O du mein behinderndes Österreich!

Zur Situation behinderter Menschen

Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Publikationsreihe der Initiative Minderheiten, herausgegeben von Ursula Hemetek, erstellt in Kooperation mit der Grünen Bildungswerkstatt Minderheiten, sowie mit Unterstützung des Bundeskanzleramtes -Kunstsektion und von Casinos Austria AG. Mit Beiträgen von Maria Brandl, Bernadette Feuerstein, Monika Haider, Annemarie Klinger, Barbara Levc, Sigi Maron, Erwien Riess, Heinrich Schmid, Marietta Schneider, Volker Schönwiese, Annemarie Spiegel, Manfred Srb und Danieal Treiber. Klagenfurt: Drava-Verlag.
Copyright: © Franz-Joseph Huainigg 1999

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

    Geleitwort

    Mit großer Freude begrüße ich die Herausgabe dieses Buches, das sich mit der Entwicklung und der aktuellen Situation der Behindertenbewegung in Österreich befaßt und in enger Zusammenarbeit mit den direkt betroffenen Organisationen, Gruppen und mit exzellenten Kennern der Behindertenbewegung entstanden ist.

    Scholl anläßlich meines Amtsantritts habe ich versprochen, ein Anwalt vor allem jener Bevölkerungsgruppen zu sein, die in unserem demokratischen System keine machtvollen Lobbies haben und deren Stimme nur selten in der öffentlichen Diskussion Gehör findet.

    Dazu zählen die Behinderten in besonderer Weise. Auch deshalb unterstütze ich die vorliegende Schrift -und hoffe, daß sie weit über den Kreis der Engagierten hinaus Beachtung findet.

    Unbestreitbar ist es in den vergangenen Jahren gelungen, in der so wichtigen Frage der Integration behinderter Mitbürger eine Bewußtseinsveränderung herbeizuführen. Und auch die politischen Verantwortungsträger wissen heute sehr viel besser; daß der Umgang mit Behinderten ein untrüglicher Maßstab für eine gerechte und menschliche Gesellschaft ist. Die Einführung des Pflegegeldes und die Bemühungen um eine schulische Integration behinderter Kinder sind unleugbare Zeichen der Fortschritte auf diesem Weg.

    Natürlich kenne ich auch die Sorgen -und die Enttäuschungen -, die dennoch geblieben sind. Es bleibt also noch sehr viel zu tun, um die konkreten Lebensverhältnisse aller Behinderten tatsächlich zu verbessern -und um jedenfalls sicherzustellen, daß der breite gesellschaftliche Konsens, der heute in Behindertenfragen besteht, gesichert bleibt und möglichst noch ausgebaut werden kann.

    Das vorliegende Buch der »Initiative Minderheiten« kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten -und es kann mithelfen, durch seine Praxisnähe und durch den Erfahrungsschatz seiner Autoren neue Impulse für ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen in Österreich zu setzen.

    Bundespräsident Dr. Thomas Klestil

    Vorwort der Herausgeberin

    Die Initiative Minderheiten ist eine Plattform für verschiedenste Minderheitengruppierungen, und wir sehen es als unsere Aufgabe, im Sinne les konfliktfreien Zusammenlebens zwischen Minderheiten und Mehrheiten Grundlageninformationen über Minderheiten zu vermitteln. In diesem Rahmen wurde bereits im Jahr 1997 die Planung des nunmehr vorliegenden Werkes in Angriff genommen. In der Edition Minderheiten, der Buchreihe der Initiative, waren schon zwei Bände zu anderen Schwerpunkten vorgelegt worden: Band I zu den Volksgruppen, Band 2 als Handbuch, d. h. als Adressen-und Informationssammlung zum gesamten Minderheitenbereich. Die sozialen Minderheiten, zu denen wir die Gruppe der behinderten Menschen zählen, sind in der Tätigkeit der Initiative ein wichtiger Bereich. Der Minderheitenbegriff ist sehr weit gefaßt und folgt einer politisch-soziologischen Argumentationslinie:

    Eine Minderheit ist eine Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer ethnischen, sozialen oder religiösen Zugehörigkeit Diskriminierung erfahren. Hierzu gehören die gesetzlich anerkannten Volksgruppen ebenso wie Migrantlnnen und Flüchtlinge, homosexuelle Männer und Frauen, Behinderte usw. Diskriminierung ist politisch als Ausschluß von bestimmten Rechten zu sehen, sozial als die Erfahrung von Vorurteilen und Ausgrenzungen.

    Warum behinderte Menschen in Österreich zu den Minderheiten rechnen sind, wird in diesem Buch eindrucksvoll belegt. Schon der Titel »O du mein behinderndes Österreich!« drückt klar aus, daß Behinderte wesentlich von den sie umgebenden politischen, gesellschaftlichen und baulichen Strukturen »behindert« und damit auch diskriminiert werden. Trotzdem steht hier nicht die Anklage im Vordergrund, vielmehr vermittelt der Autor das Selbstbewußtsein von Menschen und Aktivisten, die in ihrem jahrelangen Kampf um Rechte und gesetzliche Regelungen auch viele Erfolge zu verzeichnen haben. Außerdem ist es ein Buch, das durch die Sichtweise der Betroffenen sehr viel Authentizität vermitteln kann und einiges an Denk-und Lernprozessen auslösen sollte.

    Ich möchte allen, die zum Zustandekommen dieses Buches bei! tragen haben, ganz herzlich danken. Bücher, die so sensible Minderheitenthemen behandeln und sich vor allem an der Sicht der Betroffenen orientieren, erfordern in der Herstellung immer besondere Sorgfalt, Toleranz und Geduld. Alle Beteiligten haben diese aufgebracht, Autoren, Subventionsgeber, Diskussionspartner. Ich glaube, daß dieses Buch sehr viel bewirken kann. Für die Behindertenszene bedeutet es erstmalig eine zusammenschauende Aufarbeitung von Standpunkt, historischen Ereignissen und unterschiedlichen Erfahrungen. All jenen, die nicht jeden Tag mit Behinderung zu tun haben, soll es helfen, durch Verstehen Akzeptanz zu beweisen -im Sinne eines konfliktfreieren Zusammenlebens zwischen Minderheiten und Mehrheit.

    Ursula Hemetek, im Juli 1999 Initiative Minderheiten

    Es mag an den Sternen liegen

    Es mag an den Sternen liegen, daß mir - mitten im Sternzeichen des Zwillings geboren - die Neugier und der Hang zu Abenteuern quasi in die Wiege gelegt worden sind. Und es mag wohl an diesen astronomisch-genetisch bedingten Eigenschaften liegen, daß ich zu dem Projektvorschlag, ein Buch über die Behindertenbewegung zu schreiben, gleich ja sagte. Nicht daß ich es bereut habe. Aber die Diskussionen über den Inhalt des Buches, über die Art der Darstellung, das Zurückziehen von Artikeln ... beschleunigten zumindest meinen ohnehin zunehmenden Haarausfall.

    Da nun das Werk auf Papier gedruckt (oder auch als CD für Blinde) vorliegt, kann ich mich auch ein wenig zurücklehnen und darauf stolz sein, daß es mir gelungen ist, die »Behindertenbewegung« quasi unter ein Dach zu bringen. Als Behindertenbewegung im Sinne des Buches werden Verbände, Vereine, Initiativgruppen von betroffenen Menschen und Einzelkämpfer gesehen, die für eine Verbesserung der Lebenssituation behinderter Menschen politisch aktiv werden. Was man sich nicht erwarten darf, ist ein Wälzer mit Vereinsstatuten, Daten der Vereinsgründung, Generalversammlungen und Listen der Vorstandsmitglieder. Mir lag daran, die Behindertenbewegung darzustellen, wie sie sich heute präsentiert und woher sich die einzelnen Verbände, Vereine und Initiativgruppen entwickelt haben. Mir erschien es dabei wichtig, behinderte Menschen aus der Bewegung zu porträtieren. Durch ihre Lebensgeschichten wird deutlich, warum für Pflegegeld gekämpft wurde, warum viele jüngere Vereine und Initiativgruppen mit den traditionellen Verbänden gebrochen haben, warum die Szene so zersplittert ist und man teilweise sogar in Frage stellen muß, ob es überhaupt »die Behindertenbewegung« gibt.

    Für »eingeweihte Menschen« mag es erstaunlich, vielleicht sogar verwerflich sein, wenn in diesem Buch der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung ein zumindest gleich hoher Stellenwert wie den traditionellen Verbänden eingeräumt wird. Gleichfalls kann es Verwunderung auslösen, wenn sich unter der Behindertenbewegung auch die Integrationsbewegung (gegründet von Elterngruppen behinderter Kinder) findet. Vielleicht, so hoffe ich, ist es eine Leistung des Buches, Eltern behinderter Kinder auch als »Betroffene« zu deklarieren und den lose organisierten Selbstbestimmt-Leben-Initiativgruppen einen ihrer Leistung entsprechenden Stellenwert in der Behindertenszene zu geben.

    Mir war wichtig, ein Buch zu schreiben, das nicht nur jene verstehen, die ohnehin mit der Behindertenbewegung zu tun haben. Ich habe daher versucht, die Texte so auszuwählen, daß auch Außenstehende einen Einblick in die Lebenssituation behinderter Menschen erhalten. Im Kapitel »Nahaufnahmen« finden sich Essays von mir, die teilweise auch sehr persönliche Einblicke in das Leben eines Rollstuhlfahrers bieten. Um das breite Spektrum der Themen mehr oder weniger abzudecken, habe ich kompetente Expertlnnen eingeladen, Geschichten und Darstellungen mit einzubringen. Ich möchte all diesen Mit-Autorlnnen danken, die durch ihre sachlich kompetenten Texte zum Gelingen dieses Buches beigetragen - und mich mit den Sternen wieder versöhnt - haben.

    Franz-Joseph Huainigg, im September 1999

    Teil I: Eine Bewegung im historischen Profil

    morgengruß

    guten morgen herr architekt

    hat das frühstück geschmeckt

    sie kommen mir wie gerufen

    wie kommen ich hier über die stufen

    in die wohnung, die nach ihren plänen

    unterlassen sie bitte das gähnen

    errichtet

    hat man mir berichtet

    endlos die stufen

    im klotz den sie da schufen

    was, es wären nur sieben

    hurra, dann werde ich üben

    um mit sieben kräftigen schüben

    an sonnentagen und an trüben

    die stufen zu überwinden

    sollte sich jemand finden

    der aus eigener kraft

    dies wirklich schafft

    der möge sich beeilen

    dem schreiber dieser zeilen

    dies ehest mitzuteilen

    guten morgen herr architekt

    man hört dass es schmeckt

    das essen

    stufen?

    längst vergessen

    sigi maron

    Eine Bewegung im historischen Profil

    In der Antidiskriminierungsklausel, Artikel 13 EGV, heißt es:

    »Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen des Vertrages kann der Rat im Rahmen der durch den Vertrag gegebenen Zuständigkeiten der Gemeinschaft auf Vorschlag der Kommission und nach der Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechtes, der Rasse, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion oder des Glaubens, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen

    Dies kann als Erfolg der Europäischen Behindertenbewegung gewertet werden, obwohl von dieser auch kritisiert wird, daß es sich bei der Klausel um eine »Kann«-Bestimmung und nicht wie gefordert um eine »Muß«-Bestimmung handelt. Auch die Österreichische Behindertenbewegung hat ihr Scherflein dazu beigetragen. Obwohl hinterfragt werden muß, wer oder was die »Behindertenbewegung« in Österreich überhaupt ist, läßt sich nicht leugnen, daß aufgrund verstärkter Integration behinderte Menschen immer selbstbewußter auftreten, Fürsorge und Almosen ablehnen und für ein gleichberechtigtes, selbstbestimmtes Leben kämpfen. So wurde auch in Österreich einiges erreicht: Die schulische Integration wurde ins Regelschulwesen übernommen, ein Pflegegeldgesetz verabschiedet und eine Antidiskriminierungsbestimmung in die Verfassung aufgenonunen:

    »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.«

    Diese Bestimmung wurde am 9. Juli 1997 als Verfassungszusatz im Parlament beschlossen. Für rund 10 Prozent der Bevölkerung ein Grund zum Feiern. Erstmals wurde damit eine verfassungsrechtliche Grundlage für gleichberechtigte Teilnahmechancen behinderter Menschen im alltäglichen Leben geschaffen.

    In Teil I dieses Berichtes werden behinderte Menschen aus der Szene vorgestellt (»Lebensbilder«). Ihr persönlicher Werdegang macht die Lebenssituation behinderter Menschen und deren Veränderung deutlich. Weiters wird im Abschnitt »Und es bewegt sich doch ... « versucht, die österreichische Behindertenszene zu beschreiben. Die Grundlage dafür sind Erzählungen, Berichte und Analysen von selbst betroffenen MitstreiterInnen.

    1. Lebensbilder

    Behinderte Menschen aus der Behindertenbewegung und ihre Geschichte*

    * Die Porträts über folgende Betroffene aus der Behindertenbewegung wurden in Betrifft: Integration erstveröffentlicht: Volker Schönwiese (Nr.3/96), Kornelia Götzinger (Nr. 4/95), Theresia Haidlmayr (Nr. 3/95), Martin Ladstätter (Nr. 1/96), Michael Krispl (Nr. 2/96).

    Ihre Probleme waren nicht die meinen, meine Probleme waren nicht die ihren (Volker Schönwiese)

    In der Behindertenbewegung kennt ihn jeder: Volker Schönwiese. Dozent der Universität Innsbruck. Er zählt zum harten Kern der »Krüppelbewegung«, wird von den einen wegen seiner Kompromißlosigkeit. gefürchtet, von den anderen wegen seiner Hartnäckigkeit, dem analytischen Hinterfragen und der Erstellung von wichtigen theoretischen Grundlagen geschätzt. Derzeit arbeitel Schönwiese an einer virtuellen »Behindertendokumentationsstelle«. Über das Internet sollen wichtige Texte zum Thema »Behinderung« abfragbar sein. Wir klickten uns im Netz ein und führten mit Volker Schönwiese ein Gespräch.

    Hallo Volker, seit wann bist Du behindert? Wie war Deine Schulzeit? Wurdest Du integriert?

    Zuerst: Meine Behinderung hat begonnen, als ich 10 Jahre alt war. Ursache: Chronische Polyarthritis (Gelenksrheumatismus), bei Kindern an sich sehr selten. Eine Krankheit, die zu 2/3 Frauen ab dem 40. Lebensjahr bekommen, die eine typische 1. Welt-Krankheit ist (in der »3. Welt« kaum bekannt), über deren Ursachen medizinisch noch weitgehend im dunklen getappt wird ... und die durch Dauerentzündung aller Gelenke zu Gelenkversteifungen führt.

    Meine Behinderung hat begonnen, als ich in der ersten Klasse Gymnasium war und gerade meine ersten »Nicht genügend« in Deutsch-Schularbeiten nach Hause brachte. Ich war im Rechtschreiben sehr schwach, heute hätte man mich in einer Volksschule vermutlich als »Legastheniker« geführt. Aufgrund meiner Krankheit, die viel Bettlägrigkeit und Krankenhausaufenthalte mit sich brachte, konnte ich nur in der 3. und 4. Klasse - und das nur mit vielen Unterbrechungen -den regulären Unterricht besuchen. Während meiner gesamten Gymnasialzeit war ich Externist.

    Wie war das für Dich, als Du aus der Schule genommen worden bist? Wie reagierten die anderen Schüler? Wie war der Kontakt danach zu ihnen?

    Ich war ja gerade von der Volksschule ins Gymnasium aufgenommen worden, und da war kein einziger Schüler aus meiner Volkschulklasse mit dabei. Die neuen SchülerInnen hatte ich gerade erst einen Monat gekannt, die erste Klasse mußte ich dann krankheitsbedingt noch einmal wiederholen - also völliger Abbruch aller Beziehungen/Freundschaften aus der Schule.

    Wie reagierten Deine Eltern? Kämpften sie für eine Integration oder wurde ihnen die außerschulische Betreuung als einzige Möglichkeit angeboten?

    Meine Eltern bemühten sich um die Möglichkeit, daß ich das Gymnasium überhaupt besuchen konnte - wenigstens als Externist. Die lokale Schule konnte/wollte sich auch das nicht vorstellen. Der Direktor reagierte auf die Vorstellung, er solle entscheiden, sehr ängstlich und verwies auf den Landesschulrat. Der Landesschulrat war ratlos und verlangte eine medizinische Stellungnahme. Chef der Kinderklinik war der schon damals sehr berühmte (und heute noch als einer der Erforscher von Autismus und als einer der Gründerväter der österreichischen Sonderpädagogik bekannte) Prof. Asperger, der mir sehr persönlich und sympathisch begegnete und der damals die fachliche Meinung vertrat, daß nur hochintelligente Kinder Polyarthritis bekommen. Dementsprechend wurde ich getestet und der Landesschulrat unter Druck gesetzt, etwas zu unternehmen.

    Wie lief der Unterricht konkret ab? Gab es Kontakt zu den anderen Kindern?

    Nach einigem Hin und Her wurde ich einer Klasse zugeordnet. Der Klassenvorstand organisierte, daß mir Mitschülerlnnen wöchentlich ihre Hefte zum Abschreiben des Lehrstoffes brachten, damit ich alleine und unter Mithilfe der Eltern den Lehrstoff lernen konnte. Für Latein und Mathematik bekam ich einen Hauslehrer. Jedes Trimester machte ich in jedem Gegenstand eine Trimesterprüfung (in den Hauptgegenständen schriftlich und mündlich), je nach Gesundheitszustand in der Schule oder zu Hause (im Bett liegend - die LehrerInnen kamen in die Wohnung). Ich wurde von den Lehrerlnnen sicher sehr milde behandelt, mir wurde aber kein Inhalt erspart, incl. der Wiederholung der 7. Klasse, in der ich an Latein scheiterte. Zu den von dem Klassenvorstand gesandten Kindern halte ich kaum einen persönlichen Bezug, es war kein normaler, freundschaftlicher Kontakt zwischen Kindern, sondern mehr Pflichtkontakt. Auf die Schulleistung hin wurde ich irgendwie integriert (obwohl meine Leistungen nicht berauschend waren). Auch sozial konnte ich mich kaum irgendwo eingliedern.

    Wie bist Du mit Deinen Eltern ausgekommen? Immerhin hast Du Dich ja gerade in dieser Zeit in der Pubertät befunden. Hast Du Dich und Deine Behinderung angenommen?

    Ich war oft in der Rolle, für die ganze Inszenierung dankbar sein zu müssen, hatte nichts zu fordern oder zu wollen. Meine Eltern waren sehr darauf bedacht, mich durch die Schule zu bringen und von Arzt zu Arzt und Therapie zu Therapie zu schleppen (ich sollte endlich geheilt werden). Als behindertes Kind / behinderter Jugendlicher fühlte ich mich nicht akzeptiert. Den Rollstuhl, den ich ab einem gewissen Zeitpunkt verwendete, akzeptierten sie kaum, er war ein Zeichen einer absoluten Niederlage. -lhre Probleme waren nicht meine Probleme, meine Probleme waren nicht ihre Probleme, könnte man etwas zugespitzt sagen. Außerdem pendelte ich viel zwischen Klinik und Familie. Die Klinik erlebte ich als totale und gewaltsame Institution. Sie rettete mehrmals mein Leben, aber sie hinderte mich entschieden daran zu leben / mich zu entwickeln, sie war klassisch isolierend und entfremdend (wenn ich jetzt mit Beispielen anfangen würde, würde es ein Roman werden).

    Wieviel Zeit nahmen die Therapien in Anspruch, die Du machen mußtest? Welche Rolle nahm dabei Deine Mutter ein? Hast Du dagegen aufbegehrt oder resignierend mitgemacht?

    Die ÄrztInnen sagten immer, ich müsse Physiotherapie machen, sonst sei ich selbst schuld, wenn meine Krankheit fortschreitet. Eine bodenlose Schuldzuschreibung und Erpressung -wie immer gut gemeint -mit katastrophalen Auswirkungen: Depressionen und der Versuch zu verschweigen, wenn sich mein Gesundheitszustand verschlechtert. Meine Mutter wurde zu einer Art Überwacherin, die sich darum sorgte, ob ich wohl genug übe. Ich habe kaum geübt und dementsprechend, wurde ich unter Druck gesetzt. Folge: Resignation, innere Emigration, Gefühl des völligen Allein-Seins …Nach meinem Gefühl habe ich 10 Jahre in meinem Leben sozial verloren, ich hab erst mit dem Studium wieder sozial zu leben begonnen .

    Wie war die Situation. während der Studienzeit? Du hast ja damals auch die erstell Schrille der Behindertenbewegung initiiert? Hattest Du dabei MitstreiterInnen, die auch behindert waren/sind? Viele Streiter der Behindertenbewegung kommen aus dem Uni-Bereich, gab es früher keine Behindertenbewegung, da niem.and auf die Uni kam ?

    Die Uni war für mich die große Befreiung -sozial und intellektuell. Ich kam mitten in die 68er-Studentenbewegung, die ja in Österreich so ungefähr um 1972 richtig begann, und engagierte mich sehr stark in »basisdemokratisch« orientierten, sozialistischen Studentengruppen und Gruppen zur Entwicklung einer »kritischen Psychologie«. Zu »meinem« Thema (Behinderung) hat mich das Buch »Stigma-Techniken zur Bewältigung beschädigter Identität« (von Irving Goffman) zurückgebracht. Mitte der 70er Jahre begann der Frankfurter VHS-Kurs »Zur Bewältigung der Umwelt«, und ich hatte bald die ersten Dokumente von den Erfahrungen. 1977/78 gründete ich (aus einem Seminar mit Peter Gstettner heraus) eine Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten, wir stellten die ersten Forderungen. Einige der ersten behinderten Mitglieder der Gruppe sind immer noch aktiv in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Die Gruppe löste sich schnell völlig von der Uni. Auf der Uni gab es keine engagierten Behinderten, das gibt es bei uns (im Gegensatz zu den USA und der BRD) erst seit Ende der 80er bzw. in den 90er Jahren. Das liegt an dem österreichischen Elend der Sonderschulen, die nicht einmal »intelligente« Körperbehinderte zu fördern imstande waren. In Deutschland gibt es seit den 60er lahren eine Sonderschule (»Hessisch-Liechtenau« bei Hannover), die konsequent zum Abitur vorbereitet, in den 70er lahren studierten in Deutschland schon eine Menge behinderter Personen, seit damals gibt es auch integrielte Studentenheime. In Österreich gibt es da eine riesige Lücke, die sich erst jetzt langsam schließt. Seit den 80er Jahren gibt es aber in Österreich überregionale Treffen von engagierten Behinderten und Initiativgruppen, zuerst trafen sie sich regelmäßig in Ampfelwang (üÖ) und dann in Abtsdorf (üÖ).

    Versuch eines Resümees: Welchen Einfluß hatte die Schulzeit auf Deinen Werdegang (auch im Vergleich mit anderen Behinderten)? Wie siehst Du solche Behinderten-Sonder-Elite-Schulen, wie sie die Waldschule beispielsweise eine war? Wie ist für Dich der Umgang mit behinderten Menschen? Wie ist für Dich der Umgang mit nichtbehinderten Menschen?

    Im Vergleich zu fast allen Behinderten in Österreich hatte ich mit meiner Schulbildung außerordentliches Glück. Für mich ist der Umgang und die frei gewählte Zusammenarbeit mit Behinderten (außerhalb von Betreuungsinstitutionen) für die Entwicklung meiner Identität unverzichtbar. Das ist für mich Voraussetzung, völlig integriert zu leben. Die Erlebnisse und Beschädigung aus meiner Kind- und Jugendzeit schleppe ich z. T. noch weiter mit mir herum: ich gehe mal besser, mal schlechter damit um.

    Völker Schönwieses Lebenslauf macht deutlich, wie schwierig und sprunghaft die Karriere eines behinderten Menschen ist:

    10.01.1948 in Graz geboren. Vater (Dipl. Ing. Dr. Friedrich Schönwiese) Forstmeister, Mutter (Margarete) Hausfrau. 1950-1954 in Windischgarsten/Oberösterreich. 1954-1958 Besuch der Volksschule in Kufstein/Tirol. 1958 Beginn der Erkrankung an primär chronischer Polyarthritis (Gelenkrheumatismus), die in der Folge zu einer dauernden Erkrankung bzw. Behinderung führt. 1959-1968 Externist am Realgymnasium Kufstein. 1968 Matura. 1968 Inskription der Studienrichtung Psychologie an der Universität Innsbruck, zuerst mit dem Nebenfach Biologie, dann Wechsel auf das Nebenfach Pädagogik. 1970 nach langen Krankenhausaufenthalten tatsächlicher Beginn des Studiums. 1978 (Mit-)Initiator einer Selbsthilfegruppe von Behinderten und Nichtbehinderten in Innsbruck, die über viele Jahre auch Öffentlichkeitsarbeit macht. 1978-1981 Ausbildung in Gesprächspsychotherapie. 1980 Abschluß des Studiums der Psychologie und Pädagogik an der Universität Innsbruck mit der Promotion. 1980-1982 arbeitslos, Bezug einer Rente. Ab 1.1.1983 Universitätsassistent am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck. Im weiteren vielfältige Lehrveranstaltungen aus den Themenbereichen Sozial- und Behindertenpädagogik. 1985 Mitbegründer des „Mobilen Hilfsdienstes Innsbruck“, von Beginn bis März 1993 Obmann des Vereins. Mit Bescheid vom 7.11.1988 Übernahme als Universitätsassistent in das provisorische Dienstverhältnis. Mit 1.4.1990 Universitätsassistent im definitiven Dienstverhältnis (Ass. –Prof.). Habilitation 1993 zum Thema „Integrationspädagogik als nichtaussondernde und aktivierende Behindertenpädagogik“ – ab Februar 1994 Univ. – Doz.

    Einen Richter im Rollstuhl wollte keiner (Klaus Voget)

    Klaus Voget wurde am 23. Oktober 1947 in Kärnten geboren. Seine Mutter stammte aus Leipzig, sein Vater aus Uruguay. Beide kamen 1939 nach Kärnten. Vogets Karriere begann recht erfolgreich: Volksschule in Seeboden, Wechsel ins Gymnasium. »Hier endete meine Laufbahn als erfolgreicher Schüler«, meint er heute lakonisch. Konflikte mit Lehrern standen auf der Tagesordnung und führten dazu, daß Voget zweimal eine Klasse wiederholen mußte. Mit 19 besaß er sein erstes Auto, einen Renault: »Ich war im Motorsport aktiv. In manchen Nächten veranstalteten wir auch private Autorennen.« Bei einem dieser Rennen kam es zum lebensverändernden Unfall: »Ich wurde aus dem Auto geschleudert. Damals gab es noch keine Gurten. Beim ersten Aufprall schlug ich mit dem Kopf auf und verlor kurz das Bewußtsein ... «. Heute ist Klaus Voget Präsident der ÖAR, des Dachverbandes der Behindertenverbände.

    Wie war die Zeit nach dem Unfall? Hast Du Dich mit dem Leben im Rollstuhl rasch zurechtgefunden?

    Natürlich gab und gibt es Situationen, wo einem die Tatsache, daß man im Rollstuhl sitzt, immer wieder stärker bewußt wird als in ganz normalen Alltagssituationen. Ich kann mich nicht wirklich erinnern, daß ich ernsthafte Probleme mit dem Selbstbewußtsein gehabt hätte. Es war eher eine Frage: wie kommen andere Leute, die mich vorher gekannt haben - nicht im Rollstuhl sitzend - mit mir zu Rande? Es war also eher eine manchmal nicht ganz einfache Aufgabe, die anderen davon zu überzeugen, daß zwar der Rollstuhl ein Hilfsmittel ist, aber nicht sozusagen ein Körper- und Bewußtseinsteil von mir.

    Du hast ja eine schöne Karriere gemacht. War Dir der Rollstuhl dabei im Wege?

    Mein beruflicher Werdegang ist eher unspektakulär, aus meiner Sicht eher ganz normal. Es gab nach dem Unfall ein oder zwei Jahre, in denen ich beruflich ein wenig desorientiert war. Ich bin nach Wien gegangen und habe dort die Matura nachgemacht. Aus eher zufälligen Erwägungen heraus begann ich ein Jusstudium. Da ich schon älter als der Durchschnittsstudent war, ging es mir nicht nur ums Scheine-Sammeln, sondern ich entwickelte ein immer stärkeres Interesse, hinter die Kulissen der Rechtsordnung zu blicken.

    Du bist zu einem der ersten im Rollstuhl sitzenden Richter geworden?

    Ja. Ich hab mich, ohne mir dabei zu viele Sorgen zu machen, kurz entschlossen um das Richteramt beworben. Mir war das Problem Rollstuhl gar nicht wirklich bewußt. Doch dann merkte ich, daß es damals nur ein einziges Gericht in Wien gab, das als Rollstuhlfahrer befahrbar war: das Bezirksgericht Hietzing. Alle anderen hatten Stufen, und ich mußte jeden Tag in irgendeiner Form für den Transfer in das Gericht Sorge tragen.

    Im Behindertenbereich hast Du Dich erst spät engagiert?

    Ich war immer schon ein politischer Mensch und habe mich für Dinge politisch engagiert. Interessanterweise aber nie auf dem Sektor Behindertenpolitik. Ich hatte immer den Eindruck, daß die nur streiten und sich die Funktionäre gegenseitig beschimpfen. -Ich bin dann durch Zufall zum Zivilinvalidenverband gekommen. Frau Siegel machte mit mir ein Interview für die Zeitung des Zivilinvalidenverbandes. Nach Beendigung des Interviews hat sie gefragt, ob ich nicht irgendwie Funktionen übernehmen könnte, was ich damals ablehnte. Frau Siegel hat aber intensiv insistiert und hat gemeint, ob ich es mir nicht doch überlegen wolle. Worauf ich zur Antwort gab: »Als Präsident allenfalls, aber nicht irgend etwas als dritter Kassieren« Das war dann das Verhängnis. Denn der Präsident Marschall ist plötzlich verstorben. Frau Siegel hatte ein gutes Gedächtnis und kam und fragte: »Was ist jetzt, der Präsident ist frei«. Da habe ich dann das erste Mal wirklich darüber nachgedacht. Und irgendwie habe ich gedacht: Warum nicht?

    Zwei Jahre später bist Du Präsident des Dachverbandes ÖAR geworden. Du hast gesagt, daß Du an und für sich immer ein politischer Mensch warst. Du bist ja auch als Gründer des »Forum Handicaps« zur EU-Wahl angetreten. Würdest Du das heute wiederholen?

    Die Gründung des »Forum Handicaps« und meine Kandidatur bei der Europawahl hatte klare und nachvollziehbare Hintergründe gehabt: Zum damaligen Zeitpunt gab es die ersten Beschlüsse zum Sparpaket. Und das zeigte mir, daß das Thema Behinderung in der Politik einen sehr untergeordneten Stellenwert hat. Sobald die politische Wetterlage schlechter wird, bläst der Wind gleich wieder kalt ins Gesicht. Wenn uns die Wahl gelungen wäre, wäre das für die Behindertenbewegung sicherlich ein Quantensprung gewesen. Leider Gottes haben das nicht alle so gesehen. Insbesondere die Kollegen in den diversen Behindertenorganisationen. Und das war letztendlich auch der Grund, warum dieses Experiment schiefgegangen ist. Bereuen tue ich diesen Versuch aber auf keinen Fall. Vielleicht würde ich es wieder machen. Ich bin ein relativ spontaner Mensch.

    Es gab damals dieses Angebot von Haider, bei der Wahl mit der FPÖ ins EU-Parlament einzuziehen. Hätte man darauf damals anders reagieren sollen?

    Na ja, das Angebot war ja nicht so, daß ich als FPÖ-Abgeordneter mitmachen hätte sollen. Sondern das Angebot war, als »Forum Handicap« eine Wahlplattform mit der FPÖ zu machen. Unter ganz klar definierten Rahmenbedingungen hätte ich das auch gemacht, das sehe ich heute nicht anders als damals. Es wäre eine hervorragende Chance gewesen, im Europäischen Parlament sichtbar und nachvollziehbar Behindertenpolitik zu machen. Gescheitert ist es letztlich nur daran, daß diese Rahmenbedingungen für die FPÖ nicht in der Form erfüllbar waren, wie ich es mir vorgestellt habe. Und deswegen ist es dann letztlich auch gescheitert. Aber das grundsätzliche Angebot der FPÖ damals war mehr als fair. Also diese Großzügigkeit würde ich gerne anderen politischen Parteien einmal anempfehlen.

    Wie soll sich die ÖAR weiterentwickeln?

    Die ÖAR sollte sich zum einem nach außen hin wirklich als eine Art offizielle Vertretung der Anliegen behinderter Menschen etablieren. Ich sag einmal wie eine Kammer, Gewerkschaft oder Interessenvertretung, wie immer man das benennen will. Und zwar von allen akzeptiert und nicht nur von einigen Ministerien, sondern von allen Körperschaften, vor allem von seiten der Medien, die also noch sehr mühsam herumtasten in der Landschaft, wenn sie Informationen haben wollen.

    In der Behindertenbewegung möchtest und wirst Du weiter engagiert bleiben?

    Ja, also ich muß sagen, es ist nach wie vor interessant, nach wie vor spannend, nur dann manchmal mühsam, wenn man sich mit internen Problemen mehr auseinandersetzen muß als mit Vorwärtsstrategien. Aber ich habe natürlich im Laufe der Jahre gelernt, damit umzugehen. Das heißt, die ÖAR ist ein Instrumentarium, das nach meinem Dafürhalten zukunftsträchtig ist.

    Auch dem Zivilinvalidenverband will ich noch eine Zeitlang vorstehen, weil sich dort eine interessante Entwicklung abzeichnet: Der traditionelle Verein beschäftigt sich jetzt sehr ernsthaft und intensiv mit seiner Umstrukturierung. Die zum größten Teil selben Funktionäre gehen in eine neue Zeit. Das ist eine ganz besonders spannende Angelegenheit. Wir haben versucht, für alle Mitgliedsverbände in den Bundesländern ein entsprechendes einheitliches Leitbild mit Aufgabenkatalog zu erstellen. Diese Aufgabe würde ich gerne noch bewältigen.

    Wie schauen Deine persönlichen Ziele aus, wird es wieder neue Überraschungen geben. Stichwort: Präsidentschaftswahlkampf 2004?

    Eines kann ich versprechen: Ich schließe nicht aus, daß ich für irgendwelche Überraschungen gut bin, aber ich habe überhaupt keine Pläne.

    Die Schule in und hinter der Mauer (Kornelia Götzinger)

    Mit einem Satz springt Kornelia Götzinger sportlich aus ihrem Auto. Sie ist 32 Jahre alt, scheint selbstbewußt, attraktiv, engagiert. Eine Rollstuhlfahrerin, so denkt man, der die Welt offen steht. Doch wer Kornelia Götzinger näher kennenlernt, merkt, wie verletzlich sie ist. »Besonders der Umgang mit Nichtbehinderten fällt mir schwer«, meint sie und ortet zwischen »denen« und ihr große Unterschiede. Götzinger: »Nichtbehinderte Freunde habe ich nicht. Mir fehlt die Selbstverständlichkeit, mit ihnen umzugehen«. Verständlich wird diese Kluft, wenn man Kornelia Götzingers Geschichte kennt.

    Da war einmal »die Fürsorgerin«, die gemeint hat, daß die Sonderschule in Mauer für Kornelia das beste sei. Götzinger: »Damals war für jedes behinderte Kind die Fürsorge zuständig. Meine Mutter ist sehr obrigkeitshörig, und so hat sie mich in die Volksschule in Mauer eingeschrieben. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fährt man eine Stunde zur Schule«. Aber allzuoft kam sie sowieso nicht nach Hause. Für Kornelia Götzinger begann ein Leben im Internat, das insgesamt 14 Jahre dauern sollte.

    Die Trennung von der Mutter fiel ihr besonders mit sechs Jahren sehr schwer. Sie wäre lieber in die Volksschule Währingerstraße gegangen. Dorthin gibt es auch einen Schulbus, »ich hätte jeden Tag heimfahren können. Aber meine Mutter wollte das nicht. Sie wollte berufstätig sein«. Diese Haltung wirft Götzinger ihrer Mutter noch immer vor. Auf der anderen Seite versteht sie aber grundsätzlich auch die Beweggründe der Mutter: »Sie dachte, das ist für mich das beste«. Trotzdem fühlte sie sich von der Mutter verstoßen und verraten. Besonders als sich eine Schwester über Kornelia beschwerte, hätte die Mutter gesagt: »Schmierens ihr eine«. Kornelia Götzinger empfand sich als Belastung. Für die Mutter, aber auch für die Ehe der Eltern insgesamt. So lernte sie früh, sich alleine durchs Internatsleben zu kämpfen.

    Die Erziehung in der Schule und im Internat war sehr streng: »Es gab zwar einen Park, aber wir durften nicht raus. Bekam ich Essenspakete, wurden sie unter den anderen aufgeteilt. Oft gab es Zimmerkontrollen. Waren die Socken nicht richtig geordnet, wurden die Laden umgestürzt, und jeder mußte sie wieder selbst einräumen. Auf sozial schwache Kinder, die auch wenig Elternrückhalt hatten, stürzten sich die Erzieher und auch die anderen Kinder. Einmal im Monat ging es zum Friseur, ob du wolltest oder nicht. Am Wochenende gab es keinen Urlaub, sondern es wurde gebastelt. Wir waren Kinder aus ganz Österreich.«

    Wenn Kornelia über die Zeit in der Volksschule in Mauer erzählt, versucht sie zunächst das Positive hervorzukehren: »Wir hatten schon ab der 5. Klasse Maschinschreiben als Pflichtfach. Im Turnen war keiner befreit, und wir wurden dabei auch nicht geschont. Wir mußten auf die Barren oder die Leitern hochklettern.«

    In der Schulklasse wurden 2-3 verschiedene Klassenzüge gleichzeitig unterrichtet. Die Schüler waren unterteilt in »N« (= normal körperbehindert), »M« (= geistig behindert) und »S« (= körperlich und geistig schwerstbehindert). Die Schülerhöchstzahl war 14. Unterrichtet wurde nach dem Sonderschullehrplan - »natürlich frontal. Aber es herrschte immer Ordnung in der Klasse«. Mit 10 Jahren wurde Kornelia Götzinger einem Intelligenztest unterzogen. Ergebnis: Sie könnte ohne weiteres in eine Mittelschule gehen. Götzinger: »Das wollten jedoch weder die Eltern noch die Erzieher. So blieb ich weiter im Internat.« Doch die Sonderschule hatte nicht mehr viel anzubieten: »Ich wiederholte dreimal den Stoff der 6. Klasse, ohne sitzengeblieben zu sein. Es gab einfach keinen anderen Lehrplan mehr.«

    Geprägt war die Zeit in Mauer auch von der ständigen Therapie: »Jeder bekam Schienen. Die Beine in die Schienen zu drücken war ein einziger Zwang. Sie wollten dir unbedingt den Rollstuhl wegnehmen, wollten dich zu einem perfekten Menschen machen. Du hast gehen müssen, auch wenn du einen Bauchfleck nach dem anderen gemacht hast. Die große Herausforderung war überhaupt das Stiegensteigen. Gebracht hat das Ganze nichts. Heute sitzen alle von damals im Rollstuhl.« Eingedrillt wurde ihr auch ständig, daß das Wichtigste im Leben die Selbständigkeit ist: »Das Motto war, sich lieber die Zunge abzubeißen, als jemanden um Hilfe zu fragen.« Daraus entstand der »Zwang, sich ständig unter Beweis stellen zu müssen. Vor allem gegenüber den Nichtbehinderten«. Auch heute noch hat Kornelia große Probleme, jemanden um Hilfe zu bitten.

    Nach der Schule gab es für Götzinger nur zwei Perspektiven: Entweder Weißnäherin zu werden oder in die Handelsschule (Phorusgasse, heute Ungargasse) zu gehen. Bei beiden Ausbildungsstätten war und ist ein Internat angeschlossen. Sie schaffte die Aufnahmsprüfung und besuchte drei Jahre die Handelsschule. Doch die Zeiten wurden dadurch nicht leichter: »Ausgangssperren. Zusätzlicher Unterricht am Wochenende. Die Eltern durften zwischen 14 und 17 Uhr auf Besuch kommen. In die Zimmer durften sie nicht. Ich war nur mit Behinderten zusammen. Die Schüler der Rudolf-Steiner-Schule sammelten für uns jährlich bei einer Theaterveranstaltung. Wir waren dazu nicht eingeladen. Ich habe geschaut, daß ich die drei Jahre schnell hinter mich bringe.«

    Die Zeit nach der Schule war für Götzinger äußerst schwierig. Es gab so gut wie keine beruflichen Angebote. Es fand sich jedoch ein Halbtagsjob bei einer Bank. Nebenbei besuchte sie die Volkshochschule und machte dort die Abendmatura: An Mathe war ich besonders schlecht. Ich war es nicht gewohnt, mit Zahlen zu rechnen. In unserer Schule hatten wir höchstens Quadratflächen ausgerechnet.« Besonders schwer fiel Kornelia Götzinger jedoch der persönliche, menschliche Anschluß »draußen«: »Ich hatte keine Freunde.« Gegenüber Nichtbehinderten hat sie immer den Drang, sich beweisen zu müssen. Es fehlt die Natürlichkeit im Umgang miteinander. Götzinger: »Jeder aus Mauer hat eben einen seelischen Knacks.«

    Die Käseglocke im Föhrenwald (Theresia Haldimayr)

    Theresia Haidlmayr, Behindertensprecherin der Grünen, setzt sich im Elektrorollstuhl zurecht, rückt ein wenig an der Brille herum und klopft mit der Hand leicht nervös auf ein Papier, das vor ihr auf dem Tisch liegt: »Beim Lesen der Studie über die Waldschule hab ich eine richtige Ganslhaut kriegt, bis über die Ohren.«

    Mit neun Jahren wurde Haidlmayr 1964 in die Waldschule nach Niederösterreich gebracht, 300 km von ihrem Zuhause in Oberösterreich entfernt. »Ich und meine Schwester, die ebenfalls die Glasknochenkrankheit hat, wurden hineingestellt, Puppen in die Hand, und weg waren meine Eltern. Ich habe nur gebrüllt.« Auch den Eltern fiel die Trennung nicht leicht. »Für die war es ein Schock. Noch heute kann ich mit ihnen nicht darüber reden. « Vergeblich hatten sie versucht, für ihre körperbehinderten Töchter eine Schule im Ort zu suchen. Von der Schulbehörde wurde eine Integration jedoch abgelehnt, »dafür gibt es ja die Waldschule. Da lernen's viel. Es ist eine Eliteschule für Körperbehinderte«.

    Sieben Jahre verbrachte Theresia Haidlmayr mit ihrer Schwester in der Waldschule, versteckt im niederösterreichischen Föhrenwald. Ein Tag verlief wie der andere, durchstrukturiert waren sogar die Abwechslungen: jeden Sonntag Messe, Besuche waren nur jeden ersten Sonntag im Monat erlaubt - bis 16 Uhr. Haidlmayr: »Da war nix, nur Wald. Du hast dir nit einmal eine Wurstsemmel kaufen können. Wenn du eine alte Odolzahnpasta abgegeben hast, hast eine neue gekriegt. Das war die Vorbereitung aufs Leben.« Das Schlimmste war für sie aber das Streben der Erzieher nach »Normalität«: »Das Größte war, daß du einen Schritt hast gehen können. Auf zwei Fiaß stehn, das war das Wichtigste. So schwer behindert hast gar nit sein können, daß sie di nit aufgestellt haben. Das war pervers. Die habn mich nicht so akzeptiert, wie ich bin.«

    Haidlmayr sitzt auch heute im Elektrorollstuhl. Und sie fühlt sich wohl so. Mit ihrer Behinderung zurechtzukommen wurde ihr allerdings durch die Sonderschulkarriere - die nach der Waldschule logischerweise in die Wiener Hochheimgasse (damalige Handelsschule für Körperbehinderte) weiterführte - schwergemacht: »Ich war ja jahrelang nur mit Behinderten zusammen, in dieser Käseglocke. Freunde hab ich außerhalb keine mehr gehabt.« Sie hatte es verlernt, mit Nichtbehinderten locker und natürlich umzugehen. Die Zeit nach der Waldschule war geprägt von Krisen, der »Angst, übrig zu bleiben« und den Schwierigkeiten, sich Beziehungen aufzubauen. Das alles, glaubt Theresia Haidlmayr, wäre ihr erspart geblieben, wenn sie in einer integrierten Schulform gebildet worden wäre. Auch hätte sie in einer Regelschule wohl eine bessere Ausbildung erhalten: »Es hat zwar immer geheißen, das ist eine Eliteschule. Seids brav, auf eure Stelle warten hundert andere. Aber wie schlecht mein Wissensniveau war, habe ich erst nach der Schule gemerkt«. Viel hat sie im Selbststudium nachholen müssen. Daß sie heute Nationalratsabgeordnete ist, will sie auf keinen Fall auf die Waldschule zurückgeführt wissen.

    Die »Waldschule im Föhrenwald« steckt heute in einer Identitäts- und Existenzkrise. Durch die internationale Integration von behinderten Kindern im Bildungsbereich, die in den 80er Jahren auch in Österreich Fuß faßte, kamen der Sonderschule im Wald die Schüler abhanden. Während in den 70er Jahren durchschnittlich 30 Schüler aufgenommen worden waren, sind es jetzt in den 90er Jahren nur noch zwischen 10 und 15 Kinder aus fünf Bundesländern. Univ.-Doz. Dr. Ernst Berger, der im Auftrag der Niederösterreichischen Landesregierung die Situation dieser Schule untersucht hat, beurteilt die Zukunft der Waldschule mit Skepsis: Das Betreuungsteam ist nach wie vor auf körperlich behinderte Eliteschüler eingestellt. Diese kommen jedoch nicht mehr. Bei Schwerstbehinderungen, Verhaltensauffälligkeiten, geistiger Be¬hinderung und medizinischer Betreuungsintensität »stößt das Team an die Grenzen seines Selbstverständnisses«. Die Pädagogen und Erzieher der Waldschule wollen eine solche Klientel »nicht als künftigen Aufgabenbereich definiert« sehen. Überdies »entwickelt das derzeitige Leistungsteam wenig Vorstellungskraft über Perspektiven und Alternativen zur derzeitigen Situation« und trauert lieber den alten Zeiten nach.

    Probleme bereitet auch das erst 1992 errichtete Schulgebäude. Bei der »wenig gegliederten Baustruktur mit stereotypen Raumabfolgen« haben »Konzepte einer moderneren Schularchitektur, die auf Individualisierung und Differenzierung« Rücksicht nimmt, »keinen Niederschlag gefunden« (Berger). Somit sind integrative, gruppenkonzentrierte und familienähnliche Betreuungskonzepte nur schwer umzusetzen.

    Die einzige Möglichkeit, die Schule zu retten, liegt Berger zufolge in einer völligen Reform: Integrative Kindergartengruppen und Integrationsklassen (auch mit basaler Förderung) für Kinder aus der Region; Werkstattzentrum für behinderte Jugendliche und junge Erwachsene; einige betreute Wohngruppen, organisiert auf Prinzipien der Autonomie und Selbstversorgung; und eine medizinisch-rehabilitative Station für neurologische und orthopädische Patienten.

    Theresia Haidlmayr sieht die Zukunft der Waldschule skeptischer: »In dem Wald kannst keine Integration aufbaun. Gar nix kannst da tun, nur auflassen. Sollns draus Ferienwohnungen machen. Drei Wochen im Wald sind klaß. Aber sonst geht da gar nix«.

    Das stille Warten auf Antwort (Peter Dimmel)

    Der Linzer Bildhauer Peter Dinunel war von 1985 bis 1997 Präsident des Österreichischen Gehörlosenbundes. Charakteristisch für ihn ist nicht nur die Stoppelfrisur, das breite, helle Lachen, sondern auch die Vehemenz, mit der er seine Anliegen vorbringt. Was er sich in den Kopf setzt, zieht er durch: So organisierte er - obwohl ihn viele davor warnten - 1995 den Weltkongreß der Gehörlosen in der Wiener Hofburg. Der Kongreß wurde ein großer Erfolg, auch wenn Dimmel meint: »Ich frage mich oft, warum man sich um Gehörlose wenig oder gar nicht kümmert, aber bis jetzt habe ich noch keine klare Antwort bekommen.«

    Wie war Ihr Leben, die Kindheit, die Schule, der Beruf können Sie das kurz beschreiben?

    Ich wurde 1928 geboren und wurde im Alter von 3 Monaten taub. Mit 3 Jahren kam ich in den Kindergarten im Institut in Döbling, dort blieb ich bis zum Einmarsch von Hitler in Österreich. Danach wurde das Institut geschlossen, ich kam in die Schule nach Speising. 1943 bin ich aus der Schule ausgetreten und habe die Kunstakademie in Wien besucht, mit der Spezialabteilung für Keramik. 1945 bin ich vor den Russen nach Linz geflüchtet, dort war ich 1 Jahr Lehrling und habe die Gesellenprüfung abgelegt. Um Geld zu verdienen, habe ich 3 Jahre als Geselle gearbeitet. 1949 bin ich dann in Linz nochmals auf die Akademie gegangen, um Bildhauerei zu studieren. Weiters habe ich eine Ausbildung als Restaurator in Klagenfurt gemacht. Seit dem Jahre 1957 arbeite ich als Selbständiger, noch heute bekomme ich sehr viele Aufträge.

    Haben Sie in der Schule die Gebärdensprache gelernt?

    Das habe ich im Institut in Döbling gelernt, doch danach hat Hitler diese verboten. Ich mußte auch zum Arbeitsdienst, da ich bei der Musterung als tauglich eingestuft worden war. Erst mühsam mußte ich beweisen, daß ich taub bin.

    Sind Sie lautsprachlich erzogen worden?

    Ich wurde in Gebärden- und in Lautsprache erzogen. Nach dem Krieg erfolgte die Schulbildung nur mehr in der Lautsprache. Ja, das war zwischen 1939 und 1940 sowie nach dem Krieg bis ca. 1970, danach erst hat man langsam wieder die Gebärdensprache zugelassen.

    Jetzt wollen viele Gehörlose nur die Gebärdensprache verwenden. Nein, das stimmt nicht, man muß beides vereinen. Man sollte die Gebärdensprache in der Schule einführen, um Begriffe zu verstehen, das wäre sehr wichtig. Vom Gesundheitsministerium wird LBG (Anm.: Lautsprachbegleitende Gebärde) gefördert. Dies ist keine selbständige Sprache, sondern eine Visualisierung des Deutschen durch Gebärden. LBG laufen für eine natürliche Kommunikation viel zu langsam. LBG ist eine wörtliche Übersetzung, die aber verhindert, jemals Geschichten verstehen zu können.

    Was wäre für Sie in der Schulbildung wichtig?

    Ich bin für eine zweisprachige Ausbildung, wie ich sie erfahren habe: Gebärdensprache und daneben auch die Lautsprache, die man braucht, um Wörter - die man nicht versteht - zu erklären. Diese Ausbildung ist wichtig, um dann im späteren Schulleben eine Integration versuchen zu können.

    Eine sofortige Integration ist meiner Meinung nach unmöglich. Ich kannte in Linz drei kleine Kinder, die taub sind, bei denen klappte es, sie in der Gebärdensprache auszubilden. Wichtig wäre, daß sich Lehrer in Gehörlosenschulen weiter ausbilden. In der Sonderpädagogik gibt es z. B. keine Ausbildung in Gebärdensprache.

    Was spricht gegen eine Integrationsklasse?

    In der Linzer Gehörlosenschule gibt es eine Integrationsklasse, in der nicht in Gebärdensprache unterrichtet wird - und dagegen bin ich. Der Landesschulrat von Oberösterreich hat mich gerufen, um meine Meinung zu hören. Ich erhoffe mir ein höheres Bildungsniveau, wenn Gehörlose als Lehrer eingesetzt werden.

    Wieviele Gebärdensprachdolmetscher gibt es in Österreich?

    Ich glaube 60, davon sind aber nur 25 beeidete Dolmetscher.[1] Österreich hat ca. 8 Millionen Einwohner, davon sind ungefähr 8.000 Gehörlose und 400.000 Hörgeschädigte. 1913 wurde der Gehörlosenbund gegründet, welcher 9 Landesverbände hat. In diesen Landesverbänden gibt es 30 Gehörlosenvereine, außerdem gibt es den Österreichischen Sportverband mit ca. 12 Vereinen. Der Sportverein hat 600 Mitglieder, der Gehörlosenbund ungefähr 2000.

    Welche Vereine und Verbände gibt es noch?

    Es gibt z. B. noch den Wiener Taubstummenfürsorgeverband, den Burgenländischen Gehörlosenverein, den Vorarlberger Gehörlosenverein; ein kleiner Teil von Vorarlberg ist beim Bund Steiermark. Es gibt also einige Vereine, die sich dem Bund schon angeschlossen haben, und welche, die es noch tun werden. Da der Österreichische Gehörlosenbund viele Möglichkeiten zu bieten hat, ist es für die Vereine besser, sich anzuschließen. So hat der Gehörlosenbund unter Herrn Prohaska erreicht, daß Gehörlose den Führerschein machen konnten, das war erst 1955. Außerdem hat man vor 15 Jahren erreicht, daß im Fernsehen die Untertitel eingeführt wurden. Der Gehörlosenbund setzte auch die Befreiung von der Telefon- und TV-Grundgebühr durch. Zudem wurden Ermäßigungen für öffentliche Verkehrsmittel erreicht.

    Sind die Gehörlosenvereine untereinander zerstritten?

    Das ist doch klar und natürlich, das gehört zum Leben.

    Wäre es nicht besser, an einem Strang zu ziehen?

    Wir diskutieren immer über unsere verschiedenen Vorschläge, kommen dann aber zu einer Meinung und können zusammen diese eine Meinung weitergeben, um politische Veränderungen zu erreichen. Im April 1996 gab es eine große Demo in Linz für die Anerkennung der Gebärdensprache, dabei habe ich über 20.000 Unterschriften gesammelt. Diese Unterschriften haben wir dem Parlament übergeben. Außerdem kämpfen wir noch immer für mehr Untertitelungen im Fernsehen. 80 % der Gehörlosen wollen Untertitel im Fernsehen, die restlichen 20 % möchten Gebärdensprache im Fernsehen. Menschen, die von Geburt an taub sind, stimmen eher der Gebärdensprache zu als solche, die erst später taub geworden sind.

    Gibt es nicht viele Gehörlose, die zwar lesen können, aber den Inhalt nicht verstehen?

    Ja, das ist das Problem: Nur 10 % der Tauben verstehen den Inhalt, die anderen 90 % können nur in einfacher Form den Inhalt erfassen. Darum wäre es auch wichtig, die Untertitelung in einfacher Form zu halten. Die jetzige Form und Gestaltung der Untertitel ist für die Gehörlosen optimal.

    Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit anderen Behindertengruppen?

    Es gibt wegen der Kommunikationsschwierigkeiten keine Zusammenarbeit.

    Auch nicht mit dem Dachverband? Im Dachverband ist doch auch der Gehörlosenbund vertreten.

    Die Kommunikation mit dem Präsidenten funktioniert nicht, er bemüht sich zu wenig um uns. Wir sind daher gezwungen, alles alleine zu machen und durchzusetzen.

