt des Vereins auch noch als Ereignis gewürdigt.

Dabei ist es nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit, daß Behinderte nicht architektonisch und städteplanerisch aus dem Stadtbild ausgesperrt werden. So bescheiden, sich über einen einzigen abgesenkten Bordstein zu freuen, ist keine andere Gruppe der Gesellschaft. Betreuungsbehinderte sind artig und lieb (die hier bespöttelte Gruppe erhob später gegen den Leiter des Tiefbauamtes Dienstaufsichtsbeschwerde. Ergebnis: Nun werden die Bordsteine abgeflacht!).

3. Die Funktionäre

Wo betreut wird, fehlen auch die Funktionäre nicht. Funktionäre haben kein eigenes Bewußtsein. Sie funktionieren im Auftrag von Vereinssatzungen und verbandspolitischen Zielen. Funktionäre verkörpern eine ganze Organisation und treten damit für Höheres ein als nur für die Betreuten.

Sind Funktionäre erst einmal Funktionäre geworden, entwickeln sie eine Art Selbsterhaltungstrieb. Sie wollen ihre Posten, die sie stattlich kleiden, ihnen Format und Struktur geben, nicht mehr verlieren. Sie beginnen, Informationen zu horten und nur noch gezielt zu informieren. Denn Wissen ist Macht und der Vorsprung an Informationswissen hebt sie auf das Podest der Weisen.

Funktionäre haben gegenüber den einfachen Vereinsmitgliedern etwas Exklusives, Ausschließendes heißt das deutsche Wort dafür. In seinem Verein, in seinem Verband, da ist der Funktionär König. Und Könige teilen nicht. Sie hüten ihr kleines Reich. So kommt es, daß Verein A auf keinen Fall mit Verein B zusammenarbeiten kann, daß in jeder Stadt viele, viele Vereine gegründet werden, mit vielen, vielen Funktionären und wenigen aktiven Mitgliedern. Denn wo der Vorstand mächtige Verantwortung trägt, da ruhen sich die Mitglieder in seinem Schatten aus.

Wir haben Organisationen für Bluter, Wasserköpfe, Rheumatiker, Spastiker, Hautkranke, Blinde, für jede Behinderung einen Verband und manchmal auch zwei und manchmal auch drei, weil Funktionäre den großen Unterschied herausgefunden haben zwischen "nur" Blinden und Kriegsblinden, zwischen "nur" Hirnverletzten und kriegsbeschädigten Hirnverletzten. Und vielleicht streiten sie sich wieder, ob man den einen Hirnverletzten nicht besser an den Verein für geistig Behinderte abtreten soll, weil er das Image des Vereins schädigt. Ja, die Depperten, die halten wir raus. Man denke, einer ist blind und zugleich deppert: Ist er da besser bei den geistig Behinderten aufgehoben oder bei den Blinden? Das führt uns zu einer Behindertenkategorie, die alle Vereinssatzungen sprengt: die mehrfach Behinderten!

"Zweigeteilte Kniescheiben, links su. Gleichgeschädigte zur Gründ. einer Interessengemeinschaft von Knie zu Knie."

Aus: "Main-Post", zit. nach: Commit-Info Nr. 3/1978 (Mainz).

Ein Nicht-Funktionär weiß gar nicht, wie viele Funktionsbereiche Funktionäre verteidigen können: Als in meiner Heimatstadt Frankfurt 1977 ein Gehörlosenzentrum eröffnet wurde, zogen dort 13 (in Worten: dreizehn) verschiedene Gehörlosen-Organisationen ein. Allein die Tatsache, daß es zwei große Konfessionen gibt, ist schon für zwei verschiedene Organisationen gut, gibt es doch katholische und evangelische Gehörlose. Und gehörlos zu sein, ist für einen Katholiken natürlich etwas ganz anderes als für einen Protestanten (und umgekehrt).

Sie alle kochen ihr eigenes Süppchen, wie man so sagt, ein Blindensüppchen, ein Spastikersüppchen und sie alle sitzen mit Messern bewaffnet da, um sich vom viel zu kleinen Sozialkuchen ein Stückchen abzuschneiden. Jeder ist elender als der andere, der eine hat ältere Rechte als der andere, der dritte vertritt die Gescheitesten im Krüppellande. Wenn sich die Funktionäre um Anteile streiten, vergessen sie alle Hilflosigkeit, Schwäche, Krankheit und Not. Sie dreschen auf sich ein, beschimpfen sich, diffamieren sich - offen oder diskret. Und das alles im Interesse der Betreuten natürlich. Nur in ihren Appellen sind sie sich einig: Die Gesellschaft lehnt Behinderte ab, die Gesellschaft ist behindertenfeindlich.

Besonders gut funktionieren Funktionäre, wenn sie sich im Kreise politischer oder sonstiger gesellschaftlicher Prominenz zeigen und ablichten lassen dürfen. Bei Empfängen ist ihre Streitlust wie weggeblasen. Es muß daran liegen, daß die, die immer im Schatten lebten, nach der Sonne der Anerkennung lechzen. Zwar feilschen sie vor einem Empfang beim Bundespräsidenten, wer in der ersten Reihe stehen darf und wer ins zweite und dritte Glied gehört, aber stehen sie erst mal, dann strahlen sie, lächeln sie, vom großen Glanz des Staatsoberhaupts einen Strahl abzubekommen.

Und das mag auch einer der Gründe sein, ob man nun vom Staatsoberhaupt oder vom Oberbürgermeister empfangen wird, daß wir auf den Empfängen immer sehr repräsentative Funktionäre sehen. Kaum Rollstuhlfahrer, die kämen ja auch nicht ins Rathaus, keine Entstellten, keine Stotterer. Die sichtbar schwer Behinderten steigen in der Funktionärskaste nicht zu Repräsentanten auf. Für sie bleibt die ehrenvolle Aufgabe, bei Empfängen als Dekoration zu dienen und Beifall zu klatschen, wenn ihre Vertreter sie vertreten.

"Wir müssen mit unseren Forderungen maßvoll sein«, wie oft habe ich diesen Satz von Funktionären gehört. Sie wollen es sich mit den Staatsgrößen erster und dritter Ordnung schließlich nicht verderben. Auf einer Tagung hat der Psychotherapeut Claus D. Eck einmal gesagt: "Wer am Hof verkehrt, wird zum Höfling."

4. Elternvereinigungen

Genau genommen haben sich die Elternvereinigungen als Ziel ihrer Arbeit die Rehabilitation der Eltern vorgenommen.[276] Denn Elternvereinigungen sind Schutzgemeinschaften, wo sich die Be-drängten gegenseitig Beistand leisten. Das Verbindende ist die Behinderung des Kindes.

So gründeten die Eltern geistig Behinderter einen Verband, die Eltern spastisch Gelähmter, die Eltern von Kindern mit Wasserkopf, Mucoviscidose, Muskelerkrankungen oder Hämophilie. Sie handelten aus Sorge für ihre Kinder, zur Förderung der Kinder und zur eigenen - sehr notwendigen! - Entlastung, indem sie Tagesstätten und Werkstätten aufbauten, Aufgaben, die eigentlich der Staat hätte übernehmen müssen. Die Eltern schufen damit ihren Kindern überhaupt erst die Möglichkeit, behandelt, beschult und beschäftigt zu werden.

Die Sorgehaltung der Eltern bringt aber auch Nachteile. Eltern sehen in ihren Kindern auch dann noch "Kinder", wenn diese längst erwachsen sind. So lösten sich die heranwachsenden Behinderten aus den Elternvereinigungen, um eigene Vereine zu gründen.

Eltern leiden unter der Behinderung ihres Kindes häufig mehr, als der Behinderte selbst. Sie fühlen sich oft lebenslänglich diskriminiert und geschädigt. Nicht wenige versuchen, dies mit der Bekleidung eines Vereinspostens zu kompensieren.[277] Sie kaschieren ihre eigene Unsicherheit, indem sie in die Rolle des Funktionärs schlüpfen.

Dies gilt nicht für alle Eltern und auch nicht für alle Funktionäre, läßt sich aber regelmäßig beobachten. Ich habe eine Funktionärin vor Augen, die sich die Behinderung der längst erwachsenen Tochter zum Lebensinhalt gemacht hat. Das Kind muß behindert bleiben, mit so radikalen Mitteln, daß eine Schwangerschaft abgetrieben werden mußte, daß der Umgang mit Freunden verboten wurde und Versuche, selbständig zu werden, bedroht sind: "Wenn du das tust, kümmere ich mich nicht mehr um dich!" Diese Funktionärin tingelt sehr erfolgreich mit der Sammelbüchse durch die Stadt, weil ihr die Spenden der lokalen Prominenz die Anerkennung als leidende Mutter verschafft.

Gesetzmäßigkeiten, wie sich freie Vereinigungen entwickeln

Über die Gesetzmäßigkeiten, wie sich freie Vereinigungen entwickeln, gibt es eine hervorragende Studie von Wolf Wolfensberger. Danach lassen sich vier Phasen feststellen:

In der ersten Phase sind die Eltern noch ganz mit sich und ihren Gefühlen beschäftigt.

In der zweiten Phase denken die Eltern mehr und mehr an die Entwicklung ihres Kindes, bleiben aber in ihrer eigenen Welt befangen.

In der dritten Phase denken sie auch an gleichfalls betroffene Eltern und deren Kinder.

In der vierten Phase denken die Eltern nicht mehr nur an die eigene Behindertengruppe. Sie beteiligen sich an Aktionen für andere und lernen ganz allgemein, sich für eine Verbesserung menschlicher Lebensumstände einzusetzen. Dies ist die Reifephase.[278]

Wolfensberger analysiert die Entwicklung der freien Vereinigungen am Beispiel der Elternvereine der Eltern geistig Behinderter. Doch die Gesetzmäßigkeiten lassen sich nicht nur auf alle Elternvereinigungen übertragen, sie gelten auch für die Selbsthilfegruppen Behinderter:

Am Anfang finden sich kleine Gruppen zu örtlichen Vereinigungen zusammen. Die Gruppen wachsen und verbinden sich mit anderen Gruppen. Dabei lassen sich zwei Führungsstile beobachten: Der eine ist problemorientiert, will die Lösung von Problemen, der andere fördert Geselligkeit und Wohlbefinden der Mitglieder. Am Anfang steht der idealistische Vorsitzende, doch nach der idealistischen Gründungsphase gewinnen Geschäftsordnungen und Satzungen mehr und mehr Gewicht. Der idealistische Vorsitzende wird von einem Technokraten abgelöst.

"Wissenschaftliche Überlegungen haben folgendes ergeben: je höher ein Preis ist, den man im Rahmen einer Bewegung zu zahlen hat, desto wichtiger wird einem diese Bewegung, und desto williger setzt man sich für sie ein. Das bedeutet, daß man, um die ständige Lebendigkeit einer freien Vereinigung zu erhalten, eher Streitfragen, Probleme und überhaupt Gelegenheiten schaffen soll, die Gemüter und Emotionen zu erregen als sie zu beruhigen. Es ist richtiger, strittige Fragen zu verschärfen, als die Gegensätze zu verwischen. Ein gewisses Maß an Unzufriedenheit und Konfliktträchtigkeit sollte ständig vorhanden sein."

Wolf Wolfensberger: Die dritte Stufe, Marburg O. J., S. 42.

In der zweiten Stufe der Entwicklung übernimmt die öffentliche Hand die Finanzierung der neugeschaffenen Einrichtungen (z. B. Tagesstätten, Werkstätten). Manchmal wechselt auch die Trägerschaft. Diese Entwicklung gilt zunächst als Erfolg, denn sie ist ja ein Zeichen öffentlicher Anerkennung. Die Einrichtungen können nun ausgebaut und erweitert werden. Doch damit beginnt der Geldgeber, auf die Einrichtung Einfluß zu nehmen. Die Professionalisierung wächst und bringt Bürokratismus. Die Aktivitäten der Mitglieder sinken und die Aktivitäten der Vorstandsmitglieder steigen.

Sind große Einrichtungen und Zentren entstanden, ist ein umfangreicher Mitarbeiterstab angestellt, identifiziert man sich nach und nach mit Gebäuden, Bankkonten und Einfluß. Es wird immer schwieriger, der Versuchung zu widerstehen, das Bewahren des Erreichten für die Hauptsache zu halten.

Je heftiger man sich mit dem Erreichten identifiziert, desto weniger werden Schwachstellen wahrgenommen. Die Fähigkeit zur Selbstkritik schwindet und damit die Fähigkeit in Alternativen zu denken. Kritik wird unerwünscht und schließlich abgelehnt. »Es ist nichts Außergewöhnliches, daß Organisationsformen sich eher selbst auflösen, als daß sie sich wandeln und verändern."[279]

Haben Bewegungen, die eine Veränderung bestehender Mißstände erstrebten, Ansehen und Erfolg errungen, werden sie selbstzufrieden: "Wenn also eine Vereinigung sich mit einer Einrichtung identifiziert, so ist es sehr wahrscheinlich, daß ihre Fähigkeit und Willigkeit abnimmt, schöpferische Verbesserungen und Veränderungen anzustreben und innerhalb der Einrichtung zu realisieren. Wenn aber eine Vereinigung nicht ständig neue Ziele entwickelt, um ihre gegenwärtigen und potentiellen Mitglieder immer neu zu interessieren und anzuspornen, dann wird die Mitgliedschaft nach und nach zurückgehen oder sich wenigstens von der aktiven Teilnahme zurückziehen. Eine Vereinigung muß hervorragende, außerordentliche Zielsetzungen haben, für die es lohnt, sich einzusetzen und die geeignet sind, neue Mitglieder tatsächlich anzuwerben; wenn solche Parolen nicht vorhanden sind, stagniert die Vereinigung."[280]

Das Ende dieser Initiativen: Vereinigungen sind auf öffentliche Zuschüsse angewiesen. Dadurch fühlen sie sich ihrem Geldgeber verpflichtet. Sie entwickeln Hemmungen, ihre Meinung zu sagen, Gegensätze auszutragen, auch wenn dies im Interesse der Behinderten notwendig wäre. Man hat Angst, die Zuschüsse gestrichen zu bekommen. So werden Pläne aufgezwungen, die den Anforderungen der Geldgeber gerecht werden, aber nicht den Bedürfnissen der Behinderten. Die Unabhängigkeit ist verloren, das eigene Selbstverständnis ist hin, die Einrichtung nimmt den Charakter einer amtlichen Behörde an. Der Vorstand strebt danach, sich mit dem Geldgeber gutzustellen. Und am Ende läßt sich nicht mehr unterscheiden, ob eigentlich der Vereinigung oder den Behinderten geholfen wird.[281] Rechte und Wohl des Behinderten sind dem reibungslosen Verwaltungsablauf untergeordnet.

5. Selbsthilfe der Hilflosen - Selbsthilfegruppen

Als die Frustration am höchsten war, begannen Behinderte sich selbst zu helfen. Am Anfang standen mehrere Enttäuschungen zugleich: Die Kriegsopferverbände hinkten ihrer eigenen Ideologie nach, sahen sich als rassereinen Kriegsopferverband und respektierten Spastiker, geistig Behinderte, Poliogelähmte, alle jene Behinderten, die durch Geburt oder von Kindheit an behindert waren, in keiner Weise. Sie hüteten ihre Privilegien. Es waren erstarrte, bürokratisierte Kriegsopferlobbyisten. Was hätten auch junge Spastiker beim Heldengedenktreffen berichten sollen? Sie hatten keine Schlachten geschlagen.

Die Elternverbände, gruppiert um die jeweilige Behinderung ihres Kindes, waren auch kein Sammelbecken für Behinderte, die aus dem Gefängnis von Isolation und Vereinsmeierei ausbrechen wollten, denn die Eltern versuchten, ihre Kinder möglichst lange zu schützen und zu schonen, aus elterlicher Fürsorge zu bevormunden ("das kannst du nicht"). Die erste eigenständige deutsche Behindertengruppe spaltete sich 1968 in Hamburg von einem Elternverband ab, weil sich die jungen Behinderten nicht länger verkindlichen lassen wollten.

Damals wurden Behinderte als bizarre Mißwüchse der Natur gesehen, die es allenfalls zu betreuen galt. Kaum ein Behinderter war zur Schule gegangen oder hatte gar eine Ausbildung. Die Behinderung war Lebensinhalt und Beruf zugleich. Aus den Wohnungen kamen sie nur im Ausnahmefall, weil man sie architektonisch perfekt ausgesperrt hatte. Doch je selbständiger sie zu denken begannen und je selbständiger sie handelten, desto größere Mißstände kamen ihnen zu Bewußtsein. Viele Gruppen erschraken über den Ausblick, der sich ihnen jenseits der Gettomauern auftat. Sie beschränkten sich mehr oder weniger darauf, sich zu treffen, Geselligkeit zu pflegen. Das Miteinander spielte sich mehr oder minder in einer vereinsbezogenen Binnenwelt ab.

"Die Zivilbehinderten sind eine in Österreich bewußt und unbewußt unterdrückte Personengruppe. Bewußt unterdrückt von den Gesetzgebern. Sie nützen es schamlos aus, daß die Behinderten aufgrund ihres mangelnden Selbstbewußtseins sich bis heute nicht dazu durchringen konnten, Kampfmaßnahmen zu setzen, um damit die Öffentlichkeit auf die Unzulänglichkeiten in der Behindertenpolitik aufmerksam zu machen."

Josef Gantner: Clup handicap Wien.

Ich halte es für sinnvoll, zwischen Selbsthilfegruppen und Initiativgruppen zu unterscheiden. Selbsthilfegruppen sind jene, deren Aktivitäten meist auf den Binnenbereich begrenzt bleiben, auf das Leben im Verein, samt Ausflügen und Feiern. Initiativgruppen sind dagegen jene, die mit Entschlußkraft und Unternehmungsgeist konkrete Mißstände anpacken, Initiative ergreifen, ihren Lebenszusammenhang erweitern, neue Aktionsradien erschließen, den Handlungsspielraum durch aktives Handeln ausdehnen. Auch sie sind natürlich Selbsthilfegruppen, aber sie sind zielgerichtet, nach außen wirksam zu werden. Selbsthilfegruppen sind eher geschlossene Kreise, wie etwa therapeutische Gemeinschaften, Initiativgruppen sind dagegen für neue Initiativen offen.

Die Schwierigkeiten der Gruppen liegen in ihrer Organisationsform. Sie können ihre materielle Basis sichern, wenn sie sich in Vereinsform organisieren. Der Status eines eingetragenen Vereins bringt die Gemeinnützigkeit, so daß die Gelder, die man dem Verein zukommen läßt, vom Finanzamt als Spende anerkannt werden, steuerabzugsfähig sind. Ich will nicht auf die finanztechnischen und finanziellen Einzelheiten eingehen, aber eine der antiemanzipatorischen Folgen, sich eine Vereinsform zu geben, ist die, daß nach der Satzung ein Vorstand zu wählen ist. Der Vorstand organisiert das Clubleben, muß sich um Verwaltung und Abrechnungen kümmern, was in der Regel zu einer Überlastung der Vorstandsmitglieder führt.

"Es gibt Beispiele noch und noch, wo Vereinigungen sich gewandelt haben von mageren hungrigen Löwen, die brüllen und beißen, in wohlgenährte, selbstzufriedene, unbedeutende, ruhige und höchstens einmal kläffende Schoßhunde ihrer Geldgeber. Der reiche Mann hat zuviel zu verlieren, während der arme viel zu gewinnen hat. Für den Behinderten zu kämpfen, bedeutet eine ständige Revolution, die sich sowohl gegen die Vergangenheit wie auch gegen die Gegenwart richtet - aber der reiche Mann geht nicht gerne auf die Barrikaden."

Wolf Wolfensberger: Die dritte Stufe, Marburg O. J., S. 20.

Die Clubmitglieder entwickeln jedoch die Mentalität: Laß doch mal den Vorstand machen, der ist ja dafür gewählt. So entsteht eine Kluft zwischen den verantwortlichen Vorstandsmitgliedern und den Vereinsmitgliedern, dem Fußvolk, das sich vom Vorstand unterhalten lassen will. Und so, nahezu zwangsläufig, zieht das alte Funktionärswesen wieder ein. Die Vorstandsmitglieder haben nicht nur mehr Verantwortung, sie verfügen auch über mehr Informationen, so daß sich die Gruppen oder Clubs in ihrer Organisationsform kaum noch von jenen Organisationen unterscheiden, die sie zuvor noch bekämpft haben. Man kann nicht behaupten, daß dieser Ablauf behindertenspezifisch ist, ähnliches läßt sich in allen Vereinen verfolgen, aber es lähmt die Behindertenarbeit.

Dennoch haben sich die einzelnen Clubs anderen Verbänden gegenüber noch Vorteile bewahrt. Denn sie sind verhältnismäßig selbständig, bestimmen die Schwerpunkte ihrer Arbeit selbst. Mitglied kann jeder werden, ob er nun behindert ist (und gleich welche Behinderung er hat) oder ob er nichtbehindert ist.

Gefahr naht jedoch bereits von der staatlichen Fürsorge: Rehabilitation wird nahezu ausschließlich auf dem medizinischen und beruflichen Sektor betrieben, eine soziale Rehabilitation gibt es praktisch nicht. Diese Lücke füllen die Clubs aus, die viele Freizeitangebote im Programm haben, was auch der staatlichen Wohlfahrtspolitik nicht entgangen ist. Kostensparende Maßnahmen stehen hoch im Kurs, und so sehen sich die Gruppen nach Jahren des Mißtrauens plötzlich umworben. Selbsthilfe ist eben preisgünstiger als staatliche Wohlfahrt.[282]

Selbsthilfegruppen entlasten natürlich auch. Unzufriedene lassen ihren Unmut ab, schimpfen auf alles, was ihnen mißfällt und fühlen sich zugleich in der Gruppe bestätigt. So haben die Clubs eine Ventilfunktion. Denn das Aussprechen des Unmuts läßt einen großen Teil des Unmuts weichen.

Jeder Verein, der die finanzielle Unterstützung eines Wohlfahrtsverbandes oder staatlicher Stellen suchen muß, gerät in Abhängigkeit. Denn Geld gibt es bei Wohlverhalten, nicht für Aufbegehren. Staatliche Stellen finanzieren keine Sozialrebellen, finanzieren nicht das Aufzeigen der von ihnen verursachten oder verwalteten Mißstände, sondern jene, die man als dankbar vorzeigen kann. Erlaubt ist die These: "Auch der Behinderte ist ein Mensch." Erlaubt ist die Feststellung: "Es gibt noch viel zu tun", bevorzugt mit dem Zusatz, "aber wir haben in der Vergangenheit schon viel erreicht."

Ein bißchen aufbegehren dürfen die Gruppen natürlich schon, man läßt sie an der langen Leine laufen. Aber die Spielregeln müssen eingehalten werden: Der Geldgeber darf nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, Äußerungen des Unmuts dürfen nicht zu heftig sein, alles hat im Rahmen einer einvernehmlichen Zusammenarbeit zu geschehen, wo Konflikte, "Meinungsverschiedenheiten" ist das beliebtere Wort, einvernehmlich ausgetragen werden. Die lange Leine ist ein Gängelband.

Nicht alle Clubs oder Gruppen waren verständlicherweise gegen die Gefahren der Umarmung immun. Denn plötzlich saßen Behinderte, die immer verachtet waren, politischen Vertretern gegenüber, wurden vom Oberbürgermeister empfangen, wurden zu ihrer Initiative beglückwünscht, mit Lob überhäuft und sogar mit dem Angebot gemeinsamen Handelns bedacht. Soviel Achtung und Anerkennung hatten sie nie erfahren, um auf das verführerische Angebot der Kooperation nicht einzugehen. Sie übersahen dabei, daß dies der Weg sein kann, sie am Nichttätigwerden zu beteiligen. Man beteiligte sie an Gesprächen, machte ihnen aber zugleich klar, daß der Fortschritt nicht im Eiltempo kommen könne, wo doch jahrzehntelang nichts geschehen sei. "Wir wollen ja", heißt es dann, "aber es geht nun einmal nicht so schnell, es sind keine Mittel da."

Die Einbindung Behinderter in die politische Arbeit brachte den Politikern zunächst Vorteile. Sie konnten sich mit den Behinderten schmücken (und fotografieren lassen), ihr Helfer-Image verbessern und zugleich das Tempo des Handelns bestimmen. Sie konnten bei allem, was sie taten, darauf verweisen, die Behinderten seien ja beteiligt.

Dennoch geht die Rechnung der Politiker nicht auf. Denn der Behinderte war stets auf die Rolle fixiert, daß man für ihn handeln müsse, daß er hilflos, zu betreuen sei. Dieses Bild hat sich gewandelt: Daß Behinderte selbst handeln können, kann niemand mehr leugnen, daß sie selbst mitreden, und sich nicht mehr von fremden Vertretern vertreten lassen müssen, ist augenscheinlich. Behinderte stehen heute anders da als vor Jahren. Kein Politiker kommt in seinen Entscheidungen an ihnen mehr vorbei - wenn sie Widerstand leisten, wenn sie sich wehren.

Ziehen wir eine positive Bilanz: Viele Behindertengruppen können Erfolge verbuchen: "Wo sie gegründet wurden, hatten sie Erfolge. Bordsteine wurden abgeflacht, öffentliche Einrichtungen behindertengerechter, Wohnungen für Rollstuhlfahrer eingerichtet und vieles andere mehr. Meistens war das zähe Arbeit, manchmal brauchte das sogar Protestaktionen. Aber gerade innerhalb solcher Aktionen erfuhren die Clubmitglieder ihre Stärke, ihre Rechte und ihre Identität. Vereinzelt kam es zu einer solchen Euphorie, das Sprüche wie >Behindertsein ist schön!< aufkamen. Zum erstenmal entdeckten Behinderte, daß Behinderung nicht gleich Einengung sein muß, wenn man lernt, mit ihr umzugehen, in Gemeinschaft ... Selbstverantwortungsgefühl, eine aktive Haltung und gute Kontakte, das waren nicht mehr nur Ziele, sondern beim einen und anderen Realität geworden."[283]

Damit ist, bei allen Mängeln, ein Durchbruch geschafft: Behinderte haben verstanden, daß politisch verantwortete Mißstände nur mit politischen Mitteln bekämpft werden können. Den aktiven Behindertengruppen gelang damit, sich selbst zu entfesseln, die Stricke der Bevormundung zu lösen und nicht länger auf barmherzige Gönner zu warten, die Selbstbestimmung schenken. Diese "aktive Entisolierung"[284] kann von der professionellen Sozialarbeit und von Wohlfahrtsverbänden nicht geleistet werden, denn diese dulden nur eine kontrollierte Kooperation, in der der Behinderte immer der Empfänger, der Betreute bleibt und die andere Seite das Tempo und die Bedingungen bestimmt, unter denen sich einer wann wohin entwickeln darf.

"Wir, die Behinderten, stempeln uns doch selbst zu Bürgern zweiter oder dritter Klasse, wenn wir uns weiterhin hinter den Kulissen verstecken und nicht an die Öffentlichkeit treten und ihr sagen, wie es wirklich um uns steht. Freunde, wo bleibt unser Selbstbewußtsein?"

Josef Gantner, Club handicap Wien.

Den emanzipatorischen Gruppen gelang eine "Neuinterpretation der Behindertenrolle"[285], denn sie erweiterten ihr Bewußtsein und eigneten sich Handlungsautorität an. Sie haben nun die Kompetenz, ihre Rolle zu definieren, zu entscheiden, was sie wollen, was sie können. Sie haben die Trennung zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen, die in den psychotherapeutischen Gruppen so vehement vorhanden ist, aufgehoben. Sie haben gelernt, all jene, die sie verwalten, notfalls auch zu blamieren, Forderungen zu stellen und wo sie hingehalten werden, Forderungen auch aggressiv anzumelden und durchzusetzen. Sie haben gelernt, Politiker und Behördenvertreter nicht länger gläubig anzustaunen, sondern die Armseligkeit und Dürftigkeit ihrer Argumente bloßzustellen.

Sie haben die Gehirnwäsche begriffen, die an ihnen vollzogen wurde, daß das Normale für sie anormal sei, daß das Leben im Getto normal und das Leben unter den Mitmenschen anormal sei. Aber immer noch glauben viele, eine Sonderschule sei normal und die Einschulung in die Normalschule sei das Anormale. Behinderte und Nichtbehinderte haben begriffen, daß wir das Verrückteste fordern, indem wir Normalität fordern. Eine isolierte, bemitleidete, bespendete Gesellschaftsgruppe hat begriffen, daß sie für ihre Rechte streiten muß: "Wir müssen uns nach Partisanenart unter die >Gesunden< mischen. Behinderte müssen in der Gesellschaft sichtbar sein, um den Nichtbehinderten die Scheu zu nehmen ... Wir haben uns als Minderheitenpartei als Stachel im Fleische einer allzu satten Gesellschaft zu verstehen!"[286]

Wir haben den scheinbar Nichtbehinderten klarzumachen, daß ihre Unfähigkeit, Behinderte als Gleiche zu begreifen, ihre eigene Behinderung ist. Eine Behinderung der Nichtbehinderten, die ihnen gesellschaftlich vermittelt wurde. Diese gesellschaftlich vermittelte Behinderung trifft Nichtbehinderte in ihrer ganzen Existenz, denn so werden sie beherrschbar, so leben sie ihrer selbst entfremdet, im ständigen, lebenslänglichen Konkurrenzkampf verfangen, bis endlich, früher oder später, ihre Kräfte erlahmen. Nicht der Kampf um abgeflachte Bordsteine ist das nächste Ziel, sondern die Erziehung der angeblich Nichtbehinderten, aber gesellschaftlich Blinden, Tauben, Gelähmten, Stummen. Sie sehen nicht, was mit ihnen passiert, hören nicht, was um sie herum vorgeht. Sie sind gelähmt, selbst zu handeln und sich zu befreien, sind stumm, ihre Bedürfnisse zu äußern.

Ganz sicher, vieles was in diesem Kapitel beschrieben wurde, ist idealtypisch beschrieben, wenn auch an dem orientiert, was in vielen Gruppen bereits praktiziert wird. Denn in vielen Gruppen ist der einzelne in der Gemeinschaft aufgehoben, findet dort Körperwärme, Anteilnahme, Zuneigung. In vielen Gruppen haben Menschen gelernt, sich offen zu begegnen, gibt es Freundschaft, Nachbarlichkeit, Vertrauen, Zuversicht, Zärtlichkeit, Hilfsbereitschaft, Behutsamkeit, Verständnis, Hoffnung und Zukunft. Nirgendwo nähren wir uns von paradiesischen Zuständen, daß Löwe und Lamm nebeneinander weiden, nirgendwo haben wir all das realisieren können, was wir uns ersehnen, aber es gibt Annäherungen. Wir haben ein Bild von dem, was wir anstreben, in Annäherung erreichen können. Nirgendwo geht es ohne Konflikte ab, aber Konflikte müssen nicht zerstörerisch sein, können schöpferisch sein. Beim Versuch, konkurrenzfreies Miteinanderumgehen zu verwirklichen, entdecken wir Fähigkeiten und Möglichkeiten, die nie entfaltet wurden, uns unbekannt waren. Wir erschließen neue Quellen menschlicher Energie, dem anderen und uns nahezukomrnen, neue Lustquellen, neue Möglichkeiten des Wohlbefindens. wir müssen nicht länger jemand sein, der wir sein sollen, sondern wir können so sein, wie wir sein möchten. Ich kann wieder "ich" sein.



[268] Dolf Sternberger, Gerhard Storz, Wilhelm E. Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, München 1970, S. 24 f.

[269] Ebenda, S. 25.

[270] Germana Edel, Leo Sparty: Auch aus behinderten Kindern werden Erwachsene, Ratschläge für Eltern und Erzieher, Bonn-Bad Godesberg, 1976, S. 7.

[271] Zeitschrift "fraternität", Nr. 22/1973.

[272] Behindertenvereine - Veränderungen durch Kaffeekränzchen? in: Zeitschrift "Luftpumpe", Nr. 12/1979.

[273] Zeitschrift "Leben und Weg", Nr. 3/1977.

[274] Dazu Aiga Seywald: Physische Abweichung und soziale Stigmatisierung, Rheinstetten 1976, S. 90 f.; dieselbe: Körperliche Behinderung, Grundfragen einer Soziologie der Benachteiligten, Frankfurt, New York 1977, S. 39 ff.

[275] Zeitschrift "Leben und Weg", Nr. 3/1976.

[276] Andreas Hämer: Rehabilitation von unten - Der Platz der Körperbehinderten im Aufgabenfeld der Kirche, München 1978, S. 85.

[277] Vgl. Klee: Behindertenreport, a. a. O., S. 147.

[278] Wolf Wolfensberger: Die Dritte Stufe in der Entwicklung von freien Vereinigungen zugunsten geistig Behinderter, hrsg. vom Landesverband Hessen der Lebenshilfe für geistig Behinderte, Marburg O. J., S. 4.

[279] Ebenda, S. 15.

[280] Ebenda.

[281] Ebenda, S. 21.

[282] Peter Ehrlich, Georg Gabler: Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeeinrichtungen für Behinderte in der BRD, Pädagogische Diplomarbeit am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/Main, 1978.

[283] Zeitschrift "Luftpumpe", Nr. 9/1978.

[284] Ehrlich, Gabler: Selbsthilfegruppen, a. a. O.

[285] Ebenda.

[286] Rainer Rosenberg: Club handicap, in: Informationsdienst der Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, Wien, August/September 1978.

Teil VII: Emanzipatorische Behindertenarbeit am Beispiel des Frankfurter VHS-Kurses "Bewältigung der Umwelt"

1. Theoretische Grundlagen

Anfang der siebziger Jahre war meine Situation diese: Ich hatte für kurze Zeit in einem Zuchthaus hospitiert, war als Penner losgetippelt und hatte in den Nichtseßhaften-Asylen genächtigt, hatte einige Wochen in der Psychiatrie gearbeitet und mit italienischen Parlamentariern und dem sizilianischen Sozialreformer Danilo Dolci mit einem Go-In in ein Gastarbeiterlager für einen Skandal gesorgt, der die Öffentlichkeit auf die dort herrschenden menschenfeindlichen Zustände aufmerksam machte.

Dies war meine Lehrzeit in der Sozialarbeit. Dabei habe ich etwas Entscheidendes gelernt: Ich kann nur von den Betroffenen lernen. Im Zuchthaus, aber auch in den Jahren, in denen Strafentlassene in unserer Wohnung mitlebten, war mir aufgegangen, daß Bücher über die Betroffenen eben Theorie sind, Abhandlungen, aus anderen Abhandlungen kompiliert, zu Deutsch: Im Vergleich abgeschrieben und neu zusammengesetzt.

Während des Studiums hatte ich im sozialpädagogischen Seminar gehört, wie Hochschullehrer über randständige Objekte dozierten, ohne sie zu kennen. Will ich aber etwas von ihnen begreifen, muß ich sie in ihrer Binnenwelt erfahren, mit ihnen leben, ich kann sie nicht durch die Guckkastenperspektive von außen beobachten wollen.

Meine zweite Erkenntnis war, daß Menschen, die an den Rand gedrückt werden, zu den Randgruppen gehören, keine streitbaren Revolutionäre sind. Ich gehöre nicht zu jenen Theoretikern (man kann so was nämlich nur in der Theorie sagen, wenn einem das Elend weit genug vom Leibe ist), die behaupten, man müsse sie richtig verelenden lassen, damit sie sich mit einem Proteststurm aus ihrem Leid befreien. Wer hungert, will satt werden. Wer nicht anerkannt ist, will anerkannt werden. Das mag simpel klingen, enthüllt aber eines der großen Mißverständnisse von Randgruppenarbeit: Der Gedemütigte will seine Ruhe, keine Bewegung. Sein Leben war bewegt genug. Die Armen, Ausgestoßenen, Rechtlosen sind kein Protestmaterial.

Das ist in der Behindertenarbeit nicht anders. Das bißchen Fortschritt, das bereits erreicht ist, wollen die meisten Behinderten nicht durch Engagement aufs Spiel setzen. Dies läßt sich auch nicht ändern, indem Außenstehende verkünden, Behinderte müßten um ihre Rechte kämpfen. Man muß es gemeinsam ausprobieren, ob Widerstehen, Widerstand leisten, Lustgewinn bringt, eine Verbesserung der Situation oder nicht.

Diese Erkenntnis, daß Behinderte nicht streitbar sind, schließt die Erkenntnis ein, daß ihnen die passive Haltung anerzogen ist, mehr noch, daß diese Rollenvorgabe Benachteiligungen erst dauerhaft macht. Deshalb ist auch Wohlfahrt so verhängnisvoll, weil sie Not nur beschwichtigt und die Gesamtsituation, die immer wieder Randständige produziert, fortbestehen läßt.

Ich bin durch die Erfahrungen mit unserem Frankfurter Volkshochschul(VHS)-Kurs (und mit anderen Gruppen) zu einem entschiedenen Verfechter von Gruppenarbeit geworden. Aber die Tatsache allein, daß sich eine Gruppe gefunden hat, garantiert noch keine emanzipatorische Arbeit. Es ist ein Mythos, die "Gruppe" allein entwickle emanzipatorische Kräfte, es kann auch ein müder Jammerverein werden.

Am Anfang einer Gruppenarbeit müssen Weichen gestellt werden, muß klargestellt sein, was man will und was man nicht will. Abstrakt nennen wir das eine theoretische Grundlage. Ich sage bewußt nicht: eine Theorie. Das ist mir zu starr, da läßt sich so wenig ändern, korrigieren. Eine theoretische Grundlage ist besser, weil wir dabei wohl wissen, was wir wollen, aber offen bleiben, uns durch die Praxis korrigieren zu lassen.

Als ich Oktober 1973 die Arbeit an der Frankfurter Volkshochschule begann, fand ich in Gusti Steiner einen Mitstreiter, der als Behinderter seine Situation nicht nur analysieren, sondern daraus auch theoretische Grundlagen ableiten konnte. Gusti Steiner entwickelte "Vorüberlegungen zur Arbeit mit Behinderten"[287]:

"1.0 Allgemeine Grundlagen der Arbeit

Die Gruppe sollte zu einer Basis der Behindertenarbeit werden, die über Vereins- und Verbandsgrenzen der Behindertenorganisationen hinausgreift.

1.1 Gruppenzusammensetzung: integriert

1.2 Aufgabe: Arbeit durch, nicht für Behinderte

Ziel: - Weckung von Emanzipationswünschen bei Behinderten

- Schaffung von Möglichkeiten und Gelegenheiten, diese Wünsche durch die Entfaltung der Aktivität behinderter Menschen zu realisieren.

2.0 Anfangsphase

2.1 Die Mitglieder der Gruppe lernen sich kennen

2.2 Verbalisierung der eigenen Lebenssituation

Ziel: Überwindung der individuellen Isolation - Kontaktnahme.

3.0 Arbeitsphase

3.1 Reflexion der Lebenssituation Behinderter allgemein.

Daraus könnte sich ergeben:

- Gegenüberstellung von Wirklichkeit und Möglichkeiten.

- Informationsbedürfnis wird geweckt (wie ist die Lage Behinderter in anderen Ländern? - Man beschafft Informationsmaterial - Schriften und Filme über Skandinavien, Holland, England usw.).

Ziel: - Erkennen des eigenen Standorts

- Erste Versuche, eigene Bedürfnisse zu erkennen

- Befriedigung des eigenen Informationsbedürfnisses durch Organisieren der damit zusammenhängenden Probleme.

4.0 Fortgeschrittene Arbeitsphase

4.1 Verarbeitung der Information

4.2 Verknüpfung mit der eigenen Existenz

4.3 Formulierung der sich daraus ergebenden Bedürfnisse

4.4 Was steht einer Verwirklichung dieser Bedürfnisse im Wege?

Daraus könnte sich ergeben:

- Überlegungen, wie sich die eigenen Bedürfnisse befriedigen ließen

- Außenkontakte: man lädt >Fachleute< von außen ein und diskutiert notwendige Fragen

- bauliche Hindernisse

- Wohnprobleme

- Probleme am Arbeitsplatz

- Probleme in der Familie

- Stellung des Behinderten in der Gesellschaft

- Körperbehinderte und Sexualität usf.

Ziel: - Selbstorganisation gezielter Eigenaktivität.

5.0 Aktionsphase

5.1 Man erarbeitet Vorstellungen, was zu tun wäre, um die Lebenssituation zu ändern.

5.2 Man plant und organisiert gemeinsame Aktionen

- geselliger Art (Ferienfreizeiten, Öffentlichkeitsarbeit, private Wohngemeinschaft usw.)

- gesellschaftspolitischer Art (Einwirkung auf die Gesellschaft mit dem Ziel der Integration Behinderter).

Ziel: - Übergang vom Objekt der Fremdbestimmung zum Subjekt eigenen Handelns.

Die einzelnen Phasen können untereinander verschwimmen, übergangslos ineinandergreifen, übersprungen werden, oder aber das ganze Projekt kann, da Gruppenprozesse in starrer Weise nicht vorprogrammiert werden können, völlig abweichend von diesen Vorstellungen verlaufen."

Uns beiden war klar, daß sich die Getto-Situation Behinderter nur in integrierten Gruppen, mit Behinderten und Nichtbehinderten, überwinden ließe. Entscheidend würde sein, die Getto-Mentalität zu durchbrechen. Oktober 1973 traf sich erstmals eine Arbeitsgruppe, um die Schwerpunkte unserer zukünftigen Arbeit zu formulieren. Wir hatten ausreichend Zeit, uns über die Ziele zu verständigen. Als der erste VHS-Kurs Januar 1974 begann, hatten Behinderte und Nichtbehinderte einen Ziele-Katalog[288] formuliert:

"Nicht die Behinderung schafft die Barriere zu anderen, sondern das >Behinderten-Bewußtsein<, minderwertig zu sein.

Wir streben an:

1. Für Behinderte:

  • Überwindung der individuellen Isolation

  • Erkennen eigener Bedürfnisse

  • Selbstorganisation und Eigeninitiative

  • Verhaltensänderungen durch Lernerfahrung

  • Entwicklung eines eigenen Selbstbewußtseins und Selbstwertgefühls

2. Für Nichtbehinderte:

  • Sensibilisierung für die Probleme und die Lebenssituation Behinderter

  • Überwindung der Scheu vor Behinderten

  • Schaffung eines persönlichen und damit >normalen< Verhältnisses zu Behinderten

Wir wollen versuchen, die Wechselbeziehung Behinderter-Umwelt an Beispielen zu erfahren. Wir wollen die Problematik so aufarbeiten, daß Behinderte durch diese Lernerfahrung neue Verhaltensmodelle entwickeln. Wir wollen in integrierten Gruppen trainieren, uns unbefangen in der Umwelt zu bewegen. Wir wollen Hindernisse nicht resignierend hinnehmen, sondern als Herausforderung erleben. Als Herausforderung, durch eigene Aktivitäten zu ihrer Beseitigung beizutragen."

2. Handeln im Konfliktfeld

Gusti Steiner und ich waren immer überzeugt, daß es möglich ist, Selbsthaß in schöpferische Energie zu verwandeln. Wir waren überzeugt, daß schöpferische Konflikte die Lust am eigenen Handeln wecken. Wer zu einer resignativen Lebenserwartung erzogen wurde, zur Ergebenheit, kann dieses Verhalten ändern, wenn er andere - positive - Erfahrungen macht, wenn er die Kräfte entdeckt, die in ihm sind. Meine Fähigkeiten kann ich jedoch nur entdecken, wenn ich sie in den Konfliktfeldern stärke, die mich behindern, wenn ich gegen das kämpfe, was mich behindert macht.

Doch wir dachten nicht nur an das Verhalten der Behinderten, wir dachten auch an das Verhalten der Umwelt. Mit Aufklärungskampagnen ändere ich Einstellungen Behinderten gegenüber nicht. Ich kann in tausend Zeitungen inserieren, auch Behinderte seien Menschen wie du und ich - wenn ich keine Möglichkeit habe, mich mit Behinderten aktuell und konkret auseinanderzusetzen, sind Informationen wertlos. Einstellungen, meine eigenen und die der anderen mir gegenüber, sind ja nicht vom Verstand, sondern vom Gefühl geleitet. Ich muß also Situationen herbeiführen, in denen Nichtbehinderte den Behinderten konfrontiert sind, muß eine Auseinandersetzung (eine Konfrontation) herbeiführen, nicht aus anarchischer Freude am Krakeel, sondern aus menschlicher, sozialer und pädagogischer Verantwortung.

Gusti Steiner und ich haben bei der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gelernt. Wir studierten, wie die amerikanischen Negerführer ihre Situation einschätzten, welche Erfahrungen sie damit machten, das Normalste zu fordern, was zu fordern ist: menschliche Gleichstellung. Wir haben gelernt, daß privilegierte Gruppen ihre Privilegien nicht freiwillig - aus Großmut und Einsicht - aufgeben.

Freiheit, hat Martin Luther King gesagt, wird vom Unterdrücker nicht freiwillig "gewährt" (ein Wort, das das Sozialamt immer gebraucht!). Wir lernten, daß die Unterprivilegierten immer wieder vertröstet, zum Abwarten aufgefordert werden: die Forderungen seien berechtigt, aber die Zeit sei noch nicht reif.

Wir haben gelernt, daß auch die "Wohlgesonnenen", die Gemäßigten, beim Vertröstungsspiel mitspielen. Sie sind "im Prinzip" mit einem einig, aber eben nur im Prinzip. Sie kämpfen nicht, setzen nichts ein, sie wollen nichts riskieren. Sie billigen wohl das Ziel, aber nie die Methode, wenn sie kämpferisch sein muß, um vorenthaltene Gerechtigkeit zu erstreiten. Sie wollen nicht sehen, daß bei gewaltlosen Direkt-Aktionen die Spannungen nicht jene erzeugen, die sie aufdecken, sondern die, die durch die Vorenthaltung von Rechten Spannungen produzieren.

Wir haben uns die Methoden angesehen, die die amerikanischen Bürgerrechtler angewendet haben. Daraus mußten behindertenspezifische Methoden abzuleiten sein. Es mußte möglich sein, Formen des Protests zu entwickeln, daß man Elend nicht länger diskret aus dem Verkehr ziehen kann, es mußte möglich sein, die Öffentlichkeit mit jenen zu konfrontieren, die da verbannt werden sollen. Wir haben Durchsetzungstechniken überlegt und im Rollenspiel durchgespielt. Wir haben uns geübt, mit dem Hirn des Gegners zu denken, um seine Argumente zu durchkreuzen. Es genügen wenige Behinderte, um in einer gezielten Aktion Probleme schlagartig aufzudecken. Das würde zwar Proteste geben, das gehöre sich nicht, das sei nicht die rechte Methode, aber Rechte auf den St. Nimmerleinstag zu vertagen - gehört sich das?

Eines wurde uns klar: Wollen wir Verhaltensänderungen erreichen, bei uns und bei den anderen um uns herum, müssen wir uns einsetzen und aussetzen: der Kritik, der Verurteilung, der Diskriminierung. All das haben wir am Anfang der Arbeit erlebt. Vor allem, als wir begannen auf die Straße zu gehen.

3. Die Straßenbahnblockade

Im Mai 1974 begann der Kurs, bauliche Behinderungen direkt zu attackieren und mit dem "Prädikat behindertenfeindlich" zu bekleben. Wir suchten uns Objekte aus, die von ihrem Anspruch her für Behinderte zugänglich sein müssen. Das waren:

  • Zwei Kriegsopferverbände. Der eine hatte selbst eine Plakette entworfen ("Überlegt geplant: An Behinderte gedacht"), die für behindertengerechtes Bauen warb, sein Büro im erste Stock war jedoch für Rollstuhlfahrer unerreichbar. Der zweite Kriegsopferverband hatte seine Türklingel am Eingang so hoch angebracht, daß Rollstuhlfahrer nicht einmal klingeln konnten.