    Ist die Tagung »Gleichberechtigt«, die im Herbst 1996 stattfand, ein Beginn der Zusammenarbeit mit anderen Vereinen?

    Wir glauben, daß andere Behinderte durch diese Tagung mehr Verständnis für Gehörlose bekommen haben. Für die Durchführung des Antidiskriminierungsgesetzes ist es sehr wichtig, daß wir alle zusammenhalten. Das größte Problem für uns ist, daß wir viel zu wenige Dolmetscher haben. Vom Ministerium bekommen wir dafür auch kein Geld, sondern nur von den Landesregierungen.

    Andere Behindertengruppen haben ja jetzt das Pflegegeld erreicht, aber auch bei der neuen Bundesregelung gibt es kein Geld für Dolmetscher.

    Das stimmt genau. Es werden vom Sozialamt nur Dolmetscher bezahlt, wenn es sich um sehr wichtige Angelegenheiten handelt, wie Arztbesuche oder Wohnungssuche. Diese Dolmetscherangelegenheiten werden pro Jahr mit 30.000.- rückfinanziert. Ich hätte gerne dieses Geld in Form eines Gutscheines gehabt, für jeden Gehörlosen. Doch dieser Vorschlag wurde abgelehnt. Diese Unterstützung gibt es auch nur für Berufstätige, für Pensionisten gibt es überhaupt kein Geld. Von den Gehörlosen in Österreich sind ca. 40 % Pensionisten, und die haben auf nichts Anspruch. Obwohl sie immer gearbeitet und so auch immer Steuern bezahlt haben. Ich kann einen Dolmetscher verlangen, weil ich Funktionär bin, sonst habe ich aber auch kein Recht darauf.

    Unter dem Glassturz der Sonderschule (Martin Ladstätter)

    Man kann versuchen, ihn anzurufen. Man kann versuchen, ihm eine Nachricht zu hinterlassen (auf dem Anrufbeantworter oder per Fax). Einen in der Behinderten- und Selbstbestimmt-Leben-Bewegung engagierten Rollstuhlfahrer wie Ladstätter wirklich zu erreichen, ist schwierig bis unmöglich. Doch wer ihn kennt, weiß, wo er zu finden ist: virtuell, im Internet. Man startet am besten seinen Computer und hängt sich ins Internet. Dort ist er zu finden, wie er leibt und klickt. Unter Resumé ist auf dem Server Magnet zu lesen:

    »Mein Name ist Martin Ladstätter. Bin 29 Jahre alt. Mein Hobby ist ein Aquarium.

    Nebenbei beschäftige ich mich gerne mit EDV. Meine Internetadresse: martin.Iadstaetter@bizeps.or.at, wenn Du mehr wissen willst, schreib mir.« Dieser Einladung konnten wir nicht widerstehen und führten mit Martin ein Internet-Interview:

    Hi Martin, mir liegen ein paar Fragen auf dem Herzen!

    Na, dann frag mal.

    In welche Schulen bist Du in welchem Alter gegangen?

    4 Jahre Volksschule, 4 Jahre Hauptschule (beides Sonderschule Währingerstraße) Die heißt jetzt - glaub ich – Hans-Radl-Schule. Dann 3 Jahre Handelschule (Sonderschule Phorusgasse), die ist jetzt in der Ungargasse. Dann Abendschule für die Handesakademie in einer Regelschule. (Also der ersten Schule, die keine Sonderschule war.)

    Warum bist Du in Sonderschulen gegangen?

    Das war damals kein Thema. Behindert ist Sonderschule. So einfach war das. Damals, 1973, stand das gar nicht zur Debatte. Meine Mutter erzählt mir, daß damals wer von der Fürsorge kam und diese Vorgangsweise mitteilte. Die Schule war am anderen Ende der Stadt. Es gab dort auch einen Hort, ich wohnte aber zu Hause. So mußte ich mit dem Sonderschulbus täglich eine halbe Ewigkeit in die Schule fahren. Den ganzen Tag war ich in der Schule, dadurch verlor ich die sozialen Kontakte zu Hause.

    Wie lief der Unterricht ab? Warst Du dabei genug gefordert?

    Wir waren in Klassen mit weniger Schülern. (Das wußte ich aber damals noch nicht. Für mich war das vorerst die Normalität.) Der Unterricht hat mich - so wie wahrscheinlich alle Kinder - unterschiedlich interessiert. Ich glaub, ich war auch nicht genug gefordert. Das lag sicherlich an dem Glassturz der Schule. Vor allem, mit wem hätte ich mich vergleichen sollen? Jetzt, Jahre später, glaube ich, daß es besser gewesen wäre, in eine Regelschule zu gehen. Sozialkompetenz erlernen kann man nur, wenn man mit Nichtbehinderten in eine Klasse geht. Anfangs hab ich mich in der Regelschule in der HAK daher auch irgendwie komisch gefühlt. Die Klasse war so groß. Und dann die vielen nichtbehinderten Menschen in meiner Klasse! Insgesamt integrierten wir 4 Nichtbehinderte bei uns 20 behinderten SchülerInnen. Eine eigenartige Variante von Integration!

    Wie waren die Lehrer - gingen sie auf den einzelnen ein?

    Ja und nein. Daß in der Sonderschule die LehrerInnen mehr auf die SchülerInnen eingehen, halte ich für ein Gerücht. Es stimmt zwar, daß sie mehr Zeit für den einzelnen haben. Auf die besonderen Bedürfnisse wie Schreib-, Seh- oder Kommunikationsprobleme wurde in der Sonderschule nur teilweise eingegangen. Unter dem Motto: »Wenn Du es nicht kannst, laß es. Macht nichts, es kommt wieder was, was Du auch kannst.«

    Wie waren die Erzieher?

    Das war eher eine Art: »Alle aufgegessen? Jetzt gehen wir in den Garten« (der nicht mal barrierefrei war!).

    Welche Rolle/Position hattest Du in der Schule?

    Wie meinst Du das? Ich war Schüler (war kein Scherz). Nein, also im Ernst: Ich war aufmüpfig, vorlaut (daher auch Klassensprecher) und auch etwas faul.

    Erlebnisse in der Schule (typische, mit LehrerInnen/SchülerInnen/Eltern)

    Vielleicht, daß wir ein Krankenbett im Klassenraum stehen hatten, wo man sich niederlegen durfte. Oder vielleicht, daß wir nicht mal den Aufzug selbst benutzen konnten ... Ich hatte manchmal das Gefühl, daß die uns nicht ernst nahmen. Das schärfste war der Religionslehrer, der meinte: »Behinderte kommen eh in den Himmel.«

    Hast Du auch ein Feindbild von denen außerhalb der Schule entwickelt?

    Nein. Eigentlich habe ich das irgendwie nicht richtig wahrgenommen. ... einmal haben wir einen Vergleichskampf in Mathematik mit einer Regelklasse gemacht. (Wir haben gewonnen. Allerdings war das auch ziemlich der einzige Lehrer, der wirklich versucht hat, uns viel beizubringen. Zumindest hatte ich das Gefühl. Er nahm sich auch Zeit, uns Schach beizubringen, obwohl er da eigentlich Mittagspause hatte.) Einer meiner besten Freunde aus der Volksschule ging dann in die Regelschule, das war irgendwie komisch. Er hat uns erzählt, daß seine Eltern meinten, er müsse nun etwas leinen. Ich hab das nicht verstanden. Unsere LehrerInnen haben uns nämlich auch dauernd erklärt, daß wir genausoviel leinen wie andere.

    Dann bist Du in die Handelsschule gekommen?

    In die Handelsschule ging ich, weil es so üblich war. Wenn wer nach der Hauptschule weiter in die Schule ging, dann war das die Handelsschule, so nach dem Motto: Ich bekomme ja einen Job im Büro. So einfach ist das gewesen. Ich ging in die Vorgängerschule der Ungargasse. Ich finde, diese Schule hat sich wirklich überholt. Dort findet keine wirkliche Förderung statt. Zumindest die gleiche Förderung (wenn nicht sogar eine bessere) kann ich in jeder Handelsakademie bekommen. Daß Heim und Schule im gleichen Haus sind, ist kein Vorteil, sondern ein riesiger Nachteil.

    Das, was dort als Integration angeboten ist, ist bestensfalls ein Auffüllen mit nichtbehinderten SchülerInnen. Der Ruf der Ungargasse ist eigentlich schon sehr schlecht. Auch wenn behauptet wird, daß es ein Vorteil ist, in diese Schule zu gehen. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus muß ich sagen, daß ich nicht das Gefühl habe, gleich viel gelernt zu haben wie in einer Regelschule.

    Besonders schlimm finde ich, daß in den Bundesländern noch immer Schüler nach Wien in die Ungargasse geschickt werden, weil sie da dann zumindest einige Jahre was zu tun haben. Dies habe ich oft bei Beratungen in den Bundesländern zu hören bekommen. Für mich gibt es kein Argument, warum ein Schüler aus Innsbruck nach Wien in die Ungargasse kommen sollte. Pädagogische Gründe kann es keine geben.

    Wie siehst Du die Schulzeit aus heutiger Sicht?

    Ich habe eine typische Sonderschulkarriere eingeschlagen. Beendet wurde diese erst, weil es damals keine Sonderschule mit Matura gab. (Heute gibt es auch das.) Bei meinem Bruder begann es mit einer Integration im Kindergarten. Er hat daher einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, daß der Besuch einer Sonderschule für mich eigentlich unnötig, wenn nicht sogar schädlich war. Es gab keine soziale Integration. Heute würde ich sicher nicht in eine Sonderschule gehen. Heute gibt es die Wahlmöglichkeit, und ich würde wahrscheinlich in eine Integrationsklasse gehen. Doch damals war das gar keine Frage. Es ist doch wirklich unsinnig, eine Klasse von behinderten Kindern zu haben. Das ist doch unnatürlich. Auch das Argument des besonderen Schutzes hab ich nie anerkannt. Besonders schlimm finde ich aber, daß oft von besonderer Förderung gesprochen wird. In der Integrationklasse meines Bruders waren zwei LehrerInnen. In der Sonderschule nur eine, das aber dann gleich für 10 und mehr behinderte Kinder.

    Wie gehst Du heute mit Nichtbehinderten um - gibt es da Schwierigkeiten (Einfluß der Schule)?

    Ich glaube, ich weiß, was Du meinst. Also ich habe in der HAK und an der Uni gelernt, daß Behindertsein nichts Besonderes ist. Beim Kontakt mit nichtbehinderten Menschen ist meine Behinderung nur ein Merkmal von mir. Wenn das mein Gesprächspartner und ich verstanden haben, wird dies kein Hindernis oder etwas Trennendes sein. In Sondereinrichtungen wird man oft auf sein besonderes Merkmal reduziert. Das ist wie in Krankenhäusern, dort wird man auf seine Krankheit reduziert. Das kann sich im Denken festsetzen. Bei behinderten und nichtbehinderten Menschen. Schon deswegen ist - so meine ich - das gemeinsame Leben und Lernen wichtig.

    Viele Behinderte haben die gleiche Karriere wie Du hinter sich. Trotzdem hast Du Dich anders entwickelt. Du hast Dich irgendwie weiter entwickelt als sie. Wie siehst Du das? Warum ist das so?

    Ich habe erst mit ca. 20 Jahren begonnen, Behinderten(gesellschafts)politik zu machen. Außerdem habe ich einen Bruder (13), der mich eigentlich zur Integrationsbewegung gebracht hat. In der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung bin ich, weil sich aus unserer Selbsthilfegruppe das BIZEPS-Zentrum für Selbstbestimmtes Leben entwickelt hat. Das sind vielleicht die Gründe für meine Entwicklung. Wahrscheinlich auch, daß ich ein gutes Elternhaus habe und so ziemlich selbstbewußt sein kann.

    Du hast auch eine gehörige Portion Zynismus. Wie hat sich der entwickelt? Hier Dir oder stört er Dich? Wie reagieren die Leute darauf?

    Der Zynismus gehört einfach zu mir. Ich glaube, den hätte ich auch, wenn ich nicht behindert wäre (bzw. würde). So hab ich aber mehr Betätigungsfeld. Der Zynismus hilft mir nicht, er stört mich aber auch nicht (andere manchmal schon). Vielleicht ist mein Zynismus eine Art Selbstschutz - ich kann das jedenfalls nicht beurteilen.

    Was ist für Dich BIZEPS?

    Ich habe es mitgegründet (wir waren eine Selbsthilfegruppe). BIZEPS ist für mich eine Organisation, mit der ich Ziele durchsetzen kann, weil sich dort Leute treffen, die ähnliche oder gleiche Ziele haben (eben das selbstbestimmte Leben). Meine Rolle im BIZEPS? Meinst Du laut Statuten? Also ich bin Kassier. Ich glaube aber, Du meinst, was ich so mache. Also ich bin für die Buchhaltung, die Computer und die Zeitung zuständig. In letzter Zeit mache ich vermehrt Beratungen.

    Du hast Dein Studium aufgegeben. Warum? Was sind Deine beruflichen Perspektiven?

    Ja, ich habe mein Studium (Betriebswirtschaft) kurz vor dem ersten Abschnitt abgebrochen. Warum? Weil ich von der Theorie genug hatte. Ich hatte das Angebot, einen Verein mit 1,5 Million pro Jahr zu leiten. Ehrenamtlich. Für mich war das eine Herausforderung, die ich gerne annahm. Meine berufliche Perspektive: Ich weiß es noch nicht. Entweder bei einem Behindertenverein, in der Politik, oder vielleicht geh' ich doch noch in die EDV-Branche.

    Licht in die Köpfe bringen (Michael Krispl)

    Der Verein Blickkontakt zählt zu den jungen, aufmüpfigen Vereinen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, ein wenig Licht in die Köpfe der Leute zu bringen und über Blindheit aufzuklären. Hinter dem Verein steckt unter anderem der 27jährige Michael Krispl, junger Akademiker, Musiker, Konsulent beim ORF, und ein Mann, der es gewagt hat, dem allgegenwärtigen Blindenverband die Stirn zu bieten. Der starke Verband reagierte auf die Aktivitäten des kleinen Vereines Blickkontakt sehr gereizt und schloß alle Mitglieder aus dem Verbandsgeschehen aus.

    Könntest Du Dich kurz vorstellen?

    Ich heiße Michael Krispl, habe Jus studiert. Ich bin mit 14 Jahren erblindet. Jetzt bin ich 27 Jahre und mache nebenbei auch Musik. Zur Zeit arbeite ich als Jurist in der MA 12.

    Wie war Deine Schulzeit?

    Ich war in der Volksschule und dann in der Hauptschule. Ab der 1. Klasse bemerkte ich eine Sehschwäche, die sich immer mehr verschlimmerte. So wechselte ich in der 2. Klasse in die Sehbehindertenschule. Es hat ca. 4 Jahre bis zur Erblindung gedauert. Meine Eltern konnten damit überhaupt nicht umgehen, und auch in der Hauptschule war es klar, daß ich dort nicht weiter bleiben konnte. Ich habe mich damals mit meiner Behinderung nicht auseinandergesetzt, darum hatte ich auch keine Probleme damit. Erst viel später wurden mir manche Dinge klar.

    Für meine Eltern war es lange Zeit ein großes Problem, sich auf die neuen Umstände einzustellen. Die Schule war eher kein Problem für mich, die zweite und dritte Klasse war ich ja in der Sehbehindertenschule. Von dort wechselte ich dann in die Blindenschule, dieser Umstieg war dann schon schwieriger. Im Blindeninstitut gab es weiters die gezielte Schulausbildung eben in Blindenschrift, und außerdem gab es dort die Möglichkeit einer Berufsausbildung. Ich habe dort die Stenoausbildung gemacht. Im Blindeninstitut hatte ich zum ersten Mal mit Menschen zu tun, die große motorische Probleme hatten. Diese Dinge haben mich mit 14 Jahren einfach erschreckt. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich dort wohl gefühlt habe. Außerdem hatte ich am Anfang Probleme, die Blindenschrift zu erlernen.

    War es für Dich ein Problem, daß keine Integration stattgefunden hat?

    Es war mir egal, daß es keine Integrationsschule war, ich habe immer nur zwischen sympathischen und weniger sympathischen Menschen unterschieden, aber nie zwischen Blinden und Sehenden. Da ich nicht im Internat war, ist es für mich vielleicht auch leichter gewesen als für die anderen. Aus diesem Grund gab es für mich auch nicht die Welt »draußen«, da ich jeden Tag zur Schule gefahren bin und wieder nach Hause, im Gegensatz zu den Internatsbewohnern, die nur eine Welt kannten. Andere Perspektiven als die gegebenen Berufsausbildungen bekam ich dort aber nicht. Als ich das erste Mal in den Ferien als Stenotypist gearbeitet habe, wurde mir klar, daß das nicht meine Lebensaufgabe wird. Nachdem ich die Blindenschule beendet hatte, begann ich mit der Maturaschule, die noch zwei andere aus der Blindenschule mit mir machten. Ich habe damals gewußt, daß die Maturaschule Roland für Blinde offensteht.

    Kannst Du von der Gründung von Blickkontakt erzählen?

    Wir haben den Verein 1993 gegründet weil wir der Meinung waren, daß für Blinde und Sehbehinderte in Österreich ein anderer Weg eingeschlagen werden muß. Wir sind alle einmal im Blindenverband tätig gewesen, ich habe damals die Jugendarbeit geleitet. Dort konnten wir aber nicht in unserem Sinn arbeiten. Die Entwicklung im Pflegegeldbereich war für uns der Grund, eine eigene Initiative zu gründen. Wir waren mit dem Weg, den der Blindenverband ging und noch immer geht, nicht zufrieden. Unsere Ansichten sind vom Blindenverband nicht ernstgenommen worden. Wir organisierten damals eine Bürgerinitiative und bekamen 1500 Unterschriften, die aber von den Politikern in der damaligen Legislaturperiode nicht behandelt wurde. Deshalb blieb der Erfolg natürlich aus. Aus diesem Einstieg entstand die Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat die Integration in der Praxis umzusetzen. Wir haben z. B. durchgesetzt, daß im Naturhistorischen Museum ein Führer in Blindenschrift aufgelegt wurde, und wir haben auch erreicht, daß man einige Exponate im Museum angreifen darf. Für uns war das ein fundamentales Projekt, da wir überzeugt waren, daß man am Sinn eines Museumsbesuches für Blinde sicher zweifeln wird. Wir bekamen bei dieser Aktion aber viel Unterstützung vom Ministerium, in dem unsere Arbeit anerkannt wird. Wir haben uns auch für das Thema »Mehr Sicherheit im öffentlichen Verkehr« eingesetzt und begannen auch in den Schulen und Kindergärten mit einer Bewußtseinsbildung für diese Thematik.

    Wo liegt der Unterschied zwischen dem Blindenverband und Euch?

    Der Blindenverband setzt auf Versorgung und wir auf Selbsthilfe und Integration.

    Der Blindenverband reagierte ja sehr zynisch auf Eure Gründung. Die Reaktion auf unsere Pflegegeldinitiative war: »Ihr müßt es ja nicht nehmen, lehnt es halt ab.« Wir haben nie am Sinn der Zahlungen gezweifelt, sondern an den Voraussetzungen, aber das hat der Blindenverein nicht verstanden. Uns ging es darum, sich die Frage zu stellen, ob es der richtige Weg ist, alles auf den Schlagwörtern Pflegebedürftigkeit, Hilflosigkeit und Betreuungsbedürftigkeit aufzubauen. Ich glaube nicht, daß irgendein Behinderter von sich aus sagt: »Ich bin ein armer Hund.« Der Weg, der vom Blindenverband eingeschlagen wird, geht leider in die Richtung, durch Spenden für die armen Behinderten sein eigenes Gewissen zu beruhigen.

    Hat Euch der Blindenverband mit der Kündigung der Mitgliedschaft gedroht?

    Ja, einige wurden gezwungen, selbst den Verein zu verlassen, andere sind ausgeschlossen worden. Viele sind dann freiwillig gegangen, weil sie gemerkt haben, daß Blickkontakt eher ihre Interessen vertritt als der Blindenverband. Es gibt daher auch leider keine Zusammenarbeit mit dem Blindenverband, was in vielen Bereichen natürlich besser wäre. Wir versuchen zwar immer Kontakt herzustellen, aber es gibt keine sachliche Ebene mehr.

    Wodurch entstand diese Splitterung? Hängt es davon ab, ob behinderte Menschen integriert oder nichtintegriert aufgewachsen sind?

    Ich glaube, daß es sehr personenabhängig ist, denn ich kenne sehr viele, die immer in Sonderschulen oder Internaten untergebracht waren, die aber sehr fortschrittlich denken. Andere, die in Integrationsschulen gegangen sind, haben oft eine sehr veraltete Einstellung. Ich glaube, daß die Zusammenarbeit der einzelnen Organisationen auf den Unis zeigt, wie wichtig es ist, Verständnis zwischen den einzelnen Gruppen zu haben.

    Welche Ziele habt Ihr noch verfolgt?

    Unser Verein beschäftigt sich auch mit der Frage des Antidiskriminierungsgesetzes und der Schulintegration. Wir versuchen so aufzuzeigen, wo die Diskriminierung vorkommt, mit Hilfe unserer Zeitschrift oder auch durch Öffentlichkeitsarbeit. Ein gutes Beispiel dafür war die Ausstellung »Dialog im Dunklen«. Auf der anderen Seite versuchen wir auf dem Weg der Zusammenarbeit mit anderen Vereinen Ziele schneller zu erreichen. Lange Zeit haben wir nur verhandelt, jetzt werden wir aber langsam offensiver. Nur mit Verhandlungen kommt man bei manchen Dingen nicht weiter. Man muß das Bewußtsein der Menschen einfach durch andere Aktionen wecken; sei es durch Aktionen oder Demonstrationen. Wenn wir soviel Sendezeit wie »Licht ins Dunkel« zu Verfügung hätten, könnten wir natürlich mehr machen.

    Wo fühlst Du Dich diskriminiert?

    Sicher am Arbeitsmarkt, z. B. ist es mir nicht möglich, Richter zu werden. Vor allem, daß man nichts dagegen tun kann, ist diskriminierend. Es gibt keine gesetzlichen Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Die Richteramtsprüfung gilt als Ausleseverfahren, wo man als Blinder sicher auf der Strecke bleibt.

    Wie ist die Lage bei Unterschriftsleistungen?

    Bei allen Arten Verträgen stellt sich dieses Problem. Man muß mit allen Verträgen zu einem Notar gehen, das bringt natürlich enorme Kosten mit sich. Man darf selbst mit Zeugen weder einen Mietvertrag noch einen Kaufvertrag unterschreiben.

    All diese Dinge passieren unter dem Deckmantel »Schutz«. Da stellt sich natürlich die Frage, ob ein Behinderter wirklich so schutzbedürftig ist. Wenn man auf ein selbstbestimmtes Leben aus ist, so muß man den Menschen auch die Eigenverantwortung zusprechen.

    Wie siehst Du die Zukunft von Blickkontakt?

    Ich glaube, daß der Begriff Antidiskriminierung das Ziel ist. Wir müssen diesen Begriff in die Köpfe der Menschen bringen, denn das ist der Beginn von all den anderen Dingen, die dann als Folge geschehen können.

    Wie ist das Leben der Blinden in Österreich? Gibt es z. B. noch Besenbinder?

    Ja, die gibt es noch, genauso wie Korbflechter, aber es gibt wenige Menschen mit höheren Qualifikationen, die in andere Bereiche eindringen und dort vielleicht unangenehm werden könnten. Es sollten sich mehr Blinde finden, die in höhere Berufe vordringen.

    Vom Problem, ins Leben zu finden (Klaus Martin!)

    Besuch beim Österreichischen Blindenverband. Die Sekretärin ist nett und zuvorkommend, wenngleich angesichts eines Rollstuhlfahrers ein wenig überfordert: »Solche sind nie bei uns«, bemerkt sie, während sie den Rollstuhl auseinanderzuklappen versucht. Der Präsident, Klaus Martini, wartet schon, streckt die Hand entgegen, zielsicher, aber ein wenig zu hoch. Kein Problem. Gemeinsames Lachen. Martini ist einer jener Menschen, die, nach ihrem Lebenslauf gefragt, sofort eine Staffel von genauen Daten, Fakten und Zahlen herunterrasseln können: »Ich bin am 4. April 1945 in Hall in Tirol geboren. Meine Mutter war aus Südtirol, 1951 kam ich in die Volksschule, wo ich schon sehr schlecht gesehen habe. 1954 kam ich dann nach Innsbruck in die Landesschule für Blinde und Sehbehinderte, 1960 machte ich nach der Erblindung die Umschulung, um die Blindenschrift zu erlernen. In Wien erfolgte dann meine Berufsausbildung. Am 1. 12. 1962 begann ich beim Amt der Tiroler Landesregierung zu arbeiten. 1969 wechselte ich auf die Uni. Dort legte ich Dienstprüfungen ab, besuchte die Arbeitermittelschule, studierte auch ein paar Semester und bin Referatsleiter an der Uni Innsbruck geworden. Seit 1966 arbeite ich ehrenamtlich neben meinem Beruf beim Tiroler Blindenverband, dort wurde ich 1977 zum Obmann gewählt. 1987 trat ich die Nachfolge als Präsident des ÖBV an. Ich habe fünf Kinder, die für mein Leben eine große Bereicherung sind.«

    Nachdem Klaus Martini in nur drei Minuten sein ganzes Leben hat Revue passieren lassen, stellt er mit dem Satz »Ich finde, daß die Spezialschule für Blinde bis zur vierten Klasse unbedingt notwendig ist, um die Blindentechniken (Blindenschrift, ...) bis dahin zu erlernen« einen klaren und scheinbar unverrückbaren Standpunkt in den Raum - ein erster Ansatzpunkt für das Gespräch.

    Können diese Blindentechniken nicht auch in Integrationsklassen gelehrt werden?

    Es kommt heute immer öfters vor, daß die Stützlehrer in Integrationsschulen die Blindenkurzschrift schlecht oder gar nicht lehren, sei es, weil sie nicht wollen oder nicht können. Jedenfalls hat es zur Folge, daß wir dann wieder mehr Analphabeten haben. Und das ist ja wohl ein Rückschritt in unserer Entwicklung.

    Vielleicht sollte man die Stützlehrer besser ausbilden.

    Eine bessere Ausbildung wäre sicher wichtig, und außerdem sollte man keine Lehrer dazu zwangsverpflichten. Ansonsten finde ich die Integrationsklassen sehr sinnvoll, weil die Gemeinschaft zwischen den Kindern wichtig ist.

    Wie sah Ihre Schullaufbahn aus?

    Ich persönlich habe in einer normalen Volksschule begonnen und wechselte 1954 in die Blindenschule in Innsbruck, die für mich sehr angenehm war.

    Haben Sie damals zu Hause gewohnt?

    Nein, ich war im Internat untergebracht, nur Weihnachten und Ostern konnten wir nach Hause fahren. Durch das Internat hatte ich dann mehr Kontakt mit Blinden als mit den Nachbarskindern. Die Schule selbst war für mich sehr gut, nur die Internatsführung war nicht sehr aufbauend. Die Klassenlehrerin war oft sehr aggressiv, von ihr wurden wir auch geschlagen, aber das ist die einzige negative Erinnerung an die Schule, ansonsten war die Schule sehr gut. Da das Internat von geistlichen Schwestern geführt wurde, gab es natürlich eine strenge Trennung zwischen Buben und Mädchen. Auch wurde uns, die Sexualaufklärung betreffend, viel Unwahres erzählt, und ich kenne noch heute einige Mitschüler, die auf Grund dieser Aussagen in ihrem späteren Leben nie fähig waren, eine normale Beziehung einzugehen. Ich habe nach der Schule auch einige Probleme gehabt, ins Leben zu finden. Aber ich wußte eigentlich schon immer, was ich wollte, und so fiel es mir vielleicht leichter als manch anderem.

    Gab es in der Schule richtige Machtpositionen?

    Eigentlich nicht, wir waren alle gleich und hielten zusammen.

    Wie war die Ausbildung nach der Schule?

    In Innsbruck gab es nur die Möglichkeiten, Bürstenbinder und Korbflechter zu werden. Aber unser Direktor setzte sich auch für andere Berufe ein. Ich wollte gerne Tontechniker werden, was jedoch damals in Österreich im Gegensatz zu Deutschland nicht möglich war. Ich habe damals die Ausbildung als Telefonist & Stenotypist gemacht, danach bin ich ins Berufsleben eingetreten. An meinem Arbeitsplatz habe ich mich immer als gleichwertiger Mensch gefühlt. Ich weiß einfach, was meine Arbeitskraft wert ist, und so war ich mit meinem Beruf zufrieden.

    War es schwer, dieses Selbstwertgefühl zu erlangen?

    Mein Selbstbewußtsein war schon immer sehr stark, vielleicht kam mir die damals noch sehr strenge Schulausbildung zu Hilfe, da ich mich dabei durchbeißen und behaupten mußte.

    Wie kommen Sie mit der jüngeren Generation der Blinden, wie z. B. Michael Krispl, aus?

    Die Jugend ist vielleicht flexibler als ich, aber ich versuche sie immer zu verstehen. Heute haben die blinden Jugendlichen sicher weniger Probleme zu bewältigen, da es viele moderne Hilfsmittel gibt. Aber die Jugend sollte nicht nur ihren Bereich sehen, sondern die gesamte Problematik, denn ich als Funktionär muß für alle da sein.

    Gibt es nicht Konflikte zwischen dem Blindenverband und dem Verein Blickkontakt?

    Ich möchte, daß zwischen den Vereinen keine Streitereien auftreten, ich sehe Michael Krispl eigentlich positiv. Er war ja auch Jugendsektionsleiter beim Blindenverband.

    Wie ist die Beziehung zum Kriegsblindenverband?

    Früher war die Beziehung eher schlecht. Ich persönlich habe immer versucht, gute Kontakte zu pflegen, was ich meistens geschafft habe. Man darf nicht vergessen, daß die Kriegsopfer viele Gesetze geschaffen haben, die eine gute Basis für unsere weitere Arbeit waren.

    Welche Blindenorganisationen gibt es noch?

    Es gibt noch die Hilfsgemeinschaft, die eher ältere Menschen vertritt. Der Blindenverband versucht, für alle Altersgruppen da zu sein. Bei uns, also im Blindenverband, kann nur der Mitglied werden, der auf Grund des Gesetzes als hochgradig sehbehindert oder als blind gilt. Wir haben ca. 6200 Mitglieder. In Österreich gibt es ca. 18.000 Blinde & hochgradig Sehbehinderte, davon sind aber 70 % Altersblinde, sogesehen bin ich mit unserer Mitgliederzahl sehr zufrieden.

    Gibt es bei politischen Anliegen Einigkeit zwischen den Vereinen?

    Wenn wir etwas durchsetzen wollen, dann versuchen wir das alleine zu schaffen, das ist mein Stil, den Verband zu führen.

    Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit anderen Behindertenverbänden?

    Eigentlich sehr gut, auch mit der ÖAR (Anm.: Dachverband der Behindertenverbände). Mit den Gehörlosen funktioniert die Zusammenarbeit nicht so gut, aber das ist vielleicht auch das Problem der Kommunikation zwischen Blinden und Tauben.

    Können Sie uns etwas zur Geschichte des Blindenverbandes sagen?

    1896 gab es die erste Vereinigung. In der jetzigen Form besteht der Verband seit 1947. Vieles wurde seither erreicht, ich denke da etwa an die Blindenbeihilfen in den Ländern nach den Demonstrationen von 1956. Danach kam es zur Befreiung von den Rundfunkgebühren und der Grundgebühr bei Telefonanschlüssen und dazu, daß Pensionisten zur Blindenbeihilfe auch den Hilflosenzuschuß bekommen.

    Wie finanziert sich der Blindenverband?

    Der Verein finanziert sich durch Spenden, die Hörbücherei wird vom Bund und den Ländern sowie von Mitgliedsbeiträgen subventioniert. Unsere Landesgruppen arbeiten alle autonom, so werden die Spenden auf verschiedene Arten aufgetrieben.

    Besteht da nicht die Gefahr, das Bild des »armen Blinden« zu erzeugen?

    Diese Gefahr besteht durchaus, aber es gibt leider keine andere Möglichkeit, Geldmittel zu beschaffen.

    Haben Sie auch schon einmal auf der Straße Geld bekommen?

    Ja, ich war einmal mit meinem Hund unterwegs, als mir jemand Geld in die Hand drückte, um, wie er meinte, dem Hund Futter zu kaufen. Die Mitleidswelle ist sicher da, welche durch die Spendenwelle vielleicht gefördert wird. Sicherlich gibt es andere Wege, Geld zu bekommen, vielleicht durch Gelder aus Lotterien oder Glücksspiel. Eigentlich ist es traurig, daß wir für unser Geld betteln müssen.

    Wie sehen Sie die Zukunft?

    Ich sehe die Zukunft nicht sehr rosig. Die Betroffenen sind nicht mehr für die Gemeinschaft zu begeistern. Es wird immer schwerer, Menschen zur aktiven Mitarbeit zu gewinnen, und außerdem sind durch die wirtschaftliche Rezession sowohl Bevölkerung als auch öffentliche Kostenträger nicht mehr im bisherigen Umfang bereit, finanzielle Aufwendungen zu erbringen.



    [1] Die Anzahl der beeideten Gebärdendolmetscher ist im Steigen begriffen, nicht zuletzt aufgrund des Gebärdensprachlehrganges an der Universität Graz.

    2. Und es bewegt sich doch… Geschichte und Standortbestimmung der Behindertenbewegung*

    Die »Alternative Behindertenbewegung«-Von Volker Schönwiese

    Die »Alternative Behindertenbewegung« formiert sich

    * Die Texte spiegeln die persönlichen Sichtweisen und Standpunkte der jeweils Betroffenen wider.

    Ende der 70er Jahre begannen sich in Österreich an Bürgerrechtsfragen orientierte Behindertenbewegungen mit kleinen regionalen Selbsthilfegruppen zu entwickeln. Die Gruppen entstanden aus Enttäuschung über die Politik der traditionellen Behinderten-Verbände (Kriegsopferverband, aber auch Zivilinvalidenverband). Die nach Behinderungsformen oder Behinderungsursachen gegliederten Interessenverbände verhandelten zum Teil sehr eigennützig vor allem um Geldleistungen und um Vergünstigungen zur Benutzung öffentlicher Einrichtungen (z. B. Halbpreis bei ÖBB usw.). Ich vermute, daß, abgesehen von einer gewissen Beteiligung an der Entwicklung des Invalideneinstellungsgesetzes, keine Politik mit strukturellen Forderungen gemacht wurde. So wurde die Lebenssituation von Behinderten in Heimen und Sondereinrichtungen (z. B. Sonderschulen) völlig ausgeklammert - Forderungen nach Integration waren unbekannt. Die Kriegsopfer waren schon zu dieser Zeit im Gegensatz zu anderen Behindertengruppen relativ gut sozial versorgt; je nach Behindertenart und -ursache gab es krasse Ungleichbehandlungen. Die Verbände führten Verhandlungen »am grünen Tisch«, die Verbandsmitglieder wurden nur über politische Fest-Inszenierungen miteinbezogen wie z. B. den Weltinvalidentagen, wo mit Musik und geladenem Bundespräsidenten nichts wirklich gefordert, sondern nur geehrt und gewürdigt wurde. Nach innen war die Arbeit der Verbände auf Freizeitgestaltung (die nicht unterschätzt werden darf) und karitative Tätigkeit gerichtet, die durch Spendensammlungen (Kalenderverkauf) finanziert wurde.

    Die Selbsthilfegruppen formierten sich nach dem Vorbild amerikanischer Bürgerrechtsgruppen. Im deutschsprachigen Raum wurde durch den Frankfurter Volks-Hochschulkurs »Bewältigung der Umwelt« von Ernst Klee und Gusti Steiner vorbildlich gezeigt, wie politische Aktionen möglich sind, bei denen strukturelle Forderungen (nach z. B. barrierefreiem Bauen, Bus und Bahn für alle, Integration in alle Lebensbereiche) gestellt werden können.

    Da war zuerst das Problem »Abflachen der Gehsteige« im Vordergrund, ein »lächerliches Detail«, das nicht so lächerlich ist. Es ist anhand des Beispieles des Kampfes zur Abflachung der Gehsteige an Fußgängerübergängen zu sehen, wie sich die ersten politischen Gehversuche gestalteten. Mir ist es sehr gut in Erinnerung, wie wir in Innsbruck zwei Jahre darum gekämpft haben - das war ganz am Anfang, 1978/79 - um überhaupt einen Termin beim Bürgermeister zu bekommen oder Fotos vorlegen zu dürfen, wie in München die Gehsteige gestaltet sind. In diesem zweijährigen Kampf hat eine große Veränderung in unserer Initiativ-Gruppe stattgefunden. Am Anfang waren wir der Meinung: Wir müssen beantragen, wir müssen reden, wir müssen brav sein. Erreicht haben wir dann unseren Termin nur dadurch, daß einen ganzen Tag lang jede Stunde ein anderes Gruppenmitglied im Bürgermeistersekretariat angerufen hat und bei dieser Aktion dann schließlich das Sekretariat so »durchgedreht« hat, daß wir für eine Woche später mit dem Bürgermeister eine Unterredung bekommen haben. Das waren so die ersten Erfahrungen von autonomem politischem Handeln, wobei erkennbar war, daß uns solche Aktionen für Verhandlungen nicht schaden, sondern daß wir dann stärker werden, wenn wir aus der Bittstellerrolle herauskommen. Ein Höhepunkt war sicher auch dieses von uns nicht gewollte »Jahr der Behinderten« 1981. Wir fürchteten, daß die Funktion des Jahres nur dazu dienen würde, die patemalistische Behinderten- und Rehabilitationspolitik weiterzuführen und verstärken. Es sollte aber schlimmer kommen: Das »Jahr der Behinderten« signalisiert auch den internationalen Beginn neuer gesundheitsökonomischer Überlegungen, der in die neue Euthanasie- und Sterbehilfedebatte mündete.

    Wir Behinderten waren damals politisch immer noch ziemlich naiv, aber kämpferisch-aktionistisch eingestellt und behinderten z. B. den Festakt der Bundesregierung in der Hofburg zur Eröffnung des Jahrs der Behinderten, indem wir den Eingang mit 20 Rollstühlen blockierten. Die gesamte Regierung hat warten müssen, und es war ein erstes Signal, daß wir uns nicht alles gefallen lassen. Interessant ist – ich erzähle das jetzt auch deswegen, weil wir damals wohl das erste Mal mit der »großen Politik« in Verbindung gekommen sind -, daß Sozialminister Dallinger uns dann zu einem Gespräch eingeladen hat, das allerdings kaum Konsequenzen hatte.

    Es entstand jedenfalls ein neues Selbstbewußtsein, mit dem wir die Rolle von Behinderten als Bittsteller ablegten. Wir Mitglieder der Selbsthilfegruppen wollten nicht mehr Mitleid oder Spenden, sondern soziale Rechte, gleiche Bürgerrechte und Selbstbestimmung. Wir wollten zeigen, daß wir nicht behindert sind, sondern - von den Politikern, der Bürokratie, Funktionären, durch Vorurteile usw. - von der Gesellschaft behindert werden.

    Die Bestrebungen nach einem integrativen Miteinander

    Von Anfang an zeigte sich in der Innsbrucker Initiativgruppe ein großes Bedürfnis nach Integration von Behinderten und Nichtbehinderten. Die im deutschsprachigen Raum entstehenden Selbsthilfegruppen hatten oft auch das Ziel, Freundschaften zwischen den Behinderten und Nichtbehinderten zu schließen. In Deutschland entstand dann eine neue Orientierung, indem die »Krüppelzeitung« die Frage der Selbstvertretung unter Ausschluß der Nichtbehinderten diskutierte. Die Zeitung gab es ca. zwei Jahre, ihre Hauptbetreiber waren wohl Horst Frehe, Franz Christoph und Udo Sierck (Frauengruppen, »Krüppellinnen-Gruppen« bildeten sich später). Reine Krüppelgruppen setzten sich zwar nirgends längerfristig durch, aber die Behinderten übernahmen, durch die Diskussionen angeregt und gestärkt, fortan die kontinuierliche Themenführerschaft in den Selbsthilfegruppen.

    Nichtbehinderte, die kurzzeitig in unsere Innsbrucker Gruppe gekommen waren, hatten oft ganz falsche Vorstellungen über unsere Aktivitäten, z. B. hatten einige die Vorstellung, mit Behinderten basteln zu können. Als sie merkten, was wir taten bzw. worüber wir diskutierten, ließen sich Personen mit primär karitativer Motivation nicht mehr blicken. Wir waren nie bereit, Personen mit einem ausgeprägten »Helfersyndrom« in unserer Gruppe aufzunehmen. Die Nichtbehinderten, die über Jahre in der Gruppe geblieben sind, hatten andere, an Erfahrung und Austausch orientierte Interessen. Die Mitarbeit war für sie so gut wie immer eine wichtige Erfahrung, die aber Übergangserfahrung blieb. Zuletzt bildete sich eine Gruppe von überwiegend Behinderten, die in einer erstaunlichen Kontinuität über Jahre - jetzt kann fast schon von Jahrzehnten gesprochen werden - in unterschiedlichen Formen zusammenarbeitet und sich in Selbstbestimmt-Leben-Initiativen erweiterte.

    Erste Politische Treffen von selbst Betroffenen entstanden

    Zunächst gab es in Ampfelwang () Treffen der Selbsthilfegruppen - vor dem »Jahr der Behinderten«. Später kam es zu den Treffen in Abtsdorf/OÖ.

    Es begann mit offenen Diskussionen, und Mitte der 80er Jahre etablierte es sich als Treffen der Mobilen Hilfsdienste, die aus den Selbsthilfegruppen entstanden sind (MOHI Innsbruck, Linz, Salzburg, mehrere regionale Initiativen zur Gründung von MOHIs). Diese Form der Treffen zerfiel mit dem Kampf zur Durchsetzung des Pflegegeldes, die Arbeit der Entwicklung von alternativen Hilfsdiensten wich wieder mehr der direkten Interessenvertretung.

    Das Forum der »Behinderten- und Krüppelinitiativen« wurde gegründet

    Die Selbsthilfegruppen hatten lange Zeit keinen gemeinsamen Namen, der Begriff »Forum der Behinderten- und Krüppelinitiativen« hatte sich in Deutschland für einen ähnlichen Gruppenzusammenschluß schon länger etabliert. Erwin Riess, ein sehr engagierter Kämpfer in Behindertenfragen, der sich aber nie der Absdorf-Gruppe direkt angeschlossen hatte, gab den Anstoß zur Namensgebung. Er hatte damals die Möglichkeit, in der Öl-Sendereihe »Von Tag zu Tag« aufzutreten und wollte dort als Sprecher einer österreichischen Gruppe fungieren. So ernannte er sich selbst zum Vertreter des »Österreichischen Forums der Behinderten- und Krüppelinitiativen«. Der Name blieb und gewann ein Eigenleben, der den Gruppenzusammenschluß unterstützte. Dies ist ein Beispiel, wie manch chaotische oder eigenwillige Aktion trotz-dem produktiv wurde.

    Protokoll vom 4. MOHI-Treffen 1986:

    PROTOKOLL

    vom 4. gesamtösterreichischen MOHI-Treffen 25. 4. bis 27. 4. 1986

    Freitag, 25. 4. 1986

    Am Nachmittag treffen die verschiedenen Gruppen und Personen ein. Mit Herrn Werner Müller, einem Mitarbeiter des Redaktionsteams von der Sendung INLANDSREPORT, wird ein Informationsgespräch geführt. Es wird vereinbart, daß bis spätestens Anfang Juni ein Beitrag von ca. 20 Minuten gesendet wird. Herr Müller setzt sich mit den einzelnen MOHIs in Verbindung. Das Drehbuch soll in Teamarbeit entstehen.

    Am Abend hält Herr SCHLESER, LO-Stv. des österr. Zivilinvalidenverbandes der Landesgruppe Salzburg, einen Vortrag über seine Vorstellungen zum Thema Pflegefallversicherung; eine ausführliche Diskussion folgt.

    Die wichtigsten Punkte werden im folgenden kurz zusammengefaßt:

    * Der österreichische Steuerzahler ist bereits mit einem Riesenpaket an Pflichtbeiträgen belastet. So werden von der jeweiligen Bemessungsgrundlage bereits 6,3 % für die Sozialversicherung, 4,4 % für die Arbeitslosenvers., 22,7 % für die Pensionsvers., 1,5 % Arbeiterunfallvers., 0,5 % Arbeiterkammerunflage, 0,32 % Handelskammerumlage, 1 % Wohnbauförderung und einiges mehr einbehalten.

    Um die Vorstellungen von Herrn SCHLESER finanzieren zu können (Zivilinvalide sollten ca. zwei Drittel der Leistungen der Kriegsinvaliden bekommen, das Verteilungsschema und die Anspruchsberechtigung sollte ähnlich der Regelung bei den Kriegsinvaliden sein), wäre eine zusätzliche Belastung der Dienstgeber von ca. 0,3 % und der Dienstnehmer von ca. 0,5 % notwendig. Bund und Länder würden nicht zusätzlich belastet. Die bisherigen Gelder wie Hilflosenzuschüsse, Beiträge aus der AUVA, etc. müßten nur umgeschichtet werden in einen Pflegefallfonds.

    * Die Durchsetzung dieser Vorstellungen ist sehr schwer, weil hinter den Behinderten keine Lobby steht und weil die Behindertenverbände bisher ausschließlich karitativ agiert haben und keine Sozialpolitik machen wollten. Es wäre unbedingt notwendig, daß sich die Behindertenverbände untereinander auf einen einheitlichen Vorschlag einigen und dann Solidarität mit gewichtigen Interessenverbänden wie Gewerkschaft und Arbeiterkammer suchen.

    * Es wäre wichtig, eine bundeseinheitliche Regelung wie bei der AUV anzustreben. Da sich der Bund aber immer auf die Länder ausredet, wäre es auch möglich, in einem Bundesland eine Pflegefallversicherung obligatorisch einzuführen. Dies wäre rechtlich möglich, da die Länder Steuern einheben dürfen, wenn der Bund keine solchen einhebt (z. B. U-Bahn-Steuer in Wien).

    Laut SCHLESER sind die Verhandlungen in Salzburg schon sehr weit fortgeschritten, und Landesrat Oberkirchner hat schriftlich zugesagt, bis Ende dieses Jahres einen Gesetzesvorschlag auszuarbeiten.

    * Wenn jeder Behinderte das ihm zustehende Geld bekommt, könnten Sondervergünstigungen wie KFZ-Steuer, Befreiung von Rundfunk und Telefongrundgebühr fallen.

    * Bei einer Versicherungslösung sollte sich die Bemessungsgrundlage nach der Regelung bei den Pensionsversicherungsbeiträgen richten. Es wäre auch eine Regelung auf gesetzlicher Basis denkbar, bei der die Finanzierung aus dem allgemeinen Steuertopf kommt. Dazu gibt es aber noch keine konkreten Überlegungen. Der ÖZIV sollte über das Akademikertraining Wissenschaftler einstellen, die anhand ausländischer Modelle (BRD, Holland, Dänemark, Schweden) Vor- und Nachteile der verschiedenen Regelungen erarbeiten.

    * Die Höhe des Pflegegeldes soll sich nicht nach der Art der Behinderung (Kausalitätsprinzip) richten, sondern nach dem jeweiligen realen Bedarf (Finalitätsprinzip). Die Feststellung des wirklichen Bedarfs sollte durch ein Team erfolgen.

    Abtsdort als politische Rückenstärkung der grünen BehindertensprecherInnen

    Das Problem Pflegegeld wurde erstmals von Hans Aicher und Günther Schleser vom Zivilinvalidenverband aufgegriffen, wobei es darum ging, in den Sozialleistungen den Stand für alle Behinderten zu erreichen, den die Kriegsopfer schon lange erkämpft hatten. Leistungen sollten von Art und Ursache von Behinderungen unabhängig werden, allein der Bedarf sollte für Leistungen entscheidend sein. Mit der Pflegegelddiskussion begann auch die Zeit, in der der aus der Abtsdorf-Gruppe kommende Abgeordnete der Grünen, Manfred Srb, eine wesentliche Rolle spielte. Die Abtsdorf-Gruppe war seine Hausmacht, innerhalb der Grünen hatte er sich keine stärkere Position verschaffen können. Auf Manfred Srb folgte Theresia Haidlmayr als grüne Abgeordnete. Auch für sie ist »Abtsdorf« eine wichtige Basis. Die Situation ist jetzt aber insofern anders, als die Gruppen viel gefestigter sind und selbst sehr stabil an ihren Plänen arbeiten (z. B. BIZEPS, SLI-Innsbruck usw.). Darum ist Theresia Haidlmayr in einer freieren Rolle, es geht mehr um eine Kooperation in einer sich erweiternden »Integrations-Szene«, die z. B. Voraussetzung für den außerordentlichen Erfolg der Verfassungsänderung war.

    Aus der »Krüppelbewegung« wird die »Selbstbestimmt-Leben-Bewegung«

    Erst vor einigen Jahren wurde das »Forum der Behinderten- und Krüppelinitiativen« in »Selbstbestimmt-Leben-Initiative-Österreich - SLIÖ« umbenannt. Die Intention war, mit diesem Namen ein klares und positives Ziel auszudrücken. Es ist unklar, in welche Richtung sich die sehr heterogene Gesamtgruppe nun bewegen wird. Es ist die Frage, ob sie in der jetzigen lockeren Kooperation auf Dauer bestehen kann, Chaos kann nicht immer produktiv werden. Es könnte sein, daß ein Punkt erreicht wird, an dem die Gruppe entweder zerfällt oder etwas Neues geschaffen wird. Auch wenn die Gruppe zerfällt, werden die Mitglieder sicher in anderen Bereichen weiterarbeiten, z. B. in den »Selbstbestimmt-Leben-Zentren« als Fortsetzung bzw. Alternative zu den MOHls. Vielleicht entstehen aber auch ein paar Verbindlichkeiten für die Abtsdorfgruppe, damit diese nicht länger ohne SprecherInnen und Strukturen ist.

    Die Gründung des Behindertendachverbandes ÖAR

    Die ÖAR (Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation) existierte schon lange vor der Gründung der Selbsthilfegruppen. Sie hat sich immer als Dachverband verstanden und wurde in diesem Bestreben unter ihrem Präsidenten Heinrich Schmid sehr aufgewertet, indem sie es schaffte, die großen Betreuungsorganisationen als Mitglieder zu bekommen. Ihre Struktur ist als eine Art Behinderten-Kammer zu sehen, die auch die politischen Parteien einbindet. Die ÖAR vertritt beide Seiten: Behinderte und Betreuerlnnengruppen/Betreuungsorganisationen. Aus dieser Struktur heraus ist erklärbar, warum sich die ÖAR auf die (wichtige) Funktion des, Kampfes um Sozialleistungen und finanzielle Verbesserungen konzentriert, aber keine Forderungen mit Vehemenz vertritt, bei denen sie in Widerspruch zu den großen Betreuungseinrichtungen kommen könnte. So wurde etwa die Reform der Hilfs- und Pflegestrukturen (z. B. Abschaffung von Sondereinrichtungen und unmenschlichen Großeinrichtungen usw.) gegenüber dem Pflegegeld als absolut nachrangig behandelt. Heinrich Schmid ist es allerdings zu verdanken, daß der Kontakt und eine bestimmte Zusammenarbeit zwischen der ÖAR und den Selbsthilfegruppen, die nie Mitglieder der ÖAR werden wollten, erhalten blieb.

    Die Integrationsbewegung

    Eltern behinderter Kinder formiert sich

    Die Integrationsbewegung der Eltern behinderter Kinder wurde, im Vergleich zu den Behinderteninitiativen, mit einigen Jahren Verzögerung gegründet. Die erste Elterninitiative wurde allerdings schon sehr früh von Christian Bodem in Wien parallel zur »Alternativgemeinschaft von Körperbehinderten und Nichtbehinderten« (einer der wichtigen Betreiber war Erwin Hauser) in Wien ins Leben gerufen. Eine regionale Initiative entstand im Burgenland, wo 1985 der erste österreichische Schulversuch in Oberwart eingerichtet wurde. Damals war das Burgenland so schlecht mit Sonderschulen und anderen Diensten versorgt, daß vom Landesinvalidenamt (Anm.: heute »Bundessozialamt«) Teams gebildet wurden, die den Auftrag hatten, festzustellen, wo im Burgenland zentrale Einrichtungen geschaffen werden müßten. Zwischenzeitlich sollten mobil und ambulant Versorgungsleistungen erbracht werden. Die Teams erstellten allerdings weniger Studien, sondern begannen erfolgreich verschiedene Dienste anzubieten wie ambulante, medizinische oder Begleitdienste. In diesem Zusammenhang gründete sich die erste Initiative, die für Oberwart den ersten integrativen Schulversuch erkämpfte. Es folgten bald Elterninitiativen in allen Bundesländern, die vor allem die schulische Integration vorantrieben, aber ab einem gewissen Zeitpunkt auch begannen, lose mit den Behinderteninitiativen zusammenzuarbeiten. Diese Kooperation von Eltern behinderter Kinder und erwachsenen Behinderten, die in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, ist international ziemlich einmalig und als eine der Stärken der österreichischen Behindertenbewegung zu sehen.

    Traditionelle Vereine versus neue Behinderteninitiativen

    Mit der nunmehrigen Aufnahme einer Antidiskriminierungsklausel in die Verfassung haben die Behinderteninitiativen gezeigt, was sie als Initiatoren von Neuerungen zu leisten in der Lage sind. Die traditionellen Vereine werden politisch inhaltlich weiter ausdünnen, wenn sie so weitermachen wie bisher. So gesehen ist die Argumentation und Politik der Selbsthilfegruppen gegen alle Prognosen sehr erfolgreich. Internationale Entwicklungen können dies bestätigen. Die Formulierungen der EU über Menschenrechte passen ganz in dieses Schema. Allerdings gibt es auch eine problematische Kehrseite. Die amerikanische Tradition, für Menschenrechte zu kämpfen und soziale Sicherungen abzubauen, zeigt sich auch bei uns. Immer mehr Lobbys treten für eine neoliberale Politik ein, für den Abbau von Sozialleistungen, aber gleichzeitig für die Sicherung der Menschenrechte. Der emanzipatorische Kein von Selbstbestimmung wird dabei unterlaufen und zur Deregulierung der Gesellschaft oder zur Durchsetzung von kulturellen Egoismen benutzt.

    Behindertenthematik als politisches Thema

    Bundespräsident Klestil stützte uns in der Antidiskriminierungsfrage, aber es ist nicht auszuschließen, daß auch er einen neoliberalen Wirtschaftskurs befürworten würde, wenn er direkter politisch entscheiden könnte. Es gibt einen großen internationalen Druck in Richtung Neoliberalismus. Auch Haider vertritt in seiner Schaukelpolitik die Antidiskriminierungsfrage, weil das genau die amerikanische Tradition ist, Behindertengleichstellung zu ermöglichen und gleichzeitig extremsten Sozialabbau zu betreiben.

    Positiv ist festzustellen, daß wir auch öffentlich sichtbar nicht mehr den Weg der Mitleidskrüppel gehen, die auf Spenden warten, sondern als Personen, die Rechte und Anerkennung fordern, zunehmend bekannt werden. Wir befinden uns in einem historischen Prozeß, in dem Behindertenfragen allgemeinen politischen Stellenwert bekommen, den sie vor zehn Jahren nicht hatten. Es gibt inzwischen als normales innenpolitisches Thema eine politische Debatte über unsere Forderungen, und wir werden öffentlich nicht nur über »Licht ins Dunkel« definiert.

    Der Lebenswert behinderter Menschen wird neu diskutiert

    Es sind sicher gewisse Fortschritte in der öffentlichen und politischen Bewußtseinsbildung erreicht worden, wobei sich die Kampffronten allerdings deutlich vermehrt haben. Wir können schwer von linearen Erfolgen sprechen, wo die alten Widersprüche in neuem Gewand auferstehen. In den letzten 10 Jahren, in denen wir Menschenrechtsfragen erfolgreich angesprochen haben, ist die Eugenik des letzten Jahrhunderts in der Form der Humangenetik mit allen damit zusammenhängenden Fragen neu aufgetaucht. Die schlimmste Erfahrung, die wir je machten, waren - wie schon angedeutet - kurz nach dem UNO-Jahr der Behinderten, als nach all den Aktionen und Diskussionen die Frage nach »lebenswert« oder »lebensunwert« neu aufgeworfen wurde. Als Konsequenz des Jubeljahres wurde plötzlich in gesundheitsökonomischem Gewand gefragt, wozu Behinderte eigentlich nützlich sind. Es entstand eine neue Lebenswert- und Euthanasiedebatte, und es kam zu verzweifelten Aktionen der Selbsthilfegruppen dagegen.

    Zum »Jahr der Behinderten« wollten wir der Dynamik der sozialen Einrichtungen, die sich nur selbst lobten, mit öffentlichen Nadelstichen begegnen. Es wurde aber viel ernster als gedacht. Die deutsche Behindertenbewegung war die erste, die sich mit der Analyse der NS-Euthanasie beschäftigte. Weder Wissenschaftler noch Historiker hatten sich bislang damit besonders auseinandergesetzt. Erst die deutschen Behinderteninitiativen und der mit ihnen befreundete Journalist und Autor Ernst Klee begannen die Geschichte der Euthanasie zu schreiben.

    Eine wichtige Themenführerschaft im Kampf gegen die neue Lebenswertdebatte (z. B. die von Peter Singer ausgelöste »Neue Euthanasiedebatte«, die »Sterbehilfe«-Debatte usw.) haben inzwischen die Selbstbestimmt-Leben-Initiativen. Bemerkung am Rande: Klaus Voget, der derzeitige Präsident der ÖAR, hatte die Fragen der Bioethik in seinem EU-Wahlkampf, den er 1996 mit einem neugegründeten und FP-nahen »Forum Handicap« führte, noch nicht einmal entdeckt. Erst langsam entwickeln sich gemeinsame Einschätzungen und Aktionen aller Behindertenvereinigungen in dieser Frage (z. B. Aktion gegen die Bioethik-Konvention).

    Behindertenbeauftragte werden eingesetzt

    Unter Wissenschaftsminister Erhard Busek ist es durch überregionale politische Arbeit gelungen, Behinderten-Beauftragte an den Universitäten zu installieren. Vorher gab es etwas ehrenamtliche Arbeit oder Initiativen über die ÖH, aber dann wurden auf Forderung von behinderten Studierenden hin reguläre Planposten eingerichtet. Erleichtert hat diese Neuerung die Beschäftigungspflicht für Behinderte und ein für Behindertenstellen eingerichteter »Planstellentopf« im Bundeskanzleramt. In Deutschland gibt es seit den 70er Jahren Behinderten-Beauftragte, die vom Arbeits-Typ her eher allgemeine Sozialreferenten waren und nie Teil der Behinderteninitiativen. In Österreich sind nun Behindertenbeauftragte fast ausschließlich Personen, die schon initiativ tätig waren oder nahtlos zur Selbstbestimmt-Leben-Bewegung gestoßen sind. Es war ganz klar, daß die »Selbstbestimmt-Leben«-Philosophie die einzige Orientierung ist, die die Arbeit der Behindertenbeauftragten ermöglicht. Auch dadurch kam es zu einer wesentlichen Stärkung der Behinderteninitiativen. Immer mehr behinderte Menschen sind heute fähig, ihre Anliegen auch intellektuell zu formulieren, was ein großer Fortschritt ist. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß mit dem Zugewinn an Kompetenz und Schlagkraft ein Verlust an Zugang zu der Welt von vielen Behinderten entsteht. Viele Behinderte können ihre Chancenlosigkeit und ihren unartikulierten Frust manchmal nur dadurch bewältigen, indem sie der Suche nach neuen Sündenböcken (Ausländern) folgen und mit entsprechenden politischen Bewegungen sympathisieren.

    Gibt es in Österreich eine Behindertenbewegung?

    Trotz aller Zweifel, es gibt eine lebendige Behindertenbewegung und viel Dynamik in den verschiedensten Organisationen. Es gibt eine breite Politisierung bezüglich Pflegegeld oder Sparpaket, Gleichstellungsfragen werden zunehmend wahrgenommen. Wenn die Bezirks- oder Landesblätter der verschiedenen traditionellen Behindertenorganisationen betrachtet werden, kann diese Politisierung festgestellt werden. Es ist ein Generationswechsel mit steigendem Politisierungsgrad zu konstatieren. Wohin das führt, bleibt notgedrungen offen, ich bin und bleibe aber Optimist.

    Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung: Selbst für das eigene Recht kämpfen- Von Manfred Srb

    Zur Behindertenbewegung gehören nur jene Gruppen, die sich bewegen

    Die Selbstbestimmt-Leben-Initiativen geben mir immer wieder Kraft und Hoffnung. Diese Basisbewegungen, wie es auch die Elternbewegungen sind, haben inhaltlich und politisch sehr viel erreicht. In diesen Initiativen und Vereinen werden die Interessen der Betroffenen am wirkungsvollsten vertreten. Im Gegensatz zu den traditionellen Vereinen bewegt sich da etwas. Man kann sich von den meisten herkömmlichen Vereinen einfach nichts erwarten, politisch und inhaltlich, einfach in jeder Hinsicht. Es gibt nur ein paar Ausnahmen wie etwa die Unterschriftenaktion des ÖZIV, die ein wichtiger Impuls für die Erkämpfung der Pflegevorsorge war. Der Bedarf, eine neue Bewegung zu gründen, entsteht dann, wenn die alte nicht mehr die Ziele vertritt, die man persönlich hat. Es geht dabei sehr stark um die Inhalte, die eben von Generation zu Generation verschieden sind. Die Selbstbestimmt-Leben-Initiative ist keine Bewegung der jungen Leute, sondern eine Bewegung von Leuten, die aktiv um ihre Rechte kämpfen. Diese Leute wollen selbst um ihre Rechte kämpfen und verzichten dabei auf gewisse Vorteile, die behinderten Menschen manchmal zugute kommen. Es ist nicht mehr wichtig, sich bei Benefizveranstaltungen bedauern zu lassen und um Mitleid zu betteln, sondern wir wollen unsere Anliegen selbst in die Hand nehmen. BIZEPS kann es mit seinen Grundsätzen nicht vereinbaren, bei einem Verein wie der ÖAR dabei zu sein, der gleichzeitig auch Heimbetreiber vertritt und bei dem viele nichtbehinderte Funktionäre das Sagen haben. Dafür ist BIZEPS dem Europäischen Netzwerk Selbstbestimmtes Leben beigetreten. Dieses vertritt unsere Ziele: die konsequente Vertretung der Betroffenen durch Betroffene.

    Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Österreich ist noch eher unorganisiert. Sie ist eine Bewegung und keine Organisation. Wir sind mehr schlecht als recht vernetzt, es gibt in jedem Bundesland ein paar Aktivisten und Gruppen, die an Ort und Stelle versuchen, für ihre Rechte zu kämpfen. Aber wir als Bewegung bewegen dafür etwas, siehe Verfassungsbestimmung und Antidiskriminierungsgesetz. Die Zukunft wird hinsichtlich dieser Organisationsstruktur hoffentlich einiges an Verbesserung bringen. Ich denke, daß in den nächsten Jahren ein paar Selbstbestimmt-Leben-Zentren entstehen werden. Ich halte es für wichtig, daß die Forderungen von Selbstbestimmt-Leben für die Betroffenen von immer größerer Bedeutung werden. Die traditionellen Vereine sollten sehen, daß die Betroffenen sich selbst vertreten können. Wir versuchen, die Kontakte zu den anderen Behinderten zu verbessern, um ein größeres Potential zu haben. Diese Dinge dauern aber, wie viele andere Dinge in Österreich, länger als in anderen Ländern. Abtsdorf wird auch in Zukunft wichtig sein, da diese Treffen u. a. auch für die Basis sehr wichtig sind.

    Der erste selbst betroffene Behindertenvertreter im Nationalrat

    Die Behindertensprecher der SPÖ und der ÖVP haben die für Betroffene wichtigen Themen, wie jene des Pflegegeldes, ignoriert. Es hat sich auch gezeigt, daß nur der wirklich selbst Betroffene die Glaubwürdigkeit und das Wissen hat, um in der Politik gut agieren zu können. Die Koalitionsparteien vertreten jedoch immer noch den Standpunkt, daß ein Nichtbehinderter die Interessen der Behinderten vertreten kann. Ich war der erste Politiker in Österreich, der angetreten ist, um dezidiert die Rechte der behinderten Menschen zu vertreten. Über die Alternative Liste der Grünen kam ich auf die Bundesliste und somit nach der Wahl als grüner Abgeordneter ins Parlament. Das war im Dezember 1986 und sorgte natürlich für Aufregung im Parlament. Im Parlament wurden ein paar Dinge umgebaut, wie der Eingang und der Zugang zum Rednerpult. Es setzte dann ein Nachdenken ein und hatte eine Symbolwirkung, wodurch auch eine Aufschwungphase zu bemerken war. Zum ersten Mal konnte ein Betroffener selbst versuchen, die Probleme seiner Gruppe zu lösen. Ich habe aber das Gefühl, daß die Medien nach zwei Jahren das Thema wieder fallengelassen haben. Es ist leicht, für eine Situation und ein Ereignis die Medien zu bewegen. Aber dann das Thema weiterzuverfolgen ist wesentlich schwieriger.

    Für mich wird in Abtsdorf sehr viel inhaltliche Arbeit geleistet. Die Stärke von Abtsdorf ist die kontinuierliche, inhaltlich kritische Auseinandersetzung mit den Dingen. Diesen Prozeß kann man viele Jahre zurückverfolgen, das hat uns stark gemacht und macht uns auch heute noch stark. Ich habe mich diesen Inhalten und den Menschen verpflichtet gefühlt und versucht, die Möglichkeiten zu nützen, die einem Abgeordneten zur Verfügung stehen.

    Der lange Weg zum Pflegegeld

    1986 hat der ÖZIV 62.000 Unterschriften gesammelt, die dann dem Parlament vorgelegt wurden. Doch die beiden Koalitionsparteien hatten kein Interesse, das Anliegen der Betroffenen zu behandeln. Nach 6 Monaten verfielen die Unterschriften, darum habe ich die Petition nochmals eingebracht und den Druck zu erhöhen versucht, bis dann die Medien das Thema aufgenommen haben. Ich habe einen Antrag der Behindertenbewegung eingebracht, welcher zum Inhalt hatte, daß im Sozialministerium eine Arbeitsgruppe geschaffen wird, die diesen Bereich unter Mitarbeit der Betroffenen diskutiert und Lösungen vorschlägt. Dieser Antrag wurde erst spät aber doch behandelt. 1988 wurde die Arbeitsgruppe im Parlament beschlossen und gegründet. Diese Arbeitsgruppe war die Basis für die Pflegevorsorge. Das war die parlamentarische Arbeit auf der einen Seite. Auf der anderen Seite habe ich, als Mitglied der kritischen Behindertenbewegung, Aktionen veranstaltet. So gab es eine Mahnwache vor dem Stephansdom, die 2 Wochen dauerte. Danach kam der Hungerstreik, der 10 Tage dauerte, das war November 1990. Erst diese Aktion erzeugte einen Druck der Öffentlichkeit, den die Politiker nicht mehr übersehen konnten. Danach erreichten wir, daß der Bund und die Länder sich an einen Tisch setzten und die Verhandlungen gewissenhaft geführt wurden. Es brauchte aber noch einige Mahnwachen vor dem Ministerium, um die Verhandlungen voranzutreiben. All diese Aktionen waren sehr medienwirksam. Im Grunde waren es aber nur ein paar Leute und eigentlich immer die selben. Weiters wurden zwei große Demonstrationen 1991 und 1992 von der ÖAR organisiert, zu denen sehr viele Menschen gekommen sind.

    Wenn wir diese Dinge nicht alle gemacht hätten, hätten wir unsere Ziele sicher nie erreicht. Auch andere Gruppen wollten sich damals einbringen, wie etwa die Gehörlosen. Sie wurden aber letztlich bewußt ausgeschlossen. Die Forderung, Gehörlose ins Pflegegeld hineinzunehmen, hat der Gehörlosenverband mehrmals an die ÖAR gerichtet. Die ÖAR war damals vom Sozialministerium als Verhandlungspartner eingeladen. Die Interessen der Gehörlosen wurden jedoch von der ÖAR dabei nie wirksam vertreten.

    Flugzettel zum Hungerstreik 1990:

    WIR HUNGERN FÜR GLEICHBEHANDLUNG 14. 11. 1990

    Die Koalition hat sich geeinigt. Es soll ein bundeseinheitliches Gesetz zur Regelung der Pflegevorsorge geben.

    Ein erster Erfolg für uns?!

    Aber:

    - dieses geplante Gesetz lehnt sich an das »Vorarlberger Modell« an - d. h., die Pflegegeldleistungen sind zu gering. Das bedeutet aber, daß Menschen mit stärkerer Behinderung, die auf ein größeres Ausmaß an persönlicher Hilfe angewiesen sind, kaum etwas anderes übrig bleiben wird, als abgeschoben zu werden in ein Pflegeheim.

    - an den Heimen wird auch nicht gerüttelt. Sie sollen weiter bleiben.

    - völlig offen ist auch noch der Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Gesetzes, sicherlich nicht wird es der Beginn des kommenden Jahres sein. BESTEHEN BLEIBT DAHER DER UNTERSCHIED ZWISCHEN KRIEGS- UND ZIVILINVALIDEN!

    BESTEHEN BLEIBT DAHER ZWEIERLEI RECHT!

    Und das, obwohl im Artikel 7 der österreichischen Bundesverfassung steht: Alle Bundebürger sind vor dem Gesetz gleich.

    Dieser sogenannte Gleichheitsgrundsatz gilt aber nicht für uns!!!!!

    Während für Kriegsopfer eine halbwegs zufriedenstellende Lösung existiert, werden wir noch immer in Heime abgeschoben, sind wir derzeit immer noch auf das Hilflosenzuschuß-Almosensystern angewiesen, das irgendwann im Laufe dieser Legislaturperiode endlich durch das oben erwähnte Bundesgesetz ersetzt werden soll.

    Kriegsopfer erhalten ein bedarfsorientiertes »Pflegegeld«, mit dem sie jene persönliche Hilfe bezahlen können, die sie benötigen.

    MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN AN BEHINDERTEN MENSCHEN SIND AN DER TAGESORDNUNG.

    WIR LASSEN UNS DAS NICHT LÄNGER GEFALLEN! WIR KÄMPFEN UM UNSERE RECHTE!!

    Wir fordern:

    - bundeseinheitliche gesetzliche Pflegegeldregelung zumindest nach dem Muster des Kriegsopferversorgungsgesetzes,

    - Pflegegeld in der Höhe der tatsächlichen Kosten sowie - Abschaffung der großen Pflegeheime

    Nachdem wir trotz einer Mahnwache keinerlei konkreten Zusagen auf unsere Forderungen erhalten haben, sind wir nun gezwungen, zu diesem Mittel zu greifen.

    Wir sind fest entschlossen, diesen Hungerstreik so lange durchzuhalten, bis wir von den für unsere Situation politisch Verantwortlichen - Bundeskanzler Vranitzky und Vizekanzler Riegler - die Erfüllung unserer Forderungen zugesagt erhalten.

    Die Schwierigkeit, ein Antidiskriminierungsgesetz durchzusetzen

    Heute sind die Parteien beim Thema Antidiskriminierungsgesetz noch weniger offen als bei der Pflegegelddiskussion. Ich habe das Gefühl, daß das Thema Diskriminierung in Österreich niemanden interessiert, egal um welche benachteiligten Gruppen es sich handelt. Beim Pflegegeld war es vergleichsweise einfach, die Medien zu gewinnen, bei der jetzigen Diskussion ist es viel schwerer, es den Medien schmackhaft zu machen. Es müßte damit beginnen, daß sich jeder Betroffene selbst darüber klar wird, wo und wie er diskriminiert wird, was natürlich für jeden einzelnen sehr unangenehm sein kann. Damit stellt sich dann die Frage, ob wir bereit sind, uns mit unserer und der Lage der anderen auseinanderzusetzen. Wenn z. B. große Verbände noch immer Preisermäßigungen auf Bundesbussen fordern, dann muß man sagen, daß es sich dabei um die falsche Forderung handelt. Denn es müßte heißen: Ich will in - den Bus hinein - und nicht eine Ermäßigung, um dennoch nicht in den Bus hinein zu können.

    Der erste wichtige Schritt zum Gesetz ist immerhin getan: Unsere Bewegung hat unter anderem mit Hilfe einer österreichweiten Unterschriftenaktion erreicht, daß das Parlament am 9. Juli 1997 ein Gleichstellungsgebot für behinderte Menschen in der Verfassung beschlossen hat. Als nächsten Schritt haben wir von den Abgeordneten Unterstützung bei der Einrichtung einer Arbeitsgruppe eingefordert, in der Gesetze auf diskriminierende Stellen abgeklopft und diese repariert werden sollen.

    Die Arbeitsgruppe wurde im Jänner 1998 installiert und hat begonnen, die von uns vorgelegten etwa 4 Dutzend diskriminierenden Gesetzesstellen zu überprüfen. Die Ministerien zeigen sich dabei recht desinteressiert; es wird also wieder einmal an uns liegen, inhaltlich und politisch Druck zu machen.[2]

    Die Zeit der Pioniere. Ein Erfahrungsbericht- Von Bernadette Feuerstein

    Mein erster Kontakt zur Behindertenbewegung

    In der Behindertenbewegung bin ich seit ca. 1981, dem Jahr der Behinderten, aktiv. Es hat sicher davor schon eine Behindertenbewegung gegeben, nur war ich davor nie mit anderen behinderten Menschen in Kontakt. Ich war sozusagen das Gegenteil von einem Sonderschulfall. Da ich in eine Regelschule gegangen bin, hatte ich keinen Kontakt zu anderen körperbehinderten Menschen. Durch meinen Vater, der sich als Architekt mit der Behindertensituation beschäftigte, bekam ich am Rande einiges mit. Doch erst mit 22 Jahren, als ich schon studierte, begann ich mich selbst dafür zu interessieren. Es war damals eine Aktion gegen die Behindertenfeindlichkeit der U-Bahn, vielleicht war es eine Gegenaktion zu den Feierlichkeiten im Jahr der Behinderten, aber so genau weiß ich das nicht mehr. Dort bekam ich Kontakt zu ein paar anderen RollstuhlfahrerInnen, lernte unter anderen auch Kurt Schneider kennen. Durch ihn kam ich in die Szene, und durch ihn wiederum lernte ich z. B. Traude Fenzl und Erwin Hauser kennen, die alle heute kaum mehr in Erscheinung treten.

    Wir waren eine lose zusammengewürfelte Gruppe, die sich mit dem Thema »Behinderung« auf verschiedene Weise auseinandergesetzt hat.

    Es gab damals auch ein paar ganz gute Aktionen.

    Im Ateliertheater z. B. gab es ein Stück mit einem Behinderten, das Kurt sehen wollte. Wegen des Veranstaltungsgesetzes hat man ihn aber nicht ins Theater gelassen, daraufhin haben wir die nächste Veranstaltung blockiert, das war 1983.

    Protestbrief ans Ateliertheater von 1983:

    Kurt Schneider

    Blumengasse 21/6

    1170 Wien

    Wien, am 11. 4. 1983

    An die

    Direktion des

    Ateliertheaters

    c/o Hr. Dr. Peter Janisch

    Linke Wienzeile 4

    1060 Wien

    Betrifft: Theaterdirektor des Ateliertheater verweigert am Samstag, dem 26. März, einem Rollstuhlfahrer den Zutritt in ein Kellertheater aufgrund feuerpolizeilicher Vorschriften; gezeigt wurde »Sepp« von Herwig Kaiser. Inhalt: Ein im Rollstuhl sitzender Krüppel setzt sich mit sich und seiner Umwelt auseinander.

    Dieses Schreiben soll informieren und vor allem aufzeigen, wie - trotz allseits propagierter Aussagen, Programme, Studien, Gesetze etc. über die Notwendigkeit der Integration von Behinderten in die »normale« Umwelt - diese Integration in der Praxis realisiert wird.

    Aufgrund ähnlicher früherer Erfahrungen fürchte ich, bereits jetzt schon abschätzen zu können, welche Reaktionen auf den Brief folgen werden: Viele werden schweigen, kaum jemand wird betroffen sein (außer den Betroffenen selbst), wenige werden dieses Thema aufgreifen und veröffentlichen, und einige werden vielleicht antworten. Und in diesen Antwortschreiben wird sinngemäß zu lesen sein: »Wir versichern Ihnen, daß wir diese Problematik kennen und Ihnen vollstes Verständnis und Interesse entgegenbringen. Wir bedauern aber, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir aufgrund dieser und jener Gegebenheit außerstande sind, etwas zu tun.« Anhand dieses Konfliktes zeigen sich zwei grundsätzlich verschiedene Interessenslagen: Einerseits die integrationsfeindlichen feuerpolizeilichen Vorschriften, die die Handlung des Hr. Janisch legitimieren, und anderseits das Bedürfnis und das Recht der Betroffenen - in diesem Fall also der Behinderten -, am kulturellen Leben teilzunehmen.

    An sich ist zu begrüßen, daß sich ein Autor mit der Thematik »Leben als Krüppel« auseinandersetzt und daß ein solches Stück auch aufgeführt wird. Im Programmheft betont der Autor seine Absicht, nicht »... aus der Geschichte Kapital auf Kosten des Betroffenen zu schlagen ... « Da hier aber über und nicht mit Behinderten Theater gemacht, und nicht einmal versucht wurde, das Stück den Betroffenen zugänglich zu machen, kam es eben zu dieser ursprünglich nicht gewünschten Vermarktung.

    Hr. Dr. Janisch, Theaterdirektor, Regisseur und Darsteller in diesem Stück, begründet den Ausschluß rollstuhlfahrender Zuseher unter anderem damit, daß es »kein Stück für Behinderte, sondern für die anderen (gemeint sind die Nichtbehinderten) sei, damit diese ein Bewußtsein bekommen«. Es wird also wieder einmal um Bewußtsein (wofür? wovon?) geworben, diesmal nicht unter dem Mantel des Mitleids (wie z. B. bei Spendenaktionen), sondern unter dem Mantel fortschrittlichen Denkens: progressives Kellertheater führt progressives Stück über Krüppel auf.

    Der entmündigende, diskriminierende Charakter dieser Situation wird deutlich, wenn ich Rollstuhlfahrer hier vergleichsweise durch eine andere unterdrückte Gruppe ersetze: Stellen Sie sich vor, daß bei der Aufführung eines Stückes über Antisemitismus von vornherein jedem Juden der Eintritt ins Theater verweigert wird.

    Wie wenig der Theaterdirektor selbst bereit ist sich in der Realität mit einem Krüppel zu konfrontieren bzw. sich mit einer solchen Konfrontation auseinanderzusetzen, drückte er in seinem Verhalten mir gegenüber deutlich aus: als ich ihm nämlich ankündigte, daß seine Weigerung, mich zu diesem Stück als Zuschauer zuzulassen, Konsequenzen haben werde, ging er sofort ohne zu hinterfragen, was für Konsequenzen das seien, mit den Worten »Wenn Sie mir drohen, dann verlassen Sie sofort mein Theater« die Treppe hinunter. Es war die Treppe, die in den Theatersaal führt die für Rollstuhlfahrer ein allein nicht zu bewältigendes Hindernis darstellt dessen Bewältigung gemeinsam mit Begleitpersonen zwar möglich wäre, aber verboten ist.

    Ich sah Hr. Dr. Janisch nicht wieder, obwohl ich mich noch längere Zeit beim Theatereingang aufhielt, da für mich das Gespräch keineswegs beendet war: eine klassische Verhaltensweise, sich der vielzitierten Integration durch Flucht zu entziehen.

    Auf dem Titelblatt des Programmheftes zu diesem Stück ist absurderweise das stilisierte Rollstuhlfahrerzeichen abgebildet: das internationale Symbol für Rollstuhlzugänglichkeit.

    Aufgrund dieser oben geschilderten Ereignisse möchte ich nun meine Kritik ausdrücken:

    - gegenüber dem Autor, der zuließ, daß bei der Realisierung und Umsetzung seines Stückes genau das geschehen ist, was er vermeiden wollte: es wurde Kapital auf Kosten der Betroffenen geschlagen. (Auch der Mann, dessen Lebensgeschichte rekonstruiert wurde, wird unter diesen Umständen zur Aufführung nie Stellung nehmen können, da er als Rollstuhlfahrer ebenfalls ein Ausgeschlossener ist).

    - gegenüber dem Ensemble des Ateliertheaters, das ein Stück über Behinderte inszeniert und aufführt, ohne Bedingungen zu schaffen, unter denen eine Auseinandersetzung mit Betroffenen möglich ist und dadurch »den Behinderten« wieder zum Objekt und damit unglaubwürdig macht.

    -gegenüber den Subventionsgebern, dem Bundesministerium für Unterricht und Kunst und der Stadt Wien, die all das ermöglichen, ohne darauf zu achten, daß das Stück auch für Rollstuhlfahrer zugänglich wird.

    Auch zu dieser Situation paßt ein Zitat aus dem Programmheft: »... nur denkbar in einer Gesellschaft wie der unseren, die auch durch die Ausrufung eines >Jahres der Behinderten< nur in ihrer Tendenz bestärkt wurde, das Lippenbekenntnis zum tragenden Element der Auseinandersetzung mit den betroffenen Menschen zu erheben«.

    Meine Erfahrung zeigt, daß auch solche engagiert wirkende Kritik selbst zum Lippenbekenntnis wird.

    Hochachtungsvoll

    Unser Argument war, wenn Nichtbehinderte uns davon abhalten, ein Stück über Behinderte anzuschauen, dann können wir Behinderte sie davon abhalten, ein Stück über Nichtbehinderte anzuschauen. So versperrten wir (zumindest vorübergehend) den Nichtbehinderten den Zutritt zur nächsten Premiere.

    Die Reaktionen waren erstaunlich positiv, auch in den Medien. Schon im voraus hat der damalige Kulturstadtrat, Helmut Zilk, großen Druck auf uns ausgeübt wegen der Theater-Blockaden. Er hat mir auch angedroht, daß mein Vater wegen meines Verhaltens nie wieder Aufträge von der Gemeinde bekommen wird. Meinen Vater hat das aber nicht sehr getroffen, da er sowieso fast nie Aufträge von der Gemeinde bekam. Mein Vater hat mich bei diesen Aktionen eigentlich immer unterstützt, ich habe auch öfters bei ihm mitgearbeitet.

    Weiters haben 1983 McDonalds und die Kronen Zeitung eine Aktion gestartet, um Geld für den »Sonnenzug« zu sammeln. Daraufhin haben wir durch Flugzettel und Protestaktionen versucht ein anderes Bewußtsein zu schaffen. Es gab zwar auch hier ein (geringes) Medieninteresse, aber keinen Erfolg. Ich glaube, der Sonnenzug fährt noch immer.

    Aktionen gegen den Sonnenzug, McDonalds und die Kronen Zeitung

    Flugzettel aus dem Jahr 1983:

    McDonalds, Sonnenzug und Kronenzeitung haben sich unter der Organisation der PR-Agentur Dr. Bergan & Dr. Ruscher zu einer Aktion der Nächstenliebe zusammengefunden.

    Wie sieht diese Nächstenliebe aus????

    Von 2.-5. Juni 1983 werden Behinderte mit der Österreichischen Bundesbahn kreuz und quer durch Österreich geführt In jeder größeren Stadt gibts Blumen, Blasmusik und Würstel. Der Bürgermeister versichert sich bei der Gelegenheit gleich der Dankbarkeit der Behinderten. Selbstverständlich müssen sich die Bedürfnisse der Reisenden einem klaglosen Ablauf des Geschehens unterordnen (bekanntlich kann man sich in einem Zug kaum bewegen.)

    Aber nett sind sie ja doch, vor allem, wenn man sie nur durch ein Zugfenster betrachten muß. Und die Abscheulichkeit ihrer Behinderung befindet sich in gleicher Distanz zum Betrachter wie der Gestank der Affen hinter Zoogittern.

    ... Und weiterhin können fast 50 % der Österreicher es ablehnen, mit den behinderten Menschen den Arbeitsplatz zu teilen.

    So haben alle etwas davon:

    - die Prominenten ihr Image

    - die PR-Agentur ihren Auftrag

    - die KRONE macht wieder mal Meinung

    - McDonalds seine Umsatzsteigerung und kostenlose Werbung ... und die Krüppel??? ... IHR GHETTO!!!

    Wir danken für die Anteilnahme und bitten von Blumenspenden anzusehen.

    Wir waren damals kein Verein, aber es gab die Idee, einen mobilen Hilfsdienst für Wien zu gründen. Diese Initiative begann ca. 1983 und endete ca. 1988. Als es den Versuch gab, IMOHI (Initiative Mobiler Hilfsdienst) Wien zu gründen, fanden schon die Abtsdorf-Treffen statt. Das waren ursprünglich, nach meiner Erinnerung, Treffen der Mobilen Hilfsdienste aus den verschiedenen Bundesländern, wo die MOHls damals schon ganz gut funktioniert haben. Natürlich wollten wir so eine individuelle, flexible Betreuung auch für Wien haben. Wir haben ein Konzept entwickelt, das wir an verschiedene Politiker verschickten, allerdings war das Echo schwach. In Wien gab es ja auch damals schon Heimhilfe und Besuchsdienste, wahrscheinlich meinten viele, daß schon genug gemacht worden ist. Im Bewußtsein der Leute hat sich leider nicht viel geändert. Es gibt noch immer welche, die nicht verstehen, worum es geht.

    Die IMOHI Gruppe hat sich mit der Zeit aufgelöst, danach kam der Verein Junge Panther, der unser Konzept teilweise übernommen und weiterentwickelt hat.

    Konzept für das Projekt IMOHI Wien:

    Betrifft: Mobile Hilfsdienste

    Ausgehend von den Erfahrungen, die in den Bundesländern (Innsbruck, Salzburg, Linz, Vöcklabruck) mit der Organisation von mobilen Hilfsdiensten »rund um die Uhr« gemacht wurden, erscheint uns eine entsprechende Einrichtung auch in Wien als Alternative zu Heimen und Ergänzung zu bisher angebotenen Hilfsdiensten erforderlich.

    Die bereits bestehenden mobilen Hilfsdienste werden von privaten Trägervereinen - bestehend sowohl aus Personen, die die Dienste in Anspruch nehmen, als auch aus Mitarbeitern der Hilfsdienste - in Zusammenarbeit mit den Landesregierungen organisiert.

    Wir glauben nicht, daß ein solches Konzept auf die Stadt Wien übertragbar wäre. Es erschiene uns aber möglich, die bestehenden sozialen Dienste so umzustruktarieren, daß sie den Grundkonzepten mobiler Hilfsdienste entsprechen.

    Diese Grundkonzeption basiert auf folgenden Richtlinien:

    - Mobile Hilfsdienste sollen allen Menschen mit Pflegebedarf ungeachtet ihres Alters und des Schweregrades ihrer Immobilität zur Verfügung stehen. - Die Hilfeleistungen werden von nichtprofessionellen Helfern durchgeführt, die Person, die Hilfe benötigt, bleibt Expertin oder Experte in eigener Sache und übernimmt im wesentlichen die Helferanleitung.

    - Mobile Hilfsdienste werden grundsätzlich zu jeder Tages und Nachtzeit angeboten.

    Art der Hilfeleistung:

    • Praktische Hilfen wie z. B.: Begleiten, Hilfe im Haushalt, Vorlesen etc.

    • Pflegerische Hilfen wie zum Beispiel: beim Waschen, Anziehen, auf die Toilette gehen etc.

    • Hilfen im Bereich sozialer Interaktion und Kommunikation, wie: Be¬gleitung zu Veranstaltungen, Besuch bei Freunden etc.

    Zielsetzungen:

    • Ermöglichung des Lebens außerhalb eines Heimes durch individuelle ambulante Betreuung

    • Integration in Schule, Ausbildung und Beruf durch Begleitung und praktische Hilfestellung

    • Ermöglichung der Teilnahme an allen Bereichen öffentlichen Lebens

    Die sozialen Dienste der Stadt Wien sind derzeit unzureichend organisiert, da sie

    - nur wenige Stunden täglich angeboten werden

    - nachts nicht zur Verfügung stehen

    - nur für bestimmte Dienstleistungen angeboten werden und daher nicht alle Lebensbereiche abdecken.

    Sie sind daher für pflegebedürftige Menschen keine Alternative zu Heimaufenthalten, was zur Folge hat daß derzeit mehr Menschen Anträge auf Heimunterbringung stehen als in Wien Pflegeheimplätze zur Verfügung stehen.

    Dies zeigt sich unter anderem darin, daß die internen Stationen der Spitäler mit pflegebedürftigen Patienten belegt sind, wo sie, mangels ausreichender ambulanter Hilfsdienste, auf Pflegeheimplätze warten müssen. Die Pflegeheimplätze sind zudem teuer und, da das Leben im Heim für die Betroffenen einen Verlust ihrer persönlichen Freiheit mit sich bringt, inhuman.

    Aus all diesen Gründen hat sich die »Initiative mobiler Hilfsdienst Wien« konstituiert und schlägt den Ausbau der sozialen Dienste der Stadt Wien nach dem Konzept mobiler Hilfsdienste vor, um eine echte Alternative zur Heimunterbringung pflegebedürftiger Menschen zu schaffen.

    Für die IMOHI(Initiative mobiler Hilfsdienst) Wien

    Bernadette Feuerstein e. h.

    Erwin Hauser e. h.

    Anna Maria Hosenseidl e. h.

    Kurt Schneider e. h.

    Christine Speigner e. h.

    Aus dem Bedürfnis nach individueller, flexibler Betreuung ist auch die Idee für ein Pflegegeld entstanden, das den Betroffenen ermöglicht, sich selbst die nötige Hilfeleistungen zu finanzieren und zu organisieren. Für mich war die Idee nicht so neu, da ich schon damals mit der Unterstützung von persönlicher Assistenz gelebt habe. Die Problematik wurde schon sehr lange diskutiert, es war auch in der politischen Diskussion, nur ist nie etwas passiert. In Abtsdorf, wo weiterhin regelmäßige Treffen der verschiedenen Initiativen stattfanden, wurde dann beschlossen, einen Hungerstreik zu machen, nachdem andere Aktionen wie ein »Besuch« bei der Stadträtin Frau Smejkal ohne Erfolg blieben.

    Die nächste große Aktion war dann der Hungerstreik für ein Pflegegeld.

    Am 14. 11. 1990 wurde mit dem Hungerstreik im Parlament begonnen. Da war Manfred Srb bereits im Parlament und hat uns so sehr behilflich sein können. Er und Annemarie waren ja maßgeblich beteiligt daran. Das waren schon heroische Tage, mit Schlafsäcken und heißem Tee in der saukalten Säulenhalle des Parlaments. Tagelange Hochspannung, ob die Aktion nicht doch zwangsweise beendet werden wird. Am 26. 11. 1990 wurde der Hungerstreik ausgesetzt. - Und immerhin: Heute gibt es ein Pflegegeld.

    Gibt es eine österreichische Behindertenbewegung?

    Es ist die Frage, was man überhaupt unter Behindertenbewegung versteht. Es gab und gibt immer wieder Aktionen, und die sind auch sehr wichtig neben der politischen »Alltagsarbeit«. Aber es sind doch immer nur ein paar Leute; es ist nie gelungen, viele Leute zu aktivieren. Die paar, die sich einsetzen, verlieren irgendwann die Kraft, dann kommen eben wieder ein paar Neue nach. Aber die Form einer kontinuierlichen Bewegung, wie es sie in den USA oder der BRD gibt oder gegeben hat, findet sich bei uns nicht. Im Moment habe ich auch das Gefühl, daß sich die Menschen mehr auf sich selbst konzentrieren und sich zurückziehen, als sich um Probleme anderer zu kümmern.

    Aber trotzdem kann man sagen, die Dinge, die passiert sind (z. B. Pflegegeld, Schulintegration, Verfassungsänderung), sind nur durch die Arbeit und durch den Druck der Betroffenen entstanden.

    Immerhin gibt es seit mehr als 15 Jahren (oder sind es schon 20?) regelmäßige gesamtösterreichische Treffen und Zusammenarbeit. Aus diesen Treffen der SLIÖ (Selbstbestimmt-Leben-Initiativen Österreichs) sind die wichtigsten Fortschritte entstanden und kommen immer wieder neue Impulse.

    Die Zivil-Invaliden, eine österreichische Institution-Von Annemarie Siegel

    Der Anfang: Aus den »Krüppeln« werden Zivilinvalide

    Der emigrierte Wiener jüdischer Herkunft Ernst Kohn kam 1948 aus seinem chinesischen Exil zurück und gründete nach chinesischem Muster mit einigen Freunden, u. a. Ing. Johann Polkorab, den (Wiener) Krüppelverband, um Leidensgenossen an Vereinsabenden zu einer warmen Mahlzeit zu verhelfen bzw. Zukunftsperspektiven für sie zu finden.

    Nebenbei gründete der Wiener Krüppelverband einen Vorläufer der heutigen »Geschützten Werkstätten«. Mit Auftragsarbeiten wurde vielen dort Arbeitenden das Überleben gesichert. Leider war dem Projekt durch Auftragsmangel nur ein kurzes Leben beschieden.

    Der Verein als solcher hielt sich durch Bettelaktionen über Wasser. Die aktiven Mitglieder verdienten sich beim Adressenschreiben ein kleines Zubrot, andere halfen bei Kuvertieren und Versand und erhielten auf diese Weise ein kleines Taschengeld. Diese Zusammenarbeit bewirkte Aufbruchsstimmung, was nach dem Krieg sicher notwendig war.

    Zeitgleich entstand in Oberösterreich eine ähnliche Initiative, nur mit modernerer Bezeichnung. Der Körperbehindertenverband wurde 1948 gegründet, und 1962 konnte voll Stolz - nach langwierigen Verhandlungen - auf den fusionierten Krüppelverband und Körperbehindertenverband als Zivilinvalidenverband verwiesen werden, um sich deutlich gegen den Kriegsopferverband abzugrenzen. Man orientierte sich an den Errungenschaften des Kriegsopfergesetzes und erstellte Programme, um die gleichen Versorgungsleistungen politisch durchzusetzen.

    Im Laufe der darauffolgenden Jahre entstanden in den Bundesländern die ÖZIV-Landesgruppen und 75 Bezirksgruppen und viele Ortsgruppen. Im Gegensatz zu den westlichen Bundesländern war die Funktionärsriege im Wiener ÖZIV bald überaltert, junge behinderte Mitglieder gründeten andere Vereine, weil die Chance, aktiv ihre Ideen einzubringen bzw. zu verwirklichen, gleich Null war.

    So entstand unter anderem der Club Handikap, dessen innovative Idee eines Fahrtendienstes für behinderte Menschen in Wien (aber auch für ganz Österreich) revolutionär war. Die Schwierigkeiten, junge Mitglieder zur Mitarbeit zu gewinnen, haben in den letzten Jahren eher zugenommen, ganz gleich, welches Bundesland man beleuchtet.

    Auch das Verständnis für einander - immer wieder wurde darauf verwiesen, daß man nicht geistig behindert sei - wuchs erst im Laufe der letzten Jahrzehnte. Obwohl »Integration« ein geflügeltes Wort war, durften aus Kostengründen Rollstuhlfahrerfinnen an Ausflügen nicht teilnehmen. Als der schwerstbehinderte Generalanwalt Dr. Karl Marschall im Jahr 1984 zum Verbandspräsidenten gewählt wurde, stiegen auch die Reisekosten um ein Vielfaches an, und 1987 - sein Todesjahr - wollte der Vorstand nur einen möglichst mobilen Verbandspräsidenten, den die Bundeszentrale in dem 40-jährigen Gerichtsvorsteher Dr. Klaus Voget auch gefunden hatte.

    Die Bestrebungen, in den Bundesländern Fuß zu fassen, waren von Erfolg gekrönt. Die letzte Gründung erfolgte in Niederösterreich und im Burgenland, aber in beiden gab und gibt es Strukturmängel, die in den nächsten Jahren behoben werden sollen.

    Neben der reinen Vereinsarbeit und dem Kampf gegen Isolierung und Einsamkeit sowie Geldbeschaffung und organisierte Freizeitgestaltung der behinderten Mitglieder agierten alle neun Landesgruppen als Interessenvertreter. Diesen kontinuierlichen Bemühungen, die alljährlich in den Weltinvalidentagen ihren Niederschlag fanden, verdankt Österreich so manche soziale Errungenschaft wie doppelte Kinderbeihilfe, verbesserte Sozialhilfegesetze, verbesserte Bauordnungen, geschützte Werkstätten und Beratungsstellen für behinderte Menschen, aber vor allem das Bundespflegegeldgesetz und die daraus resultierenden Landespflegegeldgesetze.

    Der Kampf um Fahrpreisermäßigung, Verbandsgeld und Pflegegeld

    Der Herbst 1984 brachte in die starren Vereinstraditionen erste Einbrüche. Die Bundeszentrale wurde als Dachorganisation gegründet und nach Wien verlegt, und ein Nicht-Vorstandsmitglied - Herr Hans Aicher aus - wurde dank meiner Initiative zu einer Zentralvorstandssitzung eingeladen, wo er seine Vorstellungen, wie Zivil-Behinderten effektiv geholfen werden kann, darlegte. Die Pflegegeldidee war geboren. Die anwesende Frau Dr. Dorothea Wiesenberger nahm den Ball auf und schlug eine Unterschriftenaktion vor, die ausschließlich vom Österreichischen Zivil-Invalidenverband und seinen Funktionären/innen - ohne Unterstützung anderer Organisationen - durchgeführt wurde.

    Am 17. 4. 1987 wurden beinahe 64.000 Unterschriften an Abg. z. NR Dr. Helene Partik-Pablè, die zu dem damaligen Zeitpunkt Sektionsmitglied war, übergeben. Der formale Weg eines werdenden Gesetzes nahm seinen Lauf.

    Was mich als ÖZIV-Angestellte besonders stolz macht, ist die Tatsache, daß ausschließlich behinderte Menschen, aber vor allem ÖZIV-Mitglieder und Funktionäre/innen unter schwierigsten Umständen diese 64.000 Unterschriften gesammelt haben.

    Nur drei Punkte waren in der Petition formuliert, und alle basierten auf dem Gleichheitsgedanken. Wie die Kriegsopfer wollte man die Fahrpreisermäßigung auf den ÖBB, wie die Kriegsopfer wollte man als Interessenvertretung anerkannt werden und die Finanzierung des Verbandes erreichen, und wie für die Kriegsopfer sollte eine Vorsorge für pflegebedürftige Menschen gefunden werden.

    Anfänglich unterstützte uns keine der Behindertenorganisationen, aber langsam entwickelte sich durch viel Kommunikation und Aufklärungsarbeit ein Schneeballeffekt, und auch Politiker ließen sich von dem Gedanken einer Pflegevorsorge überzeugen. Besondere Unterstützung wurde uns durch den Nationalratsabgeordneten Dr. Gottfried Feurstein zuteil.

    Die Realisierung der Vergünstigung für die Eisenbahn erfolgte relativ schnell, da es für Senioren bereits die Halbpreiskarte gab, aber die Verhandlungen zum Thema Pflegegeldvorsorge zogen sich hin, und dank Dr. Klaus Vogets großartigem Verhandlungsgeschick und Manfred Srbs Aktionseinfällen bzw. der beiden Behindertendemos konnte »schon« im Jahr 1993 auf das Jahrhundertgesetz verwiesen werden.

    Freilich, daß hauptsächlich der umfunktionierte Hilflosenzuschuß die Basis vom Pflegegeldzuschuß wurde, war sehr enttäuschend. Und daß die Budgetsanierung im Zuge des EU-Beitritts auf dem Rücken behinderter Menschen ausgetragen wurde - die Schlagzeilen in den Printmedien waren unglaublich frustrierend - und der Zugang zur 1. Pflegegeldstufe einem Hürdenlauf gleichkommt, läßt Schlimmes befürchten, tut aber der Leistung als solcher, nämlich das Gesetz bewirkt zu haben, keinen Abbruch.

    Am wirkungsvollsten erwiesen sich beim Werdegang des Pflegegeldes die beiden Behindertendemonstrationen. Zur Demo in der Himmelpfortgasse kamen allein aus den ÖZIV-Landesgruppen über 800 und zur Demo am Ballhausplatz mehr als 700 Personen. Der Blindenverband erbrachte eine ähnliche Leistung.

    Die langsamen Veränderungen im Verband

    Etliche Erfolge auf dem Sektor Behindertenpolitik bewirkten, daß selbst alte Mitglieder wieder flexibler, selbstbewußter und aktiver wurden. Neue Mitglieder wurden gefunden, die die Erneuerung des Vereins bemerkten. Die reine Verbandsarbeit war - und ist es noch immer - vorrangig, denn schließlich suchen unsere Mitglieder Ablenkung aus ihrer Isolation, suchen Gleichgesinnte und Freunde und vor allem Antworten auf ihre Fragen, die sie in unseren Landesbüros - servicefreundlich, wie der ÖZIV ist - auch bekommen.

    Obwohl immer wieder die Weihnachtsfeiern ein wenig belächelt werden, sollte bedacht werden - und man überzeuge sich selbst -, daß viele Menschen keinen anderen Höhepunkt in ihrem Jahresablauf haben als die vom ÖZIV organisierten Krampuskränzchen, Weihnachtsfeiern, Faschingsfeste usw. Diese Feste können auch für Politikerkontakte genutzt werden.

    Beachtenwert ist die Flexibilität der ÖZIV-Angestellten. Die wichtigste Eigenschaft, etwas verändern zu wollen, findet sich bei allen ÖZIV-Angestellten. Mir selbst gelang es z. B., einige junge Leute in Wien zu gewinnen, die unser Junges Forum gründeten. Leider fanden sie nicht das nötige Echo innerhalb des ÖZIV und gründeten BIZEPS. Trotzdem finden sich junge Leute, die innerhalb des ÖZIV langsam eine Trendwende bewirken.

    Die Trendwende ist unter anderem auch hinsichtlich der Eigeninitiative festzustellen. Die Bundeszentrale bemüht sich, als Unternehmer aufzutreten und sich selbst zu helfen. Die im Vorjahr veranstaltete erste Lotterie war der Anfang, und die bereits eröffneten Sportwettbüros sind die Fortsetzung eines absolut neuen Trends. Denn der dritte Punkt der Resolution, nämlich die Finanzierung aller Behindertenorganisationen, wurde - um mit Nestroy zu sprechen - nicht einmal ignoriert.

    Die ÖAR: Alle unter ein Dach bringen-Von Heinrich Schmid

    Präludium: Am Anfang war ich - und eine Idee

    Ich wurde eingeladen, die Entstehung der ÖAR als Dachorganisation der österreichischen Behindertenorganisationen zu schildern. Dem komme ich gerne nach, möchte aber vorausschicken, daß ich - trotz aller »Ich-bezogener Schilderung« - sehr wohl weiß, daß wir Menschen sozial und historisch bestimmte Wesen sind. D. h., es kann keiner allein etwas Wesentliches erreichen, und selbst mehrere können nicht zu jeder beliebigen Zeit ihr Denken und Wollen umsetzen. Noch so gute Ideen bleiben im verborgenen, wenn man sie nicht zur rechten Zeit äußert oder nicht bereit ist, selber etwas zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Und auch ein Quentchen Zufall und Glück spielen mit.

    Nach dem Ausheilen einer mir in der Gefangenschaft zugezogenen Lungenerkrankung wurde ich auf Kosten des LIA (Landesinvalidenamt - heute Bundessozialamt) zum Sozialarbeiter ausgebildet. Da anfangs der 50er Jahre die Situation am Arbeitsmarkt, insbesondere für behinderte Menschen, außerordentlich trist war, dauerte es immerhin zwei Jahre, bis ich eine meiner Ausbildung entsprechende Arbeit fand; ich kam im November 54 in die Berufsfürsorge der AUVA.

    In meiner Arbeit als Berufsfürsorger versuchte ich den Frust, den ich als »Rehabilitand« erlebt hatte, verbunden mit den Inhalten meiner Ausbildung, zu einem für meine Klienten fruchtbaren Tun umzusetzen.

    Vor allem entsetzten mich das Unverständnis und die Gleichgültigkeit meiner ehemaligen »Betreuer«, die leichtfertigen Versprechen und Ausflüchte, gepaart mit wohlwollender Herablassung, wie sie uns gegenüber angewandt wurde, wohl um ihr institutionelles Unvermögen zu tarnen.

    Bei einer der ersten Teamberatungen, an der ich als Berufsfürsorger teilnahm, gestand mir mein ehemaliger Berufsberater und nunmehriger Kollege, wie ratlos er war, als ich bei ihm als Arbeitsuchender auftauchte.

    Es ist einmal so, innerhalb eines normativ gesteuerten Verwaltungsapparates kann man nur im Rahmen vorgegebener Leistungskataloge und unter Bedachtnahme auf die bestehende Hierarchie arbeiten, d. h. eine umfassende Sozialarbeit ist hier kaum möglich. Das dürfte auch der Grund sein, warum Sozialarbeit in sensiblen Bereichen, wie Bewährungshilfe und Sachwalterschaft, in Vereinen und nicht in den eigentlich zuständigen Behörden durchgeführt wird.

    Ich bekam erhebliche Schwierigkeiten, als ich als kleiner Berufsfürsorger extemporierte und auf Anstaltspapier dem damaligen Unterrichtsminister schrieb, er möge sich für eine meiner Klientinnen verwenden.

    1957 arbeitete ich einige Monate im RZ Tobelbad, dem damals einzigen Zentrum, in dem Querschnittgelähmte rehabilitiert wurden. Beeindruckt von dem hier herrschendem Arbeitsklima blieb ich mit einigen Leuten in Verbindung und wurde schließlich von Funktionären des hier gegründeten Verbandes der Querschnittgelähmten (VQÖ) eingeladen, als Sozialreferent mitzuarbeiten. Nach einigem Zögern wegen eines möglichen Kompetenzkonfliktes sagte ich zu.

    Nun hatte ich das für den österreichischen Amtsverkehr unabdingbare Instrument: ein Briefpapier mit einem ausdrucksvollen »Kopf« und - was für die weitere Entwicklung noch wichtiger war - ich fand zwei Freunde und Partner, Heinz Schneider und Alfred Turnovsky.

    Wir merkten bald, daß der VQÖ allein die Situation behinderter Menschen in Österreich wohl etwas beeinflussen, aber nicht grundlegend verändern kann. Auch Politiker sagten uns, es sei nicht zielführend, wenn Rollstuhlfahrer, Blinde, Gehörlose und viele andere Gruppen nacheinander zu ihnen kämen, um im Grunde Gleichartiges zu fordern.

    Aus dem Ende einer Fachorganisation wurde der Beginn einer Dachorganisation

    Wir veranstalteten 1973 parallel zum IV. Internationalen Sportfest des VQÖ in Strebersdorf den 1. Kongreß für Sozialarbeit und Rehabilitation. In der Abschlußresolution, dem »Strebersdorfer Programm«, luden wir die österreichischen Behindertenverbände ein, der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (ÖAR), einer damals in Auflösung befindlichen Fachorganisation, beizutreten und diese zur Dachorganisation umzubauen. Zwei Jahre später, am 12. 12. 1975, war es dann soweit, mit drei anderen Verbänden (Club Handikap, MS-Gesellschaft, Verein zugunsten körperbehinderter Kinder u. Jugendlicher) trat der VQÖ der ÖAR bei. Wir wählten Dr. Michael Neider zum Präsidenten und Heinz Schneider zum Generalsekretär.

    Es dauerte nicht lange, und die großen Verbände schlossen sich uns an. Heute, fast 25 Jahre danach, umfaßt die ÖAR insgesamt 78 Mitgliedsverbände, davon sind 50 ordentliche, 17 außerordentliche, 4 fördernde Mitglieder und 7 Partner.

    In den Statuten legten wir fest, daß die ÖAR eine Organisation der behinderter Menschen ist. D. h., nur solche Vereinigungen können ordentliches Mitglied werden, bei denen behinderte Menschen, bzw. deren Vertreter, das Sagen haben.

    »Partner« sind jene Verbände, die eine Mitgliedschaft anstreben, vorerst aber die ÖAR kennenlernen wollen.

    Durch diese beiden Gruppen sind heute etwa 400.000 behinderte Menschen in der ÖAR organisiert.

    Alle anderen Organisationen können, je nach ihrer Nähe, zur Problemstellung entweder außerordentliches oder förderndes Mitglied werden, ihre Vertreter haben kein aktives Stimmrecht. Sie können aber, da wir Integration ernst nehmen und nicht als Einbahn sehen, zu Funktionsinhabern gewählt werden.

    Die Lage behinderter Menschen zu verbessern bedeutet für uns:

    dafür zu sorgen, daß die besonderen Bedürfnisse behinderter Menschen entsprechend befriedigt werden und jeder von ihnen vorbehaltlos in die Gesellschaft integriert wird.

    Es ist weiters den sogenannten Helfern klarzumachen, daß auch sie kein absolut autonomes Leben führen und ebenso wie Behinderte auf die Mitarbeit und die Dienstleistungen anderer Berufsträger angewiesen sind.

    Es war daher nicht gefragt, linear höhere Transferleistungen zu ergattern, sondern gezielt den Bedürfnissen entsprechende Dienst-, Geld- und/oder Sachleistungen zu erwirken.

    Weiter war es notwendig, um eine echte Integration zu erreichen, Scheu vor dem Abweichenden abzubauen.

    Der Dachverband etabliert sich

    Um unseren Gedankengängen eine breitere Öffentlichkeit und uns ge¬eignete Mitstreiter zu verschaffen, führten wir die vom VQÖ begonnenen Kongresse bis 1987 in Strebersdorf fort.

    Die Veranstaltungen waren jeweils einem bestimmten Thema zugeordnet, und zwar:

    1977 Hilfsmittel für behinderte Menschen

    1979 Die Rehabilitation und ihre Helfer

    1981 Freizeit und Sport

    1983 Soziale Dienste für behinderte Menschen

    1985 Behinderte Menschen und Massenmedien

    1987 Zukunftsorientierte Sozialpolitik

    Die beiden nächsten Kongresse fanden im Bildungszentrum der Wiener Arbeiterkammer statt:

    1989 Von der Arbeitsunfallversicherung zur allgemeinen Risikenabdeckung und

    1991 Fünf vor zwölf? Das Jahrzehnt der Behinderten geht zu Ende

    Zwischen diesen zweijährigen Intervallen veranstalteten wir nach Bedarf Symposien.