  • Das Sozialamt, mit der Fachstelle für Behindertenhilfe, leitete Behinderte über einen Seiteneingang ins Haus und hatte nicht einmal eine behindertengerechte Toilette installiert.

  • Die Allgemeine Ortskrankenkasse meinte ebenso, ein Seiteneingang über den Hinterhof genüge für Rollstuhlfahrer.

  • Das Gesundheitsamt erklärte, wenn ein Rollstuhlfahrer nicht die Treppen hinauf käme, käme zur Not auch der Amtsarzt auf die Straße. Auf die Frage: "Und der Arzt sagt dann: Machen Sie mal den Oberkörper frei?" entblödete man sich nicht zu sagen: "In schwierigen Fällen ja."

Wir hatten dazu ein Plakat entworfen, mit einem Text wie man ihn vor Metzgerläden sieht, um Hunde fernzuhalten: "Wir müssen draußen bleiben!" und orangefarbene Kartons gestempelt: "Prädikat behindertenfeindlich". Dieses Prädikat wurde später von Hans Risse, einem Grafiker im Kurs, professionalisiert und in Druck gegeben (selbstklebend). Lange wurde darüber diskutiert, ob "behindertenfeindlich" nicht zu hart formuliert sei. Inzwischen gebrauchen auch Behördenvertreter und Politiker das Wort, ohne daß die Herkunft ihnen bekannt wäre.

Am Tag, nachdem Ämter und Verbände mit dem "Prädikat" ausgezeichnet worden waren, wurde im Zentrum der Stadt ein öffentliches Rollstuhltraining veranstaltet. Wir hatten nie erlebt, daß Passanten sich gegen unsere Forderungen stellten, aber erfahren, daß sie hilflos reagierten, weil sie nicht mit dem Rollstuhl umgehen konnten.

Nun hatten sie eine Möglichkeit, sich in einen Rollstuhl zu setzen, eine Treppe hinauf- und hinunterhieven zu lassen oder sich selbst damit fortzubewegen. Filmaufnahmen zeigten hinterher, daß die betroffenen Passanten wohl zustimmten, man müsse etwas für Behinderte tun, daß ihre Zustimmung jedoch völlig unverbindlich und unengagiert war. So wurde dieses öffentliche Rollstuhltraining später als negativ eingestuft.

Ein Erlebnis hat mich allerdings stutzig gemacht. Ungefähr drei Jahre später saß ich in einer Kneipe. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, da unterhielten sich ein paar Stammtischbrüder über Behinderte. Ich hörte auch nicht hin, wurde allerdings hellhörig, wie einer der Männer sagte: "Mir kannst du nichts erzählen. Ich hab da mal im Rollstuhl gesessen ..." Ich weiß auch nicht mehr, wie dieses Gespräch ausgegangen ist, ich erinnere mich nur, daß dieser Mann an unserem Rollstuhltraining teilgenommen hatte und dadurch für Behindertenprobleme sensibilisiert worden war.

Das Radikalste, was unser Kurs je getan hat, wodurch er in den Ruf geriet, hier seien Radikalinskis am Werk, Rote, Kommunisten, jedenfalls ganz schlimme Menschen, die Behinderte mißbrauchen, passierte direkt nach dem Rollstuhltraining. An diesem Tag - wir hatten auch dies im Rollenspiel geprobt und hörten auch alle Argumente, die wir schon durchgespielt hatten - stoppte unser Kurs die Straßenbahn.[289] Ein Rollstuhlfahrer versucht mit der Straßenbahn zu fahren. Er kommt nicht rein, weil eine Mittelstange den Durchgang versperrt. Der Straßenbahnfahrer steigt aus, besieht sich die Geschichte, sagt, es tue ihm leid, es gehe nicht, er müsse weiter und geht wieder an seinen Fahrerplatz. Inzwischen ist Gusti Steiner auf die Schiene gefahren. Über Megaphon erklärt er, daß Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen nicht für Behinderte konstruiert wurden.

Die Straßenbahn zieht kurz an, eine Drohgeste, als wolle sie weiterfahren, doch der Fahrer kann schließlich keinen Behinderten überfahren und hält. Über Außenlautsprecher fordert er Gusti Steiner auf, die Schiene freizugeben. Der erwidert, wenn er mitfahren könne, sei er sofort von den Schienen.

Die Passanten umringen ihn. Er erklärt über Megaphon, daß er ihnen zeigen will, was eine Behinderung ist. Wahrscheinlich beschwerten sich jetzt die Fahrgäste, daß sie einmal nicht weiterfahren könnten, er aber könne nie mitfahren. "Ich weiß nicht, ob Sie das Gefühl kennen, vor einer Straßenbahn zu stehen und nicht reinzukönnen. Es ist sicher auch für Passanten schwer vorstellbar, diese Situation zu erleben und auf diese Weise benachteiligt zu sein."

In der Zwischenzeit sind so viele Menschen auf die Schienen geströmt, daß der Verkehr auch in der Gegenrichtung blockiert ist. Es herrscht Bürgerkriegsstimmung. Einige wollen ein Maschinengewehr reinhalten, andere erklären, bei Hitler wäre "so was" vergast worden. Aber die Hälfte der Passanten klatscht auch Beifall, erklärt, eine so kleine Minderheit könne auf ihre Probleme nicht anders aufmerksam machen, man höre sonst nicht auf sie.

Als ich mir später die Tonbänder abhörte, fiel mir etwas auf, was ich während der Aktion nicht bemerkt hatte: Die Gegner der Straßenbahnblockade betonen immer, "die arbeiten ja nicht" oder "berufstätige Leute über eine halbe Stunde in der Trambahn sitzen zu lassen!". Sie unterscheiden sehr genau zwischen Produktiven und Nichtproduktiven. Wer produktiv ist (auch wenn er, wie an diesem Tag, nur zum Einkaufen in die Stadt fährt) hat Rechte, die dem Unproduktiven nicht zustehen.

Als Gusti Steiner nach 20 Minuten die Schienen endlich freigibt, erklärt er noch einmal über Megaphon, er habe zeigen wollen, "daß Behinderung eine sehr reale Sache sein kann". Er hoffe auf das Verständnis der Passanten, hoffe, "daß Sie dabei gespürt haben, wie sich Behinderte ständig fühlen müssen, die ausgesperrt sind ...".

Da er die Straßenbahn genau am Knotenpunkt blockiert hat, stauen sich die Straßenbahnen inzwischen kilometerweit. Es dauert vier Stunden, bis sich der Verkehr wieder normalisiert.

Drei Tage nach der Straßenbahnblockade kommt es im Kurs zu einer heftigen Auseinandersetzung, ob die Mittel richtig gewesen seien. Ein Jurist, Verbandsvertreter, tritt aus Gewissensgründen aus. Ein behinderter Pastor (kein Kursteilnehmer) entschuldigt sich in einem Leserbrief für unser Verhalten. Es sind jedoch - bis auf den Pastor - die Nichtbehinderten, die sich von der Methode distanzieren und meinen, das sei zu aggressiv, zu "politisch" gewesen.

Etwas später berichtet ein Fernsehfilm über die Demonstration, ohne Kommentar, die Kamera beobachtet nur, was geschieht, das Mikrophon hört nur zu, was gesagt wird. Die Zuschauerreaktion überrascht uns alle. Sie ist ausschließlich positiv, zeigt Betroffenheit, auch die Fernsehkritiker sind betroffen, weil der Film "so unbarmherzig dazu zwang, die eigene Haltung, auch die des Mitleids zu überprüfen".

In den nächsten Tagen gehen wildfremde Menschen auf Kursteilnehmer zu, wenn sie diese nach dem Film erkannt haben, gratulieren, artikulieren, das alles nicht gewußt, nicht daran gedacht zu haben. Einige kommen betreten, verschämt, bitten, ob sie nicht auch einmal mit dem Rollstuhl probieren könnten. Selbst die Besetzung eines Wagens der Müllabfuhr läßt Müll Müll sein und diskutiert mit einem behinderten Kursteilnehmer.

4. Die Geschichte der Kurt-Gscheidle-Gedächtnis-Rampe

Bereits im ersten Kurs 1974 war klar geworden, daß Forderungen nicht durchzusetzen sind, wenn in der Öffentlichkeit kein Problembewußtsein für das Durchzusetzende vorhanden ist. Dieses Problembewußtsein muß geschaffen werden, Behindertenprobleme müssen so umgesetzt werden, daß sie jeder verstehen kann. Dieses zentrale Problem der Umsetzung ließ sich für uns am leichtesten am Beispiel baulicher Barrieren demonstrieren. Man muß öffentlich zeigen, daß Rollstuhlfahrer nicht von einer Telefonzelle aus anrufen können, das kann man nicht nur behaupten.

Doch diese Erkenntnis kam uns erst bei der Arbeit. Unser Ausgangspunkt war ein ganz anderer. Am zweiten Kursabend bekamen die Teilnehmer eine Hausaufgabe. Sie sollten ihr zuständiges Postamt testen. Dazu wurde ein Kriterien-Katalog entwickelt.

Die Teilnehmer testeten also die Postämter, mit dem Ergebnis: Man kommt nicht rein. Nun wurde diskutiert, wie das zu ändern sei. Einige wollten das Ministerium anschreiben, andere meinten, die Kursleiter (Gusti Steiner und ich) sollten das in die Hand nehmen, wie ja auch sonst in der Betreuungsarbeit die Betreuer für die Behinderten handeln. Einer schlägt, aus Witz, eine Demonstration vor. Die meisten waren für den Instanzenweg. Also wurde verhandelt, Ziel: Die Hauptpost (als Symbol) soll behindertengerecht umgebaut werden: eine Rampe für die Rollstuhlfahrer, ein Geländer für die Gehbehinderten, Telefonzellen, aus denen man anrufen kann, das heißt, breitere Eingänge, niedrig hängende Apparate.

Der Amtsvorsteher der Hauptpost wird aufgefordert, sich in einen Rollstuhl zu setzen und sein eigenes Postamt zu testen. Das lehnt er ab, einmal, weil er ohnedies wisse, daß kein Rollstuhlfahrer in die Post komme, zum anderen aus "verwaltungsinternen" Gründen. Sein Pressereferent erklärt, man könne die Telefonhörer nicht niedriger setzen, "da gefährden Sie ja die Nichtbehinderten". Und: Gibt es überhaupt Behinderte? Man sieht sie ja gar nicht (erst sperrt man sie aus, dann sagt man, man sieht sie nicht). Oder: Haben Behinderte denn auch postalische Bedürfnisse? Und wenn ja, welche? Kann man das nicht auch anders regeln? Lohnt sich das der paar Leutchen wegen? ("Es muß ein echtes Anliegen sein.")

Die Kursteilnehmer nehmen die Herausforderung an. Behinderte, die alleine nie für ihre Rechte gestritten hätten, fühlen sich in der Gruppe stark genug, und die Nichtbehinderten, die sich sonst nicht mit Behörden angelegt hätten, werden von solidarischen Gefühlen gepackt. Die Post hat noch nie Behinderte gesehen, heißt es, da gehen wir mal hin, damit sie welche sieht.

Keiner der Teilnehmer hat je an einer Demonstration teilgenommen, alle sind gegen Demonstrationen (es demonstrieren nur die Studenten, aber doch nicht Behinderte). Aber wenn sich 30 Behinderte und Nichtbehinderte vor der Hauptpost treffen, wird es unweigerlich eine ("Demonstrieren" kommt im übrigen aus dem Lateinischen und heißt schlicht "zeigen", "anschaulich machen").

Presse, Funk und Fernsehen sind mit dabei, denn ein Ereignis, über das die Medien nicht berichten, hat für die Öffentlichkeit gar nicht stattgefunden, wird ignoriert, ist unwirksam. Anderthalb Stunden läßt sich der Amtsstellenleiter verleugnen, dann zieht ein Pulk von 30 Teilnehmern, zu Fuß, auf Krücken, am Stock, im Rollstuhl, in sein Amtszimmer, stellt ihn zur Rede. Nein, eine Rampe will er nicht: "Wir werden aufpassen müssen, daß kein Gesunder über die Schräge fällt."

Einige Teilnehmer sind nachher sehr deprimiert ("Ich kam mir vor, als würden wir um Almosen bitten"). Wir haben bei dieser Aktion gelernt, wie man als Hilfloser von einer Behörde behandelt wird und wie berechtigte Forderungen mit irrationalen Begründungen abgeschmettert werden. Aber die Resonanz in der Öffentlichkeit, die Berichte in den Medien, die Zustimmung der Passanten, die Tatsache, daß Lokalpolitiker und Landtagsabgeordnete das Thema aufgreifen, daß sich später sogar die Bundesregierung in einer kleinen Anfrage rechtfertigen muß, das alles hat das Selbstvertrauen der Gruppe gestärkt.

Deshalb wird drei Monate später, im Mai 1974, wieder demonstriert (die Bundespost hat gerade eine Sonderbriefmarke herausgebracht: "Behinderte eingliedern"). Nach der zweiten Demonstration handelt die Post schnell - mit einer Erklärung ihrer Pressestelle. Man wolle den Behinderten helfen, wolle eine Rampe bauen, wolle für Rollstuhlfahrer geeignete Telefonzellen errichten.

Auch die politischen Gremien reagieren schnell. Der Ortsbeirat beantragt, unverzüglich eine Rampe zu bauen. Im August berichtet der Magistrat der Stadtverordnetenversammlung, die Hochbauabteilung der Oberpostdirektion habe einen Vorschlag ausgearbeitet, eine provisorische Rampe zu bauen. Die Zustimmung sei bereits erteilt. Im September 1974 verspricht die Post, die Rampe sei im April oder Mai nächsten Jahres fertig. Im Oktober verbreitet eine Zeitung sogar die Falschmeldung: "Behinderte kommen in die Post."

Der Kurs vertraut den Versprechungen und wendet sich anderen Aufgaben zu. Im Juli 1976 wird die Post jedoch brieflich gemahnt. Antwort: "Leider ist es uns nicht möglich, die von Ihnen beanstandeten Umstände unverzüglich (!) abzustellen." Die Post wird darauf hingewiesen, eine provisorische Rampe sei bereits 1974 genehmigt und von der Pressestelle als gebaut gemeldet worden. Ende August 1976 sagt die Post eine erneute Prüfung zu.

1977 handelt die Post auf ihre Weise. Der Haupteingang hat zwei Stufen. Nun klebt die Post ein Behindertensymbol auf die Eingangstür und einen Pfeil darunter. Der Pfeil weist nach links. Folgt der Rollstuhlfahrer dem Pfeil, steht er vor einer Tür mit drei Stufen!

Im Kurs wird diskutiert, wie dem Bürokratenunsinn beizukommen ist. Mit Verbitterung zu reagieren, was nahe läge, würde nicht nur nichts ändern, sondern auch das Rollenbild vom verbitterten, leidenden Behinderten bestätigen. Der Unterlegene kann sich keine Schwäche leisten, will er etwas durchsetzen. So greift der Kurs zu einer Waffe, die bei "Krüppeln" völlig abwegig erscheint: zu Spott, Ironie, Sarkasmus.

Dabei wird einfach die Rolle umgedreht: Der Behinderte, der immer auf Almosen warten muß, immer beschenkt wird, wird nun die dummen Planer (die "Postler von Schilda") dem Spott preisgeben und den Bürokraten eine Rampe schenken. Die, die immer beschenkt wurden, schenken nun selber. Soll das jedoch gelingen, muß die Aktion genau sitzen, muß jedes Detail stimmen.

Der Post soll eine Rampe geschenkt und dem Bundespostminister gewidmet werden. Das soll an einem Samstagvormittag stattfinden, zu einer Zeit, wo Tausende auf der Hauptstraße sind und auch die Post aufsuchen. Das heißt: Wenn wir mit der Rampe ankommen, muß Platz sein. Wir müssen das Hauptportal schließen und einen Platz vor dem Haupteingang absperren. Das alles muß natürlich in höchster Schnelligkeit funktionieren.

Zunächst werden Fotos vom Haupteingang gemacht, es wird beraten, wo die Rampe am besten hinpaßt, wo wir Platz haben, unsere Aktion zu veranstalten. Die Stufen werden vermessen. Dann wird die Rampe gebaut, aus Holzbohlen, mit einem Geländer versehen, und es wird aufgepaßt, daß der Steigerungsgrad der Rampe genau den DIN-Normen entspricht. Dann wird die Aktion in einem Hinterhof geprobt, denn jeder muß wissen, was er wann zu tun hat. Es wird eine Chequeliste aufgestellt, wer für was verantwortlich ist. Am 25. Juni 1977 ist es dann soweit:

Pünktlich um elf Uhr stellt der Kurs der Post das Geschenk zu. Eine Blaskapelle (das sogenannte Linksradikale Blasorchester) biegt auf die Hauptverkehrsstraße ein. Die Kapelle marschiert langsam, spielt hinreißend falsche Töne. Hinter den Bläsern folgt ein Bauschild "Behinderte bauen das neue Frankfurt". Dahinter der Absperrtrupp, dahinter ein Zug von 50 Behinderten, Freunden, Angehörigen.

Der Zug nähert sich langsam der Hauptpost, schiebt die Passanten im Operettentakt zur Seite ("Ich bin die Christel von der Post"). Der Absperrtrupp sperrt schnell Haupteingang und Bürgersteig ab, die Leute folgen willig, denn es wird ihnen gesagt: "Dies ist eine Absperrung." Dann informiert ein Postillion in historischer Tracht (die aus dem Kostümverleih stammt) die Menschenmenge über Megaphon: "In der Operette heißt es: Nur nicht gleich, nicht auf der Stell', denn bei der Post geht's nicht so schnell. Der Behinderten-Zeittakt der Post: drei Jahre." Er greift dabei Werbeslogans der Post auf und erklärt dem Publikum die Vorgeschichte.

Die Kapelle spielt einen Tusch. Die Passanten lachen. Flugblätter werden verteilt:

"Liebe Mitbürger! Das alles ist kein böser Wille. Da darf man nicht bitter werden und gar Kritik üben. Da muß man helfen. Da darf man sich nicht ins Posthorn jagen lassen. Da muß man den Planern hilfreich zur Seite treten. Drum laßt uns eine Rampe bauen. Behinderte helfen der Post. Sie schenken ihr die Kurt-Gscheidle-Gedächtnis-Rampe. Heute Einweihung. Ein positives Beispiel für Bürgersinn in dieser Stadt. Damit Behinderte und Post in Verbindung bleiben."

Die Rampe wird an die Treppe gelegt. Ein Band wird durchgeschnitten, Rosemarie Heßler, eine Rollstuhlfahrerin, tauft das Provisorium mit Sekt. Die Kapelle spielt wieder einen Tusch. Die Passanten amüsieren sich, lachen, von der Post läßt sich niemand sehen, um die Schenkungsurkunde zu übernehmen.

Behinderte machen sich auf die Suche nach einem verantwortlichen Postler. Schließlich nehmen sie einen an die Hand ("Ich darf keine Geschenke annehmen"), bringen ihn auf die Rampe. Er beginnt eine Rede: "Damit keine Irrtümer aufkommen, ich bin der Sachbearbeiter des im Urlaub befindlichen Stellvertreters." Für die Planung sei er nicht verantwortlich. Erneuter Tusch.

Er wird gefragt, ob die Rampe stehenbleibe. Das liege nicht in seiner Entscheidung. Es müsse gewährleistet sein, sagt er den Behinderten, daß durch die Rampe keine "Behinderung" stattfinde. Alles weitere geht in Gelächter unter. Die Kapelle singt: "Denn bei der Post geht's nicht so schnell ..."

Die Bevölkerung nimmt das Geschenk sofort an. Ältere Bürger, Frauen mit Kinderwagen, selbst die Briefzusteller mit ihren Wagen benutzen sogleich die dem Postminister gewidmete Holzrampe.

Abends feiern wir ein Fest.

Am Montag erklärt das Hauptpostamt, die Rampe lagere nun im Keller, wegen der Unfallgefahr. Passanten hätten drüber fallen und sich verletzen können. Ein Vertreter der Post erklärt: "Ich gebe Ihnen mein Wort, daß wir alle Hebel und Register in Bewegung setzen, eine Lösung herbeizuführen." Alles weitere gerät vollends zur Amtsposse. Denn tatsächlich, am nächsten Tag ist eine Lösung geboren. Doch wir reiben uns verdutzt die Augen. Die "rollstuhlgebundenen Kunden" sollen von nun an von der Gepäckabfertigung abgefertigt werden. Dazu sollen sie einen guten halben Kilometer um die Post in eine Seitenstraße rollen und dort den Weg durch den Hinterhof wieder zurück. Die Postplaner haben den ersten Frankfurter Rollstuhl-Wanderweg ausgeschildert.

Am 5. Juli sendet das Fernsehmagazin Report (SWF) die "Geschichte der Kurt-Gscheidle-Gedächtnisrampe". Um 16 Uhr 30, wenige Stunden vor der Ausstrahlung der Fernsehsendung, läuft in der Redaktion ein Fernschreiben des "geehrten" Postministers ein. Der Minister hat den sofortigen Bau der Rampe angeordnet. Just um die Zeit, da des Postministers Rampen-Ja vorliegt, überbringt in Frankfurt ein Eilbote den endgültigen Bescheid des Hauptpostamtes, man könne die Rampe auf keinen Fall bauen.

Am nächsten Tag müssen die Frankfurter Postler umdenken lernen.

In Bonn wird bis nachts um 21 Uhr über der Rampe gebrütet, ein Krisenstab Rampe wird gebildet. Das Bundespostministerium eine Dokumentation zusammen, was bereits für Behinderte getan worden ist, was noch getan werden soll. Der Bundespostminister muß eine Presseerklärung herausgeben (siehe Kasten).

Im Juli ist die Rampe vor der Hauptpost fertig. Einfallsreich, wie Bürokraten sind, ist ein großes Schild darüber angebracht: "Rampe für Rollstuhlfahrer". Und weil auch Fußgänger die Rampe benutzen, befindet sich nach einiger Zeit ein kleineres Schild darunter: "Fußgänger auf eigene Gefahr".

Im Mai 1978 teilt das Bundespostministerium mit, bis Ende 1978 würden weitere 900 öffentliche Telefone in neuartigen Fernsprechhauben installiert, die auch für Rollstuhlfahrer gut zugänglich seien. Die Post plane die Entwicklung eines neuen Fernsprechhäuschens, das auch Rollstuhlfahrer benutzen können.

Post will mehr für Behinderte tun

Bonn (AP)

Nach einer Protestdemonstration von 50 Behinderten vor dem Frankfurter Hauptpostamt hat Bundespostminister Kurt Gscheidle in Bonn versprochen, sich verstärkt um die Wünsche dieser Bevölkerungsgruppe zu kümmern. Er gab Weisung, daß die Vorschriften, wonach bei Neubauten oder Umbauten die Publikumsräume der Postämter auch für Behinderte zugänglich zu machen sind, strikt eingehalten werden. Diese Vorschriften beziehen sich auf Gehwege, Bordhöhe, Fußgängerüberwege, PKW-Stellplätze, Eingänge, Türen, Aufzüge, Schalter und sanitäre Anlagen. Außerdem werden, wie das Ministerium mitteilte, zur Zeit insgesamt 600 öffentliche Fernsprecher für Behinderte eingerichtet. Eine neuentwickelte Fernsprechhaube gestattet ein freies Heranfahren an die Münzfernsprecher. 140 dieser Hauben seien bereits installiert.

Süddeutsche Zeitung, Nr. 163, vom 19. 7. 1977.

So haben sich die Zeiten gewandelt. 1974 hatte der Bundesminister Post- und Fernmeldewesen, wie er ja im Amtsdeutsch heißt, noch mitgeteilt: "Bei allem guten Willen der Deutschen Bundespost, Behinderten zu helfen, muß in diesem Zusammenhang aber darauf hingewiesen werden, daß Daseinsfürsorge und finanzielle Leistungen für alte und behinderte Menschen grundsätzlich nicht Aufgabe der Deutschen Bundespost sein kann."

Wir haben in unserer Arbeit des öfteren erlebt, daß Behörden, wenn sie nichts tun wollen, dies äußerst detailliert technisch begründen. Irgendwann gestehen dann die Behördentechniker, daß ihre technischen Ausführungen eine Finte seien, denn: Hätten sie den politischen Auftrag, die kritisierten Zustände zu ändern, gäbe es natürlich auch eine Lösung, dafür seien sie ja schließlich ausgebildet und dafür würden sie ja auch bezahlt.

Die Bundespost ist dafür ein Beispiel. 1974 stand die Bundespost noch nicht unter dem politischen Druck, Behinderte berücksichtigen zu müssen. Damals schrieb das Ministerium (Akten-Zeichen: 224 - 4 4205 - 0/1 B) noch, daß es aus technischen Schwierigkeiten unmöglich sei, Fernsprechzellen behindertengerecht zu bauen:

"Der von verschiedenen Seiten vorgebrachte Vorschlag, Fernsprechhäuschen und Fernsprechzellen der Deutschen Bundespost so zu erweitern, daß Rollstuhlfahrer hineinfahren können, und die Münzfernsprecher darin so niedrig zu hängen, daß sie von ihnen benutzt werden können, ist von der Deutschen Bundespost aus finanziellen und betrieblichen Gründen nicht zu verwirklichen. Die z. Z. verwendeten Typen von Fernsprechhäuschen und Fernsprechzellen sind in langer praktischer Anwendung weiterentwickelt und von Fachleuten des Fernmeldetechnischen Zentralamtes laufend auf Betriebsgüte der elektrischen und mechanischen Teile insbesondere auch hinsichtlich ihrer Unfall- und Feuersicherheit geprüft worden. Dazu kommen die erprobten Lösungen für Beleuchtung, Be- und Entlüftung, Witterungsbeständigkeit, Schalldämpfung und für die Unterbringung des Münzfernsprechers mit Zubehör, wie Notrufmelder, Ablagetisch und Mehrfachbuchschwinge für die amtlichen Fernsprechbücher. Die Bedienungshandgriffe sind auf einen nicht behinderten Benutzer abgestellt. Der geringe Anteil von Behinderten, sowie die Vielzahl der Behinderungsarten, wie Sprech-, Seh- oder Hörbehinderte, Klein- oder Großwüchsige und Bein- oder Armbehinderte machen es leider nicht möglich, die für fast alle Benutzer optimalen Bedienungsvorgänge zugunsten der einen oder anderen verschwindend geringen

Minderheit und zuungunsten aller anderen Benutzer zu verändern. Solche Aktionen wären auch so aufwendig, daß sie weder von der Deutschen Bundespost noch aus dem Sozialetat finanziert werden könnten." Inzwischen sind rollstuhlgeeignete Fernsprechzellen in der Erprobung.

5. Ein Planungsdezernent wird in den Rollstuhl gesetzt

1959 verabschiedet der Europarat eine Entschließung über Planung und Ausstattung von öffentlichen Gebäuden. Körperbehinderten (und Blinden) soll der Zugang zum öffentlichen Leben ermöglicht werden. Die ersten, die reagieren, sind die ob ihrer langsamen Reaktion bewitzelten Berner, obgleich auch sie zehn Jahre brauchen. 1969 beschließt der Große Rat des Kantons Bern, behindertengerechtes Bauen bei einer Revision des Baugesetzes mit zu verankern. Die Schweiz gehört im übrigen nicht dem Europarat an.

14 Jahre nach der Entschließung des Europarats, 1973, legt der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau einen "Katalog der Schwerpunkte bei der Beseitigung baulicher und technischer Hindernisse" vor. Der Katalog basiert auf Werten des Fachnormenausschusses von 1972. Der Katalog des Bundesministers hat einen - allerdings entscheidenden - Nachteil: Er gibt Empfehlungen, Richtlinien, Leitwerte. Sein Papier hat keine bindende Kraft. Das kann nur ein Gesetz. Doch dies ist Sache der Bundesländer.

Der Frankfurter Magistrat beschließt am 18. 3. 1974, "den körperbehinderten Einwohnern Frankfurts die Benutzung öffentlicher Straßen, Wege, Schutzinseln, Treppen, Fußgängerunter- und Überführungen sowie Parkplätze durch bautechnische Maßnahmen zu erleichtern bzw. zu ermöglichen«. Der Magistrat setzt eine Arbeitsgruppe im Städtischen Hochbauamt ein. Die Leitung hat ein Herr R., der nie einen Rollstuhl geschoben, geschweige in ihm sitzend bauliche Barrieren getestet hätte. Wir bieten ihm an, sich an einem Rollstuhl zu versuchen. Er hievt Gusti Steiner eine Stufe hoch und bemerkt danach, er habe sich das nicht so schwer vorgestellt.

Herrn R.s Arbeitsgruppe untersteht dem Baudezernenten. Sie verschickt vorläufige Richtlinien, die allen Ämtern zur Stellungnahme zugehen. Es beginnt die Verwaltungsroutine: Schriftwechsel, Telefonate, Aktennotizen, Gegenmeinungen, Verhandlungen. Am 1. 9. 1975 soll die endgültige Fassung dem Baudezernenten vorgelegt werden. Alle Planungen verlaufen ohne Beteiligung der Betroffenen, ohne Beteiligung von Gehbehinderten, Rollstuhlfahrern, Blinden, Gehörlosen, Betagten, Frauen mit Kinderwagen.

Der Kurs fühlt sich verhöhnt, denn nichts geschieht. So wird ein Plakat entworfen und an die Litfaßsäulen kleben lassen: "Behinderte in Frankfurt. Mitteilung Nr. 1". Das Plakat endet sarkastisch: "Bürger, dankt Eurer Stadtverwaltung, Baudezernat und Straßenbauamt, daß Behinderte aus dem öffentlichen Leben ausgesperrt bleiben."

Offiziell reagiert keine der Stellen. Am 23. 9. 1975 gelingt es einer Teilnehmerin des Kurses, den Leiter der Arbeitsgruppe zu erreichen. Die Richtlinien, heißt es, sind fertig und an den verwaltungstechnischen Sachbearbeiter im Baudezernat weitergegeben. Am gleichen Tag noch teilt dieser Sachbearbeiter, Herr L., mit, in seiner Abteilung würden die Richtlinien nur unter verwaltungstechnischen Gesichtspunkten bearbeitet. Danach müßten sie noch unter rein technischen Gesichtspunkten endgültig genehmigt werden. Der Sachbearbeiter sagt zu, dem Kurs ein Exemplar der endgültigen Fassung zu schicken. Das brauche aber noch Zeit. Und die endgültige Fassung sei auch so endgültig nicht, denn sie gehe noch an den Magistrat. Hier könnten die Stadträte noch Abstriche vornehmen.

Am 7. 10. 1975 teilt Herr L. mit, die Richtlinien seien nun fertig und kämen in einer Woche vor die Koordinierungsgruppe "Verkehr". Am 14. Oktober tagt die Koordinierungsgruppe tatsächlich, zerstreitet sich jedoch über der Höhe der Bordsteine. Deshalb wird eine neue Arbeitsgruppe gebildet, in der alle Fachämter vertreten sind. Vorsitzender wird Herr A., Leiter des Dezernats-Verwaltungsamtes Bau. Herr L. empfiehlt, der Kurs solle sich direkt an Herrn A. wenden, dem man gute Kontakte zum Baudezernenten nachsage.

Nun folgen überaus viele Telefonate. Niemand weiß, wann sich die neue Arbeitsgruppe treffen und wer den Vorsitz führen wird. Wir erfahren nur, daß eigentlich alle irgendwie Einwände haben.

Am 5. 11. 1975 bekennt der Leiter des Straßen- und Brückenbauamtes, daß er der Kämpfer für besonders hohe Bordsteine sei. Kein Mensch glaubt, welche Schwierigkeiten sich hinter einem 10 bis 20 Zentimeter hohen Bordstein verbergen können. Denn ein Bordstein gewinnt in den Augen des höchsten Beamten des Straßenbauaintes Größe und Bedeutung an sich.

Wer da glaubt, man brauche keine Verordnung, bei Straßenbauarbeiten die Übergänge einfach behindertengerecht abzuflachen, kennt die Verwaltung nicht. Denn die technischen Ämter haben die Bauleitlinien einzuhalten. Und da steht eben nichts von Behinderten. Würde ein Amt eigenmächtig behindertengerecht bauen, käme ihm das Städtische Revisionsamt ("Sie wissen ja, die berühmten Berichte des Bundesrechnungshofs!") aufs Dach. Und ein behindertenfreundlicher Beamter würde disziplinarisch über einen abgeflachten Bordstein stolpern!

Da ist nichts zu machen, "Eine öffentliche Verwaltung braucht nun mal Richtlinien. Sonst können wir nicht handeln." Der behindertenfreundliche Beamte hat aber nicht nur den städtischen Bundesrechnungshof, das Revisionsamt, im Nacken, er steht mit einem Bein auch im Kittchen. "Das Bedenken der Verantwortlichen war", erläutert dies Stadtrat K., "daß durch das Absenken der Bordsteinkanten unter Umständen strafrechtliche Konsequenzen auf uns zukommen."

Es könnte zum Beispiel ein Frankfurter, zu Fuß unterwegs, vom Bürgersteig abkommen, weil der haltstiftende Bordstein fehlt. Und wer wäre dann verantwortlich? Eben der Stadtrat. Und wer möchte ihn schon aus lauter Menschenfreundlichkeit ins Gefängnis gehen sehen?

Weiterhin hat der Bordstein eine Schutzfunktion für den Fußgänger. Er hat die Aufgabe, die Autos vom Bürgersteig abzuweisen. Dies ist in Frankfurt bis dato so vollendet gelungen, daß man dazu übergehen mußte, Pfähle in die Bürgersteige zu rammen. Kein Bordstein ist einem parkplatzsuchenden Autofahrer zu hoch.

Weiterhin hat der Bordstein eine verkehrspsychologische Bedeutung. Er leitet den Verkehr und zwar just gerade in den Kurven, also an jenen Übergängen, den die Rollstuhlfahrer gern flach hätten. Weiterhin kommt dem Bordstein eine entwässerungstechnische Bedeutung zu: er leitet das Regenwasser ab. Es ist ein richtiges Thema für eine Dissertation, eine Doktorarbeit: Der Bordstein an sich, seine kulturgeschichtliche Bedeutung und strafrechtliche Relevanz unter Einbeziehung aller wassertechnischen, psychologischen und bautechnischen Aspekte.

Obgleich der Leiter des Straßen- und Brückenbauamtes gegen das Absenken von Bordsteinen ist, will er jedoch vom hohen Bordstein herunter- und dem Kurs entgegenkommen. Wenn etwa in der Nähe der Wohnung eines Behinderten gebaut werde, dürfe man ihn anrufen. Aber einen Präzedenzfall könne er nicht schaffen! Wie andere fünf Mark für einen Behindertenbasar geben, verschenkt der Amtsleiter Bordsteine als Almosen.

An dieser Stelle muß ich den chronologischen Ablauf unterbrechen. Denn absurde Argumente sind Behindertenforderungen gegenüber üblich. Daß abgeflachte Bordsteine die Entwässerung der Straßen behindern, abgeflachte Autoausfahrten dagegen nicht, gehört zum Standardrepertoire von Städteplanern, die Behinderte aussperren wollen. Ein weiteres dieser absurden Argumente ist, eine Rampe könne andere gefährden, obgleich man über Treppen genauso stolpern oder fallen kann, weil sie auf den Bürgersteig hinausragen.

Eine Innsbrucker Initiativgruppe hörte von einem Senatsrat sogar, wenn man Bürgersteige abflache, sei der Schutz der Fußgänger nicht mehr gegeben und man wolle doch keine neuen Behinderten schaffen. Außerdem sei dann die Schneeräumung nicht mehr gewährleistet (die natürlich bei Autoausfahrten gewährleistet ist). Sie sollten sich lieber an die Rollstuhlhersteller wenden. Er habe gehört, es gäbe Rollstühle, die 8-Zentimeter-Stufen überwinden könnten. Der Hinweis auf DIN-Normen und Empfehlung des Europarates nutzt da gar nichts. Auch da wußte der Senatsrat zu parieren: Man müsse nicht alle Fehler des Auslands mitmachen.

Doch zurück zu unserer Behördengroteske. Am 11. 11. 1975 wird bekannt, der Leiter des Straßen- und Brückenbauamtes habe seinen Widerstand gegen Abflachungen aufgegeben und die Arbeitsgruppe habe den Richtlinienkatalog beschlossen. Der müsse nun aber umgeschrieben und dann an die Stadtverordnetenversammlung geschickt werden. Das bedeutet eine weitere zeitliche Verzögerung und eventuell neue Einsprüche.

In den nächsten Monaten tut sich nichts. Der Kurs beschließt, der Planungsdezernent, der höchste politische Beamte, müsse im Rollstuhl die von ihm geplante Stadt bewältigen.

Am 18. 5. 1976 erklärt uns Herr J., Abteilungsleiter im Baudezernat, die Behinderten-Leitlinien hätten sein Amt verlassen und seien über Revisionsamt und Stadtkämmerei auf dem Weg zum Magistrat. Nach der Sommerpause werde das Papier der Stadtverordnetenversammlung vorgelegt. Alle bemühten sich wirklich, aber die Bewußtseinsbildung sei erst in den letzten Jahren erfolgt und man könne nicht auf einmal alles erreichen. Wir hätten in einem Brief den Planungsdezernenten aufgefordert, die Stadt einmal im Rollstuhl zu bewältigen. Das sei nicht nötig, der Dezernent könne sich die Schwierigkeiten auch so vorstellen.

Arn nächsten Tag erklärt der Persönliche Referent des Planungsdezernenten, sein Dienstherr könne sich sehr gut die Schwierigkeiten der Rollstuhlfahrer vorstellen, er brauche nicht in den Rollstuhl. »Glauben Sie nur nicht, daß Ihre Probleme nicht bei uns bekannt sind." Aber es dauert einfach zu lange, wird ihm erwidert. Seine Antwort: "So schnell geht das auch nicht. Einige Jahre muß man dafür schon einsetzen."

Der Kurs beschließt ein neues Plakat, das man auch als Flugblatt verwenden kann. Als Vorlage dient ein Zeitungsfoto, das den Baudezernenten mit einem Preßluftbohrer beim Beginn von UBahn-Arbeiten zeigt. Dazu wird der Bildtext geändert, als sei es der Beginn der Bordsteinabsenkungen. Es wird beschlossen, sollten sich die Verhandlungen weiter verzögern, einen Preßluftbohrer zu besorgen und die Bordsteine selbst abzusprengen. Der Preßluftbohrer und was dazu notwendig ist, wird von einem Kursteilnehmer beschafft. Wir können jederzeit loslegen. Vorerst verbreiten wir diskret, was wir vorhaben. Daß wir es tun könnten, hat die Straßenbahnblockade schließlich allen gezeigt. Eine Rollstuhlfahrerin hat den Mut, den Preßluftbohrer im Falle des Falles zu betätigen (das wäre ein Foto!).

Am 21. 5. bespricht der Persönliche Referent des Baudezernenten ein Treffen des Kurses mit dem Dezernenten. Er teilt uns den Sitzungsraum mit.

Frage: "Gibt es da auch einen Aufzug, damit man mit dem Rollstuhl raufkommt? Und wie steht es mit Stufen am Hauseingang?"

"Hm - da muß ich erst mal überlegen. Sind denn Rollstuhlfahrer dabei?" Er wird aufgeklärt. "Ach bin ganz überrascht. Ich ging davon aus, daß in Ihrem Kurs nur Nichtbehinderte sind ..."

"Sehen Sie", bekommt er zur Antwort, "das war schon ein kleiner Test. Sie laden Rollstuhlfahrer zu einem Gespräch ein und wissen nicht, ob sie überhaupt raufkommen."

Da wird der Persönliche Referent persönlich und amtlich böse: "Auf dieser Basis wollen wir doch nicht reden."

Am 11. 6. 1976 kommt es zum Treffen mit dem Baudezernenten, dem Leiter des Straßen- und Brückenbauamtes und allen Behördenverantwortlichen. Das Treffen findet nicht in den Amtsräumen des Baudezernenten statt, weil diese nicht zugänglich sind.

Der Baudezernent hält eine Ansprache. Wir werden hochgelobt und damit positiv eingestimmt: "Es hat einfach kein öffentliches Problembewußtsein gegeben. Insofern ist es völlig richtig, daß Sie Ihre Belange gezielt und auch politisch wirksam vortragen. Ich halte insofern den Volkshochschulkurs für eine gute Sache und die Wirksamkeit hat sich ja bewiesen. Es hat anderthalb Jahre gedauert, und Sie können daraus ersehen, wie ungewöhnlich dieses Thema für eine normale Bauverwaltung war, denn da kamen plötzlich Forderungen auf den Tisch, die früher nicht üblich waren, ja im Grunde genommen nie auf dem Tisch lagen, vollkommen neu waren, und alles, was in der Verwaltung neu ist, das kriegt zunächst einmal eine Behinderung in den Weg gelegt."

Es ist ein Arbeitsprinzip des Kurses, daß immer alle Teilnehmer zu Verhandlungen mitgehen, nicht nur eine Delegation von Spezialisten. Nur so können alle Teilnehmer lernen, wie man mit ihren Problemen umgeht, wie argumentiert, gefeilscht, getrickst wird. Nur so können alle auf dem gleichen Informationsstand bleiben, nur so können alle gleich verantwortlich sein. Deshalb wird auch alles im Rollenspiel vorher durchgespielt, um einen Grundkonsens zu finden und den Argumenten gewappnet zu sein. Doch dieses Mal haben wir das nicht getan. Das rächt sich in der Verhandlung. Die Mehrheit im Kurs will eine generelle Lösung, will die Strukturen insgesamt ändern, fordert, ich sage das große Wort: Die ganze Stadt muß behindertengerecht geplant werden. Eine Minderheit ist schon mit einer Teillösung zufrieden. Uns wird angeboten, wenn irgendwo gerade gebaut wird, wo Behinderte wohnen, im Rathaus anzurufen und Bescheid zu geben. Dies ist eine Verlockung. Viele haben ihr Leben mehr oder weniger als diskriminiert empfunden. Nun bieten die Spitzenbeamten der Stadt Kooperation an, bieten den persönlichen Kontakt an, wie wertet das den einzelnen auf! Und diese Anerkennung, diese Aufwertung, wollen viele unbewußt nicht aufgeben. Sie wollen den Kontakt, der aufwertet, erhalten.

Einigen Kursteilnehmern gelingt es jedoch während der Verhandlung, unsere eigenen Widersprüche aufzufangen. Am Ende des Treffens erklärt sich der Planungsdezernent bereit, sich - für eine halbe Stunde! - in den Rollstuhl zu setzen.

Die Stadt flacht innerhalb kurzer Zeit etliche Bordsteine rund um die Volkshochschule ab. Man glaubt, der Planungsdezernent könne publicitywirksam auf der abgeflachten Strecke fahren, um den eingeladenen Pressevertretern zu demonstrieren, was man schon getan hat. Wir beharren natürlich auf einer anderen Strecke und beschließen, ihm ein altes Rollstuhl-Modell unterzuschieben, vorne mit Hartgummirädern, damit er intensiven Straßenkontakt bekommt. Denn eine halbe Stunde ist eine knapp bemessene Zeitspanne.

Am 11. 8. 1976 ist es soweit. Ein Angestellter will den Stadtrat und Baudezernenten schieben. Ich sage dem Angestellten, das Ganze sei doch gefährlich, er solle lieber einen erfahrenen Mann den Rollstuhl seines Vorgesetzten schieben lassen. Da läßt er die Griffe los und überläßt mir den Dezernenten.

Am Ende der Strecke kommen wir an zwei steile Rampen in der Innenstadt. Auf der ersten Rampe lasse ich die Griffe los, schlingernd, rudernd kommt unser "Behinderter" die Rampe alleine runter. Bei der zweiten Rampe bitte ich, der Leiter des Straßen- und Brückenbauamtes möge ihn doch bitte hinunterschieben (der nicht nur für hohe Bordsteine focht, sondern auch meinte, man könne die Rampen ruhig etwas steiler bauen als vorgesehen). Doch der will nicht und muß von seinem Dienstherrn dazu erst angehalten werden.

So geht es auf die zweite Rampe. Der Leiter des Straßen- und Brückenbauamtes kann seinen Chef kaum halten. Langsam, Schritt für Schritt, kämpft er sich runter, bleich, denn er weiß: Den im Rollstuhl darf er um keinen Preis die Rampe runtersausen lassen. Beide sind gerade unten, da springt der Baudezernent aus dem Rollstuhl und faucht seinen Baudirektor an: "Wer hat das geplant?"

Der Presse erklärte er dann: "Vom Rollstuhl aus sieht man wirklich alles ganz anders." Er habe "jede Fuge in der Straße und auch kleinste Unebenheiten" gespürt (das waren die Hartgummiräder!). "Ich hätte nie gedacht, daß diese Schräge, die ich immer für besonders behindertengerecht gehalten habe, für einen Rollstuhlfahrer allein gar nicht befahrbar ist."

Am 14. 10. 1976 sind die Behinderten-Bauleitlinien der Stadt Frankfurt verabschiedet. Seitdem wird, sieht man von Details ab, behindertengerecht gebaut. Damit hat der Kurs sein Hauptziel erreicht: Eine Stadt, die beim Bauen nie an Behinderte dachte, wird behindertengerecht umgestaltet.

Etwa zwei Jahre später treffe ich einige der Gegner aus der Konfrontationszeit wieder. Sie, die unsere Methoden als radikal verschrien, uns als Radikalinskis abgetan hatten, sagen nun: "Wenn man sich nicht wehrt, ändert man nichts."

6. Arbeitsmethode und Verhaltensänderungen

Im ersten Kurs, als Gusti Steiner noch dabei war (er verließ uns wegen einer Berufsausbildung), hatten wir beide die Lerninhalte noch vorgegeben. Danach bestimmten die Teilnehmer den Kursverlauf. Natürlich sind es sehr unterschiedliche Themen, die da vorgeschlagen werden. Sie werden zuerst gesammelt und dann gewichtet, das heißt, es wird diskutiert, welches der Probleme das wichtigste ist. Hat sich eine Einigung über das Thema ergeben, wird diskutiert, wie das Ziel zu erreichen ist und die Methoden danach ausgerichtet.

Nur so läßt sich verhindern, daß den Teilnehmern ein Problem aufgeschwatzt und übergestülpt wird. Nur so ist es ihr Thema, und nur so werden sie sich engagieren. Wichtig ist, daß die Teilnehmer lernen, wie sie sich informieren können. Sie müssen Lernen lernen.

Will man ein konkretes Ziel öffentlich erreichen, müssen Leute interviewt werden, die vom Thema überhaupt nichts verstehen (dies geschah immer mit Hilfe von Passantenbefragungen). Nur so ist es möglich, nicht aus einem In-Group-Bewußtsein heraus zu handeln, sondern den Wissens- und/oder Vorurteilsstand der Bevölkerung zu berücksichtigen, und zwar ohne zu moralisieren. Wir können der Öffentlichkeit nicht vorwerfen, sie habe keine Kenntnisse von Behinderten, wenn Behinderte im Getto bleiben.