    So faßten wir im Oktober 1984 die bis dahin wahrnehmbaren Ergebnisse der im Jahr der Behinderten versprochenen Absichten zusammen, entwickelten ein neues Programm und wurden vom Bundesministerium für Soziales mit der Nachfolge des 1981 gegründeten Nationalkomitees beauftragt.

    Die Ergebnisse unserer Überlegungen konnten wir am letzten Tag der Veranstaltung Herrn Bundespräsident Dn Kirchschläger überreichen. 1986 veranstalteten wir gemeinsam mit dem BBRZ in Linz ein Symposium zum Thema »Geschützte Arbeit«.

    In diesem Jahr konnten wir, einer Einladung des BP Dr. Kirchschläger folgend, in der Hofburg eine »erweiterte Vorstandssitzung« abhalten.

    1988 widmeten wir unsere Zusammenkunft der »Neuen Sozialpolitik« mit dem kritischen Untertitel »Modell und Wirklichkeit«.

    1990 dachten wir öffentlich über »Rehabilitation und Gesundheitsvorsorge zwischen Gesetz und Praxis« nach.

    Das sind einige Beispiele unserer öffentlichen Veranstaltungen. Die Absicht war, nicht nur ein bestimmtes Anliegen vorzustellen, sondern das Gespräch zwischen den Betroffenen, den Politikern und den Vertretern der Rehabilitationsträgem herbeizuführen. Die Tagungen waren daher meist für einige Tage anberaumt und überwiegend dem Diskurs in den Arbeitsgruppen gewidmet.

    Da »Behindert-Sein« praktisch alle Belange des täglichen Lebens betrifft, suchten wir durch Themenwahl und gezielte Einladungen ein möglichst vielfältiges Publikum zu gewinnen. Durch diese Basisarbeit erleichterten wir unseren Funktionären und Mitarbeitern den politischen Alltag.

    Damit unsere Wünsche und Vorstellungen in bleibende Normen umgesetzt wurden, mußten wir diese in vielen Vorsprachen leitenden Politikern und Spitzenbeamten auf Bundes- und Landesebene näher bringen. Weiters war es notwendig, daß Vertreter der ÖAR bzw. deren angeschlossenen Mitgliedsorganisationen in einschlägigen Gremien aufgenommen wurden.

    Zweifelsohne ist es uns innerhalb der vergangenen 24 Jahre gelungen, die Lebensbedingungen behinderter Menschen in Österreich zu verbessern. Ich möchte hier nur die Bauordnungen, das Antidiskriminierungsgesetz, das Pflegegeld und die Schulintegration erwähnen.

    Weihnachtsspiele: Kakes in der Hofburg und Licht ins Dunkel

    Neben allen aus der Tagespolitik entstehenden Problemen sollte uns die Integration am Herzen liegen. Hier bedarf es noch sehr vieler Arbeit und Geduld. Die Schwierigkeit liegt u. a. darin, daß man sehr viele Menschen, die es gut meinen, lehren muß, daß behinderte Menschen nicht Objekt »guter Taten« sein mögen, sondern gleichwertige Partner. Ich will das an zwei Beispielen aufzeigen:

    1. Der HBP lädt seit einigen Jahren knapp vor Weihnachten einige behinderte Menschen in die Hofburg, bietet ihnen Kakes und ein von namhaften Schauspielern gestaltetes Unterhaltungsprogramm.

    Integrativ hingegen wäre es, wenn er oder andere Spitzenpolitiker zu Festen, an denen Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilnehmen, auch Menschen aus unserem Bereich zu sich bitten würden.

    Auch behinderte Menschen sollten so ernst genommen werden, daß sie von Politikern nur dann eingeladen werden, wenn es um ein gesellschaftliches Ereignis geht oder um ein für diese Gruppe politisch relevantes. Alles andere ist antiquiertes Wohlfahrtsdenken. Die Zeiten, in denen der Potentat - zuletzt Kaiser Franz Josef - armen alten Männern einmal im Jahr die Füße wäscht, sollten doch endgültig vorbei sein.

    Licht ins Dunkel

    Natürlich brauchen wir Geld, natürlich können verschiedene Bedürfnisse behinderter Menschen von gesetzlich verpflichteten Dienststellen gar nicht oder nur zum Teil abgedeckt werden. Aus diesem Grund wurde 1981 der »Nationalfonds« gegründet. Damals hieß es, das Geld sei für gesetzlich nicht abgedeckte Bedürfnisse bestimmt. Da die Privatgelder ausblieben, der Fonds von öffentlichen Stellen ergänzt und von einer Bundesdienststelle verwaltet und die Vergabe vom Bundesministerium für Finanzen überwacht wird, werden heute nur mehr von Rehabilitationsträgem anerkannte, aber von diesen nicht ausfinanzierte Begehren mitgetragen, d. h., die Gelder des Nationalfonds kommen, zumindest zum Teil, den Kostenträgem zugute.

    Wie gesagt, natürlich brauchen wir Geld, auch dieses Geld, und wir sind dafür dankbar. Dennoch, was mich und andere bei der Aufbringung der Mittel so stört, ist die Problemdarstellung: Behindert-Sein wird verniedlicht zur Aufforderung zur permanenten Weihnachtsfeier. Natürlich weiß ich nicht, wie man es besser machen könnte, aber ich und einige andere meinen, man sollte darüber nachdenken.

    Abschließend bin ich der festen Überzeugung, daß es sich gelohnt hat, die ÖAR zu gründen, denn ohne sie hätte sich am »Behinderten-Sektor« all diese Jahre nicht so viel getan.

    Es gehören ihr wohl nicht alle Organisationen behinderter Menschen an, aber das ist ganz gut, denn auch behinderte Menschen sollen frei ihre Vertreter wählen und Funktionären gegenüber kritisch sein können. Man spricht ja heute vielfach von der Notwendigkeit eines gesunden Konkurrenzkampfes, und warum sollte dieser gerade bei behinderten Menschen lähmend sein?

    Auszug aus historischen Papieren der ÖAR:

    Als Ziel der Rehabilitation ist eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ohne fremde Hilfe im Sinne der Eigenverantwortlichkeit anzustreben. Wenn die Schwere der Behinderung dafür eine unüberwindliche Einschränkung darstellt, sind entsprechende Einrichtungen zu fördern bzw. zu schaffen. Die Persönlichkeit des Behinderten ist auch bei den institutionellen Hilfeleistungen zu wahren. Behinderte Menschen sind im größten Ausmaß ihrer subjektiven Möglichkeiten in die Lage zu versetzen, gleichberechtigte zwischenmenschliche Kontakte aufzubauen und das gegenseitige Verständnis bzw. die Integration zu fördern.

    AUFGABEN

    a) die Zusammenfassung sämtlicher in Österreich bestehender Behindertenverbände als Dachverband

    b) die Wahrung, Vertretung und Förderung der Interessen der Behinderten und deren Organisationen und Verbände

    In der ARGE für Rehabilitation gibt es derzeit vier Arbeitskreise, die grundsätzliche Fragen bearbeiten: die Arbeitskreise Erziehung und Ausbildung, juridische Fragen, Technik und als vierten Medizin. Im Informationsdienst werden wir sie der Reihe nach vorstellen. In dieser Ausgabe beginnen wir mit dem AK Erziehung und Ausbildung.

    Erste Schwerpunkte des Arbeitskreises Erziehung und Ausbildung waren: Ausbildung der Ausbildner, weil es hier besonders bei den Lehrern an Körperbehindertenschulen an der entsprechenden Ausbildung (Kenntnisse der Körperbehinderungen, Zusammenhänge - Therapie - Unterricht) mangelt.

    Wir sind dabei, Vergleiche in der Ausbildung (Deutschland, Schweiz, Österreich) zu erarbeiten, und haben bereits die Zusicherung eines kom¬petenten Mannes im Wiener Stadtschulrat, mit uns Ausbildungsfragen und deren mögliche Verbesserungen zu diskutieren.

    Ein jetzt schon bekanntes Argument gegen die Erweiterung der Ausbildung ist die geringe Anzahl an benötigten Lehrern für Körperbehindertenschulen, weil in ganz Österreich an derzeitigen Schulen etwa 15 Sondervertragslehrer arbeiten, die zu ersetzen wären, neue aber in nächster Zeit wenig gebraucht werden.

    Anschließen von Körperbehindertenklassen an Sonderschulen und normale Volksschulen (bzw. Hauptschulen), eine Lösung, die besonders in ländlichen Zentren Abhilfe brächte. Ist doch das Unterbringen von behinderten Kindern in Normalschulen nur in manchen Fällen empfehlenswert, genauso wie ein nur körperbehindertes Kind in einer Sonderschule nichts zu suchen hat. Therapiezentren in diesen ländlichen Zentren wären dann natürlich auch notwendig und könnten eventuell als mobile Therapiestationen eingesetzt werden, wie es solche in Salzburg und Tirol schon gibt.

    Um sich mit Schulproblemen differenzierterer Art und Weise (Streuung der Behinderungen, Standortforschung, Einrichtung der Körperbehindertenschulen, Lehrpläne, Klassensysteme in Körperbehindertenschulen, Zusammenarbeit - Lehrer -Arzt - Therapie) zu beschäftigen, müßte es dem Arbeitskreis von der ARGE aus ermöglicht werden, Schulen in anderen Ländern besuchen und kennenlernen zu können.

    Auf Grund der Kontakte mit dem Ausland müßte hier in Österreich die Möglichkeit geschaffen werden, Tagungen abzuhalten mit Experten aus unseren Nachbarländern und mit entsprechenden Fachkräften aus Österreich, vom Unterrichtsministerium, dem Wiener Stadtschulrat, den Landesschulräten, den pädagogischen Akademien, den Schulen und Verbänden.

    Vielleicht wäre es möglich, wie z. B. ein Spitalsplan für Österreich erarbeitet wurde, eine Projektstudie »Körperbehindertenplan« zu erstellen.

    Erfassen der Abgänger von 8-klassigen Körperbehindertenschulen (Volks- und Hauptschulen) und Verfolgen der beruflichen Weiterentwicklung. Die Auswahl an weiterführenden Schulen scheint uns zu gering, und wir planen auch hier informierende und klärende Gespräche mit kompetenten Stellen.

    STREBERSDORF

    Bericht von Rainer Rosenberg

    Ich war zum ersten Mal bei den schon zur Tradition gewordenen Strebersdorfer Veranstaltungen. Neu war heuer vor allem die Beteiligung der ARGE.

    In den Berichten der beiden vergangenen Kongresse für Sozialarbeit und Rehabilitation konnte man bisher lesen: »Die Behindertenverbände werden eingeladen, der ARGE für Rehabilitation beizutreten«. Nun hat die ARGE erstmals mitveranstaltet - das spricht wohl nicht nur für die Bedeutung des Kongresses, sondern auch für die Entwicklung der Arbeitsgemeinschaft ...

    Dabei muß man allerdings schon einiges bemerken: Wenn wir immer wieder sagen, es kann kein »rehabilitiert werden« geben, sondern nur ein »sich selbst rehabilitieren oder rehabilitieren wollen«, dann heißt das, daß es nicht angeht, daß irgendwelche nicht persönlich betroffenen Funktionäre entscheiden, was mit einem Behinderten zu geschehen hat. Das wäre eindeutig Fremdbestimmung, im besten Fall noch Befürsorgung, die wir ablehnen. Auch als ich in Paris beim »Tag der Behinderten« war, ist mir aufgefallen, daß von keiner einzigen nationalen UNESCO-Kommission ein Behinderter zum Kongreß entsandt worden war.

    Wie ich mir allerdings die Teilnehmer am Kongreß in Strebersdorf angesehen habe, habe ich mich auch gewundert, daß von den etwa 50 Teilnehmern nicht einmal 10 % direkt betroffene Personen waren.

    Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, daß das Thema »Hilfsmittel für Behinderte« so uninteressant für Behinderte ist, und ich kann auch nur schwer glauben, daß nur so wenige Leute vom Kongreß gewußt haben.

    Ich ging bei diesem Kongreß von Arbeitsgruppe zu Arbeitsgruppe und habe die Leute aufgefordert, der ÖAR beizutreten. Beim zweiten Kongreß, im August 1975, haben wir die Präsidenten der Verbände eingeladen zur »Präsidentenkonferenz«. Die großen Verbände waren sehr skeptisch. Aber die großen Gruppen haben im Spätherbst unter dem neuen Präsidenten Michael Neider die Behinderten-Dachorganisation »Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation« (ÖAR) gegründet. Neider (SPÖ) war nichtbehindert und Sekretär bei Minister Broda im Justizministerium. Ich habe ihn vorgeschlagen, weil ich gedacht habe, daß er einerseits gegenüber den Verbänden neutral ist und andererseits auch Zugang zu allen politischen Medien hatte. Vizepräsidentin wurde Frau Bundesminister a. D. Grete Rehor (ÖVP), eine Kriegsopferwitwe. Damit war auch eine politische Parität im Verband gegeben.

    In den Statuten stand, daß nur Organisationen als Vollmitglieder aufgenommen wurden, in denen Behinderte »das Sagen haben«. Ausnahme machten wir bei der Lebenshilfe, die ja als Elternverband auch eine Betroffenengruppe darstellte. In der Zwischenzeit sind auch einige Trägerorganisationen hineingekommen, was mir persönlich nicht gefällt, da die Abkehr von der »Selbstbestimmung« und die Hinwendung zur »Fürsorge« eine Verfälschung der ursprünglichen Ziele darstellen.

    Die Betroffenen begannen sich selbst zu vertreten

    Im Laufe der Zeit gingen die Betroffenen auch selbst zu den Politikern. Das waren die größten Erfolge. Vor allem war es bei den Politikern ein »Aha«-Erlebnis, mit denen kann man reden, die sind nicht dumm ...

    Alle 2 Jahre gab es einen Kongreß. Träger war nicht mehr der Verband der Querschnittsgelähmten, sondern der neue Dachverband. Die Entwicklung war wirklich so, daß im Laufe der Zeit immer mehr Behinderte selbst gekommen sind. 1982 wurde ich nach Neider der zweite Präsident der ÖAR. Nach mir folgte mit Klaus Voget 1991 ein Rollstuhlfahrer als Präsident.

    Behindert sein betrifft alle Belange des Lebens. Es galt und gilt daher, von der gesamten Öffentlichkeit als Interessenvertretung anerkannt zu werden. In Österreich sind öffentlich anerkannte und gesetzlich normierte Interessenvertretungen durch die Stellung ihrer Mitgliedschaft im Arbeitsprozeß definiert. So gibt es Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände sowie Vertreter der selbständig Erwerbstätigen. Behinderte Menschen, die nicht nur all diesen Gruppen jeweils angehören können, sondern vielfach leider keiner derselben, passen offensichtlich nicht in dieses Schema. Es war ein schwieriger Kampf, die ÖAR als Interessenvertretung zu etablieren. Teilweise ist es uns gelungen. Einen Partner haben wir dabei im Bundesministerium für Soziales gefunden. Das Sozialministerium richtete, als es zur großen Diskussion um das Pflegegeld Ende der 80er Jahre kam, Arbeitskreise ein. Von der ÖAR wurden damals 9 Leute als Vertreter nominiert, was ein erster großer Anerkennungserfolg war. Ich war bei all diesen Arbeitskreisen dabei und habe viele gescheite behinderte Menschen mit »sichtbaren Behinderungen« eingeladen, in die Arbeitsgruppen zu kommen. Nur dadurch wurde den Leuten klar, worum es beim Pflegegeld wirklich geht.

    Mit dem steigenden Selbtbewußtsein der Behinderten entstanden immer mehr Vereine und Gruppen. Ich habe schon versucht, sie in die ÖAR einzubinden. Manche haben, zumindest in meiner Zeit, aktiv mitgemacht. Andere wollten nicht rein, haben uns aber toleriert. Das hat sich sehr verändert. Inzwischen gibt es fast richtige Feindschaften. Die Leute machen es sich durch ihre Geheimdiplomatie mit Sektionschefs usw. zu einfach. Wir brauchen auch Widerspruch, das wird leider vergessen, und das schwächt auch die ÖAR als Interessenvertretung. Meine Idee von der ÖAR war, daß die einzelnen Betroffenen mitreden können, ihre Erfahrungen einbringen und mitgestalten können. Das wird sträflich vernachlässigt. Wir dürfen ja nicht wie die anderen »Fürsorge« betreiben. Als Beispiel ist mir noch immer die Gretl Spatzierer in Erinnerung. Bei einem der ersten Kongresse hat sie sich zu Wort gemeldet. Keiner hat sie verstanden, aber alle haben geklatscht. Bei einem der späteren Kongresse hat sie sich wieder zu Wort gemeldet. Diesmal hat man ihr aufmerksam zugehört und ihr inhaltlich widersprochen. Das ist praktizierte Integration, und so müssen wir uns weiterentwickeln

    Die Integrationsbewegung. Die Elterninitiativen und ihr Kampf ums Recht- Von Monika Haider

    Wie hat's begonnen? Der Weg zur Integration seit 1984

    Der Weg zur schulischen Integration

    1984 Die in Skandinavien und Italien längst selbstverständliche, vereinzelt auch in Deutschland bereits erfolgte Integration behinderter Kinder in normalen Schulen wird aufgrund einer lokalen Initiative in Oberwart/Burgentand erstmals in Österreich »probiert«.

    1985 Elterninitiativen, von aufgeschlossenen Lehrer/innen unterstützt, erreichen Integrationsklassen in Kalsdorf/Steierinark und in Weißenbach/Tirol. Gesetzliche Grundlagen: nicht vorhanden.

    1986 Der Bundesrat faßt auf Antrag von Maria Rauch-Kallat (ÖVP) einstimmig eine Entschließung, mit der die Bundesregierung aufgefordert wird, integrative Schulversuche zu ermöglichen.

    Elternalternativen erreichen bei Unterrichtsminister Herbert Moritz die Einrichtung der bis heute bestehenden Arbeitsgruppe »Behinderte Kinder im Regelschulwesen«, in der Eltern, Pädagogen und Beamte beraten.

    1987 Im Arbeitsübereinkommen SPÖ-ÖVP werden für die neue Legislaturperiode integrative Maßnahmen in Aussicht gestellt. Die Elterninitiative Wien fordert Unterrichtsministerin Hilde Hawlicek auf, den gesetzlichen Auftrag zu integrativen Schulversuchen zu geben. Begründung: »Die Abhängigkeit von der Gnade der Schulbehörde, die das Gesetz günstig auslegt, führt zu nervenaufreibenden, unwürdigen Situationen.«

    1988 Der Wiener Stadtschulrat richtet eine Integrationsberatungsstelle ein. Im ministeriellen Entwurf zur 11. SchOG-Novelle finden die integrativen Schulversuche endlich Erwähnung. Was anderswo längst Regel ist, darf ab dem Schuljahr 1988/89 in Österreich nun auch offiziell erprobt werden.

    1989 Die Elterninitiativen fordern von Unterrichtsministerin Hawlicek Unterstützung. Die Ministerin reagiert kühl und trocken. Schulversuche müßten eben auch ohne Unterstützung funktionieren. Sie meint u. a., es sei verfrüht, Lehrer/innen zur Integration auszubilden.

    In Kalsdorf/Steiermark und Reutte/Tirol werden die Integrativen Klassen in die Hauptschule übergeführt. In Wien wird erstmals an einem AHS-Standort (Schulversuch Mittelschule) eine Integrationsklasse - vorerst nur für Kinder mit Körper- oder Sinnesbehinderungen - eingerichtet.

    1990 Die Elterninitiative Wien startet mit einer Petition an den Nationalrat »Integration als Recht, nicht als Gnade«. Die Eltern eines Kindes mit Behinderung sollen selbst entscheiden, ob das Kind integriert oder in die Sonderschule geschickt werden soll.

    Laut BMUK-Statistik bestehen in Österreich im Schuljahr 1990/91 insgesamt 133 integrative Klassen, in denen 504 Kinder mit Behinderungen unterrichtet werden. Weitere ca. 960 behinderte Kinder sind in Klassen, in die stundenweise eine Stützlehrerin kommt, einzelintegriert.

    Nach einem Beschluß der steirischen Landesregierung nimmt das Zentrum für integrative Betreuung ZIB seine Tätigkeit auf. Gründung der Wiener Arbeitsgemeinschaft Integrationslehrerfinnen AGIL.

    1991 Der neue Unterrichtsminister Rudolf Scholten erkennt die Berechtigung der Forderung »Integration als Recht, nicht als Gnade« an. Die Elterninitiativen übergeben dem Nationalrat 4370 Unterschriften aus ganz Österreich als Petition für das Recht auf Integration ab dem Schuljahr 1992/93. Dieses Recht kommt noch nicht zustande: Mit der 13. SchOG-Novelle wird nur die Maximalzahl der Integrationsklassen »im Schulversuch« erhöht.

    1992 Intensive Verhandlungen der Elterninitiativen mit dem Unterrichtsministerium. Grundsatzerklärung pro Integration von Unterrichtsminister Rudolf Scholten (siehe »Warum soll Integration ein Recht und nicht bloß Gnade sein?«). Eltern mit ihren (behinderten) Kindern, Lehrer/innen und zahlreiche Sympathisanten aus ganz Österreich treffen nach einer Sternfahrt auf dem Ballhausplatz mit Bundespräsident Thomas Klestil, Unterrichtsminister Scholten und Abgeordneten zusammen und übergeben 60.000 Unterschriften zur Petition »Zur Wahrung der Rechte von Familien mit behinderten Kindern«.

    In Gymnasien in Wien und Bruck an der Mur laufen nach großen Widerständen und Schwierigkeiten erstmals integrative Schulversuche - einschließlich geistig behinderter Kinder - an.

    1993 Vor dem Parlament halten Kinder aus Integrationsklassen, Lehrer/innen, Direktor/innen, Eltern und Stadtschulratspräsident Kurt Scholz eine Mahnwache, um durchzusetzen, daß die Integration behinderter Kinder vom »Schulversuch« zum Recht wird.

    Ministerin Rauch-Kallat erreicht im Ministerrat, daß in die Regierungsvorlage eine wesentliche Grundsatzbestimmung aufgenommen wird: »Die Volksschule hat in den ersten vier Schulstufen eine für alle Schüler gemeinsame Elementarbildung unter Berücksichtigung der sozialen Integration behinderter Kinder zu vermitteln.« Elterninitiativen können im Unterrichtsausschuß des Nationalrates ihre Stellungnahme abgeben. Die 15. Novelle des Schulorganisationsgesetzes (15. SchOG-Novelle) bringt Integration in der Volksschule als Recht.

    Die Elterninitiativen in allen Bundesländern gründen »Integration: Österreich: Elternverbände für gemeinsames Leben behinderter und nichtbehinderter Menschen« als ihren Dachverband.

    1994 Die Bundesländer lassen sich beim Beschluß ihrer Durchführungsbestimmungen viel Zeit und bewirken damit viel Rechtsunsicherheit für Eltern und Lehrerfinnen. Der Enthusiasmus für die Integration ist in den »schwarzen« Bundesländern sehr unterschiedlich: groß in der Steiermark, klein etwa in Niederösterreich oder Tirol. Die Integration in den Schulen der 10 bis 14jährigen wird zu einem wichtigen Thema.

    1995 Zwei Jahre nach dem Beschluß des Integrationsgesetzes beginnt man »schon« darüber zu beraten, welche Auswirkungen es auf die Lehrer/innenausbildung haben soll ...

    Bei der Personalvertretungswahl für den Öffentlichen Dienst wirft sich Gewerkschaftler Hermann Helm »Pro Sonderschule« ins Zeug und will keine »Experimente mit geistig Behinderten« in der Volksschule. Eltern protestieren dagegen, behinderte Kinder für den Wahlkampf zu mißbrauchen.

    Integration: Österreich arbeitet mit dem Unterrichtsministerium bei der Herausgabe des Elternratgebers »Voneinander lernen - Integration behinderter Kinder an Volksschulen« zusammen. Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer, die der Broschüre - ebenso wie die damalige Familienministerin Sonja Moser - ein Vorwort widmet, verspricht darin zum integrativen Unterricht »nach der Grundschule«, »daß ich mich dafür einsetzen werde, dieses Vorhaben Realität werden zu lassen«.

    1996 Unter Experten - und auch die Vertreter/innen der Elterninitiativen sind längst solche - beginnen intensive Auseinandersetzungen darüber, wie die Integration in den Schulen der 10 bis 14jährigen (= Sekundarstufe) realisiert werden soll.

    In den ersten Entwürfen zu den Gesetzesnovellen tauchen auch Verschlechterungen für die Volksschul-Integration auf, was die Elterninitiativen zu besonderer Wachsamkeit veranlaßt.

    Im Herbst werden die 17. SchOG-Novelle und ihre Begleitgesetze beschlossen, in der die Integration behinderter Kinder in die Schule der 10-14jährigen gesetzlich verankert ist. Für die AHS als Bundesschule gelten die Bestimmungen der Bundesgesetze. Für die Hauptschule obliegt es den Bundesländern, eigene Landesausführungsgesetze zu beschließen. 1997 Die Landesausführungsgesetze werden ausgearbeitet und bis auf die Steiermark auch beschlossen. Damit wird es immer wichtiger, in welchem Bundesland ein Kind geboren wird. Denn z. B. in Niederösterreich wird ein Schandgesetz verabschiedet: Integration darf nur dann stattfinden, wenn in eine Integrationsklasse mindestens 5 behinderte Kinder zusammenkommen! Zahlreiche Eltern wenden sich an IA: Kinder in Sonderschulen dürfen bis zu 12 Jahren in die Schule gehen; Kindern, die ihre Schulpflicht in Integrationsklassen absolviert haben, wird die weitere Schulbildung verwehrt. Die Fälle »Barbara Z«. und »Anja« gehen durch die Presse. Kein Ressort fühlt sich zuständig. I:Öbegleitet Anja bis zum Bundeskanzler. Der Nationalrat beschließt eine Ergänzung des Artikel 7, Absatz 1 der Österreichischen Bundesverfassung: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) verpflichtet sich dazu, die Gleichbehandlung behinderter Menschen in allen Lebensbereichen zu gewährleisten«. Integration:Österreich organisiert den ersten österreichischen Integrationsball. Dort wird der Rechtshilfefonds »gleichbeRECHTigt« gegründet. Er soll es behinderten Menschen ermöglichen, Verfassungsklagen wegen Diskriminierung anzustreben und durchzufechten.

    1998 Ein weiteres Gespräch mit dem Bundeskanzler findet statt. Er spricht sich für den gemeinsamen Unterricht als zu verwirklichendes Ziel der Bundesregierung aus.

    Die Verhandlungen um das 9. Schuljahr beginnen im Jänner mit einer Arbeitsgruppe im BMUKA. Dort werden die Eltern aufgefordert, Konzepte beizubringen. In der Zwischenzeit wird, ohne die Eltern miteinzubeziehen, vom Unterrichtsministerium ein Gesetz in Begutachtung geschickt, welches das 9. Schuljahr als Berufsorientierungklasse an Sonderschulen installieren soll.

    Im Bundeskanzleramt wird eine Arbeitsgruppe gebildet. Sie soll bestehende Gesetze nach diskriminierenden Bestimmungen durchsuchen.[3]

    Die scheinbar selbstverständlichste Sache der Welt

    Kaum zu glauben, wie selbstverständlich manches heute erscheint. Zum Beispiel, daß ein Kind das Recht hat, mit seinen Spielgefährten oder Geschwistern in die Schule in seiner Nachbarschaft zu gehen. Diese selbstverständlichste Sache der Welt war für manche Kinder und ihre Eltern keineswegs so. Behindert, ab in die Sonderschule - ausgeschlossen von Spiel und Leben mit anderen Kindern, oft über hunderte Kilometer getrennt von der Familie. Wer das für sein Kind nicht wollte, dem half auch die Berufung auf grundlegende Menschenrechte oder die zahlreichen UNO-Erklärungen der Rechte von Kindern und Menschen mit Behinderungen nicht weiter.

    Erst seit dem Herbst 1993 ist das anders: Die Schulgesetze geben Eltern das Recht, für ihr behindertes Kind zwischen dem Unterricht gemeinsam mit nicht behinderten Kindern oder der Sonderschule zu entscheiden. Für Kinder »mit besonderen Bedürfnissen«, wie es im Gesetz heißt, wird dann auch an der Volksschule maßgeschneiderter Unterricht angeboten: Mithilfe zusätzlicher Lehrer und durch Unterricht entsprechend der individuellen Begabung jedes Kindes.

    Eltern haben zusammen mit Lehrern diesen Fortschritt einer kindgerechten Schule erreicht und durch ihre engagierte Arbeit sowohl die Praxis als auch die Gesetzgebung nachhaltig beeinflußt. Wir wollen nichts beschönigen, denn noch immer gibt es viele Probleme zu lösen: Unwissen mancher Schulbehörden, Ungewißheit und Sorgen mancher Lehrer und auch Eltern. Aber mit der neuen Schulgesetzgebung für die Volksschule ist ein wichtiger Meilenstein gesetzt. Fortsetzung tut not.

    Den Kreislauf der Aussonderung durchbrechen

    Natürlich ist mit dem Recht auf Besuch der Volksschule Diskriminierung und Unverständnis nicht aus der Welt geschafft. Aber für Kinder ist die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen unverzichtbar: Leben und Lernen in der Gemeinschaft mit anderen Menschen, ob behindert oder nichtbehindert, ist die wichtigste Lebensgrundlage jedes Menschen, und die Schule ist neben der Familie der wichtigste Eckstein kindlicher Entwicklung.

    Durch die Aufnahme in der Nachbarschaftsschule anstelle der Sonderschule wird der Kreislauf der Aussonderung durchbrochen, dem behinderte Menschen sonst ausgesetzt sind. Dazu gehört auch, daß Kinderkrippen und Kindergärten ebenso wie nachfolgende Schulen und berufliche Ausbildungen nicht Menschen mit Behinderungen diskriminieren. Und natürlich muß auch in der Arbeitswelt ein Platz für die besonderen Bedürfnisse von Menschen geschaffen werden, die behindert sind: kein leichtes Vorhaben, aber, wie viele erfolgreiche Beispiele zeigen, auch kein Ding der Unmöglichkeit.

    »Das Unterrichtsministerium sieht die Entwicklung der Schule zu einer Schule unter Einschluß aller Kinder als Notwendigkeit zur Wahrung des Wohles behinderter und nichtbehinderter Kinder.« (Rudolf Scholten, Unterrichtsminister a. D.)

    Integration:Österreich bewegt

    Es ist kein Mirakel, wie solche Änderungen möglich wurden: Durch Menschen, die sie wollten und sich zusammengetan haben. Daraus entstand in den letzten Jahren eine freundschaftliche Allianz der persönlichen und politischen Selbsthilfe von Eltern behinderter wie nichtbehinderter Kinder, behinderten Personen, Lehrern, Staatsbürgern, denen Unzufriedenheit und Nörgeln alleine nicht genügten.

    Daraus entstand Integration:Österreich, eine österreichweite Elterninitiative, die gemeinsames Leben von behinderten und nichtbehinderten Menschen der Verwirklichung ein Stück näher bringen will. In den wenigen Jahren unserer Existenz haben wir schon einiges bewegt. Etwa die gesetzliche Verankerung des Rechts auf Volksschule für alle Kinder, die individuelle Unterstützung von Familien bei der Durchsetzung der selbstverständlichsten Sache der Welt, die Fortbildung von Lehrern, damit sie ihren neuen Aufgaben gerecht werden können, und eine Plattform für Eltern und behinderte Personen, die Hoffnungen auf eine bessere Welt bewahren kann.

    Barrierenfreies Studieren, die Universitätsbewegung- Von Barbara Levc

    Grundsätzlich ist der Zugang zu österreichischen Universitäten für alle frei, die die Hochschulreife erlangt haben. Faktisch können Behinderte und chronisch Kranke dieses Recht nur sehr begrenzt in Anspruch nehmen. Um die derzeit bestehenden Chancenungleichheiten abzubauen, wurden daher hauptamtliche Behindertenbeauftragte für jede Universität gefordert. In dieser Funktion sind seit 1994 sechs Personen tätig. Bei der Besetzung der Planstellen wurde besonders Augenmerk darauf gerichtet, daß diese den Erfahrungshintergrund von unterschiedlichen Behinderungen und Professionen einbringen. UNIABILITY ist ein Zusammenschluß der hauptamtlichen Behindertenbeauftragten mit Behindertenvertretern seitens der Studentenschaft, Universitätslehrenden und Mitarbeiter/innen spezieller Projekte für behinderte Menschen an Universitäten, z. B. im Bibliotheksbereich. Mittels regelmäßiger Treffen, E-Mail-Vernetzungen und einer computergestützten Diskussionsliste wird eine möglichst koordinierte und effiziente Zusammenarbeit angestrebt.

    Die Tätigkeit der Beauftragten erstreckt sich auf vier Hauptbereiche:

    1. Beratung und Begleitung behinderter und chronisch kranker Studieninteressenten und Studierender zur Lösung individueller Probleme in Studium und Studienumfeld.

    2. Den Bedürfnissen Behinderter und chronisch Kranker entsprechende Gestaltung der Universität bzw. Hochschule sowohl im Bereich der baulichen Gegebenheiten und technischen Ausstattung als auch der Arbeits-, Lern- und Prüfungsbedingungen.

    3. Nutzung der Möglichkeiten des Hochschulbetriebes für Information und Forschung zur Situation Behinderter und chronisch Kranker.

    4. Umsetzung aktueller Erfahrungen in aktiver Interessenvertretung gegenüber Organen der staatlichen und kommunalen Verwaltung sowie hochschulpolitische Aktivitäten.

    Da in Österreich weder den Universitäten noch dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Informationen über die Größe der angesprochenen Studentengruppe, ihre Zusammensetzung sowie ihre spezifischen Bedürfnisse und Probleme vorlagen und die Tätigkeit der Behindertenbeauftragten auf eine empirische Basis gestellt werden sollte, wurde eine erste bundesweite Befragung betroffener Studierender in Auftrag gegeben.

    586 Studierende von 11 Universitäten (dies entspricht ca. 0,4 % aller Studierenden) haben die Fragen eines schriftlichen Screenings beantwortet. An der anschließenden detaillierten Haupterhebung beteiligten sich 314 betroffene Studierende. Bemerkenswert häufig wurden Mehrfachbehinderungen oder Kombinationen von Behinderungen und chronischen Krankheiten angegeben (32,6 %).

    Folgende Formen der Behinderungen wurden benannt:

    Bewegungsbehinderungen (19,8 %), Sehbehinderungen (14,4 %), Hörbehinderungen (6,0 %), Sprachbehinderungen (3,4 %), chronische Erkrankungen (41,8 %), psychische Erkrankungen (9,3 %), sonstige gesundheitliche Beeinträchtigungen (5,3 97v).

    Mit durchschnittlich 24 Jahren beginnen Behinderte ihr Studium um 3 Jahre später als ihre nichtbehinderten Kollegen/innen. Diese Verzögerung ergibt sich z. B. durch den im österreichischen Bildungssystem derzeit noch wesentlich erschwerten Zugang zur Reifeprüfung für Behinderte. Für 21 % war die Zugänglichkeit der Universität/Studienrichtung entscheidend für die Wahl des Studiums. Somit konnte ein Fünftel der Studierenden nicht die Studienrichtung der ersten Wahl, sondern jene, die noch am ehesten zugänglich war, inskribieren. Demzufolge ist das Ergebnis, daß 20 % zum Befragungszeitpunkt bereits einen Studienwechsel vollzogen haben, nicht erstaunlich.

    21 % der Befragten waren bereits vor Studienbeginn berufstätig. Während des Studiums erhöht sich dieser Anteil auf 40 %. Dies deutet auf erhöhte Probleme der Studienfinanzierung hin. Außerdem ist die finanzielle Unterstützung bei der Anschaffung der meisten Hilfsmittel an das Bestehen einer eigenen Erwerbstätigkeit gekoppelt. 82 % aller Respondenten berichten über einen behinderungsbedingten finanziellen Mehraufwand im Studium. Auch hinsichtlich des Zeitaufwandes zur Bewältigung des Studium geben 76 % eine wesentliche Mehrbelastung an.

    Während der Studienzeit wurden als die häufigsten Probleme genannt:

    • Studienorganisation (Prüfungssituationen, Anwesenheit in Pflichtlehrveranstaltungen ... )

    • psychische Belastung (Leistungsdruck, Ängste …)

    • bauliche und technische Barrieren (Treppen, Toiletten …)

    • körperliche Probleme (Krankheitsschübe, Schmerzen …)

    • Umfeldprobleme (Wohnung, Mobilität, Finanzen ... )

    • Informationsbeschaffung (Adaptierung von Studienmaterialien …)

    • Probleme bzgl. medizinisch/therapeutischer Behandlung (fehlende Räumlichkeiten, kein Diätangebot in der Mensa)

    • zwischenmenschliche Probleme (Kontakte, Vorurteile)

    Als Konsequenz aus den Ergebnissen der Studie werden zur Zeit in der Arbeit von UNIABILITY folgende Schwerpunkte zur Verbesserung der Studiensituation gesetzt:

    Im Zuge der Erarbeitung von detaillierten Zugänglichkeitskatalogen mehrerer Universitäten wurde besonders deutlich, daß die überwiegend historische Bausubstanz besondere Probleme für bewegungsbehinderte Studierende mit sich bringt.

    Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Ausstattung der Universitätsbibliotheken mit Arbeitsplätzen für Sehbehinderte und Blinde sowie die Schaffung von Serviceleistungen zur Aufbereitung von Studienliteratur. Dabei wurde die Notwendigkeit einer internationalen Koordination solcher Dienstleistungseinrichtungen deutlich, um eine effiziente Nutzung bereits vorhandener digitaler oder audiovisueller Studienhilfsmittel zu gewährleisten.

    Weitere wichtige Hilfen zur Verbesserung der Situation behinderter und chronisch kranker SchülerInnen und StudentInnen bietet der Modellversuch »Informatik für Blinde« an der Universität Linz (z. B. Schulung in der Anwendung informationstechnischer Verfahren in Studium, Lehre und Forschung) und die Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitationstechnik an der TU Wien.

    Ein speziell auf die Bedürfnisse Hörbehinderter zugeschnittenes Projekt ist eine semesterbegleitende Lehrveranstaltung, die Betroffene in das Studium und den Universitätsbetrieb einführen soll.

    Über diese behinderungsspezifischen Schwerpunkte hinaus arbeitet UNIABILITY auf eine allgemeine Verbesserung gesetzlicher Grundlagen der Studienbedingungen hin. Weiters wird eine Absicherung der finanziellen Rahmenbedingungen als Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Absolvierung eines Hochschulstudiums angestrebt.



    [2] Im März 1999 beendete die Arbeitsgruppe im Bundeskanzleramt ihre Tätigkeit. Es liegt ein Endbericht vor, in dem die Stellungnahmen des jeweils zuständigen Ministeriums den Meinungen der Behindertenvertreterlnnen gegenübergestellt sind. Der Bericht ist kostenlos beim Bundeskanzleramt bzw. beim Verein BIZEPS (Adresse: siehe Anhang) erhältlich.

    [3] Im nunmehr vorliegenden Endbericht der Arbeitsgruppe im Bundeskanzleramt sind die Meinungen der ElternvertreterInnen von behinderten Kindern über diskriminierende Gesetzespassagen den Stellungnahmen des Bundesministeriums für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten gegenübergestellt. In vielen Punkten gab es keine Übereinstimmung. Gesetzespassagen, die sowohl von den MinisteriumsvertreterInnen als auch vorn Verein Integration:Österreich als verfassungswidrig eingestuft wurden, sollen in der nächsten Legislaturperiode durch das Parlament abgeändert werden.

    3. Zeittafeln

    Wichtige Entwicklungen für behinderte Menschen

    1913 Gründung des Österreichischen Gehörlosenbundes

    1919 Behinderte erhalten bei der Vergabe von Trafiken ein Vorzugsrecht

    1946 Der Nationalrat beschließt das Invalideneinstellungsgesetz (heute: Behinderteneinstellungsgesetz)

    1948 Der Österreichische Zivilinvalidenverband wird gegründet

    1949 Das Kriegsopferversorgungsgesetz wird beschlossen und tritt 1950 in Kraft

    1951 Wohnungsbeihilfe für Kriegsopfer

    1975 Gründung der ÖAR als Dachverband der Behindertenverbände

    1978 Gründung der ersten österr. Behinderten-Bürgerrechtsgruppe »Initiativgruppe Behinderte-Nichtbehinderte Innsbruck« und »Alternativgemeinschaft von Behinderten und Nichtbehinderten Wien«

    1981 Internationales Jahr der Behinderten, ausgerufen durch die Vereinten Nationen

    1981 Nationalfonds zur besonderen Hilfe behinderter Menschen wird eingerichtet

    1983 Das Heeresversorgungsgesetz wird reformiert, Zeitsoldaten werden in den versorgungsberechtigten Personenkreis aufgenommen

    1985 Erstes Österreichisches Integrationssymposium in Oberwart

    1986 Beginn der Unterschriftenaktion für ein Pflegegeld

    1987 (17. April) Die Unterschriften zum Pflegegeldgesetz werden als Petition im Nationalrat eingereicht

    1987 (29. April) Großkundgebung der Zentralorganisation des KOBV in Eisenstadt

    1990 Der Nationalrat beschließt das Bundesbehindertengesetz, Leistungen der Rehabilitation werden umfassend geregelt

    1990 Einheitlicher Behindertenpaß wird erlassen

    1992 Die Bundesregierung beschließt ein Behindertenkonzept

    1993 Die 15. SchOG-Novelle zur schulischen Integration behinderter Kinder in der Volksschule wird beschlossen

    1994 An den Universitäten werden österreichweit 6 Behindertenbeauftragte eingesetzt

    1995 Weltkongreß der Gehörlosen in der Wiener Hofburg

    1997 Die 17. SchOG-Novelle zur schulischen Integration behinderter Kinder in die Sekundarstufe 1 (Hauptschule, AHS) wird beschlossen. In die Verfassung wird eine Antidiskriminierungsbestimmung aufgenommen

    1998 Einrichtung einer Arbeitsgruppe im Bundeskanzleramt, die Gesetze auf diskriminierende Bestimmungen untersucht.

    1999 Im März beendet die Arbeitsgruppe im BKA ihre Tätigkeit.

    Das Pflegegeldgesetz und seine Entstehung

    1986 Beginn der Unterschriftenaktion für ein Pflegegeld

    1986 Mit Manfred Srb zieht der erste selbst betroffene Behindertensprecher der Grünen ins Parlament

    1986 Beginn der von ÖZIV initiierten Unterschriftenaktion

    1987 Die Unterschriften werden als Petition im Nationalrat eingereicht (17.4.)

    1988 Im Sozialministerium wird eine Arbeitsgruppe Pflegegeld eingerichtet.

    1990 Mahnwache vor dem Stephansdom und Hungerstreik (November)

    1991/1992 Große Behindertendemonstrationen in Wien für das Pflegegeld

    1993 Das Pflegegeldgesetz tritt in Kraft

    1994 Vereinbarung zwischen Bund und Ländern tritt in Kraft.

    Der Weg zur Antidiskriminierungsbestimmung in der Bundesverfassung

    1. bis 3. Oktober 1993: Die Selbstbestimmt-Leben-Initiative Österreichs beschließt beim Halbjahrestreffen in Abtsdorf/OÖ Unterschriften für eine Petition zu starten.

    20. April 1995: VertreterInnen der Selbstbestimmt-Leben-Initiativen (und ÖAR) überreichen Parlamentspräsident Fischer 48.789 Unterschriften als Petition

    13. Oktober 1995: Das Parlament beschließt Neuwahlen. Das geplante Hearing (14. November 1995) kann nicht mehr stattfinden. Die Petition verfällt!

    28. Feber 1996: Grüner Antrag auf Aufnahme einer Nicht-Diskriminierungsklausel für Behinderte in die Verfassung.

    29. Feber 1996: Auf Initiative der Grünen wird die Petition von allen Parteien wieder eingebracht (6. Marz 1996).

    17. Oktober 1996: Das Hearing erreicht - trotz anfänglicher Widerstände - eine Zuweisung (28. Oktober 1996) der Petition an den Verfassungsausschuß.

    1. und 2. November 1996: Tagung gleich.beRECHTigt in Wien

    15. November 1996: Termin mit SPÖ-Klubobmann Kostelka

    29. November 1996: SPÖ-Antrag auf Aufnahme einer Nicht-Diskriminierungsklausel für Behinderte in die Verfassung.

    16. Jänner 1997: Termin mit ÖVP-Klubobmann Khol

    29. Jänner 1997: ÖVP-Antrag auf Aufnahme einer Nicht-Diskriminierungsklausel für Behinderte in die Verfassung.

    20. Feber 1997: Der Verfassungsausschuß tagt und verschickt die Anträge zur Stellungnahme

    26. Juni 1997: Der Verfassungsausschuß beschließt eine Antidiskriminierungsklausel

    9. Juli 1997: Nach einer Diskussion im Plenum des Nationalrates beschließt dieser folgende Verfassungsbestimmung:

    In Art 7 Abs. 1 werden folgende Sätze angefügt:

    »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten

    Wichtige Ereignisse für geistig behinderte Kinder (Aus der Sicht des Vereins Lebenshilfe Österreich)

    1973 In Österreich erhalten Eltern seit Beginn des Jahres die doppelte Familienbeihilfe für ihre behinderten Kinder. Die Intervention von Eltern behinderter Kinder, der Lebenshilfe, sowie vom späteren Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger, dem Mann »hinter den Kulissen«, war erfolgreich. 1978 Die Lebenshilfe startet die Aktion »Recht auf Bildung«, mit der sie die Öffentlichkeit und das Unterrichtsministerium darauf aufmerksam macht, daß rund 900 Kinder mit Behinderungen in Österreich ohne schulische Förderung sind.

    Diese Aktion zieht zahlreiche weitere Maßnahmen nach sich: Unter dem Motto »Alle Kinder sind bildungsfähig« wird erreicht, daß die Begriffe Schulunfähigkeit und Bildungsunfähigkeit aus dem Gesetz eliminiert werden. Die Klassenschülerhöchstzahl in Allgemeinen Sonderschulen wird im Zuge der 8. Novelle zum Schulorganisations-Gesetz ab dem Schuljahr 1985/86 auf acht gesenkt. Die laufenden Schulversuche zur basalen Förderung sichern Kindern mit erhöhtem Förderungsbedarf das Recht auf Bildung.

    1983 wird eine von der Lebenshilfe Österreich erstellte Materialienliste in die Gratisschulbuchaktion aufgenommen.

    Im Schuljahr 1990/91 gibt es in Österreich noch immer rund 400 Kinder ohne schulische Förderung. Ein laufendes Forschungsprojekt des Unterrichtsministeriums soll erwirken, daß in Österreich möglichst allen Kindern schulische Förderung zuteil wird. Auftragnehmer dieses Projekts wird wieder die Lebenshilfe Österreich.

    1981 Im »Internationalen Jahr der Behinderten« tritt die Lebenshilfe Österreich mit einem umfangreichen Forderungskatalog an die Bundesregierung heran. Ein Großteil der »20 Maßnahmen für geistig behinderte Mitbürger« wird realisiert, einige Punkte jedoch sind noch immer offen.

    1984 Das »Bundesgesetz über die Sachwalterschaft für behinderte Personen« tritt mit 1. Juli in Kraft. Die Lebenshilfe Österreich war ausschlaggebender Partner bei der Erstellung und politischen Umsetzung des Gesetzes.

    1985 Auf Initiative des Familienministeriums führt die Lebenshilfe Österreich eine Grundsatzstudie über Spielzeugbibliotheken durch. Diese Studie wird die Grundlage eines Modellprojektes in Wien.

    1987 Der Mutter-Kind-Paß wird um eine Untersuchung zwischen der 30. und 34. Schwangerschaftswoche erweitert. Die Forderung der Lebenshilfe Österreich aus dem Jahr 1981 nach verbesserter Früherkennung wird somit erfüllt. Mit der Verlängerung des Zeitraumes steigen auch die auszuzahlenden Teilbeträge.

    1988 Seit Beginn des Jahres dürfen Menschen mit Behinderungen auch dann wählen, wenn für sie ein Sachwalter bestellt ist. Diese Neuregelung entspricht einer langjährigen Forderung der Lebenshilfe: Grundsätzlich soll allen Menschen mit einer Behinderung das Wahlrecht in vollem Umfang erhalten bleiben.

    1989 Mit 1. Jänner wird das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) auf Initiative der Lebenshilfe Österreich dahingehend novelliert, daß die Bestimmung des § 18a es künftig ermöglicht, daß Personen, deren Arbeitskraft überwiegend mit der Pflege eines behinderten Kindes ausgelastet ist, sich auf Antrag in der Pensionsversicherung selbstversichern können. Die Kosten dieser Versicherung übernimmt der Familienlastenausgleichsfonds. Derzeit gilt die Regelung, daß die pflegende Person bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des behinderten Menschen in dieser Versicherungssparte versichert ist. Damit wird die pflegerische Leistung vor allem der Mütter behinderter Kinder auch gesetzlich entsprechend anerkannt.

    1991/92 Inkrafttreten des Unterbringungsgesetzes. Seit 1. Jänner 1991 kommt es immer wieder zu gerichtlichen Verfahren um die Unterbringung von Menschen mit geistiger Behinderung in psychiatrischen Anstalten. Insgesamt rund 15 Urteile des Obersten Gerichtshofs wurden bereits ausgesprochen, die die Unterbringung einzelner Klienten in der Psychiatrie als nicht gerechtfertigt ausweisen. Die Lebenshilfe Österreich leistete in dieser Hinsicht Grundsatzarbeit, indem sie immer wieder auf die bedeutsamen Unterschiede und Ausprägungen von geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung verwies.

    Ab 1991 macht sich die Lebenshilfe bei den Ländern dafür stark, daß geistig behinderte Menschen aus psychiatrischen Anstalten entlassen werden, um künftig in eigenen Fördereinrichtungen zu leben.

    1995 Initiative der Lebenshilfe, daß Menschen mit geistiger Behinderung, die durch das NS-Regime zu Schaden oder zu Tode gekommen sind, auch als NS-Opfer anerkannt und in das Opferfürsorgegesetz und den Opferfonds aufgenommen werden.

    1996 Das von der Österreichischen Bundesregierung geschnürte Sparpaket bringt eine Reihe von sozialen Einsparungen für alle Bevölkerungsgruppen, ganz stark betroffen sind jedoch behinderte Menschen: Nach dem 1. Mai 1996 beantragte Pflegegelder der Stufe 1 werden von ÖS 2.635,- auf ÖS 2.000.- pro Monat abgesenkt. Eine weitere schwerwiegende Veränderung betrifft das dem behinderten Menschen verbleibende Taschengeld bei Unterbringung in einer Vollzeiteinrichtung: Hier wird das Taschengeld bei Neuunterbringung nach dem 1. Mai 1996 um 50 % gekürzt, und zwar von ÖS 1.138.- auf ÖS 569.- pro Monat.

    Die Geburtenbeihilfe wird aufgehoben, das heißt, die Geldleistungen, die bei Durchführung der im Mutter-Kind-Paß vorgesehenen Untersuchungen bis zum vierten Lebensjahr des Kindes zuerkannt wurden, fallen weg. Obwohl die Untersuchungen weiterhin kostenlos bleiben, ist zu befürchten, daß sie ohne den finanziellen Anreiz nicht mehr im bisherigen Ausmaß in Anspruch genommen werden, was vor allem bei der Früherkennung von Behinderungen zu schwerwiegenden Verzögerungen führen kann. Das bedeutet, der Erfolg, den die Lebenshilfe 1987 erzielen konnte, ist damit in Frage gestellt.

    19. November 1996:- Beschluß der »Biomedizin-Konvention« durch den Ministerrat des Europarates.

    Jänner 1997:- Gründung der Plattform »Nein zur Biomedizin-Konvention« in Österreich durch die ÖAR und die Lebenshilfe Österreich.

    Am 1. September 1997 tritt das GuKG (Gesundheits- und Krankenpflegegesetz) in Kraft: Dadurch entstehen erhebliche Probleme für Einrichtungen der Behindertenhilfe bei Vergabe von Medikamenten.

    1998 Pensionsregelungen neu: Versicherungsmöglichkeit für pflegende Angehörige.

    1999 Mit 1. Jänner treten zwei Gesetzes-Novellen in Kraft:

    Novelle zum Bundespflegegesetz - in der zugehörigen Einstufungsverordnung wird die Notwendigkeit der »Motivation« anerkannt; Novelle des Familienlastenausgleichsgesetzes: Erhöhung der Familienbeihilfe in zwei Stufen und damit auch Erhöhung des Zuschlages für erheblich behinderte Kinder.

    März 1999: Ablauf der Begutachtungsfrist des Kindschaftsrechtsänderungsgesetzes: Klare Regelung der Sterilisation von Menschen mit geistiger Behinderung erstmals verankert.

    19. März 1999: Der Petitionsausschuß des Nationalrates übergibt die Petition »Nein zur Biomedizin-Konvention« dem Justizausschuß und anerkennt damit die Menschenrechtsproblematik dieser Konvention. März 1999: Die Arbeitsgruppe im BKA beendet ihre Tätigkeit.

    1. Mai 1999: Der Vertrag von Amsterdam tritt in Kraft. Der Artikel 13 enthält eine Antidiskriminierungsklausel für Menschen mit Behinderung.

    Teil II: Nahaufnahmen zur Situation behinderter Menschen in Österreich

    Inhaltsverzeichnis

    Sigi Maron: he du bub

    (für meinen freund zvonko kosinec)

    in einem verrauchten lokal, freitag abend, stammtisch

    die eingangstür wird geöffnet

    he du, ja du bub mit dunkel haut

    kannst nicht machen türe zu?

    was machen du da in mein land ha?

    vater gastarbeiter was

    nix arbeiten und viel verdienen

    und in nacht auf mama liegen

    kinderchen machen, für kinderbeihilfe

    du nix schule, wohnen in zelt

    wie alt du, wie heißen, was dein name?

    freitog auf d nocht im beisl um de eckn

    durt wo de erstn fliagn im oimdudler varreckn

    freitog auf d nocht im beisl um de eckn

    durt wo de erstn fliagn im oimdudler varreckn

    mein name ist slatko kosinec

    ich bin 12 jahre alt und besuche die

    zweite klasse des realgymnasiums

    mein vater heißt zvonko und ist

    bademeister, meine schwester

    heißt anka und ist neun jahre alt

    wir wohnen in der radetzkygasse neun

    zweiter stock, tür acht, und haben

    drei zimmer, wir haben kein zelt

    aber einen wohnwagen, und die türe

    habe ich nicht geschlossen, weil

    noch jemand hereinkommen will

    aber sagen sie: woher kommen sie

    wie heißen sie und warum sprechen

    sie eigentlich so komisch?

    freitog auf d nocht ...

    dworschak, duffek, doleschal

    dalma, tolar opletal

    navratil und bschesina

    kovatsch, tschap, jedlitschka

    lakitsch, prka, kubalek

    tscherni, nowak, matuschek

    blaha, bizan, adametz

    der tschuschnbua haßt kosinec

    genau wia i

    freitog auf d nocht ~ ..

    sigi maron

    Nahaufnahmen zur Situation behinderter Menschen in Österreich

    Im Herbst 1996 veranstaltete der Verein »Integration:Österreich« das Symposium »gleich.beRECHTigt«, bei dem es erstmals gelungen ist, die zahlreichen Vereine und Initiativgruppen an einen Tisch zu bekommen und gemeinsam ein Konzept zur Realisierung eines »Antidiskriminierungsgesetzes« zu erarbeiten. Im Vorfeld zu diesem Symposium wurden Betroffene aus ganz Österreich gefragt, wo, wie und wann sie diskriminiert werden. Diese Selbstdarstellungen werden in diesem Abschnitt unter der Bezeichnung »Im Blickfeld« veröffentlicht.[4] Weiters wurde versucht, wichtige Themen, welche die Lebenssituation behinderter Menschen umfassen, durch typische bzw. beispielgebende Berichte von Erfahrungen und Modellprojekten darzustellen. Da es sich bei dem Thema »Behinderung« um eine »Querschnittsmaterie« handelt und die Variationsbreite des Spektrums sehr groß ist, kann kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen - sehr wohl aber auf neue Aspekte und Einblicke.



    [4] Im Blickpunkt. Die Selbstdarstellungen stammen von Betroffenen anläßlich der EU-Tagung »gleich.beRECHTigt« vom 1./2. November, veranstaltet von Integration:Österreich und dem EU-Programm Helios IL Die Darstellungen sind dem Tagungsbericht entnommen und wurden mit freundlicher Genehmigung des Vereins Integration:Österreich abgedruckt.

    1. Lebensbereiche im öffentlichen Raum

    Im Blickpunkt: Kostenpflichtiger öffentlicher Schulbesuch

    Oststeiermark. Ein schwerstbehindertes Kind besucht eine öffentliche Pflichtschule (S-Klasse), ein anderes halbtags einen öffentlichen Kindergarten. Aufgrund der Schwere der Behinderung dieser Kinder benötigen diese öffentlichen Einrichtungen zusätzliches Personal. Die Kosten für dieses Personal werden den Eltern in Rechnung gestellt, obwohl der Schulbesuch für andere Kinder generell kostenlos ist bzw. die üblichen Kindergartentarife ohnehin bezahlt werden. Bis zu 40 % des Pflegegeldes werden für diesen durch die allgemeine Schulpflicht ja vorgeschriebenen Schulbesuch in Rechnung gestellt, obwohl die tatsächliche zeitliche Entlastung der Familie maximal 15 % ausmacht.

    Im Blickpunkt: Kurt 1 Schauts den an, der is ja deppert

    Kurt, ein 18jähriger Bursch, hat gelernt, sich recht gut auszudrücken; sein beinahe zwanghaftes Bedürfnis, sich gegen alles, was im täglichen Lebensablauf negative Tendenzen zeitigt, zu wehren, hat mich auf ihn aufmerksam gemacht.

    Kurt, du sagst oft, daß du Angst vor anderen Menschen hast. Wieso ist das bei dir so?

    Ich habe schon viele böse Erlebnisse gehabt.

    Möchtest du davon erzählen?

    Ja, gerne.

    Was zum Beispiel macht dir Angst und geht auf einfrüheres Erlebnis von dir zurück?

    In der Schule wurde ich immer verspottet, weil ich schüchtern war und dünner als die anderen Kinder. Da haben sie mich auch gehauen. Die Lehrer sind oft dabeigestanden und haben sich einfach umgedreht, damit sie das nicht sehen. Wenn ich dann zu einem Lehrer ging und mich beklagte, lachten sie mich nur aus und nannten mich »Muttersöhnchen«. Ich hatte dann immer das Gefühl, mit meiner Hilflosigkeit ganz alleine zu sein. Wenn ich heute in einer Gruppe von Menschen bin, fürchte ich mich davor, daß so etwas wieder passiert.

    Ist dir so etwas wieder passiert?

    O ja, bei der Bushaltestelle vorn 61A-Bus.

    Möchtest du davon auch erzählen?

    Ja - Ich bin damals, etwa vor einem Jahr, mit meiner Großmutter einkaufen gegangen. Als wir bei der Haltestelle vorbeikamen, standen da ein paar Schüler und haben mich mit ihren Füßen getreten. Meine Großmutter hat Angst bekommen und ging schnell weg - andere Leute, die auch dort standen, haben sich umgedreht, und ich bin wieder allein gewesen. - Davor habe ich Angst!

    Konntest oder wolltest du dich nicht wehren?

    Ich hatte so eine große Angst, daß ich nur steif dastehen konnte. Die Schüler haben mich ausgelacht und geschrien: »Schauts den an, der is ja deppert!«

    Ist dir deine Großmutter nicht zu Hilfe gekommen?

    Nein, die hat ja Angst gehabt.

    Wie ist denn das schreckliche Erlebnis ausgegangen?

    Als dann der Bus gekommen ist, sind die Schüler eingestiegen, und ich bin nach Hause gegangen. Die Großmutter war bereits daheim. Ich habe mein Erlebnis meiner Mutter erzählt, doch sie sagte nur, ich soll nicht übertreiben.

    Hat denn die Großmutter nichts erzählt?

    Nein, weil mein Vater und meine Mutter sonst mit mir geschimpft hätten, daß ich so blöd schaue und alle wegen mir Schwierigkeiten hätten.

    Danke, Kurt!

    Werkstattbericht. Berufliche Integration durch Arbeitsassistenz.-Von Marietta Schneider

    Zu unserer Geschichte

    Motto: Es ist alles ganz einfach

    Die Elterninitiative »Gemeinsam Leben - gemeinsam Lernen«, engagiert sich seit 1986 maßgeblich engagiert für die Integration der Kinder mit besonderen Bedürfnissen in das Regelschulwesen. Im Sommer 1993 wurde von ihr ein Konzept für eine arbeitsmarktpolitische Beratungsstelle in Auftrag gegeben.

    Was verbirgt sich hinter dem technokratischen Begriff »arbeitsmarktpolitische Beratungsstelle«?

    Ein ganz konkretes, hautnahes Problem: Immer mehr Kinder mit besonderen Bedürfnissen sind inzwischen zu Jugendlichen herangewachsen, befinden sich am Ende ihrer Pflichtschulzeit in Integrationsklassen.

    Die Kinder sind gewachsen und haben sich entwickelt, den Eltern wird schmerzhaft bewußt: Für den Weg ins Erwachsenenleben gibt es die etablierten Wege in die Beschäftigungstherapie, die Rückkehr in das Sonderschulwesen, Einzellösungen oder die Gefahr des zu Hause Verbleibens. Diese Optionen entsprechen weder den Bedürfnissen der Jugendlichen noch den Wünschen der Eltern.

    Ist Integration unteilbar, wie es die Integrationsbewegung immer vertreten hat, kann sie nicht am Pflichtschulende aufhören.

    Durch intensive Recherche und gemeinsame Debatten wird recht bald deutlich:

    Der Ansatz des Supported Employment = Unterstützte Beschäftigung ist im Kein die konkrete Weiterführung integrativer Bildungs- und Lebensprozesse aus der Schule heraus, hinein ins Erwachsenenleben.

    Orientierung an der konkreten Person, Prozeßorientierung und Entwicklung und Bildung der Stärken und nicht Kompensation der Schwächen sind die vorrangigen Eckpfeiler des Modells »Supported Einployment«, das uns in unserer Weiterentwicklung der Integration von der Schule hinein ins Erwachsenenleben wesentlich unterstützte. Zusätzliche handfeste Motivation erhielten wir dadurch, daß - wie wir im Laufe unserer Suche in Erfahrung brachten - die Integrationselterninitiative in Hamburg einen Fachdienst für Arbeitsassistenz initiiert hat, der sich klar an das amerikanische Modell der »Unterstützten Beschäftigung« anlehnt.

    Als wir uns intensiver mit diesem Ansatz auseinandersetzten, wurde uns deutlich:

    Der/die Arbeitsassistent/in ist in seiner/ihrer Funktion in großer Nähe zum Stützlehrer oder zweiten Lehrerln in der Integrationsklasse zu sehen, allerdings unter wesentlich veränderten Umweltbedingungen und mit einer anderen Form der Komplexität im Vergleich zum Schulwesen.

    Auf der rein inhaltlichen Ebene scheint alles ganz einfach, um mein Motto wieder aufzugreifen. Unsere gemeinsame Auseinandersetzung und Debatte war freilich alles andere als einfach: Das lag und liegt am Problembewußtsein der Eltern, daß wir wissen, der Weg in die Berufs- und Arbeitswelt bedeutet neuerlicher Kampf, in weiten Feldern wieder Beginnen beim Punkt Null. Der Kampf um die Integrationsgesetze im Grund- und Sekundarschulbereich hat viel Kraft erfordert und uns sehr müde gemacht. Immer wieder rutschten uns die weiterführenden Visionen durch die Finger. Bilder des Möglichen verschwammen.

    Und: Die Verhandlungen zur Umsetzung und Durchsetzung unseres Konzeptes waren geprägt von Unkenntnis, Problemignoranz und einem hohen Maß an Zähigkeit von seiten der institutionellen Verhandlungspartner. Der Begriff »Arbeitsassistenz« war in unseren ersten Verhandlungen 1993/94 weitestgehend ein Fremdwort. Das gab uns die Möglichkeit, ihn immer wieder zu erklären. Dies hat sich mit dem Beitritt Österreichs zur EU rasch verändert. Das Wort »Arbeitsassistenz« wurde von den politischen Körperschaften recht rasch als Schlüssel zu Geldmitteln begriffen.

    Die eigene Kampfgeschichte und die Bedürfnisse ihrer Kinder geben schlußendlich den Ausschlag: Wir steigen in den Ring, wir lassen nicht locker.

    Gelingt uns der Schritt der Weiterführung nach der Schule nicht; stellen wir unseren Kampf in der Schule selber die Frage.

    Die Wiener Integrationseltern haben bei aller nur zu verständlichen Müdigkeit nicht locker gelassen und ihre Grundhaltung in das Experiment nach der Schule hineingetragen.

    Wir waren uns politisch einig, daß wir für die Umsetzung unserer Konzeptes alle relevanten öffentlichen Körperschaften involvieren müssen. Dies sind für den Bereich der Beruflichen Integration: das Arbeitsmarktservice (AMS), das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (BSB) und die Landesregierung Konkretisieren sollte sich dies in einer Drittelfinanzierung aller drei genannten Körperschaften für die neu zu errichtende Beratungsstelle.

    AMS, BSB und Land teilen sich legistisch die Zuständigkeit für den Weg ins Beruf- und Arbeitsleben von Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Unsere Finanzverhandlungen waren unter diesem wesentlichen Aspekt auch immer eminent politisch Auseinandersetzungen:

    Ging und geht es doch zentral um die Einbringung eines neuen Parasigmas und Menschenbildes im Gegensatz zum klassischen defizitorientierten Rehabilitationsverständnis.

    Die Hartnäckigkeit und Kraft der gemeinsamen Arbeit erbrachte im Jänner 1995 den ersten offiziellen Erfolg: Wir wurden das AMS als Beratungseinrichtung offiziell anerkannt. Das Jahr 1994 galt als Probebetrieb der darüber entscheiden sollte, ob wir die offizielle Anerkennung erhalten. Unsere Beratungsstelle umfaßt zwei Teilbereiche, die essentiell zusammengehören: die (Vor-)Schulische Integration und die Berufliche Integration.

    Im (Vor-)Schulischen Bereich arbeiten 2 Kolleginnen, im Beruflichen Bereich 3 Arbeitsassistentinnen.

    Berufliche Integration konkret

    • Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen sind zuallererst Jugendliche. Mit all ihren Sehnsüchten Träumen und Konflikten auf dem Weg des Selbständiger-Werdens.

    Ist es heute für jeden jugendlichen Menschen schwer, seinen Weg ins Erwachsenenleben zu finden, so ist es für Jugendliche mi besonderen Bedürfnissen noch viel mühsamer, zumal man in einem 18 jährigen Menschen mit besonderen Bedürfnissen allzu leicht noch ein Kind sieht. Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen, die integrativ aufgewachsen sind, stellen ihre Eltern vor ganz neue Herausforderungen. Ich glaub, daß längfristig auch das politische Selbstverständnis der Integrationseltern durch ihre Jugendlichen und ihr klares Selbstbewußtsein eine Veränderung erfahren wird. Ich wünsche mir, daß ihre Interessen in der Interessen in der Integrationsbewegung mit eigener Stimme artikulieren.

    • Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen haben ein Recht auf eine qualifizierte Berufsberatung und Berufsorientierung – als Gegensteuerung zu den etablierten Behindertenberufsbildern und als maßgebliche Unterstützung zu einem individualisierten Weg ins Erwachsenendwerden.

    • Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen wollen nicht nur arbeiten und weiterlernen, sondern auch selbständig wohnen. Selbstbestimmter Arbeiten und Wohnen sind zwei eng miteinander verwobene Bereiche, wo erst neue und vielfältige Wege zu entwickeln sind.

    • Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen brauchen unter Respektierung ihrer besonderen Bedürfnisse Assistenz als integrative Rahmenbedingung für ihren Weg ins Berufs- und Arbeitsleben.

    Unsere Arbeitsweise: Versuche handelnder Antworten

    assisto: hintreten sich hineinstellen, beistehen

    Assistent: Gehilfe

    Die Zusammensetzung des Beratungsteams soll vor allem eines sichtbar machen:

    Wir werden nicht nur von Integration, sondern wir versuchen sie auch selber zu leben. Die Beratungsstelle ist ein integrativer Arbeitsplatz. Hier arbeiten Menschen mit und ohne besondere Bedürfnisse, hier arbeiten Frauen und Männer, junge Erwachsene und ältere Erwachsene.

    Wir arbeiten in einem klassische Beratungssetting, d. h., die Beratung ist kostenlos, freiwillig und anonym. In 3-5 Beratungen wird eine genaue Sichtung der Ist-Situation, der Wunsch-Situation und der Stärken und Interessen erarbeitet, dann folgt die Erprobungs- und Überprüfungsphase: Schnupperwochen und Praktikumsmonat, die von uns in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Betrieb vorbereitet werden. Auch die Initiierung von Schnupperwochen in berufsbildenden mittleren Schulen und der Sekundarstufe 11 gehört zu unserer Arbeit.

    Unsere Dienstleistung an die Betriebe: Unterstützung bei der fördertechnischen Abwicklung, konkrete Aufklärungsarbeit. Was bedeutet es, einen Menschen mit unterschiedlichen besonderen Bedürfnissen in das betriebliche Geschehen aufzunehmen? Was kann sich dadurch an der Arbeitssituation und somit vielleicht auch für die nichtbehinderten KollegInnen zum Positiven verändern? Wie können Krisen und Konflikte konstruktiv gelöst werden?

    Betrachtet man den Beratungsprozeß im Ganzen, dann ist er ein dichtes kommunikatives Geflecht, in das alle beteiligten Partner vernetzt und miteinbezogen sein müssen, soll ein für den Betroffenen konstruktives und lebbares Ergebnis herauskommen.

    Die Eltern, meistens die Mütter, sind aktive PartnerInnen des gesamten Prozesses.

    Kein Beratungsprozeß gleicht dem anderen, jeder hat eine je eigene Gestalt. Rezepturen sind in unserer Arbeit hindernd und kein adäquater Zugang. Und trotzdem gibt es eine Grundhaltung, die wir in allen Prozessen umzusetzen versuchen: Verbindlichkeit, Genauigkeit, Hartnäckigkeit und Kreativität.

    Noch kurz zu den Zahlen:

    Wir begleiten 80 Personen mit besonderen Bedürfnissen, davon sind ca. 40 % Jugendliche, die im Begriffe sind, ihre Pflichtschulzeit zu beenden, oder sie gerade beendet haben.

    Etwa 50 % sind junge Erwachsene, die meist nach längerer Arbeitslosigkeit eine neue Initiative in Richtung Berufsaufnahme starten, oder junge Erwachsene, die das Risiko wagen und den klaren Wunsch haben, die »Geschützte Werkstätte« oder die Beschäftigungstherapie zu verlassen.

    10 % ältere Personen mit besonderen Bedürfnissen suchen einen guten Abschluß ihres Berufslebens.

    Politische Konfliktlinien

    Öffentliche Körperschaften (AMS und BSB) besetzen den Begriff Arbeitsassistenz. Erst die nächste Zukunft wird zeigen, ob es der konkreten Arbeit an der Basis gelingt, den diversen Richtlinien zur Arbeitsassistenz ganzheitliche und qualitative Ansätze der »Unterstützten Beschäftigung« entgegenzusetzen. Diese Auseinandersetzung ist nur vordergründig eine Begriffsspalterei, dahinter verbirgt sich eine ähnlich grundsätzliche Auseinandersetzung wie im schulischen Bereich:

    • Sonderschulen versus Integrationsklassen: Ein anderer Weg der Pädagogik und des Lernens

    • »Geschützte Werkstätten« (defizitorientierte Rehabilitationspolitik) und Richtlinien des BSB zur Arbeitsassistenz versus »Unterstützte Beschäftigung« = Recht auf selbstbestimmtes Leben und Individualisierung.

    Mag. Marietta Schneider war bis zum Herbst 1998 Projektentwicklerin & Arbeitsassistentin der Beratungsstelle »Integration Wien« deren Träger der Verein »Gemeinsam Leben - gemeinsam Lernen« ist.

    Im Blickpunkt: »Leider nicht möglich ... «

    Eine gehbehinderte Studentin aus Kärnten berichtet:

    Einen Monat nach meiner Reifeprüfung im März 1994 bewarb ich mich in Klagenfurt um Aufnahme in die Akademie für den Med.-techn. Dienst. A 15. 7. 94 lautet der Beschluß der Aufnahmekommission: »Leider wegen Platzmangel abgelehnt«.

    Am 14. Juni 1994 wurde ich von der Leiterin des Kollegs für Kindergartenpädagogik in Klagenfurt zu einem Informationsgespräch eingeladen. Auch hier wurde ich belehrt: Kinder würden mich um werfen ... nein, Sonderkindergärtnerin könne ich nicht sein ...

    1995 bewarb ich mich an der Akademie für den logopädisch-phoniatrisch-audiologischen Dienst im Landeskrankenhaus der Stadt Wien und an der Univ.-Klinik in Graz. Die Aufnahmeprüfungen waren in Wien und Graz ähnlich, aber doch nicht gleich. In. Graz wurde ich wegen des negativen Ergebnisses des Aufnahmetests und meiner bisherigen schulischen Leistungen (kein Vorzugszeugnis) von der Aufnahmekommission abgelehnt. In Wien wurde mir gesagt, daß ich total unmusikalisch sei. Außerdem hätte ich einen S- und Sch-Fehler. Viele der Bewerber und Bewerberinnen waren nicht ohne irgendwelche Fehler. Ihnen wurde jedoch die Möglichkeit einer logopädischen Therapie geboten. Nach Behebung der Fehler hätten sie eine zweite Chance, die Akademie zu besuchen. Als ich zu verstehen gab, daß ich auch meine Fehler beseitigen möchte, wurde mir die Möglichkeit aber abgesprochen, bzw. wurde mir zu verstehen gegeben, die Akademie könne ich auf keinen Fall besuchen, da ich behindert sei. Wenn ein hyperaktives Kind zu mir in die Therapie kommen würde, würde sich z. B. das Kind mit dem Spiegel (der auf dem Tisch steht) verletzen. Ich bin an den Beinen behindert und nicht an den Händen, gab ich zur Antwort. Außerdem müßten die hyperaktiven Kinder nicht unbedingt von mir betreut werden ... Als das Gespräch allzu heftig wurde, beendete ich es. In der Mitteilung der Aufnahmekommission stand dann allerdings nichts von S- oder Sch-Fehlern. Die Aufnahme konnte wegen Platzmangels nicht berücksichtigt werden.

    Natürlich gab ich nicht gleich auf. Ich ging zum Behindertenanwalt G. H. Jedoch auch dieser hatte nicht viel zu melden. Dies sei Ländersache.

    Irgendwann bewarb ich mich an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Kärnten - wollte dort die Ausbildung zum Sonderschullehrer machen. Aber auch hier gab es Probleme. Hier hätte ich ein Ansuchen an das Bundesministerium für Unterricht und Kunst stellen müssen. Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen verzichtete ich darauf.

    Da meine Bewerbungen ohne Erfolg geblieben waren, inskribierte ich im SS 94 an der Uni Klagenfurt Pädagogik im Hauptfach und Grundlagen der Psychologie und psychosoziale Praxis im Nebenfach. Mein heutiger Berufswunsch ist Behindertenpädagogin bzw. Behindertenpsychotherapeutin.

    Auch beim Amt der Kärntner Landesregierung blieben meine Bewerbungen erfolglos. Die Landesregierung bzw. Herr H. bemühte sich nicht einmal um einen anderen Text - 1995 und 1996 der gleiche Text. Offensichtlich verläßt man sich hier auf den Computer - ausdrucken und unterschreiben, damit ist die Sache erledigt.

    Natürlich gebe ich nicht auf ...

    Integrierte Arbeitswelt. Beispiele aus der EU- Von Daniela Treiber

    »Jeder behinderte Mensch hat, wie jeder andere Bürger auch, das Recht auf vollständige Entwicklung seiner Persönlichkeit und seiner Fähigkeiten sowie auf Respektierung seiner Unterschiede. Er darf nicht Ziel einer wie immer gearteten Diskriminierung werden.« Auf diesem Grundsatz basierte HELIOS 11, das dritte Aktionsprogramm der Europäischen Kommission zugunsten von Behinderten. Ein Teil dieses Programms waren die »Aktivitäten zum Erfahrungs- und Informationsaustausch« mit dem Ziel: Erkennen, Bewerten und Definieren von innovativen und effizienten Maßnahmen.

    Beabsichtigt war, durch den Erfahrungsaustausch einen Entwicklungsprozeß zu initiieren, der über den individuellen Bereich der Teilnehmer auch auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene wirken soll. Für eine europäische Behindertenpolitik fehlt die rechtliche Grundlage. Die Arbeit der Kommission und daher auch des Helios-Programms muß, wie im Vertrag von Maastricht verankert, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechen. Sie will jedoch durch den Informations- und Erfahrungsaustausch eine europaweite Debatte über Behindertenpolitik in Gang bringen. Viele Beispiele und Arbeitsweisen, die ich auf meinen Studienbesuchen und in der Diskussion mit anderen Teilnehmern kennenlernen konnte, spiegeln die veränderte Einstellung zur Situation von Menschen mit Behinderung in der heutigen europäischen Gesellschaft wider. Nicht »Social Welfare« ist der Ausgangspunkt, sondern Chancengleichheit. Diese Beispiele zeigen auch auf beeindruckende Weise, daß wirtschaftliche Integration - und das ist immer ein Arbeitsplatz auf dem offenen Arbeitsmarkt - auch in Bereichen und auf eine Weise möglich ist, die in Österreich noch nicht einmal in Vorstellungsbildern präsent ist.

    Der Maßstab, den ich anlege, ist der Leitsatz der Integrationsbewegung »Integration ist unteilbar«, Integration muß in allen Lebensbereichen möglich sein und für alle Menschen, unabhängig von Art und Schwere ihrer Behinderung. Meine Aufmerksamkeit richtet sich darauf, ob und welche Klassifizierungen von Behinderungen vorgenommen werden und ob ein reguläres Arbeitsverhältnis am offenen Arbeitsmarkt angestrebt wird.

    Who is employable?

    Bei der Konferenz in Genua im November 1995, bei der mehrere Themengruppen zusammengefaßt waren, nahm ich an der Arbeitsgruppe »Who is employable?« (Wer kann an einem Arbeitsplatz beschäftigt werden?) teil. Als Diskussionsgrundlage sollten zunächst 2 Teilnehmer die Arbeitsweise ihrer Organisation vorstellen.

    Revalidatiecentrum Het Rodessingh (NL): Therapiezentrum mit dem Ziel, Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen. Um eine erfolgreiche Eingliederung zu erreichen, versteht man sich in erster Linie als Beratungsservice für den Arbeitgeber. »Der Arbeitgeber ist der Klient, der arbeitssuchende Mensch mit Behinderung das Produkt. « Um das »Produkt« besser verkaufen zu können werden Therapiedienste angeboten, die 5 Problembereiche erfassen: körperliche, soziale, psychologische, kommunikative und das tägliche Leben betreffende (waschen, anziehen, essen). Die Arbeitssuche unterstützt ein persönlicher Mentor, der auch Job coach sein kann. Wegen der beschränkten Arbeitsplatzkapazität muß bei der Aufnahme selektiert werden – allerdings nicht Art oder Schwere der Behinderung ist das Kriterium, sondern die ausreichende Motivation des Behinderten oder seiner Umgebung (Eltern). Aus dem Selbstverständnis als Unternehmensserviceergibt sich, daß zuverlässige Arbeitskräfte angeboten werden, die den Bedürfnissen des Betriebes entsprechen.

    Brother of Charity (GB): Ein Sonder-Ausbildungszentrum, das vor drei Jahren im Sinn des Supported-employment-Gedankens umgewandelt wurde. Bis dahin waren dort ca. 90 Menschen in Holzbearbeitung ausgebildet worden, 99 % fanden keine Möglichkeit, das Ausbildungszentrum zu verlassen. Nach dem neuen Konzept sorgt ein »officer« mit profunden Arbeitsmarktkenntnissen für das Marketing und die Kontakte zu den Arbeitgebern. Ein Job coach begleitet den behinderten Menschen zum Arbeitsplatz. Dem Arbeitgeber wird garantiert, daß eine bestimmte Arbeit durchgeführt wird. Diese Arbeit wird zwischen Job coach und Arbeitnehmer aufgeteilt. Der Job coach zieht sich schrittweise zurück, bis er überflüssig geworden ist. Er lernt dabei die soziale Struktur des Betriebes kennen und versucht einen Arbeitskollegen als Job coach zu gewinnen (natural support). Ein Anreiz für den Arbeitgeber, behinderte Menschen einzustellen, ist die Möglichkeit jederzeit bei Problemen die Organisation anrufen zu können, was bei nichtbehinderten Arbeitnehmern nicht möglich ist. Der Job coach gibt oft sogar Ratschläge bei Schwierigkeiten mit nichtbehinderten Arbeitnehmern, da er den Betrieb gut kennt und Erfahrung hat. Als grundlegender Vorteil der neuen Arbeitsweise gegenüber einem Ausbildungszentrum wird angeführt, daß dort für 90 Leute nicht verschiedene Ausbildungsprogramme möglich sind, mit supported employment jedoch 90 verschiedene Arbeitsplätze, die dem einzelnen Menschen entsprechen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, verschiedene Arbeitsplätze zu testen. Auf diese Weise gelingt es, so manche Schwachstelle zu erkennen. Man bemüht sich auch, junge Leute direkt von der Schule weg nach dem Supported-employment-Modell zu betreuen, noch bevor sie in das »Behinderungsstyem« geraten. Um größere Selbständigkeit zu erreichen, wurden Wohngemeinschaften gegründet, in denen drei Menschen mit besonderen Bedürfnissen und ein Helfer zusammenwohnen Finanziert wird die Organisation vom Social Service und dem Europäischen Sozialfonds.

    Arbeitgeber und Integration

    Shaw Trust (England) führt Unternehmer-Schulungen durch, ebenso Lika Villkor (Schweden), die auch eine Art Gütesiegel an Firmen verleihen, die die Ziele der Integration unterstützen. EEGA (Holland), die private Initative eines Hörbehinderten, betreibt neben der Vermittlungstätigkeit eine eigene Computer-Firma mit Behinderten-Arbeitsplätzen als Beispielwirkung und um eine Gesprächsbasis in Unternehmer-Vereinigungen zu haben. Alle diese Organisationen bieten professionelle Beratungdienstelle für Arbeitgeber und Nachbetreuung an.

    Bei der Beschäftigung mit dem Arbeitsthema wurden verschiedene Schlüsselpunkte herausgearbeitet:

    • Der Mehraufwand der Arbeitgeber muß kompensiert werden (z. B. für Produktionsminderung)

    • Die Einbindung der Arbeitsgeber muß verstärkt werden (Arbeitgeber mit guten Erfahrungen soll andere ermutigen)

    • Die Chancengleichheit muß vorangetrieben werden

    • On-the-job-Persönlichkeitseinschätzung,On-the-job-training und Schnupperwochen als Arbeitserfahrung müssen forciert werden, da sie sich als der beste Weg erwiesen haben, die Bereitschaft des Arbeitsgebers zu fördern

    • Bessere Übergänge zwischen Erziehung und Berufsausbildung

    • Training der sozialen Fähigkeiten als wesentliches Element der Vorbereitung des Klienten für einen Arbeitsplatz am offenen Arbeitsmarkt

    Studienbesuch bei Shaw Trust

    Am interessantesten war für mich der Studienbesuch bei Shaw Trust in England, da ich hier in der Praxis erleben konnte, welche Entfaltungsmöglichkeiten Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft auch für Menschen mit geistigen Behinderungen bringen können. Shaw Trust entstand 1981, als, angeregt durch das internationale Jahr des Behinderten, eine kleine Gruppe von Menschen in der Ortschaft Shaw in Wiltshire begann, Arbeitsplätze für schwer behinderte Menschen zu suchen. Dabei zeigte sich, wie sich Fertigkeiten und Selbstvertrauen am Arbeitsplatz entwickelten und wieviel Menschen mit Behinderung anzubieten haben. Das brachte eine neue Sichtweise mit sich, im Vordergrund standen nicht mehr die Behinderungen, sondern die Fähigkeiten. Heute ist Shaw Trust die größte karitative Organisation Englands, die sich mit der wirtschaftlichen Integration von Menschen mit Behinderung befaßt, wobei jeweils auf die lokalen Bedürfnisse eingegangen wird. Zweigstellen gibt es in ganz England und im südlichen Schottland. Das definierte Ziel von Shaw Trust ist es, Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, ihre Fähigkeiten an einem Arbeitsplatz zu entfalten. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es ein zunehmendes Spektrum von Serviceleistungen, die das Arbeitspotential des Klienten, auf seine Bedürfnisse abgestimmt, maximieren sollen. Die zentrale Arbeitsweise ist »supported employment«. Damit ist Langzeit-Unterstützung gemeint - bis zum Job coaching - für Menschen, die sonst aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine Chance auf dem offenen Arbeitsmarkt hätten. Bis jetzt wurden ca. 3000 Menschen in 2000 verschiedene Firmen vermittelt. Große Finnen beauftragen Shaw Trust sogar, Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zu kreieren. Der Erfolg basiert auf dem sorgfältigen Abstimmen der individuellen Fähigkeiten mit den Bedürfnissen des Arbeitgebers.

    Die »officer« machen dreimal jährlich Besuche am Arbeitsplatz, sind jedoch - und das ist entscheidend für die Bereitschaft der Arbeitgeber - bei auftretenden Problemen jederzeit verfügbar. Die Finanzierung von Shaw Trust erfolgt größtenteils durch den Staat, abhängig von der Anzahl der betreuten Menschen, außerdem durch pri¬vate Spenden. Klienten mit einem unterstützten Arbeitsplatz sind bei Shaw Trust angestellt und werden von diesem in Höhe des Lohnniveaus des arbeitgebenden Betriebes entlohnt. Der Arbeitgeber zahlt einen Lohnanteil an Shaw Trust, der der erbrachten Leistung entspricht. In einem Vertrag zwischen Shaw Trust und Arbeitgeber werden dieses Zahlungsverhältnis und die Rechte und Pflichten des unterstützten Arbeitnehmers festgelegt, die denen der anderen Arbeitnehmer des Betriebes entsprechen müssen. Bei den Besuchen des Shaw-Trust-Officers am Arbeitsplatz wird je nach Weiterqualifizierung der Arbeitgeberanteil neu verhandelt. Vor drei Jahren kam es allerdings zu einer empfindlichen Kürzung der staatlichen Zahlungen, und der Arbeitgeberanteil mußte entsprechend angehoben werden. Entgegen den Befürchtungen kam es jedoch zu keinem Rückgang der vermittelten Arbeitsplätze, und es zeigte sich, daß qualifizierte Beratung und fortdauernde Betreuung im Krisenfall die wesentlichsten Faktoren für die Motivierung des Arbeitgebers sind.

    Die Arbeitsplätze, die uns gezeigt wurden, waren größtenteils in Filialen von Handelsketten Jesco, Body Shop, Marks & Spencer, McDonalds), in einer Gärtnerei und einem Betrieb für Erzeugung von Rollstühlen. Der Lebensmittelmarkt Tesco ist an Shaw Trust herangetreten, um Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zu schaffen. Für 4 Mädchen mit geistiger Behinderung sind Arbeitsplätze in der Küche kreiert worden. Sie erhalten im Betrieb ein Training in berufsbezogenen Fertigkeiten und besuchen am örtlichen College einen speziellen Kurs für Menschen mit Behinderung zur Persönlichkeitsschulung. Beeindruckend war bei allen Arbeitsplätzen, mit welchem Selbstbewußtsein und welcher Selbstsicherheit die jungen Menschen mit Down-Syndrom und anderen geistigen Behinderungen über ihre Tätigkeit sprachen, ebenso die positive Anteilnahme der Arbeitskollegen und die kreative Freude der Arbeitgeber, diese Menschen nach ihren Fähigkeiten einzusetzen und vor allem auch weiterzuqualifizieren. Hier war viel motivierende Vorarbeit von den »officers« geleistet worden. Die Arbeitgeber betonten, daß wesentlich für ihre Bereitschaft zur Einstellung eines Menschen mit Behinderung ein zuverlässiges Persönlichkeitsprofil, die professionelle Beratung und die Bereitschaft zu sofortiger Hilfe bei Problemen seien. Das wären Gründe, warum sie sogar Menschen mit Behinderung mitunter anderen Bewerbern vorzögen.

    Weitere Studienbesuche …

    führten mich zu Siemens med in Erlangen und zum BAB Mittelfanken. Siemens hat das sozialpolitische Ziel festgelegt, arbeitslose Schwerbehinderte in den Arbeitsprozeß einzugliedern. Für die Firmenleitung gilt der Grundsatz, daß bei Neueinstellungen Behinderten mit entsprechender Ausbildung der Vorzug zu geben ist. Dennoch kann die gesetzl. vorgeschriebene Quote (6 %) nicht erreicht werden. Seit Jahren ist die Beschäftigung von Schwerbehinderten rückläufig und die Zahl der nicht besetzten Pflichtplätze ansteigend. Siemens med beschäftigt gegenwärtig 270 Behinderte (4 % aller Beschäftigten). Nur ein kleiner Teil wurde als Behinderte eingestellt, der Großteil fiel im Laufe ihrer Tätigkeit durch Krankheit oder Unfall in den Behindertenstatus. Als Gründe für den Mangel an behinderten Arbeitskräften wird angenommen, daß Behinderte oft keine ausreichende Qualifikation haben bzw. die Zahl der hochqualifizierten Arbeiten zunimmt und einfache Tätigkeiten abnehmen.

    In Zusammenarbeit mit dem Berufsausbildungwerk Mittelfranken bildet die Firma Siemens junge Menschen mit Lernschwierigkeiten im Rahmen der Lehrlingsausbildung aus. Die Integrationsgruppen werden kleiner gehalten, um besser auf die Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten eingehen zu können. Nach Abschluß der »Anlehre« bekommen die Jugendlichen einen entsprechenden Arbeitsplatz bei der Firma Siemens. Vor 15 Jahren wurden 120 Lehrlinge pro Jahr ausgebildet, davon 6 mit Lernbehinderung, 1995 nur mehr 70 Lehrlinge, aber ebenso 6 mit Lernbehinderung.

    Das BAB Mittelfranken betonte bei der Vorstellung seines neuen Konzeptes, daß es sich grundlegend von den Zielsetzungen aller anderen Ausbildungsinstitutionen für Behinderte in Deutschland und Österreich, die als Internate mit eigener Lehrwerkstätte geführt werden, unterscheide. Das BAB bietet die Möglichkeit einer wohnortnahen und flexiblen Ausbildung. Das bedeutet, die Jugendlichen können zu Hause leben und werden nicht aus ihren sozialen Zusammenhängen gerissen. Die Ausbildung erfolgt in Betrieben der freien Wirtschaft statt in kostenintensiven geschützten Werkstätten. Vor allem die Möglichkeit des sozialen Lernens in realen Situationen ist die Grundlage der erfolgreichen Integration. Ausgebildet wird sowohl in regulären Berufen als auch in von den Kammern anerkannten Berufsbildern für behinderte Menschen. Ein Drittel der ausgelernten Lehrlinge erhalten eine Einstellung im Ausbildungsbetrieb.

    Wirtschaftliche und damit auch soziale Integration von Menschen mit Behinderung, an erfolgreichen Beispielen in verschiedenen Ländern erlebt, wirkt so selbstverständlich. Wann kann es das auch in Österreich sein?

    Dr Daniela Treiber war bis 1998 Vorstandsmitglied bei Integration: Österreich (Elterninitiativen für gemeinsames Leben behinderter und nichtbehinderter Menschen) und nahm an Study Visits Ar Helios II, Bereich wirtschaftliche Integration, teil.

    Im Blickpunkt: Gabi / Blinde Vorurteile

    Ich finde es diskriminierend, wenn Rollstuhlfahrer in gewisse Gebäude nicht hineinkommen. Für Blinde gibt es auch zu wenig Arbeitsplätze. Ich werde oft bemitleidet. Die Leute brauchen mich aber nicht zu bemitleiden. Es ist gemein, daß es so wenig akustische Ampeln für Blinde gibt. Ich werde oft komisch angeschaut. Kinder werden diskriminiert. Nur weil ein Kind eine dicke Nase hat, wird es in der Schule oft gehänselt. Auch wenn ein Kind rote Haare hat, wird es gehänselt. Das finde ich nicht richtig. Die Gesellschaft sollte viel mehr informiert werden. Dann würden weniger Vorurteile herrschen. Sie sollte sich bemühen, die Behinderten mehr zu akzeptieren. Ich werde traurig, wenn ich von manchen Menschen nicht akzeptiert werde. Bei uns auf dem Land werde ich akzeptiert. Da kennt mich jeder. Ich würde mich freuen, wenn mich die ganze Gesellschaft akzeptieren würde

    Vom Recht etwas leisten zu dürfen*

    * Vom Recht etwas leisten zu dürfen. Erschienen in: Der Standard, 11. 12. 1998, S. A

    »Die Zeiten sind härter geworden«, hört man landauf, landab. Die Krankenstände sind in den letzten Jahren drastisch zurückgegangen Immer öfter kommt es vor, daß Beschäftigte trotz Fieber ins Büro gehen. Denn wer fehlt, wer einmal »nichts leistet« d wird einfach ausgetauscht.

    Michael (38) ging wegen Seh- und Gleichgewichtsstörungen zum Arzt. Die Diagnose »Multiple Sklerose« traf ihn wie ein Schlag. Michael redete mit niemandem darüber, schon gar nicht mit seinem Arbeitgeber; »wenn der das erfährt, bin ich sofort auf der Straße«, meinte er damals. Seit der ersten Diagnose ist ein Jahr vergangen. Schubweise meldete sich die Krankheit, schubweise ging Michael auf Urlaub. Derzeit geht es ihm wieder besonders schlecht: Michael liegt im Bett und kann sich kaum noch fortbewegen. Einen Rollstuhl anfordern oder sich gar beim Bundessozialamt als »Behinderter« einstufen zu lassen will Michael auf keinen Fall. Denn dann gehört er ja der Randgruppe der »Behinderten« an der »Minderleister« oder wie manche auch sagen, der »Sozialschmarotzer«.

    Christiane kann ihre Behinderung nicht verbergen. Nach einem Autounfall benötigt sie eine Beinschiene und zwei Krücken zur Fortbewegung. Was Christiane während der langwierigen Rehabilitationsbehandlungen motivierte, war der Gedanke, wieder mit ihren Arbeitskolleginnen im Lebensmittelgeschäft zusammen sein zu können. Vor zwei Monaten wurde sie schließlich zu einem Gespräch ins Büro der Filiale in Trieben eingeladen. Ein Personalchef war extra aus Wien angereist: Als er Christiane mit zwei Krücken gehen sah, schüttelte er gleich den Kopf und meinte: »So wie Sie daherkommen, können wir Sie als Arbeitskraft nicht mehr brauchen.« Christiane wurde nach 12 Jahren Arbeit für diesen Betrieb fristlos gekündigt

    Diese Handlungsweise des größten österreichischen Lebensmittelhändlers ist nicht untypisch und entspricht, wie die Statistik zeigt, dem gängigen Behinderten-Reflex: 14.848 Dienstgeber müßten rund 69.000 Pflichtstellen mit Behinderten besetzen. 27.000 zahlen aber lieber die Strafe von ATS 2.010,- pro Monat. Derzeit sind 37.473 Behinderte arbeitslos. Tendenz steigend (siehe Der Standard, 9. Juli 1998, S. 14).

    Daß es auch anders sein kann, zeigt die Pädagogische Buchhandlung in Wien. Vor nunmehr neun Monaten beschloß die Buchhändlerin einen 17jährigen Burschen mit Down-Syndrom anzustellen. Nicht unbedingt zur Freude der gegenüber diesem Vorhaben sehr skeptischen fünf Mitarbeiter. Unter der Mithilfe von einem Arbeitsassistenten gelang es Dieter jedoch, durch seine Arbeitskraft das Team stark zu unterstützen. »Er hat viel dazugelernt und auch seine Persönlichkeit entwickelt«, meint die Buchhändlerin heute. Noch auffälliger ist für sie die Veränderung der übrigen Mitarbeiter: Der Teamgeist ist stärker geworden, und aus der einstigen Skepsis wurde durch viele kleine Erfahrungen im alltäglichen Zusammenleben ein uneingeschränktes »Ja« zur Integration.

    Das Österreichische Behinderteneinstellungsgesetz ist heute zahnloser denn je. Die Strafen bei Nichterfüllung der Einstellungsquote scheinen längst zu niedrig, das Kündigungsverbot schreckt wiederum viele Betriebe vor einer Anstellung eines Behinderten ab. Seit Jahren ist man im Richtungsstreit zwischen »mehr überzeugen« oder »mehr strafen« hängengeblieben. Ein Paradigmenwechsel ist gefordert: weg vom »Social Welfare« hin zur ganzheitlichen Wirtschafts- und Sozialentwicklungsberatung von Betrieben, wie sie etwa in Holland praktiziert wird.

    Theresia Haidlmayr, Grün-Abgeordnete im Rollstuhl, fordert bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ein »Antidiskriminierungsgesetz«. Mit dessen Hilfe, so hofft sie, müßten dann endlich auch Bund, Länder und Gemeinden ihre Einstellungspflicht erfüllen. Haidlmayr ist bislang die einzige selbst betroffene Behindertensprecherin im Parlament. Gerade stellen die Parteien Kandidatenlisten zur nächsten Nationalratswahl zusammen. Wenn sich darauf behinderte Menschen fänden, wäre das mehr als erstaunlich. Denn üblicherweise werden solche Jobs nur an Nichtbehinderte vergeben.

    Im Blickpunkt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit Vom Ende einer Illusion!

    Die Werkstätte des ÖHTB (Österreichisches Hilfswerk für Taubblinde und hochgradig Hör- und Sehbehinderte) am Humboldtplatz hat - dem Vereinskonzept entsprechend - vor allem ein Ziel: die Integration behinderter Menschen in den gesellschaftlichen Alltag (siehe Broschüre des ÖHTB, Seite 2, Absatz 2).

    Zwei wichtige Aspekte des Regelarbeitsmarktes sind für diese wie auch die meisten anderen Werkstätten unterentwickelt: leistungsorientierte Bezahlung einerseits und eine Demokratisierung im Sinn einer quasigewerkschaftlichen Form der Werkstätte andererseits. Der Werkstättenleiter, Dr. Fritz Schermer, gründete ein Klientenforum, Vertreter wurden gewählt und Maßnahmen beschlossen. Die Veränderungen aus Sicht der Werkstatt-Klienten:

    Jürgen V. (23, Klient): »Die Demokratisierung der Werkstätte ist super, weil wir jetzt auch am Gesamten mitarbeiten können.«

    Gabi H. (25, Klientin): »Das war die erste Wahl meines Lebens. Endlich können alle gemeinsam arbeiten.«

    Amar H. (24, Klient, Werkstätten-Vize-Sprecher): »Für mich ist es eine große Herausforderung, für unsere Gemeinschaft verantwortlich zu sein. Es ist ein großer Fortschritt für mich, Amtswege und politische Kanäle kennenzulernen.«

    Rula L. (33, Betreuerin): »Die Klienten sind seit der Demokratisierung mehr mit dem Übernehmen von Verantwortung beschäftigt. Das bringt einerseits mehr Arbeit und mehr Ängste, andererseits aber auch mehr Lust am Zupacken.«

    Lydia K. (22, Klientin): »Die Demokratisierung der Werkstätte hat uns in unserem Handeln bestärkt. Wenn uns etwas ärgert, dann können wir das endlich auch sagen und werden gehört. Durch unsere Tätigkeit wie zum Beispiel das Kontaktieren von Institutionen treten wir mit >Außen< in Kontakt und haben dadurch Öffentlichkeit.«

    Stephan E. (23, Klient): »Endlich geschieht etwas für uns.«

    Renate K (26, Betreuerin): »Die Demokratisierung bringt mehr Gerechtigkeit. Daß sich die Klienten zum Beispiel vom verpflichtenden Essen abmelden können, ist ein Schritt zur persönlichen Emanzipierung.«

    Regina B. (19, Klientin): »Unser Ziel ist es, einmal im Parlament zu sitzen. Wenn die Politiker Blödsinn reden, dann wollen wir nicht nur zuhören, sondern auch mitreden und mitbestimmen.«

    Der Werkstättenleiter Dr. Fritz Schermer meinte: »Die Reaktion der Geschäftsführung auf das demokratische Selbstbewußtsein der KlientInnen war zunächst von Skepsis geprägt. Vor allem die Angst vor dem >Hineinregieren< war anfangs groß. Aber schließlich wurde durch die Demokratisierung der KlientInnen auch das Demokratiebewußtsein seitens der Mitarbeiter gestärkt.« Dieses Verständnis fand jedoch ein jähes Ende, als ein Antwortfax (Rechtsauskunft eines Anwaltes zur Situation der KlientInnen) am Tisch der Geschäftsführung landete. Der Werkstättenleiter wurde fristlos gekündigt (siehe Bericht in der Zeitschrift »Falter« vom 12. Juni 1997).

    Im Blickpunkt: Angehörige zahlen

    (Steiermark:) Neue Rückersatzbestimmungen der Behindertenhilfe verpflichten Eltern und EhepartnerInnen von behinderten Menschen, von ihrem Einkommen zu Leistungen der Behindertenhilfe dazuzuzahlen (z. B. Therapien, Kursmaßnahmen der Eingliederungshilfe, Fahrten zur Arbeit, Beschäftigung im Rahmen von Tageswerkstätten). Die Angehörigen müssen nun wohl oder übel diese Schmälerung ihres Lebensstandards zur Kenntnis nehmen. Es bedeutet im Fall von potentiellen EhepartnerInnen für den Behinderten eine Verminderung der Heiratschancen, bzw. bei Schwangeren ein zusätzliches Argument für Schwangerschaftsabbruch und damit Verhinderung von Lebenschancen eines behinderten Menschen.

    Integriertes Wohnen contra Leben im Heim*

    * Auszug aus dem Bericht »Der Mobile Hilfsdienst, Erfahrungen und Perspektiven« (1986), verfaßt von einem Autorenteam unter der fachlichen Begleitung von Dr. Volker Schönwiese, Universität Innsbruck Kurze Vorgeschichte des Mobilen Hilfsdienstes Innsbruck.

    Seit 1976 existiert die Initiativgruppe Behinderte-Nichtbehinderte in Innsbruck. Die Geschichte dieser Selbsthilfegruppe war lange Zeit geprägt durch den Versuch, die Probleme behinderter Personen öffentlich zu machen, aus der Kultur des Schweigens über dieses Thema herauszutreten. Verbunden war dies immer auch mit sehr konkreten Forderungen zur Verbesserung der Lebenssituation von den behinderten MitbürgerInnen. Die konkreten Inhalte und Aktionen können hier nicht beschrieben werden. Bekannt ist vielleicht noch der exemplarische Kampf um die Abflachung der Gehsteige in Innsbruck. Die Gruppe erkannte, daß sie nur eine Chance hat, wenn sie zur Selbsthilfe greift, und gründete den »Mobilen Hilfsdienst« Innsbruck.

    Der Mobile Hilfsdienst arbeitet mit dem Ziel, in der Gesellschaft Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen mit Behinderungen oder altersbedingten Behinderungen genauso ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen können, wie wir uns die auch für alle anderen Menschen wünschen.

    Der Mobile Hilfsdienst steht für alle behinderten und pflegebedürftigen Personen ungeachtet des Schweregrades ihrer Behinderung zur Verfügung, um diesen Menschen ein Leben in ihrer gewohnten Umgebung durch individuelle ambulante Betreuung zu ermöglichen mit dem Ziel, Heimeinweisung und Aussonderung zu verhindern.

    Heimunterbringung: Der Weg in die Sackgasse

    Hauptziel des Mobilen Hilfsdienstes als Selbsthilfeorganisation war es immer, Heimeinweisungen zu verhindern. Denn die Heimeinweisung hat schlimme persönliche Folgen. In der »geschützten« Umgebung von Heimen wird die persönliche Entfaltung des einzelnen systembedingt verhindert. Die Motivation der Betroffenen, sich für ihre Rechte und für eine individuelle Gestaltung ihrer Lebenssituation einzusetzen, geht verloren. Zahlreiche »Fallbeispiele« und Berichte von Betroffenen über zum Teil unvorstellbares soziales Elend liegen vor. Über die Folgen der Absonderung in Heimen ist alltäglich durchaus vielfältiges Wissen vorhanden und kann durch die einfache Frage »Willst Du ins Heim?« mobilisiert werden. Die Effekte von Hospitalisierung sind insbesondere Folge von folgenden Bedingungen »struktureller Gewalt« in Betreuungseinrichtungen (Vgl.: Ernst Klee, Behindert. Ein kritisches Handbuch, Fischer-Verlag, 1980, S. 53-65):

    1. Keine Trennung der Lebensbereiche

      In Heimen sind die BewohnerInnen an einen Ort gebunden. Der gesamte Tagesablauf spielt sich in einem Zimmer bzw. Haus ab. Mehrbettzimmer sind häufig (wobei die Altersstruktur von 20 bis ca. 80 Jahren reicht). Kontakte mit der Außenwelt sind erschwert, gestört, werden auch unterbunden.

    2. Leben als Massenwesen

      Besonders schlimm empfinden »Neulinge« im Heim, daß sie nur noch als »Massenwesen« gesehen und entsprechend behandelt werden. Der gesamte Tagesablauf wird fremdorganisiert. Eigenleben und Intimsphäre sind nicht möglich. Es wird öffentliche Nacktheit praktiziert - andere Bewohner sind Zeugen der verschiedenen intimsten Verrichtungen. Ein weiteres Indiz für die Entpersönlichung ist die »Wir-Sprache«: »Na, wie geht's uns denn heute?«

    3. Von oben bestimmter Tagesablauf

      Der Tagesablauf einschließlich völlig absurder Aufsteh- und Zubettgeh-Zeiten wird nicht von den BewohnerInnen bestimmt, sondern von der Heimleitung. Dies wird mit organisatorischen Zwängen begründet.

    4. Unterordnung aller Regeln unter die Ziele der Institution.

      Die Institutionsziele werden in Heimordnungen formuliert und entsprechend gehandhabt. Dem Bedürfnis nach störungsfreiem und reibungslosem Ablauf aller Aufgaben wird absoluter Vorrang gegenüber den individuellen Bedürfnissen der BewohnerInnen eingeräumt. Nach relativ kurzer Eingewöhnungszeit haben die Betroffenen den Rhythmus internalisiert, so daß sie keine Uhr mehr benötigen.

    5. Menschliche Bedürfnisse werden bürokratisch geregelt

      Zur Verwaltung der BewohnerInnen und deren Bedürfnisse gibt es in allen Heimen zuständige Personen, die aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung »schon wissen«, was die Behinderten wollen. Behinderte bekommen kaum Geld in die Hand, können also nicht selbständig einkaufen - Denken und Handeln werden ihnen abgenommen. Individuelle Freizeitgestaltung ist die Ausnahme. Als Beispiel dafür sei der alljährlich organisierte »Sonnenzug« angeführt, in den eine große Anzahl von Behinderten verladen wird, um ihnen eine Reise zu ermöglichen. Sicher freuen sich viele Behinderte, aber es stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit solcher Fahrten, wenn man den Lebensalltag von Behinderten kennt.

    6. Der Gegensatz zwischen Personal und BewohnerInnen

      Anstalten sind von diesen Gegensätzen geprägt. Betreuerlnnen haben vielfältige, auch subtile Möglichkeiten der Disziplinierung. Der Dienstplan oder die Bereitschaft der BetreuerInnen, Überstunden zu leisten, entscheiden darüber, wer spät ins Bett, wer ins Kino oder in das Gasthaus gehen darf. Personalmangel und hohe Personalfluktuation führen in vielen Einrichtungen zuweilen sogar dazu, daß Behinderte die BetreuerInnen mit Geld bestechen, damit jemand einmal für sie Zeit hat. Die professionelle Alltagsroutine führt dazu, Behinderte zunehmend nur mehr als »wartungsbedürftigen Organismus« zu behandeln.

    7. Der Ausschluß von Entscheidungen

      In den Einrichtungen geht der Informationsfluß von oben nach unten. Die Leitung informiert über das, was in ihrem Interesse ist, filtert Informationen nach der Nützlichkeit. Die BewohnerInnen sind von den Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen Die einfachsten Mitbestimmungsrechte existieren nicht.

    Ein Betroffener berichtet:

    Mein Name ist Volker Marini, und ich möchte ein bißchen aus meinem Leben erzählen. Es hat sich wohl einiges verändert. Einmal hat sich mein Zustand schön langsam etwas mehr verschlechtert, und ich brauche schier für jeden Handgriff Hilfe. So kommen am Morgen Leute vom Behindertenforum und holen mich aus dem Bett. Zu Mittag legen mich Leute vom Mobilen Hilfsdienst nieder und erledigen mit mir Schreibarbeiten. Am Abend helfen mir die Johanniter und noch viele andere auch. Ich bedanke mich sehr dafür. Dies alles geschieht 365mal im Jahr, weil ich nicht ins Heim will. Erlebnisse, die ich in heimähnlichen Krankenhäusern hatte, waren dafür maßgebend. Meine eigene Meinung war grundsätzlich belanglos. Man sagte mir, wenn ich in ein Sanatorium wolle, müßte ich in die Schweiz gehen und 3.000,- Schilling pro Tag bezahlen. Auch wurde ich aus angeblichem Personalmangel 17 Stunden am Tag ins Bett verbannt. Sie können sich vorstellen, daß ich nach diesen drei Wochen nur mit Mühe wieder sitzen lernte, da meine Muskelkraft völlig erschlafft war. Anderswo zum Beispiel wurde ich morgens nach dem Duschbad ins Zimmer gestellt, das Pflegepersonal bettete noch schnell auf und ging mit den Worten »wir kommen gleich wieder« zur Tür hinaus (ich mußte nämlich noch angezogen werden). Weil mir nach einiger Zeit zu frösteln begann, läutete ich, worauf wer kam und mir wirsch sagte, wir haben gesagt, es kommt wer, merken Sie sich das.