Wir haben immer zwischen themenorientierten und privaten Problemen unterschieden. Private Probleme haben im Kurs ihren Platz, wenn sie von exemplarischer Bedeutung sind. Aber wir haben gelernt, daß es besser ist, im Kurs an einem Thema zu arbeiten und danach in eine Kneipe zu gehen, denn beides ist notwendig: Arbeit am Konflikt und Geselligkeit.

Die Konzentration auf gemeinsame Projekte hat den Vorteil, daß sich Behinderte und Nichtbehinderte in einer gemeinsamen Arbeitssituation begegnen, auf gleicher Ebene arbeiten, daß das Gefälle von Nichtbehinderten zu Behinderten verschwindet. Eine besondere Bedeutung hat für uns das Rollenspiel. Anfangs dienten die Rollenspiele dazu, das Verhalten der Teilnehmer zu spiegeln, später übten wir uns darin, die Argumente der Gegner kennenzulernen und mit ihnen umzugehen. Wir spielten beispielsweise Versammlungen unseres Kommunalparlaments, mit Fraktionen, mit Reden des Oberbürgermeisters und der Opposition. Das macht einesteils Spaß und bringt Einsichten, wie Parteien reagieren.

Zu oft resignieren wir, ohne einmal spielerisch der Phantasie freien Lauf zu lassen. Wenn Behinderte vom Amt keine behindertengerechte Wohnung bekommen, warum können wir nicht hinziehen und dort ein Bett aufschlagen? Wenn Ämter nicht auf bauliche Barrieren reagieren, warum können wir ihnen nicht eine Mauer vor die Eingangstür bauen, um ihnen zu zeigen, was eine bauliche Barriere ist?

Wir können keine Kochbücher entwerfen ("man nehme ..."). Jede Gruppe muß ihre eigenen Möglichkeiten entfalten lernen, darf Aktionen nicht kopieren. Aber es sollten aufbauende, schöpferische Aktionen sein, hart in der Sache, aber heiter in der Ausführung. Die Qualität einer Aktion muß Vorrang haben vor der Quantität. Flugblätter müssen kurz sein, besser Karikaturen als langatmige Theorien.

Wenn Behinderte ihren Führerschein machen, büffeln sie die Verkehrsregeln. Aber ihre eigenen Rechte büffeln sie nicht. Wir müssen lernen, Rechte durchzusetzen. Wir müssen lernen, unsere Gegner bloßzustellen und lächerlich zu machen, jawohl: lächerlich zu machen. Wir können Dichterlesungen arrangieren mit Lesungen von Gesetzestexten, mit Texten von Bürokraten, die mit gedrechselten Redewendungen Rechte verdrehen. So lernen wir, die Ehrfurcht vor denen zu überwinden, die bezahlt werden, die Rechte Behinderter wahrzunehmen, sie aber tagtäglich mit Füßen treten.

Es hat keinen Sinn, sich der Ohnmacht, der Wut zu ergeben, alles deprimiert über sich ergehen zu lassen. Wir müssen die Waffe Spott gebrauchen lernen, so aberwitzig das in der Behindertenarbeit klingen mag.

7. Spott als Waffe - "Die Goldene Krücke"

Daß Spott ein Mittel sein kann, sich zu wehren, entdeckte der Kurs sehr früh. Zu Weihnachten 1974 wurde, ähnlich dem studentischen Schnelldienst, der Studenten im Nikolauskostüm verleiht, ein Vertrieb "Behinderte zum Fest" gegründet. Behinderte wurden zu Weihnachtsfeiern angeboten ("Rent-a-Spasti" nannte unser Kursmitglied Hagen Stieper die Aktion). Die eigene Situation satirisch anzugehen bedeutet, sie zu bewältigen. Ganz bewältigt war sie damals noch nicht, denn einige Teilnehmer drangen darauf, das Angebot als Satire kenntlich zu machen. Angesichts der Tatsache, daß sich just zur Weihnachtszeit alle der Behinderten erinnern, erging das Angebot an Banken, Kaufhäuser, Parteien. Und obgleich die Aktion als Satire ("Kennwort Ironie") deutlich herausgestellt worden war, meldeten sich Anrufer und fragten, ob das Angebot ernst gemeint sei. Der Geschäftsführer eines Behinderten-Dachverbandes erkundigte sich sogar, "ob die aggressive Form der Spendenwerbung Erfolg hatte". Der Text war eigentlich unmißverständlich:

VERTRIEB BEHINDERTE-ZUM-FEST (BzF)

Abteilung Werbung

Datum des Poststempels

Betr.: Sonderangebot Weihnacht

Sehr geehrte Damen und Herren!

Geben Sie Ihrem Weihnachtsfest eine neue Note! Wir haben für Sie eine Marktlücke entdeckt und bieten an:

Behinderte zum Fest. Zu Betriebs- und Vereinsfeiern. Auch zur intimen Feier im Vorstandskreis. Ebenso zu politischen Versammlungen, Kongressen und Parteitagen. Gelegenheit zum Fotografieren: Legen Sie Ihren Arm väterlich/mütterlich um die Schultern des Behinderten, lancieren Sie dieses Foto in die Presse, Ihr soziales Image hebt sich! Bei Privatnutzung des Behinderten im Familienkreis gewähren wir Sonderrabatte. Es können auch mehrere Familien gemeinsam beliefert werden. Preise verstehen sich frei Haus, pro Stunde, ohne Mehrwertsteuer. Behinderte wahlweise männlich/weiblich.

Wir liefern:

Bestell-Nr.:

pro Stück:

011 Rollstuhlfahrer (Standard)

8,95

012 Rollstuhlfahrer (klappriges Modell kleiner Aufpreis)

 

021 Gehbehinderter, mit 1 Krücke

4,98

022 Gehbehinderter, mit 2 Krücken

6,98

031 Spastiker ohne Sprachfehler (Sonderpreis)

7,88

032 Spastiker mit Sprachfehler

11,88

Achtung! Unser Schlager:

008 Heimkinder, dankbar für jede kleine Hilfsgeste

1,95

009 Vollwaisen Aufschlag

DM 1,- pro Stück (Mengenrabatte anfragen!)

Wie Sie wissen, leben wir in einer sinnentleerten Zeit. Geben Sie Ihrer Weihnachtsfeier eine soziale Note. Nehmen Sie Behinderte. Sie sind demütig, dankbar und bescheiden. Drücken Sie Ihnen unauffällig eine Spendenbüchse in die Hand. Eindrucksvolle Fotos! Behinderte eignen sich auch besonders zu politischen Versammlungen: sie preisen auch geringste Fortschritte!

Sollten Sie unser Angebot wahrnehmen, bitten wir Sie, an den Behinderten weder Alkohol auszuschenken noch Zigaretten anzubieten. Der Behinderte ist nicht befugt, Barzahlungen entgegenzunehmen oder zu quittieren. Wenden Sie sich in jedem Falle an den Betreuer, nie an den Behinderten, er überschaut seine Situation nicht. Auch bitten wir um Verständnis, wenn der Behinderte spätestens um 21 Uhr im Bett zu sein hat. Er ist es nicht anders gewohnt.

Unsere Behinderten sind ab sofort lieferbar (diskrete Begleitung). Wir nehmen Ihre telefonische Bestellung unter der Nummer (0611) 78 43 35 zwischen 10-12 Uhr und zwischen 14-17 Uhr entgegen.

Für die Vertriebsabteilung:

i. A. Rosemarie Heßler, Udo Gerhard,

Ernst Klee, Günther Theumer, Christa Schlett,

Teilnehmer des VHS-Kursus "Bewältigung der Umwelt"

Bank: Frankfurter Sparkasse v. 1822, 359-24 262 - Postscheckkonto: 267772-609 Ffm.

Geschäftsbedingungen: Reklamationen können nur innerhalb 8 Tagen nach Empfang der Ware berücksichtigt werden. Bei Reklamationen bitte Rechnungsnummer angeben. Zahlbar, falls nicht anders vereinbart, innerhalb 8 Tagen mit 2% Skonto, 30 Tage netto. Kennwort: IRONIE

Adresse: Vertrieb Behinderte-zum-Fest (BzF)

6 Frankfurt/M. 90, Alexanderstraße 37

Im Januar 1978 warb der HUK-Verband, der Verband der Autoversicherer, mit einer großen Anzeigenkampagne dafür, daß sich Autofahrer angurten sollen. Text der Überschrift: "Verkrüppelt für den Rest des Lebens ... ist ein schlimmer Tod!" Wir haben lange überlegt, wie wir dem Text begegnen könnten, denn hier tauchten Gedanken aus dem "Dritten Reich" auf, wonach ein behindertes Leben ein unwertes Leben ist. Wir beschlossen, einen Anti-Preis zu stiften, mit dem wir versuchen wollten, einen Tatbestand, über den man nicht mehr lachen kann, der Lächerlichkeit preiszugeben.

Die Goldene Krücke - Preisstatuten

Der Preis "Die Goldene Krücke" wird jährlich am Buß- und Bettag verliehen, Preisträger können Organisationen und Einzelpersonen sein. Niemand ist für diesen Preis zu schade. Der Preis heißt "Die Goldene Krücke", damit die Preisträger auch weiterhin in aller Dummheit zuschlagen können.

"Die Goldene Krücke" ist ein Wanderpreis, sozusagen eine Wanderkrücke. Wer sie dreimal erringt, darf sie behalten. Stehen mehrere Preiswürdige zur Wahl, entscheidet das Los. Die größte Niete hat gewonnen.

Die Preisvergabe geschieht öffentlich und ist mit einer Verleihungs-Urkunde verbunden. In der Urkunde sind die herausragenden Leistungen aufgeführt, die zur Wahl gerade dieses Preisträgers geführt haben.

Die Jury besteht aus Behinderten und Nichtbehinderten des VHS-Kurses "Bewältigung der Umwelt" in Frankfurt.

Der Rechtsweg ist - wie es bei Behinderten des öfteren vorkommt - ausgeschlossen.

Der Preisträger muß die folgenden Voraussetzungen erfüllt haben:

Er hat sich in Wort, Schrift, Tat, Ton oder Bild als besonders behindertenfeindlich ausgezeichnet und damit die Integration Behinderter nachhaltig erschwert.

Zahlreiche Behindertengruppen hatten gegen den HUK-Verband ergebnislos protestiert, nun half nur noch die Satire. Wir wählten die Form einer Preisverleihung im Theater. Dies eröffnete uns - ein Nebeneffekt - zugleich ein neues Medium. Am Buß- und Bettag 1978 rollten und hinkten also Behinderte zur Preisverleihung. Die Städtischen Bühnen inszenierten die Preisverleihung als satirische Collage: Szenen aus dem Alltag Behinderter, dokumentarisches Material, der Zuschauer weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll. Am Ende geschah beides.

Zwei Beispiele: Eine Frau in Lüneburg ist zum Scheidungstermin bestellt. Die Verhandlung soll vor dem Einzelrichter und unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden. Im Rollstuhl kommt die Behinderte nicht ins Gericht. Die Gerichtsbediensteten erklären sich für den Transport als »unzuständig«. Sie seien auch nicht dafür ausgebildet. Einer sagt schließlich, Verhandlungen, an denen Behinderte teilgenommen hätten, hätten schon öfters auf dem Marktplatz stattgefunden. Und heute sei ja auch das Wetter günstig. Die Richterin ist gleicher Meinung und so findet die Scheidung auf der Straße statt.

Einem österreichischen Kunst- und Turmspringer, Olympiateilnehmer 1972 in München, muß nach einem Trainingsunfall das linke Bein unterhalb des Knies amputiert werden. Als er später an einem Meisterschaftswettbewerb teilnehmen will, sperren sich die Funktionäre: Nach dem Reglement müsse man mit beiden Beinen vom Sprungbrett abheben. Der Mann springt trotzdem und wird Dritter. Kommentar eines Funktionärs: "Es ist für den Sport schädigend, wenn ein Krüppel die Gesunden schlägt."

Szenen, Zeitungsmeldungen, Musikeinlagen des Frankfurter "Linksradikalen Blasorchesters", Gesetzestexte werden ineinander geschnitten. Absurde Texte einer absurden Situation. Die Zuschauer reagieren betroffen, kein Lachen, das Befreiung brächte. Der Gesetzgeber sagt: "Eine Behinderung ist ein regelwidriger Zustand von mehr als sechsmonatiger Dauer." Darf man da lachen? Einige kichern - es sind Behinderte.

Preisverdächtige gab es viele. Die Deutsche Lufthansa bekam einen Trostpreis. Will ein Rollstuhlfahrer in die Luft gehen, muß er zuvor vom Hausarzt eine "Beurteilung der Reisefähigkeit kranker Fluggäste" ausfüllen lassen. Nach dem Vordruck bescheinigt der Arzt dann dem Behinderten: "Zustand und Verhalten werden nicht zur Belästigung oder Gefährdung von Mitreisenden führen."

Dem HUK-Verband wurde diese Preisrede gewidmet:

"Hochverehrte Anwesende, liebe Krüppel! Aus dem Munde namhafter, hoher und höchster Repräsentanten dieses unseres Landes vernehmen wir die ergreifendsten Worte über Behinderte. Die Bemühung um unsere Behinderten ist eine hohe und hehre gesellschaftspolitische Verpflichtung. Wir sagen ja zur Leistungsgesellschaft. Und gerade deshalb tragen wir die Verantwortung, gerade auf die Schwächsten der Schwachen mit geduldiger Rücksichtnahme einzugehen. Der Behinderte mahnt uns, Schönheit, Jugend, Wirtschaftswachstum nicht einfach gedankenlos anzubeten. Denn das Ziel der Rehabilitation ist der Mensch. Auch Behinderte sind Menschen. Der Krüppel ist ein Mensch wie du und ich.

Um so betrüblicher, daß es immer noch Personen und Organisationen gibt, die sich sprachlich noch nicht angepaßt haben und die geschichtliche Tradition der Aussonderung Behinderter ganz unverbrämt und ungeniert fortsetzen. Wir, eine Gruppe behinderter und nichtbehinderter Bürger, haben deshalb beschlossen, die Verdienste um die Ausgliederung Behinderter gebührend zu würdigen. Wir haben uns hier eingefunden, den hervorragendsten Streitern der Aussonderung erstmalig einen ihren Taten angemessenen Preis zu verleihen.

Fürwahr, es fiel schwer, unter zahlreichen Anwärtern den Preiswürdigsten auszuwählen. Die Wahl ist auf die Autoversicherer im HUK-Verband gefallen. Wir dürfen bekanntgeben: Dem HUK-Verband ist es gelungen, als erster Preisträger der >Goldenen Krücke< teilhaftig zu werden.

Hochverehrter HUK-Verband, verehrte Anwesende, liebe Krüppel! Der HUK-Verband empfängt die >Die goldene Krücke< für eine Anzeigen-Serie, die er in deutschen Zeitungen in millionenfacher Auflage verbreiten ließ. Die Anzeigen mahnen die Autofahrer, sich anzuschnallen, bevor sie Gas geben. Eine löbliche Absicht, die in den folgenden Worten Ausdruck fand:

>Der Unfall: Nasse Straße, leichte Rechtskurve, kein Gegenverkehr, ein einzelner Baum am Straßenrand. Der VW-Golf kommt mit 90 ins Schleudern und prallt auf das feststehende Hindernis. im Normalfall eines so gelagerten Unfalles werden nur noch Tote und fast Tote geborgen. Verkrüppelt für den Rest des Lebens zu sein, ist schlimmer als tot.<

Zu diesem an sich schon preiswürdigen Text ist dem HUK-Verband noch eine gleichfalls preiswürdige Überschrift eingefallen. Diese lautet: >Verkrüppelt für den Rest des Lebens ... ist ein schlimmer Tod! <

Der HUK-Verband verdient die >Goldene Krücke<. Er propagiert 33 Jahre nach Ende des Dritten Reiches unbeirrt das Leben Behinderter als ein lebensunwertes Leben. Der HUK-Verband verdient die >Goldene Krücke<, weil ihm unter Einsatz aller seiner Geistesgaben - verbunden mit hohen finanziellen Aufwendungen - ein behindertenfeindlicher Text gelungen ist, der die Integration von sieben Millionen Behinderten behindert ..."

Die zweite Preisverleihung am Buß- und Bettag 1979 löste bei den "Preisträgern" und beim Publikum heftige Proteste aus.

Mitarbeiter und ehemalige Mitarbeiter der Alsterdorfer Anstalten (s. S. 270 ff.) hatten gegen die Mißstände in ihrer Einrichtung vielfach protestiert und schließlich den Leiter zur "Goldenen Krücke" vorgeschlagen. Behinderte, Eltern und ehemalige Mitarbeiter des Spastiker-Zentrums in München (s. S. 62 ff., 267 ff.) hatten den Leiter des Münchener Zentrums nominiert. Der Kurs studierte die Unterlagen und beschloß, den Preis zu gleichen Teilen zu vergeben. Angesichts vieler weiterer Heimberichte wurde beschlossen, den gesamten Theaterabend unter das Thema "Heim ins Heim" zu stellen (eine Formulierung, die von dem Frankfurter Schauspieler Peter Danzeisen stammt).

Die Münchener Gruppe druckte ein Flugblatt über "Mißhandlungen in Heimen", in dem dazu aufgerufen wurde, sich mit einer Unterschrift für die Absetzung des Leiters einzusetzen. Zwei Wochen lang standen sie in der Münchener Fußgängerzone und sammelten mehrere tausend Unterschriften. Am Abend der Preisverleihung organisierten sie eine Demonstration in München.

Die Theaterbesucher wurden Heimbedingungen unterworfen. Sie mußten unterschreiben, daß sie sich den Vorschriften und Anweisungen des Personals beugen. Sie hatten einen Besuchschein auszufüllen und feste Toilettenzeiten einzuhalten. Männer und Frauen wurden im Zuschauerraum getrennt - Heimbedingungen.

Zu Beginn der Vorstellung hören die Zuschauer oben aus dem Bühnenaufzug "Froh zu sein, bedarf es wenig". Dann kommt der Aufzug, öffnet sich, eine Masse Behinderter rollt und hinkt auf die Bühne; danach die Mitglieder des "Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters" (die schon bei der Gscheidle-Rampe mitgeblasen hatten) und die Schauspieler Peter Danzeisen, Peter Siegenthaler, Wilfried Elste und René Peier, die den Abend zusammen mit den Behinderten vorbereitet haben.

Es folgen Schlag auf Schlag Darstellungen von alltäglichen Erfahungen und Erlebnissen, die Behinderte des Kurses sprachlich verdichtet, szenisch umgesetzt und schließlich mit den Schauspielern geprobt haben. Christa Schlett, schwerbehinderte Spastikerin und Buchautorin, hat in einer längeren Sequenz beschrieben, wie ein Behinderter von seiner Familie ins Heim abgeschoben wird.

Danach folgen Miniszenen wie diese:

Szene Heimausgang:

Zwei Rollstuhlfahrerinnen sind unterwegs. Leute kommen entgegen

"Fahrt Ihr jetzt ins Heim?"

"Nein"

"Dann fahrt Ihr ins Krankenhaus!"

"Nein."

"Du, die fahren ins Krankenhaus, ganz gewiß fahren die ins Krankenhaus, wo sollten sie auch sonst hinfahren."

Szene beleidigter Hund:

Bernd, er hat Gesichtsverbrennungen, ist im Rollstuhl unterwegs. Kommt Frau mit Hund entgegen. Der Hund springt am Rollstuhl hoch. Bernd hat Angst vor Hunden.

Sagt die Frau: "Passen Sie doch auf, der Hund erschreckt sich doch, Sie sehen doch aus wie ein Ungeheuer."

Zum Hund gewendet: "Beruhig dich doch, Idofutzi."

Szene Tamo im Wald:

Tamo ist mit dem Elektro-Rollstuhl im Wald unterwegs. Kommt der Oberförster.

"Halt, was wollen Sie hier, wo so viele Spaziergänger unterwegs sind! Sie haben im Wald nichts verloren! Sie werfen hier nur unnötig Staub auf."

Szene Helga beim Frauenarzt:

"Ich möchte gerne die Pille verschrieben haben."

"Sie brauchen doch keine Pille."

"Ich hab einen Freund."

"Muß das denn sein, daß Sie mit Ihrem Freund schlafen?"

"Hm".

"Wenn wirklich mal was passiert, wird bei Ihnen sowieso eine Abtreibung vorgenommen."

Szene "Gute Besserung":

Bernd auf der Straße. Kommt einer auf ihn zu.

Bernd sagt: "Guten Tag!"

Bekannter: "Gute Besserung!"

Szene Cola-Büchse:

Manfred steht im Rollstuhl vor dem Zooeingang. Er trinkt eine Cola, hat die Cola-Büchse auf dem Schoß. Da kommt eine Frau vorbei und wirft ihm zwei Groschen in die Büchse.

Es folgen Texte aus Reden, Spendenaufrufen, Dienstanweisungen und Broschüren der Preisträger. Dazwischen zwei Spottlieder, die ein Kursmitglied getextet hat: "Mein Spastihaus wird streng bewacht,/ eins, zwei, g'suffa,/ damit mir da drin keiner Unfug macht" der Melodie "In München steht ein Hofbräuhaus". Das - zweite Spottlied ist auf die Melodie "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" zu singen: "Dort in Alsterdorf nachts um halb zehn/ hört kein Herrgott dein Rufen und Flehn".

Dann werden zwei Zuschauer prämiert. Es gibt einen Trostpreis: eine Minute Mitleid. Die Behinderten auf der Bühne schauen zu Boden, die Zuschauer drehen sich weg. Es ist ein peinliches und beschämendes Schweigen, das allenthalben Empörung auslöst. Wie kann man einen Menschen so demütigen! Die Bedauernswerte geht, Tränen in den Augen. Die Zuschauer sind betroffen, rebellieren. - Die Hauptgewinnerin hat es einfacher. Sie darf auf der Bühne die Krücke zersägen, die ja in diesem Jahr zu gleichen Teilen vergeben wird.

Es folgt festliche Musik, absichtlich falsch gespielt, und die Laudatio:

"Hochzuverehrende Anwesende, geliebte Krüppel, wir leben in einem Land, dessen Politiker und Rehabilitations-Bürokraten ständig von >Integration< (zu Deutsch: Eingliederung) festrednern, in Wirklichkeit Behinderte jedoch dauerhaft sonderbehandeln. Behinderte kommen in Sonderkindergärten, Sonderkindertagesstätten, Sonderschulen, in besondere Heime und gesonderte Werkstätten, selbst der Transport dorthin geschieht mit einem besonderen Fahrdienst für Behinderte. Die Bundesrepublik gliedert Behinderte ein, indem sie sie ausgliedert.

Angesichts dieser Tatbestände lassen sich gewisse Ungerechtigkeiten nicht vermeiden, aus vielen, vielen preiswürdigen Kandidaten einen oder zwei besonders hervorzuheben. Wir sind uns dieser Ungerechtigkeit bewußt, meinen aber, daß unsere diesjährigen Preisträger die Würdigung, die ihnen heute widerfährt, besonders verdient haben. Behindertenfeindlicher kann man sich kaum noch verhalten.

Der Preis >Die Goldene Krücke< ergeht in diesem Jahr zu gleichen Teilen an den Landesbehindertenarzt von Bayern, Herrn Prof. Dr. Albert Göb, Leiter des Spastiker-Zentrums in München und an Herrn Direktor Pastor Hans-Georg Schmidt, Leiter der Alsterdorler Anstalten in Hamburg."

Hier setzt wieder festlich-schräge Musik ein, ehe es weitergeht:

"Prof. Dr. Albert Göb, Chef-Orthopäde der Universitätspoliklinik in München, Gründer und Leiter des Münchener Spastiker-Zentrums, wurde bereits mit vielen Auszeichnungen dekoriert. Wir sind jedoch sicher, daß er kaum eine Auszeichnung so verdient wie die >Goldene Krücke<.

Vorläufige Dienstanweisung, vom 11. 10. 76, Spastiker-Zentrum München.

Aus Sicherheitsgründen ist eine Überwachung des Spastiker-Zentrums täglich von 0.00 Uhr-24.00 Uhr erforderlich. Hierzu sind nachstehende Maßnahmen geboten: Ab 4.20 Uhr ist die Einfahrt Garmischer Str. 241 zu öffnen, [ ... ] weil das Milchauto vom Milchhof die Milch anfährt. Das Milchauto fährt zur Rampe, lädt die Milch ab und verläßt wieder das Gelände.

Zwischen 5.00 Uhr und 6.00 Uhr trifft die erste Gruppe des Personals ein. Zu Überwachungszwecken erhält das Personal Dienstausweise des Spastiker-Zentrums, die beim Betreten des Geländes vorzuzeigen sind. [ ... ]

Ab 7.30 Uhr Überwachung sämtlicher Personen. Kontrolle der Mitarbeiter der Reinigungsfirma. Befragen über den Anwesenheitsgrund, z. B. Privatpersonen, Handwerksfirmen, Post, Vertreterbesuche. [ ... ]

Ab 17. 00 Uhr ist besonderer Augenmerk auf die Besuche zu richten, die nach Dienstschluß das Gelände ohne plausiblen Rechtsgrund zu betreten beabsichtigen. [ ... ]

Ab 22.00 Uhr ist halbstündlich bis 24.00 Uhr darauf zu achten, ob die Jugendlichen sich auf ihren Zimmern befinden. [ ... ] Außerdem ist des Nachts jede 2. Stunde ein Rundgang durchzuführen.

Im Münchener Spastiker-Zentrum erfuhren Behinderte eine Behandlung, die den Landtag, die Heimaufsicht, die Staatsanwaltschaft, das bayerische Verwaltungsgericht und den Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß beschäftigte.

Prof. Dr. Göb hat sich zwar keine sozialpädagogischen Verdienste erworben, dafür aber für die Kontrolle seiner Pfleglinge außergewöhnliches geleistet. Die Behinderten im Münchener Spastiker-Zentrum gehören zu den bestbewachten Behinderten Deutschlands. Von 0 bis 24 Uhr, also rund um die Uhr, wacht die Wach- und Schließgesellschaft. Und wo das menschliche Auge versagen könnte, steht die Technik hilfreich zur Seite: Eine Videokamera kontrolliert den Eingang, den bei Dunkelheit eine Flutlichtanlage erhellt. Bewohner, die das Haus verlassen, müssen einen Grund nennen können, der in ein Kontrollbuch eingetragen wird.

Prof. Dr. Göb hat gegen den Freistaat Bayern einen Prozeß geführt, weil ihm die Heimaufsicht einen pädagogischen Leiter beigesellen wollte. In der Niederschrift über die öffentliche Sitzung des Verwaltungsgerichts (M 316 XV 78) sind jene Zeugenaussagen nachzulesen, die Prof. Dr. Göb zum Preisträger der >Goldenen Krücke< prädestinieren. Danach hält der bayerische Landesbehindertenarzt Therapie mitunter für sinnlos: Das betreffende Kind koste nur Geld und leiste später doch nichts. Prof. Dr. Göb ist auch der Meinung, ein Behinderter müsse nicht unbedingt lernen, ja, er hält auch mal - das behaupten Zeugen - einen Behinderten für den letzten Dreck. Über einen behinderten Buben meinte er: >... was wollt ihr denn mit dem, den könnt ihr den Eltern vor den Christbaum legen.< Auf einen Hinweis über Fortschritte eines Behinderten kann man hören: >Auch Affen kann man dressieren.<

In Prof. Dr. Göbs Einrichtung war man auch um Lärmdämpfung bemüht. Einer Spastikerin, die schrie, wurde der Mund mit Leukoplast verklebt. Um eine rationelle Betriebsführung zu gewährleisten, wurden Behinderte an feste Klo-Zeiten gewöhnt. Um 10, 12 und 15 Uhr durften sie auf die Toilette, außerhalb der offiziellen Toilettenzeiten stand es den Bewohnern natürlich frei, in die Hose zu machen. Der Landtagsabgeordnete Müller sagte vor Gericht: >Ich habe mich auch über den Toilettenerlaß unterhalten und zur Antwort bekommen, daß feste Toilettenzeiten nötig seien, um den Betrieb nicht zu sehr zu stören.<

Wir können hier nur einen Teil der Zeugenaussagen wiedergeben. Prof. Dr. Göb diagnostiziert die beschwerdeführenden Spastiker in der Regel als geistig Behinderte. Auch sein Rechtsanwalt hat bei den Behinderten >erhebliche geistige Defekte< ausgemacht. Selbst der neu eingestellte pädagogische Leiter hält Spastiker für meist geistig behindert. Wer Körperbehinderte zu Deppen erklärt, ist in Bayern als Landesbehindertenarzt immer noch am rechten Platz.

"Im Juli 1977 richtete Herr Karl Köck an den Landtag eine Eingabe, die sich mit dem Spastikerzentrum befaßte und mehr als 100 einzelne Beschwerdeschreiben von Behinderten, deren Eltern und ehemaligen Mitarbeitern enthielt. Während der eingehenden Überprüfung dieser Beschwerden meldeten sich auf Grund des Echos in der Presse Eltern, die früher ebenfalls Kinder im Spastikerzentrum hatten, und bestätigten den Grundtenor der Beschwerden, nämlich das weitgehende Fehlen der pädagogisch-menschlichen Betreuung und die totale Dominanz des medizinisch-therapeutisehen Behandlungsablaufs. Vertreter der Aufsichtsbehörden besuchten wiederholt unangemeldet das Spastikerzentrum und stellten dabei fest, daß die Beschwerden größtenteils berechtigt waren. Die Gespräche mit den Verantwortlichen des Spastikerzentrums blieben jedoch ohne Ergebnis, da jede Bereitschaft zum Einlenken fehlte."

Der Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß in einem Brief vom 30. 3. 1979 (AZ: B 17-0122-781656-2).

Selbst der Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß hat die Vorwürfe größtenteils bestätigt (AZ: B 17-0122-781656-2). Der Freistaat Bayern hat seinen in der Tat einzigartigen Landesbehindertenarzt nicht nur im Amt belassen, er hat ihm vor einiger Zeit sogar mit der Bayerischen Staatsmedaille für soziale Verdienste dekoriert."

Wiederum setzt das Blasorchester mit feierlicher Musik ein, dann kommt die Laudatio auf den zweiten Preisträger:

"Im pädagogischen Norden liegen die Alsterdorfer Anstalten. Wir zeichnen mit den Alsterdorfer Anstalten und ihrem Leiter, Pastor Hans-Georg Schmidt, eine gottesfürchterliche Einrichtung aus. Die Alsterdorfer Anstalten nennen sich >Evangelische Heilerziehungs-, Heil- und Pflegeanstalt< und gehören als Stiftung privaten Rechts der Inneren Mission und dem Diakonischen Werk an. Hier sind etwa 1350 meist geistig Behinderte untergebracht, in Häusern mit so gottesfürchtigen Namen wie >Zum guten Hirten<, >Friedenshort< und >Haus unterm Gottesschutz<.

Evangelische Heilerziehung bedeutete all die Jahre für viele Behinderte: Stumpfsinn, stinkende Räume, Schläge, Ruhigstellen durch Übermaß an Psychopillen, Zwangsjacke und öffentliches Gruppenscheißen, denn die Toiletten im Haus >Carlsruh< liegen sich offen gegenüber. Evangelische Heilerziehung bedeutete all die Jahre auch: Pfleglinge, an Bänke festgebunden, auf dem Klo angeschnallt und ins Bett gekreuzigt, indem man die ausgestreckten Arme und Beine am oberen und unteren Bettrand festbindet.

"Hier bei den Allerschwächsten spritzt man die Männer morgens mit einem Schlauch ab. Duschen gibt es ebensowenig wie eigene Zahnbürsten.

[ ... ] Viele der Männer tragen bekleckerte Jacketts, zu kurze, ausgefranste Hosen, Schlipse zum Unterhemd, offene Schnürschuhe. Es ist nicht genügend Kleidung in den Schränken, und >es lohnt sich auch nicht< (so ein Pfleger), die Behinderten allmorgendlich proper anzuziehen. Erwin, Epileptiker und >Abhauer<, ist, wie jeden Tag, von früh bis spät mit dem Fuß an eine Bank gefesselt.

[ ... ] Zum Abendessen werden Plastikbecher, Plastiknäpfe und, wie immer, nur zwölf Löffel auf die ungedeckten Tische geknallt. >Mindestens zwölf der Jungs könnten mit Messer und Gabel essen, andere würden es lernen<, sagt der Heilerzieher. Doch der leitende Pfleger der Station ignoriert das."

Renate Just: Versteckt, verdrängt, vergessen . . ., in: Zeit-Magazin, Nr. 17/1979.

Jesus wurde von den Römern gekreuzigt. Nun kreuzigen ein paar seiner amtskirchlichen Nachfolger geistig Behinderte in Diakonie-Betten. Sie kassieren für diese Art der Behandlung sogar noch ein >Pflegegeld<.

Eine Anstaltsleitung, die solche Mißstände duldete und Mißstände auch weiterhin duldet, eine Anstaltsleitung, die in einem Prospekt verkünden läßt: >... wir helfen Behinderten leben!< und behauptet, Alsterdorf gehöre zu den >glücklichsten Stadtgebieten in Norddeutschland<, wirkt wie eine sozialkriminelle Vereinigung. An Sympathisanten fehlt es nicht. In Alsterdorf sonnen sich Prominente im warmen Glanz der Mildtätigkeit und erwerben sich werbewirksame Diakoniebräune.

Bankdirektoren sitzen im Anstaltsvorstand, ein Mineralölkonzern fördert Almosen zutage und der Verteidigungsminister übt sich in einem Manöver der Nächstenliebe bei der Grundsteinlegung zu einem neuen Behindertengetto (mit 200 Betten).

Wir verleihen Herrn Direktor Pastor Hans-Georg Schmidt die >Goldene Krücke< dafür, daß er es der Gesellschaft ermöglicht, den menschlichen Schutt so preisgünstig auszulagern. Denn: Anstalten wie Alsterdorf sind nichts anderes als gesellschaftliche Mülldeponien für die Unbrauchbaren. Die Alsterdorfer wissen wohl, daß ihre Praxis der kostengünstigen Ablagerung von Sozialmüll zum bundesdeutschen Anstaltsalltag gehört, sie wissen, daß nicht nur in Alsterdorf Behinderte festgebunden, in Fesseln gelegt, in Zwangsjacken gesperrt, ins Bett gekreuzigt werden.

"Hier sind unsere Behinderten die Könige und gerade nicht die Abhängigen. Hier können sie sich auch außerhalb der gezielten Förderung durch therapeutische Aktivitäten menschlich frei entfalten. Hier haben sie die für sie so entscheidend wichtige Möglichkeit, jederzeit das Gotteshaus aufzusuchen und in Gemeinschaft mit anderen Behinderten und Nichtbehinderten Gott zu loben und sein Wort und Sakrament zu empfangen. Wo gibt es denn eine bessere Integration?"

Pastor Hans-Georg Schmidt, Direktor der Alsterdorfer Anstalten, vor der Synode des Kirchenkreises Alt-Hamburg am 30. 8. 1979.

Dennoch und trotzdem können sich die Alsterdorfer Anstalten nicht aus dem Skandal herausbeten. Wenn sie um Spenden werben, spielen sie den Behindertenfreund, den guten Hirten, der die geistig verwirrten Schäflein so liebevoll weidet und Heimplätze und Anstaltsfrieden bietet. Da gerät der Behinderte, der Pflegebefohlene, wie es in Alsterdorf so schön diakomisch heißt, sehr flott zum Reklamekrüppel, mit dessen Schicksal den Spendern das Geld tränenreich aus der Tasche gezogen wird: Ach, es gibt ja soviel Elend, wollen wir froh sein, daß es eine Einrichtung gibt, die sich der Ärmsten der Armen erbarmt und wo unsere abgelegten Kleider und Lumpen noch gut genug sind, die >armen Irren< zu kleiden.

Sie können das Elend recht gut vermarkten, sie haben zum Elend ein gesundes Verhältnis. Über einer Eingangstür der Anstalten steht der Spruch: >Den Armen wird das Evangelium gepredigt.< Schön und gut, hochverehrter Preisträger, Pastor Hans-Georg Schmidt, aber die Predigt halten die Repräsentanten einer in diesem Fall gottesfürchterlichen Diakonie Marke Alsterdorf. Da wird das Evangelium, die Frohe Botschaft, zur Drohbotschaft und die >kleine Stadt der Nächstenliebe< zur Stätte der Behindertenfeindlichkeit."

Preisträger Schmidt mochte nicht zur Preisverleihung kommen und die "Abteilungsleiter des männlichen Pflegegebiets" hatten schon vorher energisch gegen die "Ehrung" protestiert. Doch drei Anstaltsvertreter sind angereist, darunter auch der Pressesprecher. Der wird auf die Bühne gebeten, will aber die geteilte Krücke nicht in Empfang nehmen, weil er dazu nicht offiziell "befugt" sei.

Aus München sind Behinderte gekommen. Aber Preisträger Göb läßt sich durch seinen Rechtsanwalt vertreten, der die geteilte Krücke jedoch auch nicht in Empfang nehmen will.

in der Diskussion danach protestieren die nichtbehinderten Zuschauer wütend gegen die "eine Minute Mitleid". Das sei unzumutbar gewesen. Das Argument, daß sie sich über eine Minute gespieltes Mitleid aufregen, daß aber für Behinderte das Mitleid lebenslänglich ist, lassen sie nicht gelten. Jeder hat das Gefühl, er hätte da oben auf der Bühne stehen können, hätte diese eine - lange - Minute über sich ergehen lassen müssen, nein, das kann man uns nicht zumuten! Heftigste Diskussionen werden bis zum frühen Morgen geführt und noch viele Tage danach.

Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" versteigt sich in der Berichterstattung sogar dahin, den Behinderten "das Verlangen nach Rache" zu unterstellen (Nr. 273/1979). Die Zeitung fragt, "ob man sich im Zorn über die Behinderung so gut wie alles erlauben könne" und kommt zu dem Satz: "Sie sind anders, weil sie nicht so wie wir sein können ... Gesundheit läßt sich nicht ersetzen oder einklagen. Genausowenig wie Takt übrigens."

Das ist das alte Bild vom Krüppel, von der Krüppelseele, die rachsüchtig sich am Nichtbehinderten vergreift, aus Wut, ein Gebrechen zu haben. Die Irrelevanzregel ist verletzt, wonach man so lange so tut, der Behinderte sei gleich - wie dieser dem Nichtbehinderten nicht zu nahe kommt, den Schein der Scheinanerkennung nicht in Frage stellt.

Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" greift nicht nur die Minute Mitleid an. Die Nichtbehinderten hatten auch Fragebögen ausfüllen müssen (wie dies Behinderten ständig abverlangt wird). "Nicht so deutlich ausgesprochen stand dahinter die Frage", meint das Blatt, "ob die gedankenlos und auch im Vertrauen auf die gesunde Überlegenheit tagtäglich zahllos an Behinderten verübten Ungerechtigkeiten irgendwie aufrechenbar seien." Die Ungerechtigkeiten werden nicht bestritten, aber das Musterkrüppelchen verhält sich eben demütig, lieb, doof und ist leicht zu verwalten.

Immerhin: Die Verleihung der "Goldenen Krücke" wird abends in den "Tagesthemen", der Halbstundensendung der "Tagesschau" im Ersten Fernsehprogramm gezeigt. Preisträger Göb muß sich befragen lassen, wie es zur Preisverleihung an ihn kam, ein Staatssekretär des Bayerischen Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung muß vor der Kamera erklären, daß er die Mißstände abstellen will. Im Sozialausschuß des Bayerischen Landtags wird die "Krücke" verhandelt. Sie hat sich als schlagkräftig erwiesen.

8. Was hat der Kurs erreicht?

Es kann nicht die Aufgabe sein, hier eine Bilanz zu ziehen, die eigenen Verdienste herauszustreichen und die Aktivitäten anderer als eigene zu verbuchen. Sicher ist, daß der Kurs dazu beigetragen hat, wenn heute überall bauliche Barrieren angegriffen werden, wenn sich Politiker verteidigen müssen, warum in ihrer Stadt noch nicht behindertengerecht gebaut worden ist. In vielen Städten haben Behinderten-Gruppen Stadtführer für Behinderte entwickelt, worin alle Gebäude, die Behinderte nutzen müssen, erfaßt wurden. Das war manchmal schon spannend, wie in Wien, wo es sogar eine Verhaftung gab, weil die Mitarbeiter das Gericht vermessen hatten.

Das Bewußtsein für die Probleme Behinderter ist gewachsen. Die Universität in Bremen etwa hat in ihrem Briefkopf einen Hinweis, wo ein Parkplatz für Rollstuhlfahrer zu finden ist. Die Stadt Hamburg hat sogar einen Preis für behindertengerechtes Bauen gestiftet. In vielen Städten wurden Rollstuhl-Trainings veranstaltet, Politiker, Oberbürgermeister haben sich in den Rollstuhl gesetzt. Daß für Behinderte eine behindertengerechte Umwelt geschaffen werden muß, ist als Forderung inzwischen Allgemeingut geworden.

Teilnehmer an unserem Kurs haben in anderen Städten weitere Kurse gegründet, wie überhaupt die Volkshochschulen erkannt haben, daß Behindertenprogramme angeboten werden müssen. Es gibt gerade dort unzählige Veranstaltungen, die sich mit den Problemen Behinderter beschäftigen. Aber wir haben auch gesehen, daß der Vater eines durch Mucoviscidose behinderten Kindes im Kurs war, sich informierte, und danach die Elternarbeit in diesem Verband vorantrieb.

Wir haben das politische Klima geändert, aber auch die individuellen Ansprüche. "Ich bin nicht mehr abhängig", das ist eine Triebfeder zu eigenem Handeln. Früher schrieben Behinderte aus unserem Kurs Bittbriefe, heute käme keiner mehr auf den Gedanken. "Wir fordern Sie auf", schreibt eine Behinderte an den Oberbürgermeister unserer Stadt. "Diese Zustände sind unzumutbar. Sie verhindern die Integration der Behinderten", schreibt eine andere Behinderte aus unserem Kurs, früher wäre das im Konjunktiv formuliert worden.

An einem Tag im Mai 1979 sind Sozialarbeiter in unserem Kurs, die von den Behinderten zuerst einmal zum Üben in den Rollstuhl gesetzt werden. Die Sozialarbeiter fragen, was sich durch den Kurs geändert habe. Die Antworten: "Früher haben wir die Behinderung als etwas Negatives gesehen. Ein Bordstein war der Grund zur Resignation." Eine zweite Stimme: "Ich sehe das nicht so überschwenglich, aber der Behinderte erlebt sich zum ersten Mal als Mensch, daß er in einer fremden Gruppe anerkannt ist und das ist vollkommen neu, das hat er in keiner (Sonder-)Schule erfahren, in keinem Krankenhaus und in keinem Heim. In der Gruppe bekommt er ein freies Bewußtsein und auch eine Verantwortung für alle Mißstände, die noch da sind."

Es ist sicher, daß ich, der von Anfang diesem Kurs als Leiter zugeordnet war, vieles positiver sehe, als der Gruppenprozeß tatsächlich verlaufen ist - ganz gewiß; aber viele Entwicklungsprozesse liefen auch besser als wir anfangs zu träumen wagten.

Am 8. Mai 1980 demonstrierten in Frankfurt 5000 Geistigbehinderte, Körperbehinderte und sogenannte Nichtbehinderte gegen ein Urteil, wonach Schwerbehinderte den Urlaubsgenuß beeinträchtigen können (siehe S. 76). Es war die größte gemeinsame Demonstration, die es in der Bundesrepublik und in Europa gegeben hat. 5000 Demonstranten sangen und skandierten: "Wehrt Euch, leistet Widerstand!" Die Initiativgruppen haben das Betreuungsgetto endgültig verlassen.*

*Mehr darüber in E. Klee (Hg.), Behinderte im Urlaub? Das Frankfurter Urteil. Eine Dokumentation, Frankfurt 1980 (Fischer Taschenbuch Bd. 4229) - Anm. d. Red.



[287] Zuerst veröffentlicht in: Klee: Behindertsein ist schön, a. a. O., S. 73 ff.

[288] Eine ausführliche Darstellung findet sich in: Klee: Behinderten-Report 2, a. a. O., S. 14 ff.

[289] Ausführliche Schilderung: Ebenda, S. 22 ff.

Teil VIII: Die Emanzipation Behinderter

"Mein Stottern ist weg!

. . . ehrlich. Ich wache auf, die Sonne scheint mir ins Gesicht und irgendwo machen draußen Vögel auf einem Baum einen Riesenlärm. Dann wird mir mit einem Mal bewußt: Ich stottere nicht mehr.

Mein Gott, wie furchtbar!

Aber gestern war es doch noch da! Wie entsetzlich habe ich da im Betrieb gestottert, als ich Herrn Müller anrufen mußte, und dann erst in der Kantine: >... Nnnein. Heute wwwill i-i-ich k.k . . . kein Essen.< Und jetzt - jetzt soll das alles plötzlich weg sein!

Was werden die im Betrieb jetzt von mir denken. Und meine Eltern und Bekannten? Wie steh ich denn da . . .?

Wie stehe ich jetzt - überkommt es mich wie ein kalter Regenguß - wie stehe ich jetzt vor mir selbst da?

Jetzt kann ich es nicht mehr auf mein Stottern schieben, daß ich Abend für Abend einsam in meinem Zimmer hocke, kaum Freunde und mit 20 Jahren noch keine Freundin habe. Jetzt muß ich zu mir selbst stehen - zugeben, daß all das, was ich auf das Stottern schob - wenn nur das blöde Stottern nicht wäre - nun zum Problem wird.

Früher, als ich noch stotterte, hatte ich nur ein Problem: Stottern. Alle anderen Schwierigkeiten würden nicht mehr da sein, wenn ich normal reden könnte; würden sich in Luft, in Nichts auflösen ( . . redete ich mir immer ein).

Das Stottern ist weg. Die Probleme sind aber immer noch da. Nur anstatt eines Problems habe ich jetzt viele Probleme! ... was soll ich nur tun?

Ein schrilles Klirren schreckt mich aus den düsteren Vorahnungen über mein zukünftiges Leben als normalsprechender Stotterer auf: das Telefon.

Mein Herz schlägt mir so hoch im Halse, höher geht's nicht mehr. Ich sehe, wie eine - meine? - stark zitternde Hand sich langsam auf das rote Folterwerkzeug aller Stotterer zubewegt, den Hörer ergreift, ihn an mein Ohr hebt: >K.kkk-lein.<

Gott sei Dank; es ist noch da!"

Gerhard Klein, in: Der Kieselstein, Mitteilungsblatt deutschsprachiger Stotterergruppen, Nr. 14/1979.

1. Die Aneignung des Körpers

"Üblicherweise lieben oder hassen wir unsere Behinderung", schreibt Gusti Steiner, "aber wir akzeptieren sie nicht. Entweder gefallen wir uns im Selbstmitleid, erfahren unseren Organ- oder Körperschaden lustvoll, weil er für uns im Erleben des Mitleids von außen häufig zum einzigen Erfolgserlebnis wird, oder wir hassen, was uns die Möglichkeit nimmt, >normal< wie andere Menschen zu sein. Wir warten darauf, daß das medizinische oder übernatürliche Wunder geschieht, das uns laufen macht; warten darauf, daß Menschen auf uns zukommen, uns helfen, etwas für uns tun ..."[290]

Der Behinderte muß lernen, aus seiner passiven Rolle als Betreuungsobjekt auszubrechen, sich nicht nur als Opfer zu begreifen, sondern als eigenverantwortliche Persönlichkeit. Er muß lernen, daß er nicht nur die Umwelt für schuldig befinden darf, sondern den eigenen Anteil an seiner Rolle sieht. Auch der Behinderte muß sein Verhalten ändern. Er muß einen eigenen Standort finden. Die Aneignung eines eigenen Standorts, eines eigenen Bewußtseins, ist Körper- und Bewußtseinsarbeit.