    Leben zu Hause - Leben im Heim- Am Beispiel der Aufzeichnungen eines Betreuers

    Ich möchte über ein Ereignis schreiben, das ich ungefähr vor einem Jahr bei meiner ersten Betreuung erlebt habe und das in mir sehr viele Fragen aufgeworfen und Ängste ausgelöst hat.

    Da ich zu dieser Betreuung keine - bzw. nur unvollständige- Tagebuchaufzeichnungen habe, werde ich versuchen, so über die Betreuung zu schreiben, wie sie mir in Erinnerung geblieben ist. Es handelt sich um die Betreuung eines 85jährigen alten Mannes, der ein Raucherbein hatte.

    Bei meiner ersten Begegnung mit Herrn A. war auch sein Bruder da. Dieser hat, während Herr A. und ich kaum gesprochen haben, dauernd geredet. Die Situation war mir unangenehm.

    Wir stehen im Gang, und der Bruder von Herrn A. sagt mir, warum er sich an den Mobilen Hilfsdienst gewendet habe und was ich für Herrn A. tun soll. »Vorwiegend geht es darum, daß jemand nach dem Rechten sieht, denn es könnte ja etwas passieren, und in der Wohnung ist auch einiges nachzuholen. Die Frau von Herrn A. ist schon vor 20 Jahren gestorben und seit der Zeit lebt dieser alleine in der Wohnung. Nur die Schwester hat hier manchmal ein bißchen aufgeräumt oder eine Bekannte.« Der Bruder von Herrn A. sagt noch, daß es mit uns zweien schon klappen wird, und geht.

    Herr A. steht vor mir, seine Haare sind zerzaust, sein Pyjama ist ihm zu groß. Er macht einen verwahrlosten Eindruck; was mich beeindruckt, sind seine Augen. Sie leuchten und haben etwas so Lebendiges, Jugendliches an sich. Ich frage Herrn A., was ich denn machen soll, und er sagt: »Das ist mir egal.« Ich soll halt in der Küche anfangen. Ich gehe in die Küche und fange mit dem Geschirr an, währenddessen geht Herr A. in ein anderes Zimmer. Ich merke, daß ihm meine Anwesenheit unangenehm ist. Er weiß nicht recht, was er tun soll. Ich auch nicht!

    Irgendwie verstehe ich ihn. Seit 20 Jahren lebt er hier alleine!!! Wenn ich etwas brauche, es nicht finde, gehe ich zu Herrn A. in das Zimmer und frage ihn. Er gibt mir Auskünfte, weicht aber meinen Blicken aus. Einige Male kommt er in die Küche, schaut und geht dann wieder. Nach zwei Stunden, ich bin total müde, vereinbaren wir einen neuen Termin. Ich verabschiede mich und gehe.

    Das Verhältnis zwischen Herrn A. und mir verbessert sich von Stunde zu Stunde. Er redet immer öfter mit mir, fragt mich, was ich tue, und erzählt mir von seinem Leben, seinen Angehörigen und den Nachbarn.

    Meistens sitzt er in der Küche, schaut mir bei der Arbeit zu und erzählt. Er hat eine sehr angenehme Art. Ich fühle mich richtig wohl bei ihm und gehe gerne zu ihm hin. Meistens erwartet er mich an der Wohnungstür.

    Langsam fangen wir an, die Kästchen in der Küche auszuräumen und aufzuräumen. Ich wundere mich, was er mit dem ganzen Zeug macht. Überall steckt er Dinge zusammen und stapelt sie übereinander. Schachteln, leere Dosen, Taschen und vieles mehr.

    Wenn wir dann aber etwas brauchen, wie zum Beispiel Nägel, dann finden wir nichts. Herr A. erzählt mir manchmal von seinem Aufenthalt in Hochzirl. Er jammert nie, außer wenn er von Hochzirl spricht:

    »Das möchte ich nie wieder erleben!«

    Herr A. bekommt Essen auf Rädern, meistens wird es ihm aber schon um 10.30 Uhr gebracht, und da hat er noch keinen Hunger. Ich hab es ihm dann immer gewärmt, kurz bevor ich gegangen bin. Es war immer noch recht gemütlich. Ich habe mich zu Herrn A. gesetzt, während er gegessen hat, und wir haben noch ein bißchen getratscht. Er hat mir oft gesagt, wie wohl ihm das tut. Sonst schlingt er das Essen nur so runter, überhaupt habe er ja sowieso keinen Appetit mehr. Danach verräume ich noch das Geschirr und gehe. Herr A. gibt mir immer noch eine Kleinigkeit mit. Erdbeeren, einen Apfel oder ein paar Kekse. Er hat das schon gerichtet, bevor ich komme, in ein Nylonsäckchen verpackt, auf dem Schrank liegend, und bevor ich gehe, gibt er es mir. Ich freue mich über die kleine Aufmerksamkeit.

    Als ich eines Morgens zu Herrn A. gehe, öffnet er nicht. Ich habe ein sehr ungutes Gefühl und gehe nach Hause. Ich finde keine Erklärung.

    Herr A. war immer in der Wohnung, wenn wir einen Termin vereinbart hatten. Ich versuche den Bruder anzurufen, aber es meldet sich niemand. Das Telefon läutet, mein Herz schlägt schneller, Maria-Luise vom Büro ist dran. Sie sagt mir, daß Herr A. in der Klinik sei und daß nichts Schlimmes vorgefallen sei, Näheres wisse sie nicht. Ich versuche noch einmal den Bruder zu erreichen.

    Er sagt mir, daß es Herrn A. gut ginge und daß ich ihn besuchen könnte. Ich gehe in die Klinik. Herr A. sagt mir, daß er eine Nachuntersuchung gehabt hatte und daß man ihn einfach da behalten hätte. Er weiß zwar nicht, was sie hier mit ihm machen wollen, aber er kann sicher in ein paar Tagen wieder nach Hause gehen.

    Er wurde operiert, wußte nicht warum und wieso. Nach der Operation ging es ihm sehr schlecht. Er war so schwach, daß er kaum die Augen offenhalten konnte.

    Es schien, als erholte er sich, schon nach ein paar Tagen ging es ihm wesentlich besser.

    Ich bin dann einmal am späteren Nachmittag zu ihm gegangen und war total schockiert! Herr A. stand nackt mitten im Zimmer, auf dem Bett und auf dem Boden war Blut. Ich gehe auf ihn zu: Er schupft mich weg und fängt an zu schreien. Er erkennt mich nicht! Ich rede beruhigend auf ihn ein, und er läßt sich dazu überreden, wieder ins Bett zu gehen. Ich habe ihn noch nie so gesehen!

    Er ist total aggressiv. Er sagt mir, daß er den ganzen Tag alleine gewesen sei. Ich soll eine Schwester holen, denn er müßte aufs Klo. ich gehe und hole eine Schwester. Ich frage sie, was denn hier los sei. Sie gibt mir keine Antwort und stürmt ins Zimmer. Fassungslos, mit hochrotem Kopf steht sie im Zimmer.

    Sie geht auf Herrn A., der auf dem Bett sitzt, zu und drückt ihn in das Bett hinunter. Ich merke, daß es ihr unangenehm ist, daß ich Herrn A. in einem solchen Zustand vorgefunden habe. Auf meine Frage, warum Herr A. den ganzen Tag alleingelassen wurde, sagt sie: »Ich kann nicht überall zur gleichen Zeit sein, und überhaupt weiß er, daß er im Bett zu bleiben hat! Und überhaupt, was geht Sie das schon an!« Sie geht und holt eine andere Schwester. Herrn A. wird ein sauberes Gewand angezogen. »Das Bett wird morgen gewechselt werden! «Eine der beiden Schwestern geht zu seinem Nachttisch, nimmt 8 Tabletten, öffnet Herrn A. den Mund und gibt sie ihm alle auf einmal und einen Schluck Wasser. Kaum hat sie Herrn A. den Rücken zugedreht, spuckt dieser die Tabletten aus. Ich schüttle den Kopf, und er sagt: »Still!« Ich nehme die Tabletten in meine Hand. Ich will nicht, daß es die Schwester bemerkt. Sie würde ja doch nur schimpfen. Sie gehen hinaus.

    Herr A. schimpft noch eine Weile: »Die können von mir nicht verlangen, daß ich einen ganzen Waggon Tabletten schlucke und überhaupt, die machen hier mit mir, was sie wollen. Das lasse ich mir einfach nicht mehr gefallen ...!« Langsam beruhigt er sich wieder, und auf mein Zureden hin schluckt er auch die Tabletten. Ich verspreche ihm, daß ich am nächsten Tag schon am Vormittag komme, und gehe.

    Ich will hier nur mehr raus. Langsam gehe ich die Straße entlang. Ich sehe die erbärmliche Gestalt von Herrn A. vor mir ... ich könnte schreien, weinen, alles zugleich. Ich habe Angst, krank, alt zu werden. Ich schäme mich, ein Mensch zu sein!

    Ich habe Herrn A. immer bewundert, mit allem ist er zufrieden, er freut sich über jede Kleinigkeit. Er ist immer so ruhig und ausgeglichen. Aber diese Zustände sind einfach unzumutbar!

    Ich gehe jeden Tag, am Vormittag und Nachmittag, zu Herrn A Manchmal fragt er mich, was aus ihm wohl werden wird. Wahrscheinlich werden sie ihn wieder nach Hochzirl bringen, aber er will einfach nicht! Ich spreche mit Maria-Luise. Sie sagt, wenn es nicht aus medizinischen Gründen notwendig ist und wenn der Bruder von Herrn A. damit einverstanden ist, dann können wir es ja so machen, daß Herr A. mehr Betreuungsstunden bekommt und zuhausebleiben kann. Ich sage das Herrn A., und er freut sich sichtlich darüber. Am Tag vor seiner Entlassung - ich hab nicht gewußt, daß er am nächsten Tag entlassen würde - gehe ich zu ihm. Er sagt mir, daß er doch nach Hochzirl geht, »weil ein bißchen Erholung tut mir sicher gut.« Ich glaube, ich höre nicht richtig! Ich ärgere mich ein wenig, aber ich weiß daß sie ihn dazu nur überredet haben. Herr A. sagt noch, als ich mich verabschiede: »Wir sehen uns sicher wieder!« Wir haben uns nicht ehr getroffen. Herr A. ist gestorben.

    Die Situation der Angehörigen

    Abschieben ins Heim

    In der Öffentlichkeit wird oft die Meinung vertreten, daß Personen hilfsbedürftige Angehörige abschieben, ins Heim einweisen, weil sie ihre Ruhe haben wollen. Dies kommt sicherlich auch vor. Auf der anderen Seite gibt es aber noch einen anderen Aspekt.

    »Und oft werds oanfach nit probiert, die Leit wern abgschobn und weil a großteils die Angehörigen überfordert sein, mit der Situation, an Elternteil rund um die Uhr zu betreun oder a lei dahoam zu harn.« Es ist wichtig, zu erwähnen, daß viele ins Heim gebracht werden, weil sich die Angehörigen überfordert fühlen. Oft handelt es sich um Personen, die sich ohne fremde Hilfe um ihre hilfsbedürftigen Partner, Kinder, Eltern ... kümmern müssen. Viele davon haben auch berufliche Verpflichtungen und sollen allen Anforderungen gerecht werden.

    Eine Helferin berichtet:

    »Eine Frau die ich betreue, wohnt mit ihrer Mutter alleine. Die Mutter ist zwar körperlich stabil, aber geistig völlig verwirrt. Das bedeutet, daß sie total unselbständig ist und sich in ihrer Umgebung überhaupt nicht zurechtfinden kann. Sie braucht Hilfe in jeder Hinsicht. Die Tochter muß ganztägig arbeiten gehen und sich zusätzlich fast jede freie Minute ihrer Mutter widmen. Das bedeutet, daß für eigene Bedürfnisse keine Zeit bleibt.«

    Solche Situationen führen häufig dazu, daß die Angehörigen ohne entlastende Betreuung zu Maschinen ohne Eigenleben werden. Maschinen, die ständig funktionieren müssen. Häufig führen jahrelange Doppelbelastungen durch die ständige Betreuung eines Familienmitgliedes dazu, daß die Betreuer selbst zu Pflegefällen werden, weil diese Belastungen häufig weder physisch noch psychisch zu verkraften sind.

    »Der Sohn von der Frau isch erscht 16. Die Frau sagt, er tuat alles für sie. Er geht no Schual und kimmt meistens erst um zwoa hoam. Dann geht er einkaffen, ramt oft no auf, muaß die ganzen Gänge erledigen, weil sie nit ausi kann. Meischtens kann er erscht dann mit der Aufgab anfangen, wo er dann oft zmiad isch. Er hat die Krankheit schon als kloaner Bua mitkriagt Der Vater isch schon gstorbn wo er no kloan war. Er tuat für die Mutter alles, ihm bleibt nit viel Zeit. Meistens bleibt er a bei ihr und geht nirgends hin.«

    Heimeinweisung und Schuldgefühle

    Eine Angehörige sagt:

    »Der Doktor hat gsagt, mia solln die Oma ins Heim tuan, weils mit ihr immer schlimmer werd. Mia wollten sie nit dorthin tuan, aber i hab mia nimma zhelfen gwußt. Die Kinder woarn no kloan, und arbeiten hab i a gian miaßn, weils uns finanziell nit guat gangen isch, es isch nix anders überbliebn. I hab mia oft Vorwürfe gmacht, aber i hab nit andersch kennen, eben weil die Kinder no so Idoan warn, und a andere Möglichkeit war nit da.«

    In Situationen, wo Angehörige durch ihre eigene Situation gezwungen werden, Familienmitglieder ins Heim »abzuschieben«, muß gefragt werden, welche Form der Entlastung für die Angehörigen notwendig und effektiv ist. Sicher muß das eine praktische Hilfeleistung sein.

    Angehörige haben dadurch die Möglichkeit, ihre Familienmitglieder bei sich zu behalten. Trotzdem haben sie so auch noch die Gelegenheit, eigene Bedürfnisse auszuleben. Weiters ist dies die Möglichkeit, daß Angehörige nicht die ganze Verantwortung alleine tragen müssen und die Helfer vom Mobilen Hilfsdienst als beratendes Organ in Anspruch nehmen können.«

    »Schattenarbeit«

    B: I pfleg jetzt mein Mann, also mein Mann hat mit 33 Jahr die erste Gehirnblutung kriagt und dann mehrere Gehirnschläge, im letzten Jahr ganz an schweren, dann alle Frühjahr und Herbst meistens kommen die Schlaganfälle, des isch die schlechte Zeit - und jetzt hat er noch an schweren gehabt und Prostata-Abszeß und so weiter. Und dann isch es nimmer gangen, und dann hat mit der Arzt gesagt, es wird ein Pflegefall. Dann hab i gesagt, dann tua i mein Mann heim, und dann hat er gesagt, des isch aber ein Risiko, dann hab i gesagt, des Risiko nehm i auf mir. Solang i kann, mach i des. Tua i des machen, solang i kann. Jetzt pfleg i mein Mann schon des fünfte Jahr im Bett, also daß er im Bett liegt ...

    I: Und vorher ...

    B: Und vorher war er auf, da hab i ihn mit dem Rollstuhl umanandergefahren und ganz vorher, des isch ganz gut gangen soweit.

    Frau B. hat mit der Entscheidung, ihren Mann zu Hause zu pflegen, sich selbst sehr viel auferlegt. Von der Gesellschaft wurde sie mit ihren Problemen alleingelassen, sie mußte alle Schwierigkeiten selbst lösen, als einzige Alternative wurde ihr das Heim angeboten. Frau B. würde es begrüßen, wenn die Politiker sich durch Besuche vor Ort ein Bild über die Situation der BetreuerInnen von Familienangehörigen machen würden, um Bescheid zu wissen über die Schwierigkeiten, die sich im alltäglichen Leben ergeben. Die BetreuerInnen sollen nicht gleichzeitig mit den Behinderten an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Der Wunsch nach Anerkennung ist sehr groß. Frau B. bemängelt auch die Tatsache, daß ein Mensch ab dem Zeitpunkt seiner Behinderung nichts mehr zählt, egal wieviel er vorher für die Gemeinschaft geleistet hat.

    Der Aufwand einer solchen 24-Stunden-Betreuung ist mit Worten kaum beschreibbar. Die pflegerischen Fertigkeiten werden von Frau B. mit Perfektion beherrscht. Die notwendigen Handgriffe erledigt sie mit einer gewissen Routine. Sie hat sich an das Saubermachen, Wickeln und Füttern gewöhnt.

    Dieser Fall stellt ein krasses Beispiel für Schattenarbeit dar, das heißt, gesellschaftlich notwendige Arbeit wird im Rahmen von Familien von Einzelpersonen (zum Beispiel in der Rolle der sich aufopfernden Frau) geleistet.

    Es ist hier auch ein Stück Frauenunterdrückung spürbar, vor allem die Schwierigkeit, die Überschreitung der Belastungsgrenze nach außen zu wenden (was auch immer das bedeutet) und im Gegensatz dazu mit vielen Schuldgefühlen beladen das Problem gegen sich selbst zu wenden.

    Aus ihrer Sicht - besteht keine Möglichkeit, dem Dilemma zu entfliehen. Sie wird sich endgültig »aufopfern« und letztlich ihr eigenes Leben versäumen.

    Im Blickpunkt: Silvia / Di glaubn, des taugt mir

    Silvia ist ein 18-jähriges Mädchen, das durch sein Verhalten zeigt, wie sehr sein inneres Gleichgewicht erschüttert wird/wurde. Silvia lebt in einer Jugend-WG für mißhandelte Mädchen.

    Ich würde gerne mit dir plaudern. Irgendwie habe ich den Eindruck, daß es dir im Moment nicht gut geht.

    Hm - das stimmt. Aber wieso sieht man das?

    Es ist deine Unruhe, die du zu verstecken versuchst.

    Naja, du weißt'eh, die Wohngemeinschaft geht mir schon auf den Hammer.

    War etwas los?

    Du weißt eh, mein Vater hat mich flachgelegt, und die in der WG wissen das auch! Und wenn ich in meinem Zimmer bin, möchte ich meine Ruh habn. Aber die kommen da nackert herein und glaubn, das taugt mir auch noch.

    Wer kommt in dein Zimmer?

    Naja, einmal ist es die C., die is eine Lesbe, und heut früh ist der Betreuer hereinkommen - nackert. Wie ich ihm gsagt hab, das ich des nicht will, weil es mich an meinen Vater erinnert, hat er gmeint, daß ich des eh schon gwohnt sein miaßat. Dann hat er gelacht und mich zuwezogen und hat nür ein Busserl geben wollen. Da gehts mir wirklich dreckig. Ich bin keine Hur! Was kann denn ich dafür, daß der Vater ...

    Glaubst du, der Betreuer wollte etwas von dir?

    Nicht wirklich - aber für mich ist sein Spiel eine Demütigung.

    War das schon öfter mal so?

    Ja - des ist schon zum dritten Mal so.

    Warum redest du ihn nicht darauf an und erklärst ihm, wie es dir dabei geht?

    Das hab ich schon gemacht. Aber er hat gemeint, ich habe eine schmutzige Phantasie und bin zu blöd, um zu begreifen.

    Was zu begreifen?

    Das hat er mir nicht gesagt. Er hat nur gelacht und ist weggegangen. Aber ich komm mir deppert vor.

    Möchtest du, daß wir uns einmal gemeinsam mit dem Betreuer unterhalten?

    Vielleicht - wenns was nutzt ...

    Spazierenrollen im Rehabilltationszentrum*

    * Spazierenrollen im Rehabilitationszentrum. Erschienen in: Weltwoche (Zürich), 16. 1. 1992.

    Persönliche Betrachtungen aus dem Rollstuhl- Von Franz-Joseph Huainigg

    Ich packe - schon falsch. Um genau zu bleiben, packt man mir den Koffer aus. Ich hingegen setze mich in den Rollstuhl mit dem Kennzeichen des Rehabilitationszentrums Tobelbad - T 12 - zurecht. Verlegen lächle ich der Krankenschwester zu, denn schon macht sich bei mir ein gewisses Unbehagen bemerkbar. Ich mag es nicht, bedient zu werden. Und, um mein Gewissen zu beruhigen, bestehe ich schließlich darauf, mein Schreibzeug selbst in die Lade zu räumen. Was ich ein wenig überbetont und umständlich auch tue. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck rolle ich dann in die Kantine.

    Was mich mit diesem Haus verbindet, sind Erinnerungen. Bilder von meinen drei Operationen; Schlafsäle, in denen man zu siebent oder zu acht lag; die unbeschreibliche Freude, als ich das erste Mal, mit neun Jahren, im Turnsaal auf den eigenen Beinen stand. Wackelig zwar, die Krücken weit abgespreizt, aber dennoch stolzer als je zuvor.

    Vor mir auf dem Tisch steht inzwischen ein kleiner Brauner, in dem ich sinnierend herumrühre. Mich grüßt jemand: »Bist wieder da?« Ich nicke, sage kurz: »Ja, zum Wiederholungstraining«, rühre meinen Kaffee weiter. Alle hier kommen irgendwann wieder zurück.

    »Am Anfang«, sagt Tanja, die mir am Tisch gegenübersitzt, »habe ich mir überhaupt nicht vorstellen können, daß ich jetzt nur noch im Rollstuhl sitzen muß.« Hans lacht. Auch er hatte lange Zeit daran geglaubt, wieder gehen zu können. Doch dann war Kathi, die Krankenschwester, gekommen und hatte gemeint: »Zu Weihnachten wirst du es geschafft haben. Dann können wir dich im Rollstuhl entlassen.« Hans hielt jedoch an seinem Glauben fest. Er redete sich ein, es zu schaffen. Und er schwor, sich niemals in einen Rollstuhl zu setzen. »Schließlich«, Hans lacht wieder, »war ich aber doch recht froh, als ich das Bett mit dem Rollstuhl verlassen konnte«. Erwin, der bisher zugehört hat, streift seine gelähmten Finger über das Bierglas und sagt, bevor er das Glas anhebt: »Das vorherige Leben kannst sowieso vergessen.« Dann macht er einen großen Schluck. Tanja nickt: »Du mußt lernen, deinen neuen Körper zu beherrschen, wie ein kleines Kind. Aus dem Minimum an Kraft heißt es, das Maximum an Bewegung herausholen.«

    Der Blick zurück, an den Beginn, an den Auto- oder Arbeitsunfall, fällt schwer. Fragt man nach diesen Erlebnissen, bekommt man ein kleines, inneres Bändchen vorgespielt. Die wenigen Sätze sind automatisiert. Will man doch nicht gleich jedem, der danach fragt, sein wahres Inneres offenbaren.

    7.30 Uhr morgens. Mein Bettnachbar verabschiedet sich mit den Worten »gemma schepfn« von mir. Dann entschwindet er zur Arbeitstherapie, wo er lernt, sich wieder in einer Tischlerei zurechtzufinden - mit nur einer Hand.

    Ich hingegen ziehe mich an. Jeder Handgriff ist vorprogrammiert. Der ganze Vorgang ist für mich heute, mit 40 Minuten, relativ schnell zu vollziehen. Das An- und Ausziehen war lange Zeit die größte Hürde auf dem Weg zur Selbständigkeit gewesen. Besonders alleine in die Schuhe zu schlüpfen schien unmöglich.

    »Die blöde Unterhose«, flucht Michael im Bett nebenan. Auch er zieht sich an, unter der Anleitung einer Therapeutin. Und das, obwohl er keine Fingerfunktion hat. Alleine ihm zuzusehen bedarf einer großen Geduldanstrengung. Man ist versucht, ihm die Unterhose zurechtzulegen. Aber nein, das darf man nicht. Was Michael hier und jetzt nicht lernt, wird er später niemals nachholen können. Eine Viertelstunde benötigt er, um die Unterhose in die Lage zu bringen, von der er sie mit der Handschaufel über das linke Bein ziehen kann. Dann passiert es: Michael macht eine unglückliche Bewegung. - »Ganz umsonst war die Anstrengung nicht«, beruhigt ihn die Therapeutin, »du hast daraus gelernt«. Aber von vorne beginnen muß er trotzdem.

    Anziehen, ausziehen, waschen, Transfer vom Bett in den Rollstuhl, vom Boden in den Rollstuhl, vom Rollstuhl ins Auto, vom Rollstuhl auf die Toilette, und, und, und ... Die Liste der Hürden ist lange.

    Nachdenklich hüpfe ich mit meinen zwei roten Krücken durch den Turnsaal. Heute ist für mich diese Fortbewegungsmöglichkeit selbstverständlich. Doch mit neun Jahren hatte ich hier erst einmal lernen müssen zu stehen. Wochenlang habe ich mit Gehschalen an beiden Beinen geübt, mein Gleichgewicht zu halten. Schließlich konnte ich schon von einem Ende der Stange zum anderen gehen. Heute belustigt mich das, damals habe ich mir aber nichts sehnlicher gewünscht, als daß überallhin Gehbarren führen sollten. Ich wollte endlich die Welt erobern. Ich übte am Tag und träumte davon in der Nacht: Linker Stock, rechtes Bein - rechter Stock, linkes Bein, lauteten die Anweisungen.

    Tanja trainiert seit einer Woche, alleine vom Boden in den Rollstuhl zu steigen. Der Trick dabei ist, die Schwerkraft durch die Anwendung der Hebelwirkung und anderer physikalischer Gesetze zu überlisten. Linke Hand am Rollstuhl, Beine angezogen, die rechte Hand stützt, Schwungholen mit dem Oberkörper. So ist das Hinterteil am leichtesten in die Höhe zu hieven. Dann gilt es, die Traummarke von ca. 60 cm zu erreichen. Beim dritten Versuch gelingt das fast Unmögliche. Tanja ist glücklich: »Jetzt bin ich vor lauter Schwung fast auf der anderen Seite wieder hinausgeflogen«, schwärmt sie mit rotem Kopf.

    Fahren Sie mit dem Auto langsam, warnen Verkehrsexperten, denn sonst sitzen Sie im Rollstuhl ... Bauen wir keine Atomkraftwerke mehr, warnen Umweltschützer, denn sonst ... Beachten Sie die Sicherheitsbestimmungen, warnen Schilder, denn sonst ... Der Rollstuhl als Warnung, der Rollstuhl als Drohung. Denn wenn man einmal drinnen sitzt, so meint man, sei das Leben vorbei. Ich kann diesen Gedanken nicht ohne den Anflug eines Lächelns zu Ende denken.

    »Der Rollstuhl«, weiß ein Orthopäde zu berichten, »hat von seiner Unnahbarkeit nichts verloren«. Er sei nach wie vor ein Gerät, das man nicht angreifen will. Darunter leide auch der Betroffene, dem man sich nur sekundenlang widmet, um ihm zu helfen. Dann zitiert er seine Mutter, die - als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn Basketballtrainer einer Rollstuhlmannschaft werden wollte - entsetzt ausrief: »Verschreie nichts! Dir könnte passieren, daß du für immer dort drinnen sitzen wirst, wenn du jetzt schon das Ding benützt! «

    An den Rollstuhl gefesselt, das habe auch er schon gesagt, gibt ein junger Mann verlegen zu. Er wollte damals nur schnell beschreiben, daß eine seiner Bekannten seit einem Unfall behindert ist. Gedacht, nein, gedacht habe er sich nichts dabei. Tanja ist empört: »Das ist, als würden sie mir Stricke umlegen, mich fesseln, und ich kann nicht weiter.« Für sie bedeutet der Rollstuhl Beweglichkeit. Hans überlegt, meint dann, daß er ohne Rollstuhl nichts mehr sei, andererseits habe er ihn schon über ein Jahr lang nicht mehr gewaschen. Auch gäbe es keine Fotos, auf denen er mit seinem Rollstuhl abgebildet ist. Bereits existierende hat er aufgekauft und vernichtet.

    Tanja freut sich schon auf ihren ersten eigenen Rollstuhl. Leicht und wendig muß er sein. Nur für die Farbe kann sie sich noch nicht entscheiden. Wahrscheinlich wird er in sich verlaufende Blautöne haben. Der chromglänzende Rollstuhl wird, so hoffen alle, bald der Vergangenheit angehören. Mit ihm assoziiert man Krankenhaus. Und auch der Betroffene wird zum kranken Menschen.

    Nach dem Abendessen um halb sechs rolle ich in die Kantine. Hier trifft man sich nach der Therapie und versucht der drohenden Langeweile mit ein, zwei, drei Gläschen zu entgehen. Auf Erfolge stößt man an, Mißerfolge spült man sich von der Seele, - für den Moment zumindest. Man erzählt vom Training, vom Schweiß; freut sich gemeinsam über die kleinen Fortschritte und diskutiert Probleme.

    »Hast du heute wieder deine Blase trainiert?« fragt Hans. Tanja nickt. »Um 5 Uhr bin ich heute das erste Mal gesessen und habe sie leergeklopft. Dann ging es weiter um 9, 12 und 16 Uhr. Und auch um 19 Uhr muß ich wieder 20 Minuten auf meinen Unterleib schlagen«. »Ich habe mir früher auch nie etwas dabei gedacht, wenn ich auf die Toilette gegangen bin«, meint Hans, der wie Tanja nicht spürt, wann er seine Blase oder seinen Darm entleeren muß. »Man findet sich schneller damit ab, daß man im Rollstuhl sitzt, als daß die Blase nicht wie früher funktioniert«, sagt Tanja resigniert. Erwin lacht: »Bevor du dich nicht in aller Öffentlichkeit bis zum Kreuz hinauf angeschissen hast, bist du kein echter Querschnittler. Ich habe das bereits hinter mir«.

    Mit dem steigenden Bierkonsum wird auch die Stimmung immer sentimentaler. Hans ist es plötzlich, der verkündet, daß er niemanden näher als drei Schritte an sich heranläßt. Gemeint sind Freunde im allgemeinen und Frauen im speziellen. Bernd stimmt ihm zu, auch er hatte eine Freundin. Doch je näher sie sich gekommen waren, desto schwieriger wurde die Beziehung. Auf einmal sah sie in Bernd nur noch den Behinderten, der Umstände bereitet. Da schaltet sich Michi in die Diskussion ein: »Ich habe zwei Freunde« verkündet er. »Sie nehmen mich überallhin mit. Nach der Disco legen sie mich zu Hause sogar nieder«. »Was glaubst du, warum sie das tun?« fragt Hans skeptisch. »Weil das echte Freunde sind«, antwortet Michi. Hans: »Glaubst du nicht, daß du eine Belastung für sie bist?« Michi hat diesen Eindruck nicht. Hans geht in sich und meint dann: »Na ja, vielleicht treffe ich auch einmal auf einen richtigen Freund. Aber der wird es sehr schwer haben. Denn ich kann meine Vorurteile schlecht unterdrücken.« So wird bis 22 Uhr diskutiert. Dann ist Nachtruhe.

    Breite, selbstöffnende Türen; keine Stufen; Rampen, Lifte, große Toiletten, Hilfe in Reichweite, freundliche Gesichter. Das Rehabilitationszentrum ist eine heile Welt, in der sich alles um die Behinderung dreht. Irgendwann muß - oder soll man sagen: darf - jeder wieder hinaus ins wirkliche Leben. Um einen Vorgeschmack darauf zu bekommen, wie man später zurechtkommen wird, fährt jede Woche eine Gruppe von vier Rollstuhlfahrern in die Stadt. Begleitet werden sie von Therapeuten. Während der Fahrt im Behindertentaxi ist die Stimmung angespannt. Allen wird bewußt, daß sie nun probeweise in das Leben zurückkehren. Jedoch anders: sitzend, rollend, dem Boden näher als früher. Unsicherheit ist spürbar. Und auch ein wenig Angst.

    Tanja ist das erste Mal seit ihrem Unfall im Rollstuhl »draußen«. Ich sehe ihr zu, als sie auf der Straße zum ersten Mal das Spielchen »Starrer Blick« ausprobiert. Man hält dabei mit seinen Augen neugierigen Blicken stand. Wer zuerst wegsieht oder gar die Augen schließt, hat verloren. »Wildfremde Leute grüßen und lächeln mich an!« ist Tanja ganz aufgebracht. »Das haben sie doch früher nicht getan!« Ich beruhige sie, das käme ihr nur jetzt so extrem vor. Hans stimmt dem zu: »Am Anfang habe ich es nicht gewagt, ein Eis zu bestellen. Ich hatte Angst, beim Essen aufzufallen. Doch diese falsche Scheu verliert man. Auffallen tut man sowieso«. An Tanja gewandt, erzähle ich, daß ich mich früher oft nach Leuten umdrehte, die gerade an mir vorbeigegangen waren. Viele haben sich auch wirklich noch einmal nach mir umgewandt. Heute tue ich das nicht mehr. Ich begegne den Leuten auf der Straße selbstverständlicher, und das scheint sich auch auf die anderen zu übertragen: Ich fühle mich nicht verfolgt, also werde ich es nicht.

    »Die Leute sind unsicher, aber nicht schlecht«, unterbricht mich Brigitte, »sie helfen wirklich«. Sie selbst fühlt sich nicht behindert. In ihrer Umgebung hat sie sich alles so eingerichtet, wie sie es braucht Lediglich in der Stadt wird sie von Gehsteigkanten Stufen oder verstellten ParkpIätzen behindert: »Die Umwelt macht Probleme. «

    Im Blickpunkt: VolksHOCHschule nicht für Rollstuhlfahrer!

    (Graz:) Ein Rollstuhlfahrer hatte einen Kurs einer Volkshochschule belegt, seine persönlich erfolgte Anmeldung wurde zur Kenntnis genommen. Allerdings hat sich dann der Hausverwalter geweigert, Hilfestellung beim Überwinden der Treppen zu gewähren, und gemeint, dieses Haus sei für Rollstuhlfahrer nicht geeignet und daher eine Kursteilnahme nicht möglich. Der Rollstuhlfahrer wurde dann von Kurskolleginnen regelmäßig in die im ersten Stock gelegenen Kursräumlichkeiten gebracht. Allerdings wurde vom Hausverwalter nicht einmal die zum Eingang führende Rampe vom Schnee geräumt (obwohl er wußte, daß regelmäßig ein Rollstuhlfahrer kommt). Ein Beschwerdebrief über dieses schikanöse Verhalten an die zuständige Stelle der Grazer Arbeiterkammer wurde nicht beantwortet!

    Mobilität 1: Wien sorgt vor - Behinderte dürfen nicht ins Theater*

    * Mobilität 1: Wien sorgt vor - Behinderte dürfen nicht ins Theater. Erschienen in: »Ich habe gedacht, das gehört zum Stück!«. Domino 2/94, Seite 19.

    Das dramatisierte Stück. Oder: Do rauf dürfn's net

    Vier Leute entschließen sich ins Theater zu gehen. Am Programm des Casinos am Schwarzenbergplatz steht Taboris Kafka-Produktion »Unruhige Träume«, in welcher der selbst behinderte Peter Radtke mitspielt. Es gibt noch Karten, man kauft und freut sich auf eine spannende Vorstellung. Die gibt es auch wirklich. Wenngleich in unvorhergesehener Form.

    Ein Mann schreitet zielsicher auf die vier Theaterbesucher zu, bremst ab, überlegt und entschwindet mit den Worten »an Moment, bitte« über die Treppe zum Vorstellungssaal. Kurz darauf kehrt er, gefolgt von zwei Herren, wieder zurück. »Da rauf dürfn's net. Die Probebühne des Burgtheaters is nit für Rollstuhlfohrer zuglassn.« Wir, drei Rollstuhlfahrer und eine Begleitperson, können das nicht verstehen. Wieso, wollen wir wissen, wir sind doch auch im Besitz von Eintrittskarten. »Zu Ihrer eigner, Sichaheit dürfns do nit rein«, mischen sich der Feuerwehrmann und der Polizist vom Dienst in das Gespräch ein. »Schliaßlich kon jederzeit a Feia ausbrechn und wer holt Sie dann außa?« Der Feuerwehrmann offensichtlich nicht, wird klar. Es entsteht eine lebhafte Diskussion. Die Herren bleiben hart, weigern sich nicht nur, die Rollstühle nach oben tragen zu helfen, sondern verhindern es. Immer wieder verweisen sie auf das Wiener Veranstaltungsstättengesetz, demzufolge RollstuhlfahrerInnen überall dort der Zutritt untersagt wird, wo mehr als eine Stufe vorhanden ist. Deren Stätten gibt es gar viele. Und so kommen kunstinteressierte RollstuhlfahrerInnen ständig in ähnliche Situationen. Das Wiener Veranstaltungsstättengesetz gibt vor, ein »Vorsorgegesetz für gehbehinderte Personen« zu sein. An und für sich sollten auch die darin angeführten Bestimmungen Veranstalter zwingen, ihre Aufführungsstätten für Behinderte zugänglich zu machen. Da es sich in der Praxis jedoch oft um alte Gebäude handelt, bei denen Veränderungen schon wegen des Denkmalschutzes nicht vorgenommen werden dürfen (auch eine Plattform als Treppenlift stört das ästhetische Empfinden der Denkmalschützer), wird das Gesetz gegen die Behinderten ausgelegt. Nach dem Motto: Umbauen können wir nix, also darfst nicht rein. Das Gesetzt schreibt ebenfalls vor, daß RollstuhlfahrerInnen nur mit einer Begleitperson eine Kulturveranstaltung besuchen dürfen. Welche Eigenverantwortung traut man RollstuhIfahrerInnen überhaupt zu? Kann es sich denn keiner der Wiener PolitikerInnen vorstellen, daß ein selbständig lebender Rollstuhlfahrer auch einmal alleine ins Theater gehen kann? Auch ist es fraglich, ob sich alte Menschen oder jene, die beim Gehen Schwierigkeiten haben, bei einem Feuer noch schnell genug retten könnten. Wäre man immer so vorsorglich, müßte es wohl ein Gesetz geben, daß allen Wienern und Wienerinnen verbietet, auf die Straße zu gehen. Denn der Gefahrenquellen gibt es dort unzählige. Die drei Herren von der Aufsicht sind von unseren Argumenten sichtlich wenig beeindruckt. Auch daß ein Behinderter sehr wohl mitspielen darf, ändert nichts an der Verhinderungsaktion für rollstuhlfahrende Zuschauer. Es gibt Tränen. Und es diskriminiert, die anderen Zuschauer an uns vorbei über die Stiege huschen zu sehen. Ein Zuschauer später: »Ich hab gedacht, das ghört zum Stück.«

    Als wir es schließlich müde sind, die Diskussion ständig im Kreis zu führen, resignieren wir, können mit Mühe und Not die Karten noch zurückgeben und rollen hinaus. Hinter uns schlägt die Türe zu. Wir fühlen uns behindert.

    Das Nachspiel

    Die Türe geht noch einmal auf. Heraus kommen Leute aus dem Publikum. »Die Schauspieler haben uns auf das Geschehen aufmerksam gmacht«, sagt ein Mann, »wir haben uns einmütig entschlossen, entweder alle nach Haus zu gehn oder Sie hinaufzutragn«. Unter dem Protest der Aufsichtsorgane (»Ich mache Sie noch einmal aufmerksam, daß Sie hier nicht hinauf dürfn!«) werden wir über die Stufen nach oben getragen. Es gibt Applaus. Das Recht hat gesiegt. Diesmal. Aber wie lange wird es noch ein Wiener Gesetz geben, das für Behinderte vorsorgt?!

    Im Blickpunkt: Behinderte Gäste unerwünscht

    (Tiroler Tageszeitung, 4. September 1996:) Betreuer fürchten durch Vorfall einen Knick im Selbstwertgefühl ihrer Schützlinge.

    Neun geistig behinderte Erwachsene sollen aus einer Diskothek in der Innsbrucker Altstadt geworfen worden sein. Geschäftsführer und Türsteher dementieren.

    INNSBRUCK (oha). Eigentlich hätte der Abend für die neun behinderten Menschen der krönende Abschluß ihrer Ferien sein sollen: Doch der Samstag im »Caribe« wurde, wie die zwei Betreuerinnen der Gruppe mitteilen, zur bitteren Enttäuschung.

    »Um 22.30 Uhr wurden wir eingelassen, um 24 Uhr war es mit dem Spaß schon wieder vorbei«, erzählt Annelies Fersterer, eine der beiden Betreuerinnen. Der Türsteher sei im Namen seines Chefs aufgetreten und haben ihre Gruppe aufgefordert, das Lokal sofort zu verlassen. >Wir konnten kaum noch die Getränke austrinken<, fährt die Betreuerin fort und versichert: »Der Grund des Rausschmisses war uns absolut unverständlich. Wir haben uns ja nichts zuschulden kommen lassen. Wir haben getrunken, getanzt.« Der Türsteher habe nur erklärt, sein Chef dürfte nicht sehen, daß derartige Gäste im Lokal seien.

    »Caribe«-Chef Ing. Gerhard Hörtnagl will nichts von dem Vorfall wissen: »Es ist auch noch nie vorgekommen, daß wir behinderte Menschen zu Gast haben.« Der Türsteher hingegen erklärt, daß sehr wohl schon behinderte Gäste im »Caribe« waren. »Wir haben damit aber noch nie Probleme gehabt«, so der Türsteher. An jenem Samstag habe er zwar Dienst gehabt, aber eine Gruppe geistig Behinderter sei nicht im Lokal gewesen. Und von einem »Rauswurf« wisse er schon gar nichts. Was bleibt, sind neun geistig behinderte Menschen, deren Selbstwertgefühl geschädigt worden ist. Eine der hinausgeworfenen behinderten Frauen hat nür erzählt, daß sie nun Angst hat, in eine Disko zu gehen, resümierte Franz Bittersam von der Lebenshilfe Tirol.

    Im Blickpunkt: »Sicherheit« als Rausschmiß-Argument*

    * Im Juni 1997 wurde mit der Novelle zum Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen (EGVG) und zur Gewerbeordnung GewO), BGBl. Nr. 63/1997, die Diskriminierung behinderter Menschen zum ersten Mal in der österreichischen Rechtsordnung - in zweifacher Hinsicht - unter Strafe gestellt:

    * 1) Das EGVG sieht eine Geldstrafe bis zu ATS 15.000,- vor, wenn jemand »Personen allein aufgrund ihrer Rasse, ihres religiösen Bekenntnisses oder einer Behinderung un-gerechtfertigt benachteiligt oder sie hindert, Orte zu betreten oder Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, die für den allgemeinen öffentlichen Gebrauch bestimmt sind«.

    * 2) Erfolgt eine solche Benachteiligung im Rahmen eines Gewerbebetriebes, kann die Bezirksverwaltungsbehörde dem Gewerbeinhaber die Gewerbeberechtigung entziehen. Siehe: Bericht zur Lage behinderter Menschen in Österreich, Teil 3 - Freizeit, Mobilität. Erhältlich beim Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Stubenring 1, 1010 Wien.

    (INNSBRUCK:) »Das sind für uns Gäste wie alle anderen auch. Wo kämen wir denn da hin, wenn wir behinderte Menschen aus unserem Lokal ausschließen würden?« Die Toleranz, die Joschi Kuen, Wirt eines gutbesuchten Innsbrucker Lokales, als Selbstverständlichkeit bezeichnet, ist für einige andere Besitzer, Geschäftsführer und Türsteher von In-Beiseln der Tiroler Landeshauptstadt ein Fremdwort. Die Fälle, in denen Körper- oder Mental-Behinderte aus Lokalen »hinauskomplimentiert« oder erst gar nicht eingelassen werden, häufen sich in Innsbruck.

    In dieser Woche wurde zunächst der Hinauswurf einer neunköpfigen Gruppe geistig Behinderter, die mit BetreuerInnen eine Diskothek in der Altstadt besucht hatten, bekannt. Man hätte ihr und ihren Schützlingen kaum die Zeit gelassen, die Getränke auszutrinken, erzählt eine Betreuerin. Und auch in einem erst kürzlich eröffneten Szene-Lokal in der Maria-Theresien-Straße sind Behinderte offensichtlich nicht erwünscht. Zwei junge Männer, einer gezeichnet von einer Hautkrankheit, der andere sprach- und leicht gehbehindert, wurden bei einem ersten Besuch vom Rausschmeißer aufgefordert, das »Gast«-Lokal zu verlassen. Bei einem zweiten Anlauf wurden sie bereits am Eingang abgefangen und gar nicht erst eingelassen. Sie entsprächen nicht dem sonstigen Publikum des Lokals, sie würden nicht dazupassen, ließ man sie wissen.

    Der Geschäftsführer erklärte, es sei das Recht eines Wirtes, Gäste abzulehnen, wenn die Sicherheit der anderen Besucher nicht gewährleistet werden könne (!).

    Im Blickpunkt: Barrierefrei ist Luxus

    Mehrere RollstuhlfahrerInnen berichten, daß sie nur erschwert Urlaub machen können, da die Hotels, die sie sich von ihrem Einkommen leisten könnten, oder die günstigen Pauschalangebote nicht rollstuhlgerecht sind und sie daher gezwungen sind, teure Luxushotels zu buchen, da ihnen nur dort ein barrierefreier Zugang zugesagt wird. Ganz abgesehen davon, daß die Information über konkrete bauliche Situationen nicht verfügbar ist. Es gibt zwar Hinweise zu Kinderspielplatz, Sportmöglichkeiten, Ruhelage ... nicht aber zu Türbreiten oder Anzahl und Höhe von Stufen.

    Im Blickpunkt: Kein Platz für Idioten

    (Tiroler Tageszeitung, 4. September 1996:) Wir leben in einer Zeit, die zunehmend von Schlagworten wie Integration und Toleranz geprägt wird. Oder doch nicht? Der Rauswurf von neun Behinderten aus einem Innsbrucker Szenelokal ist durch nichts zu entschuldigen. Er zerstört mit einem Schlag erfolgreiche und jahrelange Bemühungen, geistig behinderten Menschen in der sogenannten »normalen« Gesellschaft zu mehr Akzeptanz zu verhelfen. Mehr noch: Dieser Kraftakt wider die menschliche Würde ist ein Schritt zurück in die dunkelste Vergangenheit, in der Behinderte noch »weggesperrt« wurden. Der Vorfall erinnert fatal an Felix Mitterers »Kein Platz für Idioten«. Der Autor schrieb sich damals seinen Zorn über eine authentische Begebenheit von der Seele. Das Stück machte betroffen. Nicht betroffen genug.

    Im Blickpunkt: Lokalverbot war kein Einzelfall

    (Tiroler Tageszeitung, 5. September 1996) Univ.-Prof. Volker Schönwiese erwartet psychische Schäden bei den neun geistig behinderten Menschen, die aus einer Innsbrucker Disko geworfen worden sein sollen.

    INNSBRUCK (oha). »Das ist ein Skandal«, reagiert Univ.-Prof. Volker Schönwiese auf den TT-Bericht, wonach neun geistig behinderte Erwachsene aus der Disko »Caribe« hinausgeworfen worden sein sollen. »Leider ist das aber kein Einzelfall. Es kommt immer wieder vor, daß behinderte Menschen in Innsbrucker Lokalen unerwünscht sind.« Zu den psychischen Konsequenzen dieses »Rauswurfes« schildert der Pädagoge: »So etwas führt zu Depressionen und einem Rückzugsverhalten.«

    Bestürzt war auch Marianne Hengl vom Verein zur Förderung körperlich behinderter Menschen: »Warum läßt man uns Behinderte nicht einfach so sein, wie wir sind? Vor allem geistig behinderte Menschen sind so liebenswert natürlich. Dieser Vorfall hat ihnen sicherlich weh getan.« Die Lebenshilfe Tirol kündigte an, man werde jetzt behinderte Menschen sicher nicht wieder verstecken, sondern ihnen weiterhin Ausflüge ins Innsbrucker Nachtleben gönnen.

    Nicht zuletzt aufgrund dieses Vorfalles wurde im Frühjahr 1997 die Gewerbeordnung dahingehend novelliert, daß fortan die »Wegweisung« untersagt ist. Widriges Handeln wird mit Pönale bzw. dem Entzug der Gewerbeordnung geahndet.*

    Nicht zuletzt aufgrund der hier beschriebenen Ereignisse wurde die Gewerbeordnung novelliert. Diskriminierungen behinderter Menschen werden mit Geldstrafen belegt und können bis zum Entzug der Gewerbeberechtigung führen. Siehe Fußnote Seite 131.

    Mobilität 2: New York- Die Stadt mit der weitschönsten Rampe*

    * Mobilität 2: New York – Die Stadt mit der weltschönsten Rampe. Erschienen in: New York – Die Stadt der relativen Normalität. Domino 5/95, Seite 12.

    Tip 1: Wenn Rollis fliegen lernen - muß der Insasse mit!

    Abflughalle Wien Schwechat, frühmorgens in einer langen Eincheckschlange. Die Augen sind noch trüb, hin und wieder ein Gähnen. Im Magen beginnt sich die erste Aufregung bemerkbar zu machen, eine lange Reise steht bevor. Der erste Unmut läßt auch nicht auf sich warten: Beim Einchecken will nichts weitergehen, die Schlange vor uns ist seit zehn Minuten nicht kleiner geworden. Ich sehe nervös auf meine Uhr, bitte meine Assistentin Renate doch vorzugehen und dem Herrn der Friendly Airline freundlich auf mich und den Rollstuhl aufmerksam zu machen. Renate vertröstet mich: »Wir kommen eh gleich dran.« Dann gemeinsames Gähnen: »Ja eh.« Nach einer weiteren Viertelstunde sind wir endlich wirklich an der Reihe. Die Koffer werden mit einer Blankette versehen und verschwinden auf einem Förderband. Der Rollstuhl soll gleich mit, »Moment!«, rufe ich und bin plötzlich richtig munter, »mein Rollstuhl reist mit mir. Ich möchte bis zuletzt in ihm sitzen. Er soll als letztes ins Flugzeug verladen werden und dann als erster bei der Ankunft entladen werden. Ich brauche ihn ja beim Umsteigen in London. Und außerdem bin ich dann sicher, daß er wirklich mitreist. Man hat ja schon von vielen Fällen gehört ... « -»Das geht nicht«, meint der Mann freundlich lächelnd. Ich erwidere das Lächeln: »Doch, das muß gehen! « - Der Mann etwas ungeduldiger: »Geben Sie den Rollstuhl mit Ihrem Koffer auf. Er geht sicher mit nach New York. Ich garantiere das. Wenn etwas schiefgeht, könnens wieder herkommen, mich im Kreis drehen und abwatschen!« Ich bestehe trotzdem auf meiner Variante. Der Rollstuhl geht nicht mit dem Gepäck mit, sondern begleitet mich.

    Ankunft in New York. Ich halte auf dem Förderband vergeblich Ausschau nach meinem Koffer. Bei der Information erfahre ich, daß er in Wien zurückgeblieben ist. Ich atme auf, daß ich meinen Rollstuhl bei mir habe. Der Koffer kommt einen Tag später nach. Ein Zustand, der verschmerzbar ist. Wäre der Rollstuhl nicht mitgegangen, wäre das eine mittlere Katastrophe gewesen Denn ohne meinen Rolli bin ichs nicht!

    Tip 2: Wer relative Normalität kennenlernen will – ist in New York gut aufgehoben!

    Wir wohnen feudal, da zentral, und uns nur in diesem Hotel Behindertengerechtigkeit vom Reiseveranstalter zugesichert worden war. Das Schwimmbad ist im 9. Stock. Unser Zimmer im 20. Ein Blick aus dem Fenster ist überwältigend, vor allem für jemanden, der sonst nur im Erdgeschoß wohnt. Aber nach einigen Tagen werden solche Blicke zur Normalität. Wer aus dem 110. Stockwerk des World Trade Centers geblickt hat, für den wirkt das 20. Stockwerk wie ein Blick aus dem Kellerfenster. Ein erster Spaziergang ist angesagt. Wir rollen zum Central Park. Als Rollstuhlfahrer werden wir nicht sonderlich beachtet. Um den Park wird fleißig gejoggt. Schwarzenegger ist jedoch nicht dabei. Aus dem Park kommt uns ein Mann entgegen, der auf den Kopf einen lebenden Leguan trägt. Wir starren den Mann wie österreichische Schulbusse an. Ein anderer Mann meint Vorbeigehen lächelnd: »Welcome to New York!«

    Tip 3: Auch die Gültigkeit des besten Antidiskriminierungsgesetztes endet im 110 Stock

    • Perspektive von der Straße: Beeindruckend, wie groß so ein Gebäude sein kann.

    • Perspektive aus dem 110. und letzten Stockwerk: Wahnsinn, wie klein die Welt doch ist.

    • Perspektive auf dem Weg der Dachterrasse: Wie kleinkariert doch die Amis sind!

    Die Geschichte: Ich entschließe mich, noch einen Blick von der Dachterrasse zu machen. Ein Lift wird gesucht, aber nicht gefunden. Dafür bietet sich eine Rolltreppe an. Nicht optimal. Aber mit Hilfe kein Problem. Mit Renate und Monika geht es die erste Rolltreppe hoch. Dann ein Zwischenstockwerk. Ein amerikanischer Wachmann sieht uns und ist entsetzt: »How can you do this!« Er versteht die Welt nicht mehr. Wir erklären, daß wir in Wien immer Rolltreppen fahren, und bestehen darauf, daß wir mit der anderen Rolltreppe ganz nach oben auf die Dachterrasse fahren, und bestehen darauf daß wir mit anderen Rolltreppe ganz nach wollen. Der Wachmann schüttelt den Kopf. Er muß seinem Vorgesetzten telefonieren. Wir warten. Der Vorgesetzte kommt, weiß auch keinen Rat. Wir bestehen darauf, nach oben zu wollen, und berufen uns auf das amerikanische Antidiskriminierungsgesetz. Der Vorgesetzte wird ein wenig verlegen und beginnt wieder zu telefonieren. Diesmal mit seinem Vorgesetzten. Wie die Beamten in Österreich, denke ich. Unser Protest hat keinen Sinn. Wir werden nach unten gebracht und fühlen uns diskriminiert – und das trotz Gesetz! Drängt sich die Frage, ob so etwas auch in Österreich passieren wird können, wenn wir in ferner Zukunft einmal unser Antidiskriminierungsgesetz haben? Wohl kaum, denn wir haben kein 10stöckiges Gebäude.

    Tip 4: Ich fahre mit dem Omnibus – alles geht so schnell …

    Als verkehrstechnische Errungenschaft erweisen sich die Busse. Wir stehen an der Bushaltestelle, der Bus hält, der Fahrer sieht uns, geht zum rückwärtigen Eingang und verwandelt auf Knopfdruck die Stiege in einen Hublift. Schnell und problemlos werden in den Bus befördert. Dort gibt es auch eigene Sitzplätze, wo die Rollstühle fixiert werden können. Wer das gesehen hat, versteht nicht, warum in Österreich immer alles gar so schwierig ist .

    Auf unseren langen Stadtdurchquerungen (auf der Suche nach Shoppingevents) rollen wir über viele Gehsteigabsenkunge. Allerdings minimiert sich die Zahl je nach Stadtgebiet. In Chinatown rumpeln wir im Rollstuhl dahin wie auf einer Safaripiste. Schließlich verbohren sich die Vorderräder in einer Rille, der Rollstuhl stellt sich auf, ich fliege in hohem Bogen aus dem Sessel. Erfahrung: Amerikanischer Boden schmeckt anders. Jetzt verstehe ich endlich, warum der Papst alle Böden der Welt küßt.

    Tip 5: Wer Behinderte sucht, muß nicht in die Ferne schweifen

    Behinderte prägen das Stadtbild von New York nicht. Hie und da ein Rollstuhlfahrer, der uns schleppend eine Spendenbüchse entgegenhält. In einem Park treffen wir einen jungen Mann im Rollstuhl. Was ihm passiert ist, fragen wir ihn. Die Adern sind geplatzt, beginnt er zu erzählen. Wohl eine Überdosis, konstatieren wir ihm. Ob er regen Kontakt mit einem Independent Living Center hat, ist unsere nächste Frage. Er: Ja, dahin ich mich, wenn ich einen neuen Rollstuhl brauche. Im übrigen hält er meinen und Volkers Rolli für zu altmodisch, zu europäisch. In New York ist eben alles größer, besser, toller.

    Behindernde trifft man überall auf der Welt. Auch auf der 5th Avenue gibt es einen Verkehrsstau. Ursache: Die Knöpple aus Oppenheim maschierten mit Blasinstrumenten, Harlekinkostüm und Volkstracht die Straße hinunter. Eine Frau: Wir sind die Knöpple aus Oppenheim. Wir haben auch einen Vertreter der heimischen Presse mitgebracht. Das wird die Story: Die Knöpple auf der 5th Avenue!

    Tip 6: Wer dringend auf die Toilette muß - besuche New York

    Die meisten Lokale und alle öffentlichen Einrichtungen haben eigene Rollstuhl-WCs. Wir testeten reichlich. Besondere Empfehlung: das WC in der University of style (Fashion street). Dort bietet sich dem Gast ein großes, wohlriechendes, in Marmor gehaltenes Rollstuhl-WC.

    Tip 7: Das Rampenmuseum

    Das Guggenheimmuseum ist als Rollstuhlfahrer unbedingt einen Besuch wert: Schneckenförmig gebaut, ist die Bildergalerie an einer einzigen, sich drehenden Rampe angeordnet. Man fährt mit dem Lift nach oben und düst dann an den Bildern vorbei ohne Unterbrechung ins Erdgeschoß. Von dort begibt man sich natürlich erneut in den Lift und dreht noch eine Runde.

    Im Blickpunkt: Theresia / Sie wollen doch zu Hause essen, nicht?!

    (Deutschland:) Am Dienstag, den 24. 09. 96 wollte ich gegen 20.00 Uhr mit einer Arbeitskollegin essen gehen. Als Restaurant wählten wir das in der Nähe der Universität gelegene indische Lokal »Shere e punjab« in der Leipziger Straße, das unlängst neu eröffnet hatte. Wir wurden zunächst freundlich behandelt, wenngleich der Wirt erstaunt war, daß ich meine Füße als Hände benutze. Er nahm unsere Bestellung entgegen und servierte Getränke und Papadams, eine indische Knabberei. Als es Zeit für das Hauptgericht war, kam er an unseren Tisch und bot mir an, das Essen mit nach Hause zu nehmen. Ich lehnte ab, weil ich im Restaurant essen wollte. Daraufhin meinte er kopfschüttelnd, das gehe nicht, weil es eine Zumutung für die anderen Gäste sei, zuzusehen, wie ich mit den Füßen esse. Ich fragte ihn, ob er wisse, daß diese Behandlung diskriminierend sei, und ob er das auch mit Schwarzen, Juden und Nichtdeutschen mache. Er schüttelte den Kopf und blieb dabei, daß ich in seinem Lokal nicht mit den Füßen auf dem Tisch essen dürfe. Ich fragte die anderen Gäste, ob sie sich gestört fühlen, was alle heftigst verneinten. Da wir nicht weiter bedient wurden, mußten wir das Lokal verlassen. Die meisten anderen Gäste zeigten sich solidarisch und verließen ebenfalls unter Protest das Lokal.

    Special days- Der olympische Wettkampf zwischen Mitleid und Anerkennung*

    * Special days, der olympische Wettkampf zwischen Mitleid und Anerkennung. Erschienen in der Zeitschrift Medienimpulse. Hrsg. vom Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten, Wien 1995.

    Hektik bricht unter den 10.000 Zuschauern aus. Jeder möchte einen Blick auf den muskelbepackten Terminator erhaschen, der hier lamm-fromm mit geistig behinderten Sportlern ins Schladminger Planai-Stadion einzieht. Die Musik, die aus einer Dallas-Folge entnommen sein könnte, schwillt zum Höhepunkt an, die Kamera zoomt auf Schwarzenegger. Der kommt nah ins Bild, im Hintergrund soll man aber noch die geistig Behinderten wahrnehmen.

    »Ein warmes Herzerl hat er schon immer ghabt«, meint eine Frau. Ein Mann schreit anfeuernd: »Arnold, Arnold!« Schwarzenegger strahlt sein professionelles Hollywood-Lachen und eilt, wie es Szene fünf der Eröffnungszeremonie vorsieht zum VIP-Mikrophon. An der Hand führt er zwei Behinderte.

    »Es is mia aine große Äre, den Eid zu sprächen«, schreit Arnold ins Mikrophon, und alle sind begeistert. »Let me win!« sagt Arnold mit bestimmter und fester Stimme. Zaghaft wiederholt eine geistig behinderte Sporlerin: »I-let mee wiün!«

    Arnold lacht: »Das ist schwach! Very lauter!« ruft er und das Publikum trampelt vor Begeisterung mit den Füßen.

    Heinz ist von Schwarzenegger weniger begeistert.

    »Soll i da wos erzöln von ihm?« fragt er aufgeregt, »do wolltn bei da Eröffnung zwa Teamkollegn von mir a Autogramm vom Arnold. Waßt, wos donn wor? Seine Bodyguards hobn die zwa weggstoßn - und der Arnold hot zuagschaut So woa des I mecht liaba Acidici segn und nit den Arnold«.

    Der Morgen beginnt für die Betreuer mit Streß. Aufstehen und Anziehen um sechs. Sieben Uhr: gemeinsames Frühstück. Auch sich im Überangebot des Buffets zurechtzufinden, muß eingeübt werden. Denn in den Heimen geht es anders zu. Einige Sportler kommen, sehen und räumen ab. Andere wiederum stehen vor dem Käse, der Wurst, den Cornflakes, dem Orangensaft und wissen nichts damit an-zufangen.

    »Eine wichtige Erfahrung für die Behinderten«, meint eine Betreuerin während sie ihrem »Schützling« erklärt, »daß Cornflakes mit Milch besser schmecken als mit Marmelade«. Danach rein ins Sportgewand. Um acht Uhr ist Abfahrt. Um neun Uhr beginnt das Training.

    Doch der Start verzögert sich. Zuerst um eine halbe Stunde. Danach wird die aus dem Lautsprecher plärrende Volksmusik durch eine dumpf knackende Stimme unterbrochen, die den Startbeginn um eine weitere Stunde verschiebt.

    Der Betreuer der deutschen Mannschaft kommt mißmutig auf seinen Skiern herangefahren.

    »Das ist ein Witz!« ist er verärgert. »Der Start wird verschoben, weil Arnold Schwarzenegger aufgetaucht ist und das Fernsehen sich nur ihm widmet. Ich habe zugesehen: Er hat unter anderem Skier mit Schleifpapier geschliffen. Ich meine, wer tut das heutzutage noch. Und dann hat er die Skier einem behinderten Athleten gegeben. Zum Kotzen ist diese Verlogenheit!«

    Mit zweistündiger Verspätung wird dann doch gestartet. Im Ziel warten nicht viele. Die Stars sind um die Mittagszeit schon woanders. Und so sind es fast ausschließlich die eigenen Betreuer, welche die Sportler enthusiastisch anfeuern.

    Im Publikum ist auch eine Frau aus Schladming. Als sie den ersten Athleten sieht, der im Schneepflug langsam Stange um Stange umfährt, schlägt sie die Hände vors Gesicht und meint: »Schauen Sie nur ... mein Gott ... liab sans schon!«

    Am Abend versammelt sich das Österreich-Team vor dem Fernseher. Alle sind vom Training erschöpft. Aber man ist trotzdem gespannt, ob man sich vielleicht selbst im Fernsehen sieht. Am TV-Gerät flimmert die Werbung, dann kommt endlich die Sport-Signation. Der Moderator begrüßt und weist gleich auf den »Special-Olympic-Beitrag« hin, der am Ende der Sendung folgt. Ein Raunen geht durch den Saal. Als die Sportberichterstattung doch »zum Höhepunkt des Tages« kommt, sind viele Sportler des Österreich-Teams schon schlafen gegangen. Sie versäumen Werner Wirnsberger, der vertraulich lachend meint, daß er »von der Leistung beeindruckt ist«. »Es geht ja um die Freude«, fügt er dann sein Lachen erklärend hinzu. Karl Kahr ist ebenfalls die Freude der Leute aufgefallen »und überhaupt«, fügt er nach einer längeren Pause an, sei »die Piste in einem guten Zustand«. Plötzlich lacht Brigitta, sie hat sich in der rechten oberen Bildschirmecke erkannt. Und dann fährt sie die Hüften schwingend quer über den Schirm, in die linke untere Ecke.

    Danach folgt ein Beitrag über den Eiskunstlauf der Behinderten, der von einer »nicht enden wollenden Begeisterung des Publikums getragen war«, meint der Moderator in der Einleitung. Großes Lob bringt er dann für Kristofics-Binder auf, für die eine Sportlerin durch die gemeinsame Trainingszeit »fast zu einem vierten Kind« geworden ist. Und auch eine Trainerin erscheint ihm »wie ein Engel«. Enthusiastisch erzählt er »von der Freude der Behinderten an der Bewegung, die fast spürbar ist«, und meint abschließend überschwenglich: »Wenn die Seele lacht, ist es am besten, man schweigt.«

    Nächster Tag, 9 Uhr morgens. Erst wollte er nicht, dann doch, dann wieder nicht. Und schließlich fand sie doch statt, Arnolds Pressekonferenz. Journalisten aus aller Welt packen ihre Mikrofone aus, machen an der Wand den Weißabgleich, ziehen ihre Kameras schußbereit auf. Alles wartet auf den Star. »Bleiben Sie sitzen«, fleht Arnolds Pressesprecher in den überfüllten Saal. Arnold spricht mit ihnen persönlich - tischweise.

    »Arnold!« ruft ein Journalist, »what do you feel?«

    »When I sit yesterday, my tears come down. To me it was a great moment. It was a dreain, now it's reality

    »Er kann so sanft sein«, meint eine Journalistin leise.

    »Arnold«, ruft sie dann, »everyone calls you the steirische Eiche. Woher kommt das?«

    Arnold lacht.

    »Ain Journalist nannte mich ainmal so. Er mainte, daß man von dear Staiermark groß und stalk wiald.«

    Während die Sportler die ersten Wettkämpfe auf der Piste bestreiten, eilen Politiker, Stars und Journalisten von einem Empfang zum anderen. 11 Uhr. Briefmarkenausstellungseröffnung.

    »Wollen Sie hier sitzen? Ach so, lieber am Rand, weil Sie früher gehen müssen«, flüstert eine Dame ihrer Kollegin zu. Und weiter: »Ist Ihnen auch schon aufgefallen, wie weiß der Bürgermeister ist. - Tja. Der wird durchhalten und dann zusammenklappen.«

    Man schüttelt sich gegenseitig die Hände. Überreicht Ehrenringe und goldene Teller. Dankt. Schüttelt wieder die Hände. Schließlich lobt man die anderen. Und läßt sich wieder von anderen loben. Eine Hand wäscht, pardon, schüttelt eben die andere. Behinderte sind nicht anwesend. Die haben ja noch nichts für die Veranstaltung getan. Ihre Leistung muß erst erbracht werden.

    Bei einem Empfang von Minister Ausserwinkler fällt ein Rollstuhlfahrer auf. Man wirft ihm aufmunternde Blicke zu, schüttelt ihm die Hand. Sicherlich ein Sportler, wenn nicht gar »der Sportler des Tages« schlechthin, scheinen die meisten zu denken. An einen Journalisten im Rollstuhl denkt man nicht.

    Der neuerwählte Lieblingssport der Fernsehredakteure heißt »Floor Hockey«. »Da tut sich was«, meint ein Kameramann, »da ist Action, da kann man mit der Kamera draufhalten und mitleben.« Floor Hockey ist dem Eishockey nicht unähnlich. Nur benötigt man dazu kein Eis. Der Buck ist aus Filz und schlittert auf dem Fliesenboden gut dahin.

    »Wirst sehen, die werden bei uns in den Heimen mit diesem Sport anfangen«, meint der Bürgermeister von Schladming, Hermann Kröll, der am Rande der Spielbahn sitzt und seinen Schützlingen aufmunternd zulächelt. Jedem, der vorbeikommt, nickt er zu, klopft den mehr oder weniger Bekannten mit zwei Fingern auf die Ärmel und erzählt, wie gut alles läuft:

    »Die Leit tun schon gern mit. Die Fraun bringan körbweis Kuchen und Keks. Die totale Gemütlichkeit. Des is guat anglaufn.«

    Die Akzeptanz der Special Olympics ist für Hermann Kröll keine Selbstverständlichkeit. Anfangs machte ihm der Unmut einiger MitbürgerInnen Kopfzerbrechen. Die wollten aus dem idyllischen Touristenstädtchen Schladming kein Zentrum für geistig Behinderte machen. »Besser wäre vergasn«, hätte es am Stammtisch geheißen, erzählt ein Hauptschullehrer, »kein Geld für ein solches Glumpat«. Aber Kröll beharrte auf seiner fixen Idee und organisierte mit seinem Freund Arnold die ersten Olympischen Spiele für geistig Behinderte außerhalb Amerikas. Die Bevölkerung sollte mittels der Medien aufgeklärt werden. In der Ausgabe von März 1993 der »Schladminger Stadtnachrichten« ist zu lesen:

    »Geschätzte Bevölkerung, verehrte Gäste! Was ist geistige Behinderung? Geistige Behinderung ist keine Erkrankung und sollte deshalb nicht mit Geisteskrankheit verwechselt werden. Geistig Behinderte lernen langsamer, und ihr Lernvermögen ist begrenzt. Sie haben unter Umständen auch Schwierigkeiten, normale Aktivitäten des täglichen Lebens zu bewältigen, das Verhalten anderer zu verstehen und sich in sozial angemessener Weise zu verhalten. Aus geistig behinderten Kindern werden geistig behinderte Erwachsene; geistig Behinderte sind keine ewigen Kinder. Glück auf, euer Bürgermeister.«

    Die Kritiker sind heute verstummt. Im Vordergrund stehen die Prominenten, und man ist froh, für ein paar Tage der Mittelpunkt der medialen Berichterstattung zu sein.

    »Stammtisch« steht groß auf einem Schild. Doch dort, wo sonst nur deklarierte Einheimische sitzen, versammelt sich dieser Tage ein buntes Gemisch an Leuten. Man kommt ins Gespräch. Erst oberflächlich über die Eröffnungsfeier, dann ein wenig tiefer über die Ängste vor dem Umgang mit Behinderten. Und dann werden Geheimnisse offenbart, die sonst nicht ausgesprochen worden wären. Eine Frau beugt sich zu mir und beginnt stockend: »Wissen Sie ... es ist für mich sehr schwer ... aber in bezug auf diese Special Olympics kommt für mich einiges hoch ... ich denke an das ... was ich sonst nie tue«. Sie schickt ihren Sohn vor die Türe, er solle einmal nachsehen, ob der Arnold schon kommt.

    »Mein Sohn weiß nichts davon«, erzählt sie dann, »er weiß nicht, daß er ein Geschwisterchen hätte ... einen Bruder. Der wäre jetzt 20 und körperlich sowie geistig schwerst behindert. Immer wenn ich junge geistig behinderte Menschen sehe, denke ich: Siehst du, das wäre dein Sohn«.

    Abends in der Unterkunft. Heinz sitzt still vor seinem Eis. Plötzlich bricht es aus ihm heraus: »Ja, der Chinese, der ist gut. Der ist viel zu gut. Der hat eine 28er Zeit. Aber der is ja a nit behindert, der fahrt wi a Profi, sagen alle.«

    Zur gleichen Zeit wird in der Mannschaftsführersitzung über das »Problem Chinese« debattiert. Die Österreicher, die um ihre Goldmedaillen bangen, fordern den Ausschluß wegen zu geringer Behinderung. Doch wie soll der Grad der geistigen Behinderung gemessen werden? So wird der Antrag auf Ausschluß abgelehnt.

    300 Fans des Grazer Floor Hockey Teams sind zum Spiel gegen Argentinien angereist. Die Halle ist gefüllt mit Menschen und Lärm. Dreimal in der Woche trainiert die steirische Mannschaft, jeweils eineinhalb Stunden lang. Gewinnen wollen die fünf Burschen. Für die Mücke, die Trainerin.

    Andreas hat öfters epileptische Anfälle. Gefährlich ist es, wenn er sie in der Nacht bekommt. Seine Freunde reagieren aber immer sofort und drehen ihn auf die Seite, damit er nicht erstickt. Auch Sport betreiben sollte er nicht. Zu gefährlich, sagen die Ärzte. Aber »don derfat i fül nit tuan«, meint er.

    Einen Vergleich mit Hochleistungssportlern lassen die Grazer zu. Der einzige Unterschied zu denen sei, daß sie kein Geld für ihre Leistungen bekämen. »Aber bei uns«, so sind sie sich einig, »geht es nit ums Göld, sondern um Ehrgeiz und Eifer. Es gült zu beweisn, daß wir a wos kenan«.

    Am Montag nach den Special Olympics kehren de wieder in den Alltag zurück. Aus den Athleten werden über Nacht wieder Behinderte, die zumeist in Geschützten Werkstätten sogenannte »Industriearbeit« verrichten. Michael klebt Seifenständer zusammen. Brigitta sitzt wieder an ihrem Tisch und packt Lastautos ein: »Verschiedene Sachen ... für Kinder.«

    Als Erinnerungen bleiben die Medaillen und eine Videokassette. Für ein paar Tage waren sie mediale Stars.

    Sport werden sie auch weiterhin betreiben. Auch wenn keine ORF-Kamera sie dabei filmt. Der Sport soll bei Michael und Brigitta auch viel bewirkt haben. Offener sind sie geworden, aktiver und lockerer, so der Kommentar des Trainers. Doch Special Olympics will, als selbst gestecktes Ziel, mehr erreichen: Integration.

    Christina wünscht sich zu heiraten, selbständig zu leben. Aber im Moment kann sie sich für ihre Webarbeiten mit dem monatlichen Verdienst von S 300,- kaum mehr einen Diskobesuch leisten. Ein Kind selbst zu erhalten ist mehr als illusorisch. In ihrem Befund steht: Christina ist geistig behindert. Mit diesem Satz streicht ihr die Gesellschaft jeglichen Anspruch auf Gleichberechtigung. Doch das läßt sich medial nicht so gut verkaufen.

    2. Persönliche Lebensbereiche

    Im Blickpunkt: Bist eh zu deppert ... !

    Emestine ist eine junge Frau, die sich dessen völlig bewußt ist, daß sie eine geistige Behinderung hat und eigentlich so gut gefördert wurde, daß sie ihre Fähigkeiten mittlerweile so gut einsetzen kann, um beinahe selbständig leben zu können.

    Während eines Gesprächs mit ihr fragte ich sie, ob sie mit dem Begriff Diskriminierung etwas anfangen könne. Darauf antwortete sie:

    Na klar. Das ist, wenn's dich für deppert anschaun und dich das g'spür'n lassen.

    Ist dir so etwas auch schon passiert?

    Da muß ich dir was erzählen. Darüber habe ich noch mit niemandem gesprochen. Meine Freundin und ich haben einmal ausgemacht, daß ich bei ihr schlafe. Sie hat mir die Schlüssel gegeben, weil sie allein daheim war. Ich komme am Abend in die Wohnung und sehe, wie der Vater von ihr sie am Bett angebunden hat und über sie hergeht. Als er mich sieht, lacht er nur und sagt: »Bist eh zu deppert. Aber wenn du irgend jemand was erzählst, bring ich dich um. Dir glaubt eh keiner, bist ja eine Hirnverbrannte.« - Ich hab mir wirklich nix sagen getraut. Das sind jetzt schon 14 Jahre. Ich bin wirklich deppert!

    Wie hast du es geschafft, mit diesem Wissen so lange Jahre weiterzuleben?

    Bis heute sehe ich noch Bilder. Wenn's finster is in einem Zinmier, krieg ich Angst. Und ich denk mir, ich bin zu deppert - mir glaubt ja eh keiner.

    Jetzt hast du es aber doch geschafft, endlich darüber zu reden.

    Naja, weil ich mir denke, die Leute sollen schon wissen, wie es uns Behinderten geht.

    Danke. Du hast mir sehr geholfen.

    Im Blickpunkt: Karl / Komisch geht's mir jetzt im Bauch

    Karl ist ein 24jähriger, junger Mann, der in letzter Zeit häufig schnell aggressiv wird. Er selbst ist mit seiner Situation recht unzufrieden und möchte gerne darüber reden. Im Laufe des Gesprächs zeigt sich, daß er schon oftmals tiefen Demütigungen ausgesetzt war und heute immer noch kämpft, damit fertig zu werden.

    Wann ich mich heut zum Beispiel in der Garderobe vor einem anderen ausziehen soll - ich weiß, das is blöd -, aber da seh ich immer die Schwestern, wie sie mir auf meinen Pimmel g'schaut haben und g'sagt haben, daß des »unrein« is. Dann habe ich mir oft gedacht, daß das stimmen muß, weil ich in der Schule ziemlich schlecht war. Naja, ich hab Buße getan und nix gegessen.

    Konntest du deinen Eltern davon nichts erzählen? Haben sie nicht gemerkt, wie es dir dort erging?

    Weißt, die haben damals schon beide gesoffen. Die haben nix mitgekriegt.

    Tut es dir gut, einmal darüber zu reden?

    Einerseits ja. Auf der anderen Seite geht's mir jetzt schon komisch im Bauch. Weil - wenn ich damals was gesagt hätte, dann hätten mich die Schwestern am Dachboden - nur in der Unterwäsche - eingesperrt.

    Danke, Karl.

    Buckel sind out: Behinderung und Sexualität*

    *Buckel sind out, Behinderung und Sexualität. Erstabdruck in Profil 53/92.

    In London trafen sich Behinderte aus ganz Europa, um über sich, ihre Sexualität und die Gesellschaft zu sprechen

    »Tell us about your experience in loving«, fordert die holländische Rollstuhlfahrerin Lydia Zydell auf, Inneres Unbehagen. Gedanken an Widerstand und Revolution. »Warum sollte ich hier - vor einer Gruppe von Behinderten - mein Sexualleben ausbreiten?« denke ich. Doch ehe ich mir die passenden englischen Worte zurechtgelegt habe, bilde ich mit George und Bill schon eine Kleingruppe.

    Bill ist blind. George und ich, beide im Rollstuhl, entscheiden, daß er als eine Minderheit in der Gruppe beginnen darf. Bill erzählt von seiner ersten Freundin Annette. Hübsch sei sie gewesen und very good in bed. George wird unruhig, rutscht im Rollstuhl hin und her. Bill kann es nicht sehen. Dann folgt die Geschichte von einer gewissen Arm. Auch mit ihr war es funny und her sex was very good. »Aber«, werfe ich endlich ein. Bill ist plötzlich still. George sieht mich an. Bill neigt sich nach vorne, um besser hören zu können. »Warum machen wir uns selbst immer etwas vor?« frage ich. »Auf der einen Seite verurteilen wir dieses Leistungsdenken der Gesellschaft. Auf der anderen Seite machen wir fleißig mit. Sagen: Alles, was zählt, ist der Orgasmus. Und im nächsten Augenblick hetzen wir schon von einem Orgasmus zum anderen. Zumindest in unserer Phantasie. Denn die Wirklichkeit sieht, wenn wir zu uns ehrlich sind, anders aus.« Ich werde aufgefordert, ehrlich zu sein. »Das hast du nun davon«, denke ich verärgert.

    Ehrlichkeit fällt schwer. Schwerer als gedacht. Zaghaft beginne ich, Bilder aus der Vergangenheit hervorzukramen. Einsamkeit taucht auf; Anbahnungsversuche zum anderen Geschlecht, die scheiterten und verletzten; Stunden, in denen man da sitzt und sich fragt: Warum liebt mich keiner, bin ich nicht liebenswert? Neue Anbahnungsversuche, neue Verletzungen ...

    Bill und George nicken. Beide haben Ähnliches erlebt. Es entsteht eine erste Diskussion über Freundschaften. Nicht gewöhnliche Freundschaften sind es, die man sich von uns Behinderten erwartet, sondern wahre Freundschaften. Darunter stellen sich die Nichtbehinderten eine Beziehung vor, die über allen anderen Beziehungen steht: Man ist für einander immer da, spricht über alles, unternimmt gemeinsam etwas und hilft sich gegenseitig. Wahre Freundschaften werden nicht durch sexuelle Kontakte getrübt. Die sind gar nicht nötig, stören nur.

    Lydia hat sich ein neues Spiel ausgedacht: Der Zufall entscheidet über den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin, eine gezogene Karte bestimmt das Thema. In der ersten Runde treffe ich auf die Engländerin Jane. »Lange, blonde Haare, braune Augen, hübsch«, stelle ich fest und freue mich darauf, mit ihr zu reden. Ich ziehe eine Karte und lese laut »sexueller Mißbrauch«. Stirnrunzeln. Gedankenpause. Jane bricht das Schweigen: »Ich bin sexuell mißbraucht worden.« Neuerliche Pause. »Wie war das?« frage ich schließlich leise. »Er hat mich und meinen Körper nur benutzt«, beginnt sie zu erzählen, »da war keine Liebe. Immer wenn er wollte, mußte es einen sexuellen Kontakt geben. Auch wenn ich nicht wollte. Wehren konnte ich mich nicht. Aus Scham schwieg ich. Eines Tages ließ er mich stehen. Verschwand einfach. Das war keine Liebe. Er hat mich sexuell mißbraucht«. Ich nicke in ihren Pausen, bin betroffen. Dann überlege ich, ob mir sexuelle Gewalt angetan worden war. So offensichtlich wie bei Jane war sie nicht gewesen. Aber auch ich fühle mich oft unästhetisch, nicht vollwertig. Warum? Weil ich es tatsächlich bin, oder weil ich schon immer auf meine Mängel reduziert worden bin? Immer wieder lag ich nackt auf einem Untersuchungstisch und war nichts weiter als ein defekter Körper, der von Fachleuten abgegriffen wurde. Jane nickt, »Ja, das ist sexuelle Gewalt«.

    Das Spiel hat eine zweite Runde. Diesmal komme ich wieder mit George zusammen. Er zieht eine Karte, liest und lacht: Selbstbefriedigung ist unser Thema. Ich lache auch, verlegen. »Tja«, meint er, »jeder macht es, und keiner spricht darüber«. »Haben wir ein Recht darauf?. «frage ich. »Natürlich«, meint George, »jeder Mensch hat ein Recht auf Sexualität. Das ist ja auch die Sauerei, die in Heimen passiert. Dort gibt es oft gar keine privaten Räume, alles ist öffentlich, es ist kein Platz für ein Intimleben. Eigentlich eine Menschenrechtsverletzung.« Überhaupt ist Sexualität in Heimen ein Tabuthema, sind wir uns einig. Die Betreuer sind damit heillos überfordert, und so wird unterdrückt und verboten, Männchen und Weibchen werden nicht nur toiletten-, sondern stationsmäßig voneinander getrennt. Und damit ja nichts passiert, wird gleich - sozusagen präventiv - sterilisiert. Da kann dann gar nichts mehr passieren. »Dabei ist medizinisch schon längst widerlegt, daß die Kinder von Behinderten auch behindert sein müssen«, wende ich ein. »Die Leute haben Angst vor behinderten Kindern«, seufzt George. »Lediglich Hilfsorganisationen sind für ihre Existenz sehr dankbar. Ohne mitleiderregende behinderte Kinder wäre es zu Weihnachten wohl ungleich schwerer, Spendengelder hereinzubringen.«

    Am Nachmittag des zweiten Tages erwartet die Gruppe eine Überraschung: Der Raum ist verdunkelt und nur mit einem schummrigen Licht erhellt, meditative Musik läßt das Wirklichkeitsgefühl kippen. »Umarmt euch«, fordert Lydia Zydel auf, »fühlt einander und nehmt euch wahr, so wie ihr seid«. Ich stehe mit meinem Rollstuhl neben John. John ist Spastiker. Verkrampft und steif wie ein Brett hängt er in seinem Rollstuhl, aus seinem Mund rinnt Speichel. Ich nähere mich ihm. Berühre mit meinen Händen zuerst seinen linken Arm, dann beuge ich mich zu ihm und umarme ihn. Es ist ein seltsames Gefühl, John zu umarmen. Ich merke, wie sehr er Zärtlichkeit braucht.

    Dann folgt eine Partnermassage. Ich lehne mich weit aus dem Rollstuhl und lasse mich auf die Matte fallen. Andrea, meine auserwählte Massagepartnerin, wird auf die Matte gehoben. In. ihrem weißen Elektrorollstuhl mit dem dicken Sitzkissen wirkt sie sehr majestätisch. Nun sitzt sie mir im Schneidersitz gegenüber. Obwohl sie sehr klein ist, verliert sie so ohne Rollstuhlthron nichts an ihrer Ausstrahlung. Als ich ihren Rücken vor mir habe, merke ich, daß sich etwas in mir verkrampft. Ich erkenne meinen Buckel wieder, und es kostet ein wenig Überwindung, den ihren zu berühren. Vorsichtig betaste ich ihre Wirbelsäule, erforsche ihren Rücken, Zentimeter um Zentimeter. Ihre Haut ist angenehm weich und zart. Ich beginne über ihren Rücken zu streichen und massiere sie. Innerlich verschwinden die vorgefaßten Schönheitsideale. »Andrea ist schön«, denke ich, »so wie sie ist«.

    Die Massage klingt in einem gemeinsamen Bad im Swimmingpool aus. Das Wasser ist auf 35° C aufgeheizt. Ich lege mich auf den Rücken flach ins Wasser. Eine junge Betreuerin zieht mich durch das Becken. Das Wasser streicht angenehm meinen Körper entlang. Lange hat es gedauert, denke ich zurück, daß ich meinen Körper akzeptiert habe. Ich hatte immer ein abweichendes Bild von mir. Bin das ich, dachte ich, wenn ich in den Spiegel sah. - Meine dünnen Beine, die verkrümmte Wirbelsäule, das alles ist o. k., finde ich heute. Mein Körper ist keinesfalls durchschnittlich, sondern sehr individuell. Obwohl ich jetzt meinen Körper so annehme, wie er ist, kostet es doch immer wieder Überwindung, ihn vor anderen bewußt herzuzeigen. Im Sommer das T-Shirt auszuziehen kostet Kraft. Es sind die Blicke der Leute, mit denen man fertig werden muß. Die Gesellschaft hat einen eigenen Schönheitsbegriff, der sich ständig wandelt. Buckel sind derzeit out. Vielleicht bin ich zu früh geboren.

    Am dritten Tag hat man zueinander Vertrauen gefaßt. George erzählt mir von einer Freundin, die auch behindert ist. Ich gestehe ihm, daß ich derzeit auch verliebt bin. Eine Beziehung bahnt sich an. Ob sie hält, das ist eine andere Frage. Meine Freundin scheint nicht stark genug zu sein, sich gegen die Gesellschaft durchzusetzen. Da sind Freundinnen, die fragen: »Ja, wie ist denn das, eine Beziehung so ohne Sex?« Und andere, die sagen: »Hast du das denn notwendig? Es gibt doch so viele einfache Beziehungen?« - »Muß man auf solche Fragen antworten?« frage ich George. »Glauben sich die Leute nicht in ihren Meinungen bestätigt, wenn man die Fragen ignoriert?«

    Pilar kommt aus Spanien. Sie ist querschnittgelähmt. Gekommen ist sie mit ihrem Freund, der auch im Rollstuhl sitzt. Beide sind verliebt. Im Frühjahr wollen sie heiraten. John lebt in England. Er ist bereits seit Jahren verheiratet. Seine Ehekrisen unterscheiden sich nicht von denen hunderttausender anderer. Da ist Lydia, die Gruppenleiterin. Sie bekennt sich dazu, lesbisch zu sein. »Rollstuhlfahrerin und lesbisch! « lacht sie, als sie ihre Geschichte erzählt, »das ist einigen einfach zu viel. In Holland ist das aber noch am ehesten möglich«. Heute lebt sie mit einer Freundin in einer festen Beziehung. Und ist dabei glücklich. Was unterscheidet uns eigentlich von den anderen, den sogenannten Nichtbehinderten? Daß wir behindert sind? - Ist es nicht vielmehr so, daß die Gesellschaft uns mit ihren vorgesetzten Normen und Idealen behindert? In einer vorurteilsfreien Welt gäbe es wohl keine »Behinderten«.

    Ein Vergleich zwischen den Ländern zeigt, daß es überall noch genügend gesellschaftliche Vorurteile gibt, die es zu überwinden gilt. Aber langsam beginnen die Betroffenen selbst zu reden. Sie erzählen über ihre Probleme, beginnen Situationen nicht mehr wort- und tatenlos hinzunehmen. Die skandinavischen Ländern geben wieder einmal vieles vor. Auch in Holland gibt es beispielsweise eigene sexuelle Beratungsstellen für Behinderte, sogenannte Sex helpers. Die Gruppe begnügt sich nicht nur damit, einen Erfahrungsaustausch zwischen Betroffenen zu ermöglichen. Sie versucht vor allem auch, in den einzelnen Fällen Lösungen herbeizuführen. So wurde einer Frau eine Einrichtung gebastelt, die es ihr ermöglicht, sich selbst zu befriedigen; was sie vorher, aufgrund ihrer Behinderung, nicht konnte.

    »When somebody wants to fight defend yourself!« fordert Lydia Zydel auf. Sie hat in Karate den schwarzen Gürtel erreicht. Der Rollstuhl und ihre 100-Kilogramm-Körpergewicht stellten dabei zwar große Hürden, aber kein Hindernis dar. Scheinbar mühelos katapultiert sie ihren Körper aus dem Rollstuhl, rollt sich am Boden hin und her. »Wenn du angegriffen wirst, zeig, daß du jemand bist. Schau dem anderen entschlossen in die Augen«, beginnt Lydias Rat. »Nütze auch deinen Rollstuhl als Waffe. Fahr dem Angreifer gegen das Schienbein. Und wenn er sich dann bückt, hast du ihn genau in Griffweite. Nimm ihn in den Schwitzkasten. Im Notfall kannst du ihm sogar das Genick brechen.« In Holland hat Lydia, Zydel eine Karateschule eröffnet. Ihre Schüler sind anfangs immer irritiert, dann aber begeistert. Für Behinderte hält Lydia eigene Kurse zur Selbstverteidigung und Selbstbehauptung. »Es mag auf den ersten Blick aggressiv wirken, was ich zeige«, meint sie, »aber was ich hier vorführe, sind Techniken für den Notfall. Es geht mir darum, dem Betroffenen zu zeigen, was in ihm steckt. Er gewinnt durch das Training Selbstvertrauen. Er verteidigt seinen Körper, verteidigt seine sexuelle Intimsphäre. Und das ist viel wert«.

    Im Blickpunkt: Schritt zur Ehrlichkeit. Nur eine Message

    Hallo Leute!

    Ich hege einen Wunsch und hoffe sehnsüchtig darauf, daß er in Erfüllung gehe:

    Jemand gibt eine Partnerschafts-Suchanzeige auf. Unverschämt, so dachte ich noch vor 10 Jahren, als die Dinge noch im Lot waren. Soll sich dieser Jemand doch selbst auf die Beine machen und einen Partner suchen. Damals dachte ich so, ja, damals.

    Mittlerweile sehen die Dinge aber anders aus: Ich kann meine Partnerin nicht mehr selbst suchen. Ich kann auch kaum jemanden damit belästigen, mich irgendwie mit den betreffenden Leuten zusammenzubringen. Es bleibt mir also nur noch die Möglichkeit, zu inserieren (ob analog oder digital) und damit eine große Zahl von Leuten anzusprechen.

    Jemand gibt eine Partnersuchanzeige auf, und wer ist das? »Ich bin ein junger, gut aussehender Mann von 32 Jahren und suche ... «. Anzeigen dieser Art habt Ihr bestimmt schon oft gelesen, und so könnte auch ich schreiben; allerdings müßte sich meine Anzeige von den anderen unterscheiden, denn bei mir sieht es gänzlich anders aus: 32 Jahre, gut aussehend, aber sonst in jeder Linie behindert.

    Euer Bild ist noch nicht komplett. Ich bin ausgestreckt relativ groß, habe schwarzes Haar, einen sympathischen Schnauzbart, meine Augenfarbe ist grün, habe gesunde Zähne, bin vielseitig interessiert, bin Musikliebhaber, Literat u.s.w.; aber genügt Euch das?

    Ich bin nämlich noch etwas: querschnittgelähmt, an Kinderlähmung, Muskeldystrophie oder Ähnlichem behindert. Wie Ihr vielleicht herauslesen konntet, leide ich unter einer Behinderung, die mir jede Möglichkeit nimmt, mich selbst zu aktivieren. Ich habe schöne grüne Augen; bin aber blind. So sieht man mich, nichts stimmt aber. Man weiß auch nicht, daß mein Gehör nicht so ganz normal reagiert, wie es meine »hübschen« Ohren versprechen.

    Ich bin zwar, wie gesagt Musikliebhaber; mein Gehör ist aber so diffus gestört, daß man bald nicht mehr auf herkömmliche Weise mit mir in Kontakt treten kann. Ich liebe das Wort, jenes, das mir die Möglichkeit gibt, mich auszudrücken, aber mein mangelndes Gehör versperrt mir die Möglichkeit, Eindrücke über das Hören anzunehmen.

    Jetzt befinde ich mich in einem Stadium, in dem mir kaum jemand helfen kann. Dabei habe ich beinahe alles versucht, angefangen von schulmedizinischen Therapien, über Alternativen wie Homöopathie oder Aromatherapie, bis hin zu »Geistheilung«, bewußter Ernährung, bewußtem Leben.

    Lange Zeit habe ich über mich selbst nachgedacht. Schließlich bin ich zum Schluß gekommen, daß mir vor allem eines fehlt.

    Ich habe eingangs zu erwähnen vergessen, daß dieser junge hübsche Mann unter Spasmen leidet, die sämtliche aktiven Muskelpartien seines Körpers zu den ungelegensten Situationen befallen. Spasmen sind unkontrollierte Muskelspannungen, solche, die genau das verwehren, was mir helfen könnte: Ich kann es nur mit dem Wort »Liebe« benennen. Im Klartext: gemeint ist nicht nur »geistige Liebe«, in Form von Gegenübersitzen, Gespräche führen, oder allein das wohlwollende Denken, nein, gemeint ist körperliche Liebe, ohne viele Fragen, ohne große Bedenken, nur mit viel Geduld, Verständnis und Einfühlungsvermögen. Natürlich möchte ich auf jede Frage eine ehrliche Antwort geben. Selbstverständlich sind »Einstandsgespräche« eine unabdingbare Voraussetzung.

    Es ist viel, was ich brauche, aber widersinnigerweise ist dieses »Viel« zu wenig für eine normale Partnerschaft. Aber laßt Euch sagen: Ich kenne die heutige Gesellschaft zu wenig und kann deshalb nicht mehr sagen, was sein kann und sein wird. Ich möchte noch einmal betonen: Vielleicht kann mich die Erfüllung dieses zwanzig Jahre lang enttäuschten Traumes, gelebte Sexualität, gar nicht »heilen«, sie kann mich aber »befreien«, kann mein Leid lindern, kann Schatten »lösen« und Verkrustungen auflösen.

    An jene Frau, die ich suche, möchte und kann ich nicht zu große Ansprüche stellen, was ihr Aussehen betrifft. Sie sollte nur etwas größer und fester gebaut sein, es wäre ganz gut, wenn sie ungefähr meinem Alter entsprechen würde. Gute Bildung und sichere gesellschaftliche Stellung wären angenehm, aber wer besitzt diese heutzutage nicht? Betonen möchte ich noch, daß ich auf deutliches und schönes Sprechen in etwas höherer Stimmlage angewiesen bin. Welche entsprechende junge Frau sieht sich in der Lage, das Wunder zu bewirken, sich in meine Isolation herabzubegeben?

    Es bleibt mir nun nur noch die Hoffnung, daß ich bei Euch Gehör finde und ich auf diese Weise tatsächlich eine persönliche Beziehung aufbauen kann.

    Ich sitze hier wie erstarrt in meinem Rollstuhl, zu keiner koordinierten Bewegung motiviert, und warte auf Erlösung, zu der es freilich erst dann kommen wird, wenn mein größter Wunsch, nämlich der nach einer Partnerin, voll befriedigt wird. Versperrt Euch, den normalen Menschen, ein Hindernis den Weg, so werdet Ihr es nach genauer Inspektion entsprechend umgehen. Und ich?

    Vor 10 Jahren verließ mich meine Freundin. Ungefähr von da an begann ich tiefer zu sinken, in eine Dimension, mit der niemand gerechnet hatte: Ich wurde langsam blind. Aber dies wäre auch so gekommen, wenn mich meine Freundin nicht verlassen hätte. So war eben mein Weg: hart und sehr geländig.

    Im Blickpunkt: Barbara / Mit einem Behinderten?

    Barbara geht zu ihrem Hautarzt, und während der ihre Muttermale kontrolliert, hat sich folgender Dialog abgespielt: »Sind Sie verheiratet?« »Nein, in Lebensgemeinschaft.« »Mit einem auch Behinderten?« »Nein.«

    Ein Zusammenhang mit der Untersuchung war für Barbara nicht ersichtlich.

    Jetzt würde Barbara ihm gern positiv anrechnen, daß er mit seinem »Wissenschaftlichen Interesse« vielleicht ein paar Vorurteile bei sich abbaut. Aber die richtige Freude will nicht aufkommen, da man ja wohl annehmen kann. daß er seine Patientinnen sonst nicht nach ihrem Privatleben befragt.

    Im Blickpunkt: Susanne / Schon etwas unternommen?

    Susanne (Name auf Wunsch geändert) ist 20 Jahre alt, vollblind und im fünften Monat schwanger. Sie sitzt im vollen Wartezimmer der Gynäkologischen Ambulanz Graz.

    Ein Arzt fragt sie vor versammeltem Wartezimmer: »Haben Sie überhaupt schon eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen?«

    Susanne hat keine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen, ist aber eingeschüchtert und sagt sicherheitshalber »Ja«.

    Darauf der Arzt: »Dann ist es ja gut, sonst hätte man gleich etwas unternehmen können.«

    Mit »etwas unternehmen« war wohl eindeutig eine Abtreibung gemeint.

    Martina Hela - eine besondere Mutter*

    * Martina Hela - eine besondere Mutter. Erstveröffentlichung: betrifft:Integration 1/95. Der Artikel basiert auf den Filmen »Mutter auf vier Rädern« und »Eine besondere Mutter« (ORF, Sendereihe Am Schauplatz, Jänner 1997). Beide Filme sind erhältlich im BMUK, Abteilung Medienservice, Minoritenplatz 5, 1014 Wien.

    Morgenstreß bei Familie Hela. Martina und ihr Sohn Mathias räkeln sich im Bett. Mathias lacht und springt auf die Decke und rollt sich zu seiner Mutter. Rawa, eine von Martinas Assistentinnen, öffnet die Vorhänge, bereitet das Frühstück, hilft Martina aus dem Bett und zieht sie an. Mathias steht auch auf, geht ins Bad und macht sich selbständig für die Tagesmutter fertig. Mathias ist heute drei Jahre alt. Früher, als Mathias noch kleiner war, fragten sich die Leute, ob Martina denn wirklich seine Mutter sein kann. Wie sollte er sprechen lernen? Heute ist es Mathias, der Martina laut erzählend die Welt zu erklären versucht. In den Filmen »Mutter auf vier Rädern« und »Eine besondere Mutter« (ORF, Am Schauplatz, Jänner 1997) berichtet Martina offen über ihre Lebenssituation als Mutter. Zur Beziehung zum Vater des Kindes meint sie: »Nicht jede Sexualität mit Behinderten darf gleich kriminalisiert werden«.

    Martina ist von Geburt an spastisch behindert. Laut ärztlicher Diagnose ist sie Atitotikerin. Das heißt, daß sie stark erhöhte Muskelspannungen hat, welche die Motorik stark beeinflussen. Geduldig sitzt Martina stundenlang vor ihrem Computer und tippt mit dem Kopfstab Buchstaben ein. Sie lernt für ihre Matura, die sie jetzt mit 25 Jahren an einer Abendschule nachholt. Mathias sitzt am Sofa, schaut seiner Mutter bei der Arbeit zu und grinst. Manchmal klettert er auch auf ihren Schreibtisch und schreibt selbst seine Briefe. Was Martina nicht immer recht ist. Mathias weiß genau, wenn er etwas macht, was seiner Mutter nicht gefällt, auch wenn sie nicht mit ihm auf die übliche Art sprechen kann. Martina und Mathias haben ihre eigene Sprache entwickelt. Mathias schaut, wie seine Mutter reagiert, und geht darauf ein. Manchmal protestiert er auch gegen ein »Nein« und versucht, Martina umzustimmen. Wenn es dann aber doch beim »Nein« bleibt, was Mathias nur ungern einsieht, bekommt er von seiner Mutter einen aufmunternden Klaps.

    Über den Vater von Mathias redet Martina nicht so gerne. Sie habe ihn jedenfalls geliebt, meint sie heute. Doch als sie erfuhr, daß sie schwanger ist, sagte er: »Es muß weg.« In ihr Tagebuch schrieb Martina damals: »Für einen Moment war ich so schwach und tief getroffen, daß ich beinahe ja gesagt hätte. Zum Glück ließ ich mir Zeit und habe dann doch nein gesagt. Ich soll mein eigenes Kind töten, das kommt überhaupt nicht in Frage! « Diese Kontroversen führten schließlich zum Ende der Beziehung.

    Je näher der Geburtstermin kam, desto mehr spürte Martina die Sorgen und Ängste ihrer Freunde und Bekannten: »Kann Martina als Spastikerin ein Kind gebären? Wird es auch behindert sein? Ist das alles verantwortbar?« fragten sie sich. Martina verstand diese Frage nicht. Zumal die wenigsten Kinder von behinderten Eltern auch behindert sind. Spasmus ist nicht vererbbar. Die Verantwortung über ihr Leben und für ihr Kind wollte sie selbst übernehmen. Mathias kam gesund zur Welt. Aber sie hätte ihr Kind auch nicht abtreiben lassen, wenn es behindert geboren wäre. Martina entschloß sich, Mathias alleine zu erziehen - wie es viele Mütter auch tun müssen.

    Anfangs wußte sie allerdings nicht, gibt sie zu, wie das zu organisieren sei. Martina braucht selbst Hilfen beim An- und Ausziehen, beim Essen und bei der Körperreinigung. Auch sprechen im herkömmlichen Sinne ist nicht möglich. Martinas Vater unterstützte sie sehr in ihrem Bemühen, möglichst selbständig zu werden. Zu ihrer Mutter hat Martina nur wenig Kontakt. Martinas Vater erkrankte jedoch schwer und starb im letzten Jahr. Martina ist von zu Hause weggezogen und gerade dabei, ihre eigene Wohnung einzurichten.

    Als Mathias zur Welt kam, hatte Martina nur eine Assistentin: Silvia wohnte im gleichen Haus, fütterte Mathias, wechselte seine Windeln, ging einkaufen. Silvia machte das, was Martina als Mutter nicht alleine machen kann. Ein Spaziergang durch den Wiener Tierpark Schönbrunn beispielsweise war für Martina und Mathias nur möglich, wenn Silvia beide begleitete. Martina und Silvia verstanden sich gut. Aber ab und zu kam es doch zu Spannungen. Wenn etwa Silvia Mathias erklärte, was ein Seelöwe ist, fühlte Martina ihre Grenzen. Sie wird Mathias nie etwas so schnell und einfach erzählen können.

    Heute hat Martina mehrere Assistentinnen, die vom Magistrat der Stadt Wien finanziert werden. Mit der Hilfe des »Selbstbestimmt-Leben-Zentrums - BIZEPS« suchte Martina Assistentinnen, die sie unter Anleitung der Selbstbestimmt-Leben-Trainerin, Annemarie Srb, einschulte. Wichtig ist dabei, daß Martina selbst bestimmen können muß, wann, wo, von wem und wie sie Hilfe bekommt. Die Assistentinnen ermöglichen es Martina, ihrer Mutterrolle gerecht zu werden.

    Manchmal hat Martina auch jetzt noch Angst, ihre Mutterrolle nicht erfüllen zu können. Neue Wege einer Mutter-Kind-Beziehung müssen gefunden werden. Mathias soll dabei nichts abgehen. Er soll, so wünscht es sich Martina, glücklich aufwachsen. Was auch eine Herausforderung für die Gesellschaft sein wird. Wenn später einmal jemand zu Mathias sagen wird: »Was, das ist deine Mutter?«, wird sich Mathias sonst schwer tun, zu Martina zu stehen. So nachdenklich Martina auch ist, beide - Mutter und Kind - scheinen am richtigen Weg zu sein. Mathias geht es gut. Besser als so manchem anderen Kind.

    Im Blickpunkt: Ohne Einwilligung sterilisiert

    (Obersteiermark:) Die Sterilisation einer geistig behinderten Frau ohne ihre Zustimmung und ohne die Zustimmung ihrer Sachwalterin wurde von der Sachwalterin zur Anzeige gebracht. Das gerichtliche Verfahren gegen die Ärzte und das Krankenhaus wurde eingestellt, da der medizinische Eingriff ohnehin nur zum Besten der jungen Frau geschehen sei.

    Das Integrationskind*- Mario B., 2A. Von Maria Brandl

    *Das Integrationskind. Mario B., 2A. Auszug aus dem gleichnamigen Artikel in Behinderte 1/91.

    Da dies das erste Mal für mich ist, auch in der Öffentlichkeit über meine eigene Betroffenheit, Ängste und Wünsche zu berichten, bitte ich Sie, mir manche Gedankensprünge zu entschuldigen. hi meinem Kopf schwirren die Gedanken zu diesem Thema kreuz und quer, aber diese auch für andere gut verständlich niederzuschreiben, ist für mich momentan gar keine so einfache Sache.

    Zu viel hat sich seit der Geburt meines Sohnes verändert. Mein ganzes vorheriges Leben und dies meiner Familie wurde plötzlich auf den Kopf und vieles in Frage gestellt. Aber trotz aller Veränderungen kann ich dem neuen Lebensumstand schon positive Seiten und eine veränderte Denkweise abgewinnen. Ich finde nicht mehr alles zum Verzweifeln, sondern nehme bereits den Kampf für mein Kind bewußt auf.

    Vor der Geburt meines zweiten Sohnes am 26. Juni 1986 war alles, was in irgendeiner Form mit »Behindert« zusammenhing, vollkommen fremd für mich. Ich dachte auch kaum darüber nach, denn man neigt ja immer dazu, alles Unangenehme wegzuschieben. Wie sehr sollte sich all das verändern!

    Unser zweites Kind wurde von uns allen sehnsüchtig erwartet. Besonders unser siebenjähriger Sohn Thomas konnte es kaum erwarten, endlich ein Geschwisterl zu bekommen. Schon die Schwangerschaft verlief problematisch und war vom Gefühl her irgendwie anders. Ein Gefühl, das ich im Laufe der Zeit noch oft zu spüren bekommen sollte und auf welches ich mich, in der Zwischenzeit, immer mehr verlasse. Nichts klappte wie vorgesehen, aber dieses Kind in mir machte seinen starken Überlebenswillen und seinen Eigensinn - eben sein ganzes Anders-Sein - schon sehr früh bemerkbar. Etwas in mir warnte mich und ließ mich schon damals fühlen, daß mit meinem Kind etwas nicht in Ordnung ist. Dadurch war ich vielleicht in irgendeiner Weise auf die folgenden Ereignisse unbewußt vorbereitet.

    Mario kam zum Schrecken der Ärztin und der Hebamme mit starken Mißbildungen am Kopf, den Händen und Füßen zur Welt. Die Geburt war kompliziert und äußerst schwierig. An all das kann und will ich mich nur mit starkem Unbehagen erinnern.

    Für einen winzig kurzen Augenblick sah ich ein Bündel Mensch. Damals für mich ein wunderschöner Anblick. Ich merkte nichts von Mißbildungen und dergleichen. Heute überlege ich mir oft, ob man es als Mutter nicht sehen und nicht wahrhaben will oder ob man dies nach all den anstrengenden, zermürbenden Stunden wirklich übersieht. Eine Frage, auf die ich keine Antwort finde. Mario wurde mir schnell weggenommen, und man ist mit ihm davongelaufen.

    Da wurde mir schon klar, daß mit meinem Kind irgend etwas nicht stimmen konnte. Von allen Seiten kamen Leute gerannt, um in dem Kammerl, in welches mein Sohn gebracht wurde, zu verschwinden. Alle gingen »Kind schauen« - die Sensation war perfekt. Die Reaktionen, Blicke und Äußerungen, die ich in diesen ersten Minuten sehr wohl mitbekommen habe, sind in meinem Gedächtnis verankert, und ich kann sie bis heute noch nicht streichen. Ich lag einfach nur da und schaute diesem ganzen Wirbel fassungslos zu. Hätte ich nur damals schon meinen Schmerz hinausbrüllen oder hinausweinen können, vieles wäre mir auch in Zukunft leichter gefallen. Aber schon damals (besser gesagt: damals verstärkt) war dieses »Stark sein müssen, keine Schwäche zeigen dürfen« sehr stark in mir drinnen. Außerdem war ich mir ja der Tragweite dieses Geschehnisses überhaupt noch nicht bewußt.

    Endlich kam die Ärztin an mein Bett und versuchte mir in kurzen, aufmunternden Worten mitzuteilen, was mit meinem Kind los sei. Heute ist mir klar, daß sie total überfordert und hilflos war. Damals aber hätte ich so sehr eine Stütze und Hilfe gebraucht. Meine Hebamme stammelte nur andauernd von Schicksalsschlägen, mit denen man fertig werden müsse. Worte, mit denen ich in meiner damaligen Situation kaum etwas anfangen konnte. Worte, die mich eigentlich nur ärgerten und sehr wehtaten. Mario war da! Er kämpfte von Beginn an ums Überleben und sollte unser Leben total verändern. Mit diesem Ereignis begann unser Leben als »behinderte Familie«.

    Die Ärzte gaben dem Baby kaum Überlebenschancen. Mario kam mit schweren Fehlbildungen am Kopf zur Welt, seine Finger und Zehen waren »zusammengepickt«, wie es der neunjährige Bub heute selbst ausdrückt. »Apert-Syndrom«, lautet die medizinische Diagnose, die das Leben der Familie Brandl auf den Kopf stellte. Unvorstellbar schwere Operation, Verzweiflung, Tränen und Schmerzen zuerst, dann der bewußte Kampf gegen die Behinderungen im Alltag, den die Mutter mit ihrem Sohn aufgenommen hat. Mehr als ein Jahr lang versuchte sie vergeblich, ihr als schwerstbehindert eingestuftes Kind in einem ganz »normalen« Klassenverband unterzubringen. Wurde doch zu dieser Zeit die schulische Integration von geistig und körperbehinderten Kindern nur versuchsweise an einzelnen Schulen erprobt. Mittlerweile hat das Integrationsmodell aber in Österreich »Schule gemacht«. Im Jahr 1994 wurde die Einrichtung von sogenannten »Integrationsklassen« auch gesetzlich verankert, nicht zuletzt auf Druck vieler engagierter Eltern. Mario besucht heute eine Integrationsklasse in einer Volksschule im niederösterreichischen Baden. Durch das gemeinsame Lernen mit nichtbehinderten Kindern hat er sich zu einem aufgeweck¬ten, lustigen und im wahrsten Sinn des Wortes »dickköpfigen« kleinen Kerl entwickelt.