Diese Bewußtseinsarbeit läßt sich als Prozeß beschreiben, in dem der Behinderte lernt, den Haß gegen den eigenen Körper abzubauen und abgeschriebene Fähigkeiten sich wieder anzueignen.

Barbara Winter verdanken wir die Schilderung, wie wichtig es für den Behinderten ist, sich den fremdgewordenen gelähmten Körper zurückzuerobern. Das klingt einfach und logisch. Doch in Wahrheit muß der Behinderte dabei auf liebgewonnene Schonräume verzichten. Denn das Leben im Schonraum des Versorgtwerdens, ein frühkindlicher Zustand, wird auch angenehm erfahren:

"Es ist eine vorübergehende Rückkehr in einen vergleichsweise sorglosen Zustand von Gepflegtwerden, Versorgtwerden, wo man sich mit den tausend Taktlosigkeiten und Schwierigkeiten eines Behinderten-Daseins nicht auseinandersetzen muß . . . Das ist die Klinik, wo man sie wenigstens gut versteht, wo man sie gut versorgt, wo sie unter ihresgleichen sind, und wo sie vergleichsweise weniger Sorgen haben und sich auch weniger mit Gesunden vergleichen müssen als draußen, wo sie in einer Welt, wo sie eigentlich immer die benachteiligten, die armen Teufel sind."[291]

Vor das Glück, trotz Lähmung ein selbstbestimmter Mensch zu werden, ist bitter harte Arbeit gesetzt, Leistungen, in ihrer Härte Expeditionen in unbekannte Zonen der Erde vergleichbar, nur daß hier der eigene Körper erforscht und erobert wird. Die Entdeckung eigener Ausdrucksmöglichkeiten zählt auch zu diesen Abenteuern.

Christy Brown, als Spastiker durch seine Sprachbehinderung von der Kommunikation abgeschnitten, schildert, wie er eines Tages entdeckt, daß er sich durch Schreiben Verständigung erobern kann. Er erbeutet mit seinem linken Fuß ein Stück Kreide:

"Ich straffte meinen Körper und streckte meinen linken Fuß zum drittenmal aus. Ich zeichnete eine Seite des Buchstabens. Ich zeichnete die andere Seite zur Hälfte. Dann brach das Stück Kreide ab, und mir verblieb nur ein Stummel. Ich wollte ihn fortwerfen und aufgeben. Dann fühlte ich die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter. Ich versuchte es noch einmal. Mein Fuß streckte sich. Ich zitterte, ich schwitzte und spannte jeden Muskel. Meine Hände waren so fest zusammengepreßt, daß die Fingernägel ins Fleisch schnitten. Ich biß meine Zähne so fest aufeinander, daß sie beinahe meine Unterlippe durchbohrt hätten. Alles im Zimmer verschwamm, bis die Gesichter um mich herum nur noch weiße Flecken waren. Aber - ich schrieb ihn - den Buchstaben >A<. Da stand er auf dem Fußboden vor mir. Zitterig, mit plumpen wackeligen Seitenlinien und einer sehr ungeraden Mittellinie. Aber es war der Buchstabe >A<."[292]

Die Aneignung des Körpers und der eigenen Fähigkeiten ist aber nicht nur harte Arbeit, sondern bedeutet auch bereits Erfahrung von Glück: "Ein Nichtbehinderter kann sich wohl kaum vorstellen, welch eine Selbstbestätigung und welch ein Glücksgefühl die kleinsten, vollkommen selbständig erzielten Erfolge vermitteln."[293] Die selbst erarbeiteten Erfolge vermitteln Souveränität in der Einstellung zur eigenen Person. Nun kann sich das Ich leichter akzeptieren, muß sich nicht mehr so vehement belügen, indem es seine Defizite zu verheimlichen sucht. Auch dies ist eine ungeheure Befreiung: die Behinderung nicht ständig vertuschen zu müssen. (ich habe bei leicht Behinderten, denen man die Behinderung nicht auf den ersten Blick ansieht, oft beobachtet, welche Erleichterung es für sie bedeutet, wenn sie ihre Behinderung nicht weiterhin verleugnen, vertuschen müssen, sondern endlich zu ihr stehen können.)

Der Behinderte wurde in der Regel erzogen, anzuerkennen, was er alles nicht kann. Die Behindertenpädagogik konzentriert sich ganz auf seine Defekte. Das geht an seiner Situation vorbei. Denn er muß Vertrauen zu seinen Fähigkeiten gewinnen. Er muß seinen Fähigkeiten größere Aufmerksamkeit schenken als seinen Defiziten. Und er muß lernen, sich seine Fähigkeiten nicht von Fremden vorschreiben zu lassen. Gelingt es ihm, sich seine Fähigkeiten anzueignen, kann er Überraschungen erleben.

2. Die Ablehnung der Normen als Akt der Befreiung

Das Zauberwort in der Rehabilitation Behinderter heißt "Integration". Kein Vortrag, keine Publikation, keine Ansprache und kein Rehabilitationskongreß kommt ohne dieses Zauberwort aus, das nach viel Inhalt klingt, in Wirklichkeit jedoch nichts aussagt. Doch halt, ich muß mich bremsen, es sagt natürlich unterschwellig sehr viel aus. Integration wird immer in dem Zusammenhang gebraucht, es gelte, den Behinderten in die Gesellschaft zu integrieren. Immer sind es Nichtbehinderte, die den Behinderten integrieren wollen. Der Behinderte wird quasi aus seinem Elend in die erstrebenswerte Welt der Brauchbaren emporgehoben. Es gibt inzwischen Behinderte, die diese "Integration" gar nicht mehr wollen: "Wir sind zu dem Entschluß gekommen, daß es nicht >unbedingt< erstrebenswert ist, uns in die zur Zeit bestehende Gesellschaft integrieren zu lassen, sondern zusammen mit den Nichtbehinderten eine humanere Gesellschaftsform aufzubauen."[294]

Integrieren bedeutet in der Praxis nichts anderes als Sortieren. Es werden jene integriert, die am Arbeitsmarkt zu vermitteln sind. Die Nichtvermittelbaren landen in Werkstätten für Behinderte und die gar keine Arbeitsleistung mehr erbringen, sehen ihrem biologischen Tod schon zu Lebzeiten in Behindertenheimen entgegen, als menschlicher Schrott, den man vorzeitig ausgelagert hat.

Gusti Steiner war der erste Behinderte, der unter der Kampfesparole "Behindertsein ist schön" den Entwurf eines neuen Selbstbewußtseins entwickelt hat. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Parole "black is beautiful". Die Parallelen liegen auf der Hand: Mit identitätszerstörender Selbstverständlichkeit war den Schwarzen der Schönheitsbegriff der weißen Rasse eingeimpft worden. Ihre Emanzipation begann, als sie sich dazu bekannten, "anders", nicht weiß zu sein, als sie sich selbst akzeptierten und ihre eigenen Werte entdeckten.

Das Bewußtsein der Behinderten (so ließen sich die Erkenntnisse der Schwarzen parallelisieren) ist nicht selbst-, sondern fremdbestimmt. Die Normen sind von außen herangetragen. Es sind Normen, die Behinderte unterwerfen. Es sind Normen, die mir nicht erlauben, so zu sein wie ich bin, sondern festlegen, wie ich für andere sein soll. "Die Schlußfolgerung daraus: Also ich muß alles tun, dieser Erwartung gerecht zu werden! Gelingt mir dies nicht gleich aus welchen Gründen -, habe ich die gesetzte Norm nicht erfüllt, das Klassenziel quasi verfehlt. Das Selbstwertgefühl des einzelnen erfährt eine entsprechende Einbuße."[295]

Den meisten wird gar nicht klar, daß das, was wir für »normal« halten, was unser Ich-Ideal bestimmt (wie wir wünschen, sein zu wollen), gar nicht das Ergebnis unseres eigenen Nachdenkens ist, sondern uns anerzogen wurde. Wir haben nicht gelernt, Normen, die unseren Wert bestimmen, zu befragen. Wir haben nicht zu fragen gelernt, wer eigentlich diese Normen als "normal" ausgibt und warum dies geschieht.

Sicher ist, daß der Behinderte die Normen gar nicht erfüllen kann. "Die Realität seiner Körperlichkeit steht dem entgegen. Bei noch so großer Anstrengung kann es ihm nie gelingen, das fremdbestimmte Ich-Ideal mit den Möglichkeiten seiner Person in Deckung zu bringen. Er zieht im Vergleich immer den kürzeren. Diese ständige Enttäuschung mindert fortwährend das Selbstwertgefühl, die eigene Minderwertigkeit eskaliert."[296]

Ein Behinderter (und weiß Gott nicht nur er), der sich die Grenzen und Möglichkeiten von anderen abstecken läßt, wird seine Fähigkeiten nie erproben können. Das Paradoxe ist: Je "normaler" der Behinderte werden will (je weißer der Schwarze werden will!), desto hoffnungsloser muß er scheitern.

Wir müssen lernen, die Abwehrkräfte gegen die gängigen Normen zu stärken. Wir tun dies nicht aus Schwäche, wie der Fuchs, der auf die Trauben verzichtet, weil sie ihm zu hoch hängen. Wir tun dies aus der Erkenntnis heraus, daß der höchste Wert des Menschen seine Würde ist, das heißt: mit seinen Fähigkeiten identisch zu sein. Ich sage "wir", weil falsche Leistungsanforderungen uns alle unterdrücken. "Die herrschenden normativen Anforderungen an den einzelnen sind also vor allem, etwas zu leisten und sich dadurch als >nützlich< für die Gesellschaft zu erweisen. Angeblich wird ihm dann nach dem Maß seiner Nützlichkeit bzw. entsprechend der geleisteten Arbeit sein Einkommen zuteil."[297]

Die normativen (als Norm ausgegebenen) Anforderungen können bekanntlich nur von relativ wenigen erfolgreich erfüllt werden. Zwar bemerken die meisten, daß sie die normativen Anforderungen nicht erfüllen können, doch die wenigsten ziehen daraus die Konsequenz, an den Normen könne etwas nicht stimmen. Wir haben die Ideologie von der Chancengleichheit so verinnerlicht, als eigene Meinung im Kopf, daß wir Versagen als persönliche Schuld ansehen und nicht den Schluß ziehen, wir müßten uns von Normen befreien, die uns unterjochen.[298]

Nun sagen manche, schön und gut, was hilft es mir, das alles zu erkennen, damit ändert sich für mich noch nichts. Hannelore Narr hat am Beispiel eines Arbeiters überlegt, daß es sich durchaus lohnt, sich mit dem Widerspruch zwischen ideellen Leitwerten und gesellschaftlicher Wirklichkeit auseinanderzusetzen:

"Der Arbeiter, der die Zusammenhänge zwischen Schulversagen, mangelhafter Berufsausbildung, niedrigem Einkommen und den Lebensbedingungen des Unterschicht-Angehörigen sieht oder die Arbeitslosigkeit als Folge von Rationalisierungsmaßnahmen des Unternehmens erkennt, ist in seinem Selbstbewußtsein weniger gefährdet als derjenige, der sich bei seiner Entlassung als >Versagen fühlt, sich schämt, sich ob der sozialen Stigmatisierung >arbeitslos< zurückzieht, krank und depressiv wird - was sich aus berufsphysiologischen Untersuchungen bis in einzelne Veränderungen der Bewegungsart auswirkt. Der Ich-Starke ist dagegen eher fähig, aktiv zu werden: Ursachen für Situationsänderungen zu entdecken, zu beurteilen, gegen nachteilige Veränderungen anzugehen, Verbündete zu suchen - kurz, sich so zu verhalten, wie es dem Wesen einer >gesunden Persönlichkeit< entspricht."[299]

In diesem Sinne ist der eine gesunde Persönlichkeit, der seine eigene Situation erkennt und normative Anforderungen, die die eigenen Fähigkeiten behindern, zu ändern beginnt. Das bringt einen Rollentausch: Behinderte, die sich so verhalten, sind eine gesunde Persönlichkeit. Und Nichtbehinderte, die sich nicht wehren, sondern sich resigniert ergeben, sind die Behinderten. Man muß die Normen nur ändern, um zu völlig anderen Beurteilungen zu kommen.

3. Aneignung und Überwindung des Stigmas

Eine Gruppe von Behinderten hat sich in den letzten Jahren entschlossen, die Behinderung nicht zu vertuschen, sondern zu ihr zu stehen: die Stotterer. Sie sind mit der Angst aufgewachsen, wegen ihrer Behinderung gehänselt und verspottet zu werden. Sie vereinsamten, weil sie sich zurückzogen und wurden kontaktscheu. Viele genießen in der Sonderschule noch einen gewissen Schonraum, erfahren ihre Behinderung danach aber um so schlimmer. Die Stotterer haben sich zu Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen, wo sie trainieren, selbstbewußt zu stottern. Sie stehen zu ihrem Handicap (denn alles Vertuschenwollen bringt nur Ängstlichkeit, Unsicherheit, Befangenheit) und setzen sich mit ihrer Sprachbehinderung aktiv auseinander.

Ein Beispiel, wie ein Stotterer mit seiner Behinderung offensiv umgeht und das Stigma entwertet, indem er es ausspricht: "Es ist kein Stotterer-Witz", beginnt ein Artikel, "daß auf je 100 der Bevölkerung der Bundesrepublik ein Sprachbehinderter, z. B. ein Stotterer kommt. Es gibt die verschiedensten Sprachbehinderungen in den unterschiedlichsten Schwergraden (Stottern, Lispeln, Stammeln, Gaumenspaltung usw.). Ich selber bin ein mittelmäßig bis starker Stotterer. Einem Stotterer sieht man seine Behinderung äußerlich nicht an. W . . W . . Wenn er a . . a . . aber re . . reden muß, da . . dann wird's k . . kr . . kritisch!"[300]

Ein Mann geht in eine Spirituosenhandlung: "Ich hätte gern eine Flasche sehr guten Wein." "Na", sagt der Verkäufer, "da gibt es ja eine Menge Unterschiede. Soll es denn ein weißer oder ein roter sein?" "Ach", sagt der Mann, "das ist egal. Ich bring die Flasche einem Blinden mit."

Es gehört zur Stigma-Bewältigung von Außenseitergruppen, sich das Stigma anzueignen, stigmatisierende Schimpfworte zu entwerten, indem man sie auf sich selber anwendet. So nennen sich die als "Nigger" beschimpften Neger schließlich Nigger (nur Weiße durften den Ausdruck nicht gebrauchen, es ist ein Ingroup-Ausdruck, den nur Gruppenzugehörige verwenden dürfen). Und Homosexuelle, als "Schwule" verteufelt, verbergen ihr Anderssein nicht länger und nennen sich bewußt Schwule. Sie lernten, zu ihrem Anderssein zu stehen, sich nicht länger als minderwertig anzusehen, sondern zu bekennen: Schwulsein ist schön.

Es gibt Stotterer- und Irrenwitze, aber Witze über Körperbehinderte sind rar. Das ist ein Problem des Umgangs. Einen Stotterer hat jeder mal getroffen und psychische Erkrankungen hat jeder mal in seinem Umkreis wahrgenommen oder war direkt betroffen.

Als ich mit Schauspielern der Frankfurter Städtischen Bühne einen Theaterabend über die Probleme psychisch Kranker vorbereitete, war es uns klar, den Zuschauer dort abzuholen, wo er mit dem Thema vertraut ist: Ein Schauspieler erzählte zu Beginn der Vorstellung drei Irrenwitze. Die Zuschauer lachten.

Später bereiteten wir die Verleihung der "Goldenen Krücke" vor. Am Anfang stand ein harmloser Behindertenwitz (ein Rollstuhlfahrer wird in Lourdes ins Wasser getaucht, als er herauskommt, hat der Rollstuhl sechs Räder). Der Schauspieler, der diesen Witz erzählen sollte, erzählte zur gleichen Zeit in einer anderen Vorstellung Herrenwitze. Kurz vor Beginn der Vorstellung kam er hinter die Bühne, aufgelöst, Schweiß auf der Stirn, und sagte: "Du, da sind so viele Behinderte im Saal, ich kann den Witz nicht erzählen." Er erzählte ihn schließlich so, daß er sich ständig für den Witz entschuldigte. Mir wurde an diesem Abend klar, daß der Umgang mit Körperbehinderten noch so ungewöhnlich und tabuisiert ist, daß man über Körperbehinderte keine Witze macht.

Ein Mann mit einem Buckel wird angestaunt, gehänselt von Kindern; es tut ihm weh. Da trifft er den Pfarrer, klagt ihm sein Leid. Dieser sagt verständnisvoll: »Aber mein Lieber, jeder Mensch ist ein Tempel Gottes.« Darauf der Bucklige: "Aber dann braucht er mir doch keine Sakristei anzuhängen."

In unserem Behindertenkurs ist es seit vielen Jahren üblich, von "Krüppelchen" oder "Musterkrüppelchen" zu reden, Witze zu machen, diskriminierende Bezeichnungen ganz unbefangen in den eigenen Sprachschatz aufzunehmen. Das hat viele Besucher geschockt, sie fanden es brutal. Doch der befangene Umgang mit stigmatisierenden Ausdrücken schafft nur weitere Befangenheit. Wenn die Krüppel selbst von "Krüppeln" reden, kann man sie mit dem Wort nicht mehr denunzieren. Wer sich die Stigmatisierung aneignet, überwindet sie.

Und deshalb zum Schluß ein Behindertenwitz. Ursula Eggli besucht eine Schweizerische Schulklasse, da meldet sich ein kleiner, dicker Bub und fragt, ob er einen Witz erzählen darf. Sie läßt ihn erzählen: Da war also mal ein Mann, der hatte weder Arme noch Beine. Er war aber trotzdem immer der Schnellste beim Schwimmen. Deshalb beschlossen seine Freunde, ihn bei den Olympischen Spielen zum Einsatz zu bringen. Sie begleiteten ihn und warfen ihn wie gewohnt ins Wasser. Aber diesmal kommt er überhaupt nicht vom Fleck. Sie müssen ihn sogar aus dem Wasser fischen, sonst wäre er ertrunken. Auf die Frage seiner Freunde, was denn los sei, warum er nicht gewonnen habe, sagt er: "Was kann ich dafür, wenn ich den Krampf in den Ohren habe?"

Ursula Eggli hat sehr gelacht, nur die Klassenkameraden nicht.[301] Das war wie bei unserer Theateraufführung. Die Behinderten lachten, die Nichtbehinderten reagierten verschämt, mißbilligend. Über Behinderte lacht man nicht - und mit ihnen auch nicht, weil die Elenden doch nichts zu lachen haben.

4. Aneignung eines selbstbestimmten Bewußtseins durch eigenes Handeln

Emanzipation heißt "Freilassung", Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit, Verselbständigung, Gleichstellung. Bei den Römern war es die Freilassung eines Familienmitglieds aus der väterlichen (paternalistischen) Gewalt. Der Sprachgebrauch hat sich gewandelt. Unter Emanzipation verstehen wir nicht mehr, daß uns einer aus seiner Gewalt freiläßt, denn wir haben gelernt, daß solch großmütige Akte von Freilassung nur selten geschehen. Wir müssen uns aus Abhängigkeiten selbst befreien. Emanzipation ist ein aktives Geschehen, wir müssen selbst handeln, wollen wir frei werden, unabhängig werden.

Wollen wir uns emanzipieren, müssen wir die Zwänge, die uns behindern, abbauen, müssen wir uns von Vorurteilen, Rollenzuweisungen, Ideologien, gleich was uns beherrscht, befreien. Dies geht nicht ohne die Anstrengung, zuerst zu klären, was uns und wer uns beherrscht und in Abhängigkeit hält.

Vorhin war von der "gesunden Persönlichkeit" die Rede. Ich möchte lieber von der intakten Persönlichkeit reden. Intakt heißt unversehrt, unberührt, heil, ganz. Eine intakte Persönlichkeit war vielleicht die aus Australien stammende Sopranistin Marjorie Lawrence, die Januar 1979 siebzigjährig starb. Sie sang lange Jahre an der New Yorker "Met", wo sie für Aufsehen sorgte, weil sie die Brünnhilde hoch zu Roß sang oder Salomes Schleiertanz selber tanzte. Dann erkrankte sie nach einem Gastspiel in Mexico City an Polio. Damit wäre ihre Karriere normalerweise beendet gewesen. Doch sie sang nicht nur im Konzertsaal weiter, sie trat auch im "Tannhäuser" oder in der "Aida" im Rollstuhl auf. Sie war wohl behindert, aber unversehrt als Person.

Eine gesunde, intakte Persönlichkeit ist nach einer Formulierung, die sich bei Hannelore Narr findet, eine Person, die ihre Umwelt aktiv meistert, eine gewisse Einheitlichkeit zeigt und imstande ist, die Welt und sich richtig zu erkennen.[302] Diese Maßstäbe gelten ohne Abstriche gleichermaßen für Nichtbehinderte wie Behinderte.

Gusti Steiner hat die Entwicklung zu einem neuen Selbstbewußtsein, zu einer intakten Person so beschrieben: "Wir fangen an, uns über unsere Lebenssituation Gedanken zu machen. Informieren uns über Rechtsansprüche, kümmern uns um unsere Belange, ohne abzuwarten, daß uns jemand diese Mühe abnimmt, dafür sorgt, daß wir den Schutzwall der Behinderung nur ja nicht durchbrechen. Wir verstecken uns nicht länger hinter unserer Behinderung und in den vier Wänden unserer Wohnungen und der Heime, suchen Kontakt zu Nichtbehinderten, gehen raus, kaufen uns unsere Sachen selbst und lassen sie nicht mehr von anderen besorgen."[303]

Jeder Mensch muß lernen, seine Bedürfnisse und sich selber zu formulieren. Will er sich emanzipieren, aus Abhängigkeiten befreien, schrecken ihn auch die Hindernisse nicht: "Geht mein Selbstverständnis dahin, daß ich meine Existenzberechtigung, meinen Anspruch auf das Recht der Entfaltung meiner Persönlichkeit nicht von einem von außen herangetragenen Ich-Ideal herleite, sondern von meiner personalen Wirklichkeit, schlägt mir die Erkenntnis, wie behindertenfeindlich die Umwelt ist, nicht aufs Gemüt. Vielmehr bestärkt mich diese Einsicht in meiner Überzeugung, daß dagegen etwas getan werden muß."[304]

Behinderung wird so zur Herausforderung, einer behindertenfeindlichen Umwelt und behindertenfeindlichen Einstellungen streitbar zu begegnen. Ohne Konfliktbereitschaft gibt es keine Befreiung aus behindernden Zwängen. All diese Aussagen gelten natürlich nicht nur für Behinderte. Sie gelten für alle Menschen.

Wie man zu einem eigenen Selbstbewußtsein kommen kann, beschreibt Gusti Steiner: "Ich suche die Solidarität Gleichgesinnter, melde Ansprüche an und stelle Forderungen gegenüber der Gesellschaft. Ich erarbeite Vorstellungen, wie die Lage zu ändern wäre, komme in der Zusammenarbeit mit anderen - sowohl Behinderten als auch Nichtbehinderten - zu neuen Erfahrungen, gewinne Einsichten und entwickle dabei gesteigertes Selbstvertrauen. Mißerfolg bewirkt keine absolute Entmutigung mehr, kann verarbeitet, verkraftet werden. Ein Konflikt ist für mich ein weniger schweres Angsterlebnis als zuvor."[305]

Dies ist ein ganz neues Selbstverständnis. Da ist nichts mehr vom Klagecharakter, den Publikationen Behinderter oft haben, der Klage, was sie dem Nichtbehinderten gegenüber an Möglichkeiten verloren haben. Da fehlt jeder Ton der Anpassung an die Welt der Nichtbehinderten (wie beispielsweise in Büchern Behinderter über Weltreisen, seht her: Auch ich kann eine Weltreise machen!), da ist einfach die Kraft eines eigenen Bewußtseins.