    Im Blickpunkt: Reinhard / Wenn ich dich nur nicht geboren hätte!

    Reinhard ist 19 Jahre und kommt aus einer Familie, die ihn so gut fördert, daß Reinhard nun durchaus selbständig leben kann. Sein Aussehen war oft Anlaß, um diversen Diskriminierungen ausgesetzt zu sein.

    Nachdenklich erzählt er:

    Immer wenn ich in der Straßenbahn gefahren bin - auch heute noch -, schauen mich die Leute so komisch an. Manche Kinder verspotten mich. Sie sekkieren mich, stoßen oder zwicken mich. Aber da weiß ich, die verstehen das noch nicht.

    Was verstehen sie nicht?

    Daß man behindert sein kann. Ich bin behindert, aber ich kann ja nichts dafür. Manchmal sagte meine Mutter: »Wenn ich dich nur nicht geboren hätte ...!« Ich weiß, daß sie nicht will, daß ich unglücklich bin mit meiner Behinderung.

    Bist du unglücklich darüber?

    Eigentlich nicht. Aber wenn mir so Dinge passieren, wie neulich in der Straßenbahn, dann schon.

    Was ist dir passiert?

    Ich bin in den 10er ganz vorne eingestiegen. Da saß gleich bei der Türe eine alte Frau. Ich habe mich auf den Platz gestellt, wo auch ein Kinderwagen stehen könnte. Plötzlich schimpft die Frau mit mir, sagt, daß ich sicher nicht mehr leben würde, wenn es den Hitler noch gäbe. Der hätte »sauber« gemacht. Dann hat sie ihren Stock genommen und wollte mich schlagen. Da bin ich weiter nach hinten gegangen und hab mich dort niedergesetzt.

    Haben denn die anderen Fahrgäste dich nicht unterstützt?

    Nur ein junger Mann - die anderen alten Leute haben der Frau recht gegeben.

    Aber dann, hinten sekkierten mich plötzlich zwei Jugendliche. Sie wollten Geld von mir. Das Mädchen setzt sich neben mich und ihr Freund war genau hinter mir. Sie wollten S 100,- von mir. Ich hatte aber nur S 20,-. Da hat mich der Bursch um den Hals genommen und mir mit Umbringen gedroht. Ich habe ihnen gleich meine S 20,- gegeben. Dann haben sie mich angespuckt und sind bei der nächsten Haltestelle ausgestiegen. Dann bin ich zum Fahrer gegangen und habe ihm das erzählt. Aber er sagte nur, ich sollte froh sein, daß sie ausgestiegen sind. Außerdem hätte er mir nicht helfen können.

    Hattest du Zeugen für diesen Vorfall?

    Eigentlich nicht. Denn die Frau, die vorher zugesehen hatte, drehte sich weg, als die beiden mich angespuckt hatten.

    Was könntest du machen, wenn dir so etwas wieder passiert?

    Vielleicht würde ich schreien, aber dann würden sie mich vielleicht für verrückt halten.

    Danke, Reinhard.

    Toleranz den Langsamen! Behinderung und Zeit*

    * Zeit den Langsamen. Erschienen in: Die Universität, Zeitung der Universität Wien, 3/96.

    In einer Anwandlung von Selbstüberschätzung ist man oft bereit, Aktionen zu machen, die einen dann an den Rand der Überforderung bringen. Als Morgenmuffel war es eine Herausforderung für mich, eines Tages um 8 Uhr in der Früh eine Schulklasse mit 25 Schülern und zwei LehrerInnen vor meinem Bett versammelt zu finden. Sie waren gekommen, um dem behinderten Autor beim Anziehen zuzu¬sehen. In den Schülerberichten liest sich das wie folgt:

    Am Donnerstag waren wir bei Franz. Franz ist ein Schriftsteller. Als Franz ungefähr drei Jahre alt war, wollten ihm seine Beine nicht mehr gehorchen. Seitdem geht er mit den Gehstöcken oder sitzt im Rollstuhl (Lana).

    Als wir hinein kamen, saß Franz am Bett. Er hatte eine Strumpfhose und ein Leiberl an (Barbara).

    Er hatte gewartet, weil er wollte uns zeigen, wie er die Hose und die Gehhilfen anzieht. Es war ein bißchen schwierig. Aber er konnte sie auch diesmal anziehen (Julia). Ich stoppte: Er braucht 13 Minuten und 23 Sekunden. Dann zeigte Franz uns die Wohnung. Er humpelte auf Krücken zum Computer und erklärte uns, was er darauf arbeitet. Dann durften wir alle auf seinem lila Sportrollstuhl fahren (Daniel).

    Ich bin behindert. Nicht irgendwie, sondern so richtig behindert: gelähmte Beine, Buckel, langsame Bewegungen, Unsportlichkeit. Im¬mer wieder werde ich von Kindern gefragt: »Betreiben Sie Sport?« Dann antworte ich: »Ja, ich ziehe mich jeden Tag alleine an.« Was stimmt, denn wenn man 40 Minuten benötigt, um seine gelähmten Beine in die Stützapparate zu stecken und Hose sowie Schuhe darüber anzuziehen, bedeutet das (wenigstens für mich) eine gewisse sportliche Leistung.

    Es gehörte eindeutig zu einem Höhepunkt in meinem Leben als Rollstuhlfahrer, daß ich bei einem stationären Aufenthalt im Rehabilitationszentrum Tobelbad an einem Sportevent teilnahm. Unsportlich, wie ich bin, wäre ich ja lieber bei der Klasse der »Tetraplegiker« gestartet. Die können nämlich auch die Handschaufel sowie Finger nicht bewegen, und ich hätte mir da zumindest Gewinnchancen ausrechnen können. Aber laut ärztlicher Diagnose bin ich zu den Paraplegikern zu zählen und als solcher startete ich in dieser Klasse. Mag es die Kenntnis der Veranstalter von meiner Unsportlichkeit gewesen sein oder auch nur reiner Zufall, jedenfalls stand ich beim 100-Meter-Schnellrennen mit einer Frau im Rollstuhl am Start, die ich bisher noch nie allein fahrend gesehen hatte. Ich überlegte mir damals, ob sie überhaupt in der Lage ist, selbständig zu fahren. Plötzlich schrie jemand: 3, 2, 1. Und dann knallte ein Pistolenschuß. Diese Frau zuckte zusammen, griff in die Speichen und raste in ihrem vierrädrigen Gefährt wie eine Rakete (zumindest annähernd) los. Ich stand da und hatte einen nicht mehr zu bremsenden Lachanfall. Es kam mir alles so lächerlich von Warum, so fragte ich mich auch, soll ich so schnell wie möglich diese 100 Meter entlangfahren? Was bringt es mir?

    Ich bin kein freiwilliger Langsamer. Vielmehr bin ich einer, der zur Langsamkeit gezwungen wird. Ein Zustand, der mich ab und zu schon ärgert. Auf der anderen Seite habe ich jedoch auch eine Lebensphilosophie daraus gemacht. Langsamkeit als Weg: Wer langsam rollt, rollt länger, sieht mehr und erkennt dadurch mehr Details. Interessanterweise sehen die Leute aber nicht meine Langsamkeit als die eigentliche Behinderung, was ich sehr wohl tue: Lange Zeit ging ich mit Krücken im Vier-Punkte-Gang (Motto: Rechter Stock, linkes Bein, linker Stock, rechtes Bein). Als ich eines Tages entdeckte, daß es im Schwunggang - also mit Krücken hüpfend - viel, viel schneller geht, war ich glücklich. Meine Eltern meinten jedoch: »Geh nonnal!« Normal hieß, möglichst gleich wie die anderen, also im Vierpunktegang. Sie beurteilten meine Fortbewegung nicht nach Zweckmäßigkeit, sondern nach Anpassung, Normalität. Das gleiche wiederholte sich Jahre später, als ich für mich den Rollstuhl entdeckte, mit dem ich von A nach B in ungleich kürzerer Zeit und mit weniger Energie gelangte. Meine Freunde waren entsetzt: »Was ist mit dir los? Geht es dir schlecht? Warum sitzt du plötzlich im Rollstuhl und gehst nicht mit Krücken?« Sie erkannten nicht, daß es im Rollstuhl ungleich schnel¬ler ging. Rollstuhl bedeutet für sie: Behinderung. Für mich ist der Rollstuhl das Hilfsmittel, die Erleichterung des Lebens schlechthin (am Boden robbt es sich auch ziemlich langsam). Interessanterweise werden andere Hilfsmittel zur Beschleunigung als völlig normal akzeptiert. So kann sich ja beispielsweise kein Mensch mit 200 Stundenkilometern alleine fortbewegen. Das Auto ermöglicht es ihm. Rollstuhl und Auto stehen sich auf der Imageskala jedoch fast diametral gegenüber.

    Viele Einschätzungen beruhen auf Vorurteilen und einer gewissen Vorstellung, was »normal« zu sein hat. Gehörlose können etwa in der Gebärdensprache mit einer unwahrscheinlichen Eleganz etwas schnell mitteilen. Gebärden sind jedoch nicht »normal«, gehörlose Menschen werden daher nach wie vor in der Schule zumeist auf das Erlernen der Lautsprache gedrillt. Ein Gehörloser wird diese ihm fremde Sprache allerdings nie richtig lernen können. Er kann seine Stimme und die Lautstärke nicht kontrollieren. Das Sprechen wird zumeist zu einem unangenehm lauten Stottern von Wortfetzen, die oft nicht verständlich sind. Gehörlose kämpfen um die Anerkennung ihrer Sprache. Hörende verwehren dies - zumindest in Österreich, in vielen anderen Ländern ist sie bereits als eigenständige Minderheitensprache anerkannt.

    Auch das Wort »geistig behindert« schreckt ab. Bei der Diskussion um die Integration von behinderten Kindern in der Schule kamen oft Aussagen von Lehrerlnnen, wie: »Körperbehinderte ja, aber bei geistig Behinderten geht das nicht.« Dadurch, daß viele Behinderte in eigenen Sonderinstitutionen aufwachsen und leben, kennen wir sie nicht, entwickelten Vorurteile und Ängste. Daß diese Befangenheit durch den direkten Kontakt aufgelöst wird, zeigte sich bei den meisten IntegrationslehrerInnen, als sie die sogenannten »geistig behinderten« Kinder selbst persönlich kennenlernten. Da hieß es dann etwa zu einem Buben mit Down-Syndrom: »Nein, der Martin ist nicht behindert. Nicht wirklich behindert. Er ist halt langsamer und braucht länger, um etwas zu verstehen ... «

    3. Politik

    Im Blickpunkt: Lieber zahlen - für gleiche Rechte

    (Graz:) Obwohl relativ günstige, aus Steuergeldern finanzierte Tarife für die Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel entwickelt und die Kosten für Wochen-, Monats- und Jahreskarten besonders moderat sind, darüber hinaus auch noch zusätzlich ermäßigte Zeitkarten für Behinderte und Senioren aus den Sozialbudgets finanziert werden, sind die rollstuhlfahrenden Behinderten und Senioren von der Benützung von Straßenbahnen und Bussen ausgeschlossen. Sie erhalten als Ersatz dafür sechs kostenlose Einzelfahrten im Monat mit einem Sondertransportdienst und müssen für jede Fahrt darüber hinaus die Taxikosten zahlen und überdies Fahrtwünsche langfristig vorher bekanntgeben. Dies erschwert die Teilnahme am kulturellen und öffentlichen Leben und verursacht erhebliche Mehrkosten.

    Im Blickpunkt: Keine Hilfsmittel

    (Steiermark:) Während ansonsten dem Thema Prävention in der Medizin Raum gegeben wird, ist die Praxis der Hilfsmittelgewährung bei den Krankenkassen absolut gegenläufig.

    Antidekubitusmittel beispielsweise werden erst gewährt, wenn man schon einmal einen Dekubitus hatte.

    Die Profis sind wir* - Blitzlicht auf die Pflegegelddebatte

    * Die Profis sind wir. Blitzlicht zur Pflegegelddebatte. Erschienen in: Der Standard, 30. 1. 1996 (Kommentar der anderen).

    Der Wahlkampf war vorbei. Weihnachten auch. Und wieder mal ist es Fasching: Brigitte Ederer trat in einem STANDARD-Interview vom 10. Jänner 1996 für »eine Bindung des Pflegegeldes an professionelle Hilfe« ein und löste damit eine breite Diskussion über die Rechtfertigung des Pflegegeldes und dessen Verwendung aus. Behinderte und alte Menschen sollten, so Ederer, ausschließlich institutionell betreut werden, wodurch eine »anständige Pflege« und ein »Ende der Einsamkeit« gewährleistet werden sollte. Gleichzeitig spricht Ederer von »Einsparungsmaßnahmen« und »Beschäftigungsoffensive«. Wie das gehen soll? Brigitte Ederer plant ausschließlich professionelle Fachkräfte anzustellen und damit das Arbeitsproblem mitzulösen. Wie das funktionieren soll, bleibt ein Mysterium. Rechnen kann es sich jedenfalls nicht:

    Das derzeit ausbezahlte Pflegegeld sieht S 35,- bis 45,- pro benötigter Pflegestunde als Zuschuß zum tatsächlichen Pflegebedarf vor. Eine Pflegestunde etwa einer Mobilen Krankenschwester macht aber mindestens das Zehnfache aus. Das heißt, um Ederers Vorschlag umzusetzen, wäre eine wesentliche Erhöhung des Pflegegeldes vonnöten. Andernfalls: Profi-Hilfe und gleiches Pflegegeld würden zu einem häuslichen Pflegenotstand führen. Auch würden weniger Betreuungsstunden wohl auch kaum die Einsamkeit der Betroffenen verringern.

    Eine Partei, die im Wahlkampf noch versprochen hat, das Pflegegeld zu valorisieren, kann diese logischen Konsequenzen der vorgeschlagenen Maßnahme doch wohl nicht beabsichtigt haben. Und wenn doch, dann weiß man als Betroffener nicht so recht, ob man Tränen lachen oder weinen soll.

    Die Gretchenfrage ist: Was ist professionelle Hilfe?

    Meine Haushaltshilfe etwa putzt die Wohnung, reinigt und bügelt die Wäsche, macht Besorgungen, kocht ab und zu, trägt mir Arbeitsunterlagen ins Auto und hilft mir hin und wieder beim Anziehen. Und das alles schnell und gut. Die Zeiteinteilung ist sehr individuell. Bei Bedarf kommt sie auch am Wochenende oder abends. Ist das professionelle Hilfe?

    Meine Frau zieht mich jeden Abend aus und badet mich regelmäßig. Wenn ich krank bin, müßte ich in jedem Fall ins Krankenhaus, gäbe es da nicht Verwandte und Freunde, die abwechselnd bei mir sind und mich betreuen. Ist das professionelle Hilfe?

    Um meine körperliche Konstitution zu erhalten, muß ich schwimmen gehen. Dabei helfen mir Assistenten, meistens Studenten oder im Internet Kontaktierte. Ist das professionelle Hilfe?

    Das Pflegegeld gewährleistet nur ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben. Ich kann dadurch meiner Arbeit nachgehen, selbst meinen Lebensunterhalt verdienen und ein integrierter Teil dieser Gesellschaft sein.

    Institutionelle Hilfen, die Ederer offensichtlich gemeint hat, kommen nicht am Wochenende, nicht in der Nacht und schon gar nicht, wenn spontan eine Hilfeleistung benötigt wird. Abgesehen davon, sind die Kosten, wie oben angeführt, um ein Vielfaches höher.

    Die eigentlichen Professionellen sind die Behinderten selbst, weil sie selbst am besten wissen, wann, wo und wie sie Hilfe benötigen.

    Nun ist das Pflegegeld erst vor kurzem eingeführt worden, und manche Betroffene haben es vielleicht noch nicht gelernt, wie sie am effizientesten damit umgehen können. Es fehlt am Bewußtsein der Nichtbehinderten und an Assistenzangeboten. Initiativen wie z. B. BIZEPS, Zentrum für selbstbestimmtes Leben, haben Modelle entwickelt, insbesondere im Bereich der Beratung und Information, wie Betroffene mit den vorhandenen Mitteln ein autonomes Leben organisieren können.

    Dazu kommt noch, daß die professionelle Hilfe, die die Geschäftsführerin der SPÖ, Ederer, meint, ungeheuer viel an Verwaltungskosten verschlingt, im täglichen Umgang sehr bürokratisch agiert und es an der nötigen Flexibilität, wie sie Betroffene brauchen, mangeln läßt.

    Beispielsweise hat die Arbeitsvereinigung der Sozialhilfeverbände (AVS) in Kärnten vom Land die Aufgabe übertragen erhalten, ein Netz an ambulanten Diensten aufzubauen. Ergebnis: Es wird nur professionelle Hilfe angeboten, die sich die Betroffenen nicht leisten können und nach der oft kein Bedarf besteht (Krankenschwesterhonorar für Bodenputzen?). Und auf der anderen Seite investiert das Land enorm viel Geld in den Betrieb des gewaltigen Verwaltungsapparates der AVS.

    In den anderen Bundesländern sind spiegelbildliche Situationen.

    Das Pflegegeld hat für den behinderten Menschen nicht nur die Funktion, lebensnotwendige Unterstützung zur Bewältigung des Alltags und der Lebensgestaltung zu gewähren. Das Pflegegeld trägt bei zur Selbständigkeit, Unabhängigkeit und zu einer selbstbestimmten Lebensführung. Damit ist das Pflegegeld eine Errungenschaft, die Zeugnis von der Würde des Menschen ablegt.

    Für mich hat sich durch das Pflegegeld die Lebensqualität entscheidend verbessert und mein Tätigkeitsspektrum erweitert. Während manche Behinderte von der Situation profitieren, können andere sich noch immer nicht entscheiden, ob sie zu Hause integriert oder weiterhin in einer Institution (Heim) leben können.

    Um die Finanzierungskrise beim Pflegegeld in den Griff zu bekommen, muß auf drei wesentliche Aspekte Bedacht genommen werden:

    1. Der sogenannte versteckte Finanzausgleich: Es ist ein offenes Geheimnis, daß professionelle Institutionen und Heime die Tarife mit Einführung des Pflegegeldes enorm erhöht haben.

    2. Es gibt Strukturen, die kostengünstigeres, individuelles Engagement verhindern. So muß z. B. eine Mutter, die ihr behindertes Kind außerhalb der festgelegten Ferienzeit aus dem Heim nehmen möchte, die Heimsätze weiter bezahlen. Es mangelt an flexiblen Diensten, und eine stationäre Behandlung im Spital ist für die Betroffenen finanziell weitaus attraktiver als die Inanspruchnahme von ambulanten Diensten, obwohl diese der Allgemeinheit viel weniger Kosten verursachen würden.

    3. Es macht einen Unterschied, ob es sich um ein 6jähriges Kind, welches aufgrund eines Autounfalls querschnittgelähmt ist, oder um einen 80jährigen Mann, der aufgrund seines Alters nicht mehr gehen kann, handelt. Belgien, Finnland und Großbritannien treffen beim Pflegegeld Unterschiede, um speziell die großen Zuwächse beim Pflegeld für altersbedingte Behinderungen in den Griff zu bekommen.

    Zusammenfassend muß festgehalten werden:

    • Der/die Behinderte ist Experte/in in eigener Sache, das heißt nur er/sie kann bestimmen, wer für ihn/sie der professionelle Assistent ist.

    • Es ist ein Armutszeugnis, wenn bei Vorschlägen zur Budgetkonsolidierung als erstes das Pflegegeld genannt wird, das bei der Einführung vom damaligen Sozialminister noch als »Jahrhundertgesetz« gefeiert wurde.

    Im Blickpunkt: Vom Pech, ein Pflegefall zu sein

    (Graz:) Einer Frau, deren Gatte einen Gehirnschlag erlitten hat, wurde vom behandelnden Arzt im Krankenhaus bei der Erläuterung der Erkrankung erklärt, sie habe Pech gehabt, daß ihr Mann nicht gestorben ist, da er jetzt ein »Pflegefall« wird. (Ganz abgesehen davon, daß die Prognose falsch war und der Mann sich gut erholte).

    Im Blickpunkt: Behinderte werden nicht versichert

    Eine Familie hat für ihr behindertes neugeborenes Kind ein Bündel an Versicherungen abgeschlossen, die sie für ihre anderen Kinder auch hatte (Kranken-, Unfall- ...). Als die Versicherung entdeckte, daß das Kind behindert ist, wurde die Familie rüde darauf hingewiesen, daß es für behinderte Kinder nicht möglich sei, solche Versicherungen abzuschließen. Die Versicherung bezeichnete die Vorgangsweise als Betrug und wollte die Eltern deswegen sogar klagen.

    Volker Schönwiese: Halder, der Schutzpatron behinderter Menschen?*

    * Volker Schönwiese: Haider, der Schutzpatron behinderter Menschen? Erschienen in: Der Standard, 4. 9. 1996 (unter dem Titel »Bärenthaler Krüppelspiele«).

    Das Geschenk schien mehr als verlockend: Jörg Haider bot der wahlwerbenden Behindertenliste »Forum Handikap« an, bei Österreichs erster Wahl der Europarlamentarier im Herbst 1996 gemeinsam nach Europa zu rollen. Ein Offert, das in der Behindertenbewegung umso mehr Diskussionen auslöste, als verschiedene Behindertengruppen schon seit Jahren vergeblich fordern, daß behinderte Personen als politische Mandatare in allen Parteien die Interessen behinderter und pflegebedüftiger Personen vertreten sollten. Regelmäßige Schreiben vor den Wahlen an alle Parteien wurden meist mit der Aufzählung der Fähigkeiten der nichtbehinderten BehindertensprecherInnen beantwortet. Oder es wurde zu der Forderung nach Selbstvertretung einfach geschwiegen. Nur die Grünen haben bisher - trotz sichtlicher Probleme aufgrund der relativ geringen Anzahl der Abgeordneten - eine behinderte Person in ihren Reihen aufgenommen.

    Jörg Haider, der selbsternannte Schutzpatron des kleinen Mannes im Rollstuhl, bot nun an, was die anderen Parteien abgeschlagen hatten. Und dies in einer Situation, da viele Behinderte darüber verzweifelt waren, mit welcher Brutalität die Regierung per Sparpaket bei den behinderten und pflegebedürftigen Personen abkassiert hat (z. B. Reduzierung des Taschengeldes von Heimbewohnerlnnen). Das war die Situation, die Voget, den Präsidenten des Dachverbandes der Behindertenorganisation, verlockte, sich mit Haider einzulassen. Haider besetzte wieder einmal einen politischen Raum, den die anderen Parteien in Zeiten eines ökonomisch fragwürdigen Spar- und Deregulierungsopportunismus (statt hier gegenüber der EU eigenständige und mäßigende Politik zu betreiben) aus Unfähigkeit, Überheblichkeit oder Mißachtung unberücksichtigt lassen.

    Wieder einmal war es Haiders sprichwörtlicher Spürsinn, daß er erkannt hat, hier nur gewinnen zu können: Entweder hätte er - wenn die Aktion gelungen wäre - behinderte MandatarInnen auf Parteilinie bekommen, oder er kann sich mit einem bisher tagespolitisch relativ unbesetzten Thema sozialpolitisch legitimieren. Haider hat das schon mehrfach gemacht. Als Landeshauptmann von Kärnten hat Jörg Haider sehr medienwirksam eine Rampe in die Landesregierung gebaut (darauf war noch kein Politiker zuvor gekommen!), die Landesregierung zur Erfüllung der Behinderteneinstellungsquote veranlaßt, einen Behindertenbeauftragten für das Land Kärnten bestellt. In letzter Zeit hat Haider auch immer eine Gebärdendolmetscherin zur Seite, die seine Reden für Gehörlose verständlich macht. Haider ist nicht vorzuwerfen, daß er die Unfähigkeit der anderen Parteien benutzt, hier positiv aufzufallen.

    Nicht alles, was Jörg Haider im Bereich Behinderte gemacht hat, läuft für ihn jedoch so glatt: Mit Landeshauptmann Haider als Mentor wurde das bei ExpertInnen höchst umstrittene »No Problem Orchestra« groß. Kritik an der behindertenpädagogischen Bedeutsamkeit dieser öffentlichkeitswirksamen Musikgruppe wird regelmäßig nach Haider-Art mit Prozeßdrohungen oder Klagen beantwortet. Bisher sind u. a. der KURIER, profil, der Vizepräsident des Kärntner Landesschulrates und mehrere behinderte KritikerInnen mit gerichtlichen Klagen bedacht worden, wobei Haiders Anwalt Böhmdorfer jeweils das »No Problem Orchestra« vertritt. Interessant ist, wie Haider in Zusammenhang mit dem »No Problem Orchestra« Klarheit darüber geschaffen hat, welche Einstellung er gegenüber behinderten Menschen hat. Zitat Haider (Leserbrief in der Kleinen Zeitung, 16. 4. 91): »Integration findet erst dann statt, wenn der Nichtbehinderte seinem geistig behinderten Mitmenschen mit Ehrfurcht und echt empfundener Anerkennung gegenübertritt, was jedoch erst dann geschehen kann, wenn der Behinderte eine Leistung bringt, die nicht als selbstverständlich für diesen Personenkreis angesehen wird oder etwas besser kann als ein Nichtbehinderter « Die Anerkennung personaler Integrität ist also nach Haiders Meinung von Leistungsfähigkeit abhängig. Bei der Spaltung zwischen »leistungsfähigen« und »leistungsunfähigen« Personen tun sich aber politische und historische Abgründe auf. Die formulierten Menschenrechte gehen davon aus, daß alle Menschen, so verschieden sie auch sein mögen, gleiche Rechte haben. Die Mißachtung dieser Menschenrechte führt bei uns traditionell zur Aussonderung von behinderten Menschen in Sondereinrichtungen, zur Verhinderung von Integration. Die Nazis haben 1933 - ohne daß es irgendeinen Widerstand gegeben hätte - konsequent alle SonderschülerInnen nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit begutachtet und die nicht leistungsfähigen sofort ausgeschult und in Heimen untergebracht. Von diesen Heimen wurden sie in darauffolgenden Jahren alle abtransportiert und getötet (»Euthanasie«). Für die in den Sonderschulen verbliebenen leistungsfähigen Kinder und Jugendlichen gab es besonderen Einsatz der SonderschullehrerInnen: Sie sollten unbedingt in die HJ aufgenommen werden.

    Heute gibt es wieder eine Euthanasie-Debatte, die davon ausgeht, daß das Mensch-Sein neu definiert werden muß, daß Kriterien für den Lebenswert von Menschen neu gesucht werden müssen. Behindertenorganisationen sind hier weltweit in einen heftigen Abwehrkampf verwickelt, so wie es weltweit Behinderteninitiativen gibt, die auf Menschenrechtsbasis Gleichstellungsgesetze verlangen. In Österreich liegt eine entsprechende Petition mit fast 50.000 Unterschriften im Parlament.

    Haider spielt mit seiner Spaltungstheorie, welchen behinderten Menschen wir mit Ehrfurcht und Anerkennung gegenübertreten sollen, wieder einmal mit dem Feuer. Er spielt mit den hinter Mitleid versteckten Ablehnungsgefühlen gegenüber behinderten und pflegebedürftigen Personen, er macht »Politik der Gefühle«, die Menschen gegeneinander aufbringen können. Ein Beispiel dazu: Bei einer Behindertendemonstration für die Einführung des Pflegegeldes Anfang der 90er Jahre riefen die damalige Landesobfrau des Kärntner Zivilinvalidenverbandes (selbst behindert) und Partik-Pab16 (F-Abgeordnete und Mutter eines behinderten Kindes) Parolen wie: »Die Ausländer bekommen so viel - die Behinderten so wenig! Gebt den Behinderten mehr! Den Ausländern weniger!« Diese Schlachtrufe auf der Basis von »Minderheit gegen Minderheit« wurden entsprechend der bei Demonstrationen herrschenden Gruppendynamik mit großem zustimmenden Applaus bedacht - ein Szenario, das vielen behinderten Menschen noch heute einen Schauer über den Rücken laufen läßt.

    Der Coup von Haider und der Behindertenplattform »Handikap« ist geplatzt. Die VertreterInnen der anderen Parteien werden sich nun vermutlich wieder in Verkennung der Situation genüßlich lächelnd zurücklehnen. Dabei wird jedoch übersehen, daß gerade diese Haltung das Szenario aufbereitete. Wenn die anderen Parteien auch weiterhin die berechtigten Forderungen von behinderten und pflegebedürftigen Menschen nach gleichberechtigter politischer Mitbestimmung ignorieren, ist absehbar, daß behinderte Personen auch in Zukunft verführerisch lockenden Versprechungen auf den Leim gehen werden.

    Im Blickpunkt: Wahlen mit Hindernissen

    Die Wahllokale sind meist in baulich für RollstuhIfahrerInnen unzu¬gänglichen Gebäuden gelegen. Man kann zwar eine »fliegende« Wahlkommission bestellen, die zu Kranken (und auch zu Behinderten) ins Haus kommt. Dies muß jedoch einige Tage vorher erfolgen, die Information darüber ist kaum vorhanden, und darüber hinaus muß man dann eventuell den ganzen Wahltag lang auf diese Kommission warten und kann keine anderen Unternehmungen planen.

    Aus diesem Grund verzichten schwer gehbehinderte Menschen oft auf ihr Wahlrecht!

    Über die Meinung vom Sterben der anderen* - Von Erwin Riess

    * Über die Meinung vom Sterben der anderen (von Erwin Riess). Erschienen in: Wespennest Nr. 112.

    Heutzutage bringen die Menschen mit erstaunlichen Beschäftigungen ihre Zeit zu. Sie sind UFO-Forscher, Anhänger des Satanskults, selbstgeißelnde Bigamisten oder bekennende Analphabeten in Führungspositionen. Da verwundert es nicht, daß sich in manchen Ecken der Welt Menschen finden, die sich ein Steckenpferd daraus machen, den Tod anderer Menschen herbeizureden. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gilt für jedermann, also auch für Anhänger der Euthanasie. So kam es, daß die Sterbehelfer der Welt sich zu Vereinen zusammenschlossen, die programmatische Namen tragen: »EX-Intemational« heißt einer dieser Vereine, der vom deutschen Euthanasiebefürworter Hackethal gegründet wurde, und diesem Verein fühlt sich auch der »Arbeitskreis Menschenwürdig Sterben« verbunden, der seit einiger Zeit von sich reden macht. Dem Arbeitskreis gehören Philosophen, Juristen und - emeritierte - Mediziner an. Peter Michael Lingens besorgte die Redaktion eines einschlägigen Manifests, Sepp Wille, ehemaliger SPÖ-Klubobmann, vertritt den Arbeitskreis in der Öffentlichkeit. Kein des »Manifests für menschenwürdiges Sterben« ist die vielfach variierte Forderung, der Staat möge den Menschen Selbstbestimmung auch in ihren letzten Stunden gewährleisten. Fremdbestimmung versus Selbstbestimmung laute der Konflikt. Daß diese Fragestellung eine falsche ist, soll im folgenden gezeigt werden.

    Fremdbestimmung erzählt von einem gesellschaftlichen Zusammenhang, aber der bleibt unverstanden, und so glänzt der Begriff der Selbstbestimmung im Licht des Mißverständnisses. Ich werde nicht gefragt, ob ich die jährlichen Mieterhöhungen gutheiße, warum sollte ich da beim Sterben etwas mitzureden haben? In einer Gesellschaft, die auf Fremdbestimmung gründet, ausgerechnet fürs Sterben Selbstbestimmung einzufordern, ist eine rückwärtsgewandte Utopie, mit einem Wort: barbarisch. Fremdbestimmung ist nur ein anderes Wort für Arbeitsteilung, und wer jene als entfaltetes gesellschaftliches Wesen begreift, weiß auch, daß das Geschrei um Selbstbestimmung ein Nachhall aus vergangener Zeit ist, als der Bourgeois damit gegen die Aristokratie um die politische Herrschaft focht. Der Begriff der Selbstbestimmung sperrt sich von vornherein gegen seine Ausdehnung auf die Gesellschaft. Eine Gesellschaft selbstbestimmter Menschen wäre eine mit sich identische, wäre ein Tollhaus, und am Ende der Selbstbestimmung läge ein Schlachtfeld. Das Selbstbestimmungsrecht ist eine Keule, die über dem Kopf des Nächsten geschwungen wird, weil einem die eigenen Verhältnisse über den Kopf gewachsen sind. In einer Epoche, in der betriebswirtschaftliches Rechnen die Gesellschaft mit Pragmatismus durchwirkt, ist der Begriff der Selbstbestimmung eine einzige Blamage.

    Besonders deutlich tritt dies an der »Selbstbestimmt-Leben-Bewegung« behinderter Menschen zu Tage, der ich mich so lange verbunden fühlte, bis ich einsah, daß der Begriff »Independent Living« ein Etikettenschwindel ist. Es geht bei allen Maßnahmen zur Förderung behinderter Menschen um die Aneignung vorenthaltener Wirklichkeit, um die Teilhabe an einem Zipfel gesellschaftlicher Macht, nicht aber um die Selbstbestimmung der Person. Nicht ghettoisiert zu werden, nicht abgeschoben, ausgegrenzt, von Sonderfahrtendiensten geführt, in Sonderschulen ausgebildet und in aussondernden Werkstätten arbeiten zu müssen - das ist das Ziel für beide, für die Behinderten und die Gesellschaft. Manche nennen es Integration, man kann es aber auch ohne den Zwang, der diesem Begriff innewohnt, begreifen als die gelassene Akzeptanz anderer Lebensformen.

    Auch in der Behindertenpolitik taugt der Begriff »Selbstbestimmung« nur als Kampfbegriff gegen Paternalismus und Aussonderung, jenseits dessen ist er nicht mehr als eine Worthülse. Was wäre das auch für eine Welt, in der die Behinderten selbstbestimmt leben, ihre nichtbehinderten Angehörigen, Freunde und Kollegen aber allen Spielarten von Fremdbestimmung ausgesetzt sind? In einer Diktatur selbstbestimmter Behinderter bleibe ich keinen Tag.

    Das Sterben ist, philosophisch gesehen, eine vertrackte Sache. Man kann darüber nur spekulieren. Die Erfahrung, sonst der Lehrmeister aller Erkenntnis, läßt hier aus. Wer über das Sterben redet, redet also über seine Meinung vom Sterben. Das gilt umso mehr, wenn man sich über das Sterben anderer Menschen den Kopf zerbricht.

    Meinung ist die Setzung eines subjektiven, in seinem Wahrheitsgehalt beschränkten Bewußtseins als gültig, schreibt Adorno. Indem ein Mensch seine durch keinerlei Erfahrung erhärtete Meinung als die seine proklamiert, verleiht er ihr durch die Beziehung auf sich selbst Autorität. Selten, daß es bei harmlosen Meinungen bleibt. Zwar könne das Individuum an seiner Meinung Reflexion üben und sich hüten, sie zu hypostasieren. Die Kategorie der Meinung selbst aber, als eine objektive Stufe des Geistes, erweist sich als gepanzert gegen solche Reflexion. Kein Mensch ist von der Neigung zu meinen frei, denn sie beruht auf Narzißmus; darauf, daß die Menschen manchmal nicht anders können, als ihre Liebe nicht etwa anderen zuzuwenden, sondern sich selber auf eine gequälte, uneingestandene und darum giftige Weise zu lieben. Eine Meinung zu haben heißt, sich gegen Erfahrung abzuschotten. Insofern tendiert jede Meinung zur Rechthaberei und letztlich zum Wahn.

    Und doch, wendet Adorno ein, hat nur der zum Meinen Fähige auch Vernunft. Dieser Widerspruch im Meinen ist unauflösbar, wenn es um die Frage geht, wie ein Mensch im Dickicht seiner Meinungen den Blick auf die Wirklichkeit behalten kann. Er ist aber keineswegs unauflösbar, wenn danach gefragt wird, welche Meinung sich als bestimmend durchsetzt, denn die Instanz, welche den Menschen die Entscheidung über Meinung und Wahrheit abnimmt, ist die Gesellschaft.

    In einer fortgeschrittenen Gesellschaft sei es das Recht jedes einzelnen, über das Wann und Wie seines Endes zu entscheiden. Nur dieses Recht garantiere ein menschenwürdiges Sterben, meinen die Verfasser des Manifests: »Unser Leben muß vor unangemessener Lebensverlängerung ebenso geschützt sein wie vor vorzeitiger Verkürzung«.

    Bei diesem Satz lohnt es sich zu verweilen, er ist nämlich nicht so unschuldig, wie er sich gibt. Die Manifestanten greifen hier zu einem Trick, der von autoritären Persönlichkeiten gern angewandt wird: Sie sprechen in fremdem Namen und maßen sich eine Vertretungsbefugnis an, ohne danach gefragt zu haben, ob diese erwünscht und nicht vielleicht eine freche Einmischung in eine Angelegenheit ist, die wie keine andere das Epitheton privat verdient. Das Manifest spricht von »unangemessener Lebensverlängerung«, vermeidet es aber, das Maß anzugeben, mit welchem gemessen werden soll. Vielleicht weil die Unterzeichner meinen, dieses schon in Händen zu halten? Selbstherrlich bestimmen sie das Maß des Lebens, und aus ihrem forschen Auftritt leiten sie das Recht ab, Maß zu nehmen und anzulegen an jene, die ihrer Meinung nach kein rechtes Maß kennen und das Sterben einer dritten Instanz überlassen wollen, der Natur. Das Manifest indes droht diesen Menschen eine »vorzeitige Verkürzung« an, was nichts anderes ist als eine tautologische Umschreibung für Mord.

    »Anstelle eines qualvollen, sinnlosen Leidens, das den Sterbenden im Angesicht des Todes sein menschliches Gesicht verlieren läßt, soll bewußtes, akzeptiertes Sterben treten.«

    Das qualvolle, sinnlose Leiden. Der Verlust des Gesichts, des menschlichen gar. Die Perhorreszierung des Andersseins, der Bedrohung, ist eine gebräuchliche, nichtsdestoweniger aber ordinäre Form der Gewaltanwendung an den Gezeichneten. Es genügt nicht, im Rollstuhl zu sitzen, nein, man muß an ihn gefesselt sein.

    Als der Papst im Juni dieses Jahres ein Sterbehospiz in Wien besuchte, versicherte er die Schwerkranken seiner Liebe, ermahnte sie und die Ärzte aber, nicht allzuviele Schmerzmittel zu verwenden, denn der Schmerz sei gottgewollt, im Schmerz und im Leid büße die bedrängte Kreatur die Sünden der Welt.

    Tatsächlich hat die Verabreichung von Schmerzmitteln in Österreich sich in den letzten fünf Jahren verzehnfacht. Aus dem Schlußlicht Europas, was den Einsatz von Palliativmedizin anlangt, ist ein Mittelständler geworden. Nahezu jedes Spital weist heutzutage eine Schmerzambulanz auf. Die Qual der früheren Jahre, hauptverursacht vom katholischen Weltbild der Ärzte, ist gelindert. Schmerzmittel werden verantwortungsbewußt eingesetzt. Nähere Informationen erteilen die Ärztezeitungen und die Statistiken der Krankenkassen.

    »Selbstbestimmtes Sterben verträgt sich nicht mit einem erzwungenen Sterben nach der Zeit«.

    Ein doppelter Unsinn: Selbstbestimmtes Sterben in einer Gesellschaft, die Fremdbestimmung als Geschäftsgrundlage hat, ist nicht nur eine Illusion, sondern eine Kapitulation vor dem Leben und seinen Widersprüchen. Anstatt das Leben alter, behinderter, kranker Menschen zu verteidigen, deren Los zu erleichtern und damit auch die Angst der Gesunden vor beeinträchtigtem Leben zu mindern, anstatt die Menschen aufzurichten, wird die Würde, die Selbstbestimmung, für den Tod aufgespart. In ihm kommt dann alle Lebenskultur zu sich, als Identität von Meinen und Wahn.

    Dem Menschen werde im entscheidenden Teil seines Lebens die Würde geraubt heißt es weiter. Was für ein bescheidenes Leben die Kameraden vom Peloton doch fristen, daß sie vermeinen, der Tod sei das Entscheidende im Leben! Fest steht doch nur, daß er dessen Ende ist.

    »Gerade humane Ärzte wollen diese Qual immer weniger verantworten.«

    So hätten die Kameraden es gern. Aber das Gegenteil ist der Fall. In Österreichs Intensivstationen, in den Unfallspitälern, onkologischen, neurochirurgischen und anderen Stationen findet sich kein Arzt, der diesen Unsinn unterschreibt. Jene, die den Tod und das Sterben als Teil ihrer Arbeit respektieren, entwickeln dabei ein Ethos, das auf der Höhe der Zeit, mit einem Wort: professionell ist. Ein Innsbrucker Mediziner stellte kürzlich eine Methode vor, die es erlaubt, die Perspektiven apallischer Patienten, deren es in Österreich rund 500 gibt, zu erkennen. Er verband die Präsentation seiner Forschungsergebnisse mit einem Appell zur uneingeschränkten Pflege jener, deren Chancen als besonders schlecht eingestuft werden müssen. Kein Wort von »vorzeitiger Verkürzung«, kein Wort davon, daß »eine künstliche Lebensverlängerung bei jenen, deren Leben sich von sich aus dem Sterben zuneigt, keine sinnvolle Leistung« sei. Die Profis teilen die Meinung des Manifests also nicht, und zu den Profis rechne ich selbstverständlich auch die Patienten, jene, die nach Meinung des Manifests in Sturzseen von Schmerzen und Qualen dahinsiechen.

    Die verzweifelten Anstrengungen des »Arbeitskreises für menschenwürdiges Sterben«, aktive Ärzte vor das Euthanasieprogramm zu spannen, sind ebenso bekannt wie der Umstand, daß er sich eine Abfuhr nach der anderen holt. Mit der Unterstützung der Profis können die Euthanasiefans nicht rechnen. Ihnen bleibt nur, das Privileg der Dilettanten zu strapazieren, das vorurteilende Meinen.

    »Die medizinische Befindlichkeit kann die zu treffende Entscheidung zwar mitbestimmen, die Wertperspektive des Patienten aber nicht ersetzen. «

    Eine Befindlichkeit, die mitbestimmt, ohne eine Wertperspektive zu verletzen. Nicht nur Sterben ist ein integraler Bestandteil des Lebens, auch das Denken. Aber wer so sehr aufs Sterben anderer Menschen versessen ist, der hat für ersteres offensichtlich keine Zeit.

    »Beharrt der Kranke auf Sterbehilfe, so müssen folgende Sicherheitsmaßnahmen gewährleistet sein. 1. Der Kranke hat den Wunsch nach Sterbehilfe freiwillig und schriftlich festzulegen und ihn in Anwesenheit von zwei unabhängig arbeitenden Ärzten mündlich zu wiederholen. 2. Ist der Kranke nicht mehr verhandlungsfähig, so darf Sterbehilfe gewährt werden, wenn dafür eine notariell beglaubigte Willenserklärung vorliegt. Diese Willenserklärung darf nicht älter als fünf Jahre sein. 3. Der Gerichtsmediziner ist über alle Fälle aktiver Sterbehilfe im nachhinein zu informieren.«

    Der Kranke hat freiwillig festzulegen. Punktum. Ist der Kretin nicht verhandlungsfähig, kann der Tod »gewährt werden«. Der Tod ist ein Geschenk der Obrigkeit, und es schickt sich nicht zu fragen, wessen Wille dahintersteckt.

    Das niederländische Beispiel zeigt, was jeder, der sich mit der Frage gesellschaftlich sanktionierter Sterbehilfe befaßt hat, immer schon wußte: Ist die Grenze einmal gezogen, tendiert sie mit aller Macht dazu, sich zu erweitern. Das ist ein Naturgesetz. Alle bürokratischen, medizinischen und justiziellen Vorkehrungen konnten nicht verhindern, daß in den Niederlanden ein enormer gesellschaftlicher Druck auf kranken und behinderten Menschen lastet, den Angehörigen und der Allgemeinheit nicht länger zur Last zu fallen.

    Die Einführung der Sterbehilfe wäre eine kopernikanische Wende im Sozialstaat, schreibt Sepp Wille, der Leiter des Arbeitskreises, in einem erläuternden Artikel. Kopernikus nahm an, daß die Planeten sich in Kreisbahnen um die Sonne bewegen. Die Sonne der Sterbehelfer ist der Tod der anderen. Unablässig umkreisen sie ihn mit ihren Gedanken und Sehnsüchten. Würden die vereinten Sterbehelfer der Welt endlich den Mut haben, ausschließlich von ihrem eigenen Tod zu reden, das wäre eine wahrhaft kopernikanische Wende.

    »Wer lebenserhaltende Maßnahmen abbricht oder unterläßt, handelt nicht rechtswidrig, wenn der Zustand des Betroffenen auf einem Selbsttötungsversuch beruht.«

    Wer seinem Leben - aus welchen Motiven immer - ein Ende zu setzen versucht und dabei scheitert, das heißt überlebt, hat dennoch das Leben verwirkt. Er ist ein Fall für das Erschießungskommando, die Truppe der aktiven Sterbehelfer nimmt an seinem Krankenbett Aufstellung. Welche Sorgen und Ängste den potentiellen Selbstmörder umtrieben, als der die Verzweiflungstat setzte, interessiert nicht. Wer einmal das Licht abdreht, dem soll es nie wieder leuchten.

    Die Selbstmordforschung weiß seit langem, daß die überwiegende Zahl der versuchten Selbstmorde ein letzter Versuch der Kommunikation sind, Hilfeschreie aus vermeintlich unlösbaren Zwängen. Deshalb auch werden viele Selbstmordversuche nicht mit letzter Konsequenz ausgeführt, ist in ihnen die unbewußte Hoffnung, vielleicht doch noch gerettet zu werden, nicht gänzlich unterdrückt. Hoffnung aber ist für die Apostel des fremden Todes grad soviel wie der sture Blick durch die Kimme aufs Korn.

    »Wenn. auch immer mehr Menschen die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der Sterbehilfe erkennen ... begegnet doch ein Teil der Menschen mit begreiflichen, aber irrationalen Emotionen diesem Problem.«

    Die Entdeckung der irrationalen Emotion ist keine geringe Leistung. Sollte auch die rationale Emotion eines Tages gefunden werden, hätte man eines der letzten Geheimnisse der Menschheit gelöst, ein Geheimnis, das ähnlich groß ist wie jenes der richtigen Satzstellung.

    »Es ist Aufgabe der Gesellschaft, alle rechtlichen Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Sterben zu treffen ... «

    Im Namen ungefragter anderer die Stimme erheben, Unsinn schwatzen und das Ganze mit einer Forderung an den Staat koppeln. So sieht sie dann aus, die kopernikanische Wende zur ewiggleichen österreichischen Politik.

    Es ist müßig, weiter auf das Manifest einzugehen. Nur soviel sei noch gesagt: Über Sterbebegleitung, die Hospizbewegung und andere Einrichtungen, die das Sterben als Teil des Lebens auffassen und die Menschen in ihren letzten Stunden nicht auch noch damit quälen, ob ihr Leben noch einen Sinn habe und für wen, verliert das Manifest, das vorgibt, den Sinn des Lebens - die Selbstbestimmung im Tod - zu kennen, kein Wort. Das ist kein Zufall. Wer das Leben nach dem Sinn fragt, hat die Antwort schon in den Lauf geschoben: den Tod. Auf die Frage nach dem Sinn verweigert das Leben die Antwort. In diesem Sinn ist es ohne Sinn. Es gibt keine gesellschaftlich verallgemeinbare Grenze für das Leben; die Sinnzumessung wäre eine. Fällt die Gesellschaft der Natur in dieser Frage in den Rücken, zwingt sie der Natur einen Sinn auf, so rächt diese sich, in dem sie die Natur der menschlichen Gesellschaft vergiftet.

    Vor einigen Jahren veröffentlichte Sepp Wille ein Buch, das seine sozialpolitischen und ökonomischen Schriften vereinte. Der Titel des Buches lautete: »Jedem das Seine«. Diese Worte standen auch über dem Haupteingang des KZ Buchenwald, in Schmiedeeisen und schön gebogen, fast kreisförmig.

    Euthanasie-Diskussion auf österreichisch - Von Volker Schönwiese

    Zur Absage des Wittgenstein-Symposiums

    Das 15. internationale Wittgenstein-Symposium sollte im Sommer 1991 am Geburtsort von Ludwig Wittgenstein (Kirchberg am Wechsel in Niederösterreich) unter dem Thema »Angewandte Ethik« stattfinden, wobei 500 teilnehmende Philosophen aus der ganzen Welt erwartet wurden. Peter Singer sollte einen Hauptvortrag über Euthanasie halten, zu Wort kommen sollten u. a. auch folgende Universitätsprofessoren, die die Thesen von Singer in bestimmter Weise bisher auch öffentlich unterstützt haben: Georg Meggle (Saarbrücken), Richard M. Hare (Oxford - der Lehrer von Singer und Meggle), Norbert Hoerster (Mainz) und Hartmut Kliemt (Duisburg). Als einziger Euthanasie-Gegner wurde Robert Spaemann (München) angekündigt.

    Damit erreichte der Streit um die neue Euthanasie-Debatte in Österreich einen weiteren Höhepunkt. Für uns behinderte AktivistInnen in den verschiedensten Initiativgruppen und Vereinen löste die Ankündigung des Wittgenstein-Symposiums einen ziemlichen Schock aus, hatte doch schon 1989 Singer trotz unserer Proteste in einer Fernseh-Diskussion (Club 2) ungehindert seine Tötungs-Thesen vertreten können. Auch wurde eine wichtige Mitarbeiterin und Co-Autorin von Peter Singer - Helga Kuhse - 1990 durch die niederösterreichische Landesakademie und das Institut für Anatomie der Universität Wien jeweils zu Referaten eingeladen. Die Veranstaltungen sind dann nach massiven Protesten von behinderten Menschen abgesagt worden.

    Ebenso hatte es einen bedeutsamen Konflikt an der Universität Innsbruck gegeben, der durch einen Vortrag von Prof. Georg Meggle (Saarbrücken) am 29. 11. 1990 mit dem Titel »Euthanasie und der Wert des Lebens« ausgelöst worden war.

    Meggle argumentierte in diesem Vortrag so: Eine subjektive, aber nach allgemeinen (mathematisch-betriebswirtschaftlichen) Kriterien quantifizierende Bewertung menschlichen Lebens ist möglich. Deshalb gibt es auch lebensunwertes Leben. Diese Bewertung kann Grundlage für eine Euthanasie (Tötung) auf eigenen Wunsch sein sowie für eine nicht freiwillige Euthanasie von Menschen, die nicht entscheidungsfähig sind, wie z. B. Neugeborene oder Personen, die im Koma liegen. In solchen Situationen haben sich die entscheidenden Personen (z. B. Eltern) in die Eigenperspektive der Betroffenen - von Meggle Euthanisande! genannt - hineinzuversetzen und über Tod oder Leben zu bestimmen. Bei der Entscheidung für oder gegen eine nicht freiwillige Euthanasie geht es um Abwägungen des Lebensglücks, das nach Meggle z. B. mit Geld (DM) gemessen werden kann. Meggle unterscheidet zwischen der dargestellten nicht freiwilligen Euthanasie, die er befürwortet, und einer unfreiwilligen Euthanasie, die er ablehnt. Um letztere geht es dann, wenn eine Person gegen ihren ausdrücklichen Willen getötet wird, und das ist, nach Meggles Ansicht, abzulehnen.

    Diese Argumente sind zum großen Teil nicht neu, sondern im wesentlichen eine Wiederholung der Position Singers. Dennoch wagte Meggle mit seinem Innsbrucker Vortrag in der Euthanasie-Debatte einen entscheidenden qualitativ neuen Schritt. Neben der abwägenden analytisch-philosophischen Argumentation wird nun das erste Mal ganz offen und in allem Ernst mit mathematisch-betriebswirtschaftlichen Theorien argumentiert. Es wird zur Beurteilung des Wertes menschlichen Lebens die rationale Entscheidungstheorie herangezogen. Diese ist jedem Ökonomen als »betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre« bekannt, als Methode, mit der z. B. Versicherungsunternehmen Versicherungswerte (z. B. eine Schiffsreise) bewerten.

    Der Skandal in Innsbruck wurde durch eine von Meggles Referat verbreitete Tonbandabschrift und einen offenen Brief ausgelöst, den der Autor dieser Zeilen sowie mehrere Einzelpersonen und Gruppen unterzeichnet hatten. Wir argumentierten im ersten Zorn u. a. so:

    »Wir meinen, eine solche scheinbar wissenschaftlich-sachliche Abhandlung der Euthanasie ist zutiefst ideologisch.

    Meggle und Singer unterstützen mit ihrer Argumentation ein Klima des Hasses und der Abweisung gegenüber behinderten Menschen, das, historisch tief verwurzelt, sich alltäglich in vielfältigsten Ausmerz- und Euthanasiewünschen gegenüber behinderten Menschen äußert.

    Meggle und Singer setzen damit eine Argumentation der Nazis fort, auch wenn sie dies immer wieder heftig bestreiten.

    Wer zu solchen Vorträgen und Diskussionen öffentlich einlädt, muß sich fragen lassen, ob hier im Sinne einer wissenschaftlichen Verantwortlichkeit gehandelt worden ist, wenn nicht gar eine Beteiligung an einer >Verhetzung< unterstellt werden muß.«

    Diesem Brief folgte eine Reihe von öffentlichen Veranstaltungen, alle wichtigen Gremien der geisteswissenschaftlichen Fakultät, aber auch der Senat der gesamten Universität beschäftigte sich mit dem Thema. Die Tiroler Tagespresse berichtete intensiv über den Skandal, Studenten führten eine Demonstration gegen Euthanasie durch. Es bildete sich eine tiefe Front von Verteidigern der Euthanasie-Diskussion und GegnerInnen der Euthanasie. Die Dekanin der katholisch-theologischen Fakultät (die einzige Theologie-Dekanin auf der Welt) bezeichnete den Meggle-Vortrag z. B. als »fahrlässig formuliert«. Die Innsbrucker Philosophen waren gespalten, die Mehrheit stand hinter der Meggle-Einladung, der Instituts-Vorstand Prof. Köchler allerdings kam zum Schluß: »Ich lehne die von Prof. Meggle aufgestellten Thesen ... sowohl in wissenschaftlicher wie in moralischer Hinsicht entschieden ab.« Die Veranstalter (Prof. Kleinknecht) distanzierten sich dann ausdrücklich von allen Aussagen, die Euthanasiepraktiken irgendwelcher Art Vorschub leisten könnten, worauf von uns der Vorwurf der »Verhetzung« zurückgenommen wurde. Inzwischen sind die Wogen in Innsbruck so halbwegs geglättet, wenn auch der Widerspruch insgesamt bestehen bleibt.

    Der damalige grüne Abgeordnete im Parlament, Manfred Srb, stellte allerdings eine Anfrage an den damaligen Wissenschaftsminister Busek und verlangte eine ministerielle Stellungnahme zum Meggle-Vortrag. Busek