"Behinderung" ist hier etwas Selbstverständliches. Eine Herausforderung, über mich und die Welt um mich herum nachzudenken; sie gemeinsam mit anderen zu ändern, wo sie verändert werden muß, will sie menschliches Leben nicht ersticken, sondern ermöglichen. Eine behindertengerechte Welt ist immer eine menschengerechte Welt (wir haben uns daran gewöhnt, dafür ein Fremdwort zu gebrauchen: eine "humane" Welt).

Lothar Sandfort, querschnittgelähmt, Redakteur einer Behindertenzeitung, wurde in einer Diskussion darauf angesprochen, daß er immer bewußt von sich als einem "Behinderten" sprach. Alle hätten doch ihre Schwierigkeiten, im Beruf, in der Sexualität, nichts unterscheide die Schwierigkeiten Behinderter von denen der Nichtbehinderten. Das ist so (der Vorwurf kam von einer Behinderten) auch richtig. Aber für Lothar Sandfort war das Wort "Behinderter" ein Kampfbegriff. Das Wort signalisiert Gefühle, Forderungen, Inhalte, die Behinderte - und Nichtbehinderte, die in der gemeinsamen Arbeit engagiert sind - ohne lange Verständigungsmühen verbindet. Es ist eine selbst-bewußte Haltung, Ausdruck eines ganz und gar eigenen Bewußtseins: Ich bin behindert, okay, ich lebe mit behinderungsbedingten Einschränkungen, auch okay, aber ich bin, wie ich bin. Ich bin nicht mehr der, zu dem mich andere, Fremde, machen wollen. Ich bin der, der ich bin - welch eine Kraft, was für ein Selbstverständnis! Und wer von den Nichtbehinderten, der gehen, sehen, hören kann, kann das so überzeugend, frei, intakt, gemeinschaftsbezogen schon sagen?

5. Die Aneignung sozialer Kontakte verändert das Fremdbild vom Behinderten

Ich werde immer wieder gefragt, wie ich Behinderte kennengelernt habe. (Nicht selten steckt dahinter die Vermutung, wer sich bei Behinderten engagiert, habe es nötig, habe eine Macke. Auf einem Psychiatriekongreß meinten Psychiater, ich sei motiviert, weil ich ein behindertes Kind hätte - ich habe keines.) Bisher war ich im guten Glauben, ich hätte früher nie Behinderte gekannt. Doch eines Tages, das liegt nun mehr als zehn Jahre zurück, kam der Religionslehrer an einer Sonderschule zu mir. Er sagte, du kümmerst dich doch um Strafgefangene, Gastarbeiter, Penner, Randgruppen, ich habe da in meiner Klasse ein Mädchen, die ist Spastikerin, die hat ein Manuskript geschrieben, sieh dir das Manuskript mal an, vielleicht läßt sich damit was anfangen.

Ich wußte zu diesem Zeitpunkt nicht, was oder wer ein Spastiker ist und besuchte die junge Frau. Ich fühlte mich der Situation nicht gewachsen, merkte, wie befangen, ja beklommen ich reagierte, einer Frau zu begegnen, der beim Reden und Essen der Speichel aus dem Mund floß, die ich anfangs nur schlecht verstehen konnte, deren Körper in ständiger Bewegung war, mit Armen und Beinen durch die Luft ruderte. (Es gelang mir damals, für das Manuskript einen Verlag zu finden, so daß die Lebensgeschichte dieser Frau als Buch erscheinen konnte.[306])

Wir, die schon lange mit Behinderten zusammenarbeiten, moralisieren gerne über das Unverständnis und die Unsicherheit der Bevölkerung gegenüber Behinderten. Ich brauche mich nur an meine eigene Unsicherheit zu erinnern, dann weiß ich, daß ich mich in einer mir ungewohnten Situation nicht normal verhalten kann, daß Normalität des Umgangs eingeübt werden muß.

Jetzt, während ich meine "erste" Begegnung mit einer Behinderten beschreibe, fällt mir auf, daß mich meine Erinnerung immer betrogen hat. Ich kannte auch vorher schon Behinderte, hatte sogar fast täglichen Umgang, nur: Ich hatte sie nie als "Behinderte" registriert. In meinem Fußballverein zum Beispiel spielte ein Armamputierter Fußball. Wir wußten wohl alle, daß er manchmal Schwierigkeiten hatte, das Gleichgewicht zu halten, aber das war so selbstverständlich, weil andere auch ihre speziellen Handicaps hatten, daß einer meinetwegen sehr eigensinnig spielte, nur mit dem rechten oder linken Fuß kicken konnte oder nicht sehr kopfballstark war, wie man das in der Fußballsprache nennt. Jeder hatte seine Eigenarten, dieser spielte eben nur mit einem Arm, was ihn in seiner körperlichen Geschicklichkeit manchmal behinderte.

Unter den Zuschauern war des öfteren auch ein Beinamputierter, der sich an zwei Krücken fortbewegte. Ich kann mich daran erinnern, daß wir zusammen Fußball spielten. Er besaß eine große Geschicklichkeit, auf den Krücken zu balancieren und mit dem einen Bein den Ball zu kicken. Das geschah alles so selbstverständlich, daß uns Jugendlichen nie die Idee kam, hier leiste ein "Krüppel", ein "Behinderter", ein Stigmatisierter Außerordentliches. Es war eben einfach so.

Nun kann nicht jeder Behinderte Fußball spielen, um anerkannt zu werden, und ich höre auch schon den Vorwurf, man müsse sich eben als "Dynamo-Krüppel" betätigen, nach dem Motto "Ich weiß nicht, ob ich an deiner Stelle damit so gut fertig würde". Nein, darum geht es nicht. Es geht mir nur um die Wahrnehmung, daß ich den einen als »Behinderten« wahrnehme und andere nicht, daß der Umgang so selbstverständlich war, daß ich zwei Behinderte, die ganz in meiner Umgebung lebten, nie als »behindert« eingeordnet habe.

Die Selbstverständlichkeit des Umgangs ist noch nicht gegeben, das ist gewiß. Doch viele Behinderte haben erkannt, daß sie sich der Umwelt konfrontieren müssen, wenn sich im Umgang zwischen Behinderten und Nichtbehinderten etwas ändern soll. Volker Schönwiese, Mitglied einer Aktionsgruppe in Innsbruck: "Die Öffentlichkeit auszuhalten und auch Fremde sicher anreden zu können, ist für die Behinderten ... ein wichtiges Kriterium für die Fähigkeit, mit ihrer Behinderung umgehen zu können. Einzelne Behinderte haben sich da ein richtiges Übungsprogramm zurechtgelegt. Sie gehen z. B. ins Kaufhaus und üben, Leute anzusprechen und um kleine Hilfeleistungen zu bitten, etwa eine Dose vom Regal herunterzunehmen oder Feuer zu geben."[307]

Schönwiese sieht die Notwendigkeit, daß Behinderte auf die Nichtbehinderten zugehen müssen, in der Behinderung der Nichtbehinderten, "denn es ist eine alte Erfahrungstatsache, daß man als Behinderter immer den ersten Schritt machen muß, um auf Nichtbehinderte zuzugehen. Man kann niemals vertrauen, daß ein Nichtbehinderter auf einen Behinderten zugeht - da erwartet man als Behinderter wirklich zuviel; die Nichtbehinderten sind da so behindert, das ist schrecklich."[308]

Dies mag zwar schmerzlich sein, den ersten Schritt tun zu müssen, es kostet Überwindung, vor allem wenn der Behinderte im Betreuungsdenken großgeworden ist, aber es ist der einzige Weg, Einstellungen gegenüber Behinderten zu ändern. "Man muß nicht nur behaupten, daß ein Behinderter irgendwo nicht reinkommt. Man muß es vor Ort demonstrieren."[309] Die Gesellschaft wird nie den Behinderten umarmen, ihm Emanzipation (die Freilassung aus der Abhängigkeit) schenken, denn woher sollte sie wissen, daß einer trotz Lähmung beweglich, trotz eventuell notwendiger Pflege selbständig ist, wenn dies nie sichtbar wird?

Will der Behinderte raus aus seinem Getto, darf er nicht warten, daß ihn einer rausholt, er muß das Getto selbst verlassen. Wer nicht will, daß er als Behinderter wie ein Kranker behandelt wird, den man schont, den man nur mit gesenkter Stimme anspricht, darf sich auch nicht wie ein schonungsbedürftiger Kranker verhalten.

"Je nachdem, ob die soziale Umwelt dem einzelnen Rollen zuschreibt, die ihn bestätigen oder demütigen, kann er umgekehrt nach dem Grad seiner Selbstsicherheit, seiner ausgebildeten Identität, auf seine Umwelt einwirken, kann seine Rollen und das Bild, das sich die Umgebung von ihm macht, mitbestimmen. Er kann ein falsches Fremdbild, das ihn benachteiligt, korrigieren, ein positives Fremdbild mit entwerfen."[310] Das geht nicht durch Anpassen, durch Warten, daß die Umwelt ihr falsches Bild von sich aus korrigiert. Viel zu lange hat der Behinderte demütig gewartet, sich behandeln lassen, jetzt muß er sich das Handeln aneignen, sein Rollenbild aktiv selbst bestimmen.

6. Behinderung - Aneignung einer eigenen Lebensform

Die Phasen der Aneignung

Behinderte durchlaufen verschiedene Phasen, ehe sie ihre Behinderung annehmen können, die Behinderung als selbstverständlichen Teil ihrer Person sehen können. Das muß nicht bedeuten, daß alle Behinderten die gleichen Phasen in der gleichen Abfolge erfahren, und wir müssen erkennen, daß auch viele in einer Phase steckengeblieben sind und dort verharren.`[311]

  • Die erste Phase die Leugnung der Behinderung.

Wird ein Mensch durch einen Unfall oder durch eine Krankheit behindert, wehrt sich das Bewußtsein, indem es die Tatsache "Behinderung" leugnet. Das ist zunächst eine Abwehrmaßnahme, um den Schock zu verarbeiten. Es ist der Versuch, die Diagnose zu ignorieren, weil das Anerkennen der Tatsache zu schwer ist.

Bei behinderten Kindern ist das anders. Sie leben ganz selbstverständlich mit ihrer Behinderung. Aber Eltern, Verwandte, Bekannte versuchen, die Behinderung zu leugnen. Viele Eltern wollen nicht wahrhaben, daß ihr Kind behindert ist, daß es ihren Leistungserwartungen nicht entsprechen wird. Sie bringen das behinderte Kind (den behinderten Jugendlichen) in einen Leistungsdruck, der unerträglich ist, weil das Kind den Anforderungen nicht gewachsen ist.

Viele Eltern, viele erwachsene Behinderte, reisen von Stadt zu Stadt, suchen nach Ärzten mit neuen Therapien und Kuren, scheuen auch vor Ouacksalbern nicht zurück. Vor allem bei Behinderungen, deren Ursachen noch unbekannt sind, läßt sich dies beobachten, z. B. bei Behinderten mit Muskelschwund, bei Behinderten mit Multiple Sklerose, aber auch bei Spastikern. Damit ist nicht gesagt, Therapien, die eine Besserung ermöglichen, nicht voll ausschöpfen zu sollen, es sind vielmehr jene verzweifelten Versuche gemeint, bei immer obskureren Heilmethoden Zuflucht zu suchen, um die Tatsache der Behinderung weiterhin leugnen zu können.

Wir müssen sehen, daß auch die übermäßige Anpassung des Behinderten an die Normen der "Gesunden" ein Leugnen der eigenen Behinderung ist. Doch der Versuch, die Behinderung zu vertuschen ist ebenso hoffnungslos wie der Versuch des Negers, ein Weißer werden zu wollen.

  • Die zweite Phase: Aufbegehren und Neid.

Wenn die Versuche, die Behinderung zu leugnen, erfolglos geblieben sind, setzt das Aufbegehren ein, der Neid auf die "Gesunden". Dahinter steht die Frage: "Warum gerade ich?" Es ist der Aufstand, nicht so zu sein, wie man es von mir erwartet, die Erkenntnis: Ich werde den normativen Anforderungen nicht gerecht. Man fühlt sich ausgeschlossen und fragt: "Warum geht es vielen so gut, die es gar nicht verdient haben?"

Es wäre verhängnisvoll, wenn jemand seine Aggressionen, seine Feindseligkeit gegen den eigenen Zustand nicht aussprechen dürfte. Ich muß den Rollstuhl verfluchen können, der mich einschränkt, gefangen hält. Ich muß zornig sein können auf meine Lebenssituation. Ich muß sagen können, weiß Gott, Behindertsein ist nicht schön, wie das ein paar Spinner mal getönt haben, Behindertsein ist Scheiße. Ich muß auf jene neidisch sein können, die ihren jungen Körper zur Schau stellen können, die tanzen, während mein Körper gelähmt ist. Ich muß jene hassen können, die sich von einer Liebschaft in die andere stürzen, die leichtfertig mit Beziehungen umgehen, Beziehungen wegwerfen, weil sie im Überfluß leben, während ich keine Beziehung habe, mit Beziehungen behutsamer umgehen würde, mehr zu bieten hätte. Dies alles muß ausgesprochen werden können, denn was ausgesprochen ist, kann bearbeitet und verarbeitet werden.

  • Die dritte Phase: die Trauer.

Die dritte Phase bringt die schreckliche Erkenntnis, daß mich alles Aufbegehren der "Normalität" nicht näher bringt. Ich kann zornig sein, ich kann wüten, ich bleibe ein Behinderter. Trauer stellt sich ein, wenn wir erkennen, was wir endgültig verloren haben und kein Zorn uns Verlorenes zurückbringt. Die Trauer ist die Anerkennung der Tatsache, daß wir einen Verlust erlitten haben. Auch hier gilt: Wie jeder seine Empörung, seinen Zorn aussprechen darf, so darf auch jeder trauern, ohne mit billigem Trost abgespeist zu werden, nach dem Motto: "Kopf hoch, Unkraut vergeht nicht." Die Trauer ist eine Wegscheide: Ich kann in ihr verharren oder den Weg des Annehmens und Neubeginnens wählen.

  • Die vierte Phase die Annahme.

In dieser Phase wandelt sich die Frage "Warum gerade ich?" zu der anderen Frage "Wozu?". In dieser Phase gelingt es, sich den eigenen Körper wieder anzueignen, wiederzubeleben, sich als Eigentümer dieses Körpers zu bekennen. Ich muß meinen Körper nicht mehr hassen, ich sage: Ja, so bin ich, so ist es. Erst dann bin ich in der Lage, meine Fähigkeiten und Möglichkeiten zu erkennen und auszuleben. Ich kann sagen: Ich bin, der ich bin.

Der Umstand, daß ein Mensch nicht behindert ist, sagt nichts darüber aus, ob er nach seinen Möglichkeiten zu leben versteht. Ein Behinderter mit Multiple Sklerose: "Gesunder Geist wie auch gesunder Körper können beide verkrüppelt sein. Die Tatsache, daß >normale< Menschen herumkommen, sehen, hören können, bedeutet nicht, daß sie wirklich sehen oder hören. Sie können gegenüber den Dingen, die ihr Glück verderben, ganz blind sein, gegenüber dem dringenden Verlangen anderer nach Freundlichkeit sehr taub; wenn ich an sie denke, fühle ich mich um nichts mehr verkrüppelt oder invalide als sie."[312]

Eine sechzehnjährige Kleinwüchsige schrieb mir: "Es klingt komisch, aber wenn ich ehrlich bin, bin ich fast ganz froh, nicht >normal< zu sein, denn irgendwie werden mir so ganz andere Gedankenkreise eröffnet, außerdem kann ich so, glaube ich, manchmal Menschen besser verstehen."

Ich will Behinderte nicht idealisieren, nach dem Motto, weil sie für die Produktion nicht verwertbar sind, können sie bessere Menschen sein, ihre Leistung im mitmenschlichen Bereich erbringen. Es gibt eine ganze Reihe von Behinderten, die ich nicht mag (das ist natürlich kein einseitiges Verhältnis, aber früher hätte ich das aus Befangenheit nicht auszusprechen gewagt). Aber es gibt weitaus mehr Behinderte, denen ich für meine eigene Entwicklung viel verdanke. Ich habe gelernt, zu meinen Gefühlen zu stehen, ehrlicher zu mir und anderen zu sein und kann auf Menschen offener und zärtlicher zugehen. Meine Perspektive hat sich entscheidend geändert:

Je kräftiger wir uns durchsetzen lernten, desto mehr verkümmerten unsere Gefühle. Wir wurden von der Schule an trainiert, im anderen den Konkurrenten zu sehen. Die Regionen des Menschlichen sind versteppt oder zur Wüste geworden. Wir wollen die Wüsten wieder fruchtbar machen, Oasen anlegen, menschliches Ödland kultivieren. Mich stört es nicht mehr, daß dies als kitschig oder als Sehnsucht nach der heilen Welt abgetan wird.

Malochen kann jeder, der gesundheitlich noch kräftig genug ist, doch von Menschen zu lernen, mit Menschen umzugehen, sensibel, liebevoll, offen zu sein, das können uns weder Kraftmeier noch Technokraten lehren. Das ist zu schwer für sie. Gleiches gilt für die professionelle Nächstenliebe: Industrielle haben zu Bischöfen und Kirchenpräsidenten direkten Zugang, Behinderte, Alte, Randständige werden dagegen zu Demonstrationszwecken am Tag der Diakonie/der Caritas mit einem Schulterklopfen vorgeführt. Welch ein Verlust an Realität und Identität!

"Ich bin oft sehr eifersüchtig", sagt Wolfgang über die arm- und beinlose Therese. "Nicht so sehr auf einen Mann als auf die Stellung, die Therese einnimmt. Ich fühle mich dann nicht miteinbezogen und werde höchstens bewundert. Am Anfang konnte ich mich nicht damit abfinden und reagierte dann oft sehr aggressiv. Oder manchmal muß ich mich fast krampfhaft bemühen, um auch Kontakt aufnehmen zu können. Wenn wir Leuten begegnen, die wir noch nicht kennen, sagst du meist sehr spontan: >Salü, ich bin Therese<, so entsteht zwischen den anderen und dir natürlich sofort Kontakt."[313] Die Eifersucht des nichtbehinderten Mannes auf seine schwerstbehinderte Frau, die leichter Kontakt schließen kann, in welchem Lehrbuch haben wir davon gelesen?

Oder da stirbt ein Mann. Beide Beine und der rechte Arm waren durch Polio gelähmt, 65 Jahre seines Lebens saß er im Rollstuhl. In seinem letzten Lebensjahr, im siebzigsten, sagte er, "wenn ich wählen dürfte, wünschte ich mir genau dieses mein Leben". Als er starb, sagten seine Kinder, jeder Kommentar "wurde von seinem schweren Leiden erlöst ..." hätte lächerlich geklungen. Sie sagten noch mehr: "Wir hatten eine glückliche Kindheit und können jetzt als Erwachsene, was Liebesfähigkeit, Durchhaltevermögen und Interesse am Mitmenschen betrifft, so recht aus dem Vollen schöpfen."[314]

Emanzipatorische Behindertenarbeit ist politische Arbeit, denn in ihr lernen wir konfliktbereit und offen zu leben, aus Normen auszubrechen, die lebensfeindlich sind. Das hat die Behindertenarbeit mit der Frauenbewegung gemeinsam, denn auch Behinderte (und engagierte Nichtbehinderte), entwickeln »die Stärke und die bislang unterdrückten Fähigkeiten, aus dem Gefängnis unserer Rollen auszubrechen. Wir wenden unsere Energien nach außen, statt wie bisher gegen uns selbst; wir nehmen Diskriminierungen, Einschränkungen, Gewalttätigkeiten nicht mehr hin - wir wehren uns. Und wir schaffen uns selbst Alternativen."[315]

Wir haben, alles in allem, Fortschritte gemacht. Behindertsein wird erstmals als eine positive Alternative verstanden. Behindertenarbeit wird erstmals mit positiven Eigenschaftsworten beschrieben wie Gemeinschaft im gemeinsamen Handeln, Trauern, Feiern, Offenheit, Vertrautsein, Angenommensein. Es ist eine Gemeinschaft, in der nicht mehr wohlmeinende Helfer auf ihre Verdienste im Jenseits schielen, sondern eine Gemeinschaft, die von Behinderten aktiv getragen wird.

Ein kleinwüchsiger Mann, der Selbstmord beging, schrieb in sein Tagebuch: "Es wird eines Tages eine Gerechtigkeit geben, die der Liebe gleichkommt, es wird nicht mehr Strafe geben, sondern nur noch Verstehen." Es gibt die Sehnsucht, einen Ort zu schaffen, wo Menschen leben können und nicht verzweifeln müssen. Wo Offenheit und Wärme selbstverständlich geübt werden. Wo Sinnvolles getan werden kann. Wo wir wir selbst sein können.

Das ist das Paradies, sagen die einen, das ist der Entwurf einer sozialistischen Gesellschaft, die anderen. Es sind Menschheitsträume. Aber wir wollen uns Träume und Entwürfe von Zukunft nicht verbieten, sondern an ihrer Realisierung arbeiten. Wer nicht mehr träumen kann, nicht mehr in Alternativen denken kann, ist tatsächlich behindert.

Quelle:

Ernst Klee: Behindert. Über die Enteignung von Körper und Bewußtsein.

Erschienen in: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1980, http://www.s-fischer.de/

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Stand: 16.06.2010



[290] Gusti Steiner: Behindert-Sein ist schön, Entwurf eines neuen Selbstbewußtseins; in: Klee: Behindertsein ist schön, a. a. O., S. 123.

[291] Barbara Winter im Gespräch mit Josef Ungerechts, a. a. O.

[292] Brown: Mein linker Fuß, a. a. O., S. 20.

[293] Ludger Mümmel: "... lieber in die Regelschule ...", in: Zeitschrift "Luftpumpe", Nr. 15/1979.

[294] Regina Bosse, Andras Jonkisz, Käte Sobotzek in einem Tagungsbericht: "Kooperation über Grenzen hinaus«, Steingaden/Allgäu, 15.-26. 9. 1976.

[295] Steiner: Behindert-Sein ist schön, a. a. O., S. 123.

[296] Ebenda.

[297] Hannelore Narr, Soziale Probleme des Alters, Stuttgart 1976, S. 34.

[298] Ebenda.

[299] Ebenda, S. 35 f.

[300] Rolf Kendermann: Wenn er aber reden muß. . ., in: Zeitschrift "Luftpumpe", Nr. 13/1979.

[301] Eggli: Herz im Korsett, a. a. O., S. 18.

[302] Narr: Soziale Probleme, a. a. O., S. 39.

[303] Steiner: Behindert-Sein ist schön, a. a. O., S. 127.

[304] Ebenda, S. 128.

[305] Ebenda.

[306] Christa Schlett: ... Krüppel sein dagegen sehr, Lebensbericht einer spastisch Gelähmten, Wuppertal 1970.

[307] Schönwiese: Unersuchung sozialer Beziehungen, a. a. O.

[308] Ebenda.

[309] Barbara Lister: Mitleid lähmt, Emanzipatorische Abeit mit Behinderten, in: Zeitschrift "päd-extra sozialarbeit", Nr. 11/1977.

[310] Narr: Soziale Probleme, a. a. O., S. 37.

[311] Vgl. Elisabeth Kübler-Ross: Interviews mit Sterbenden, Stuttgart 1972.

[312] Goffman: Stigma, a. a. O., S. 21.

[313] Filmexposé Behinderte Liebe, a. a. O.

[314] Näheres bei Klee: Sozialprotokolle, a. a. O., S. 151 ff.

[315] G. Buchtemann, R. Ostermann: Erst einmal zornig werden, in: Zeitschrift "psychologie heute", Nr. 12/1977, zitiert nach: »Sozialmagazin«, Nr. 10/1978.

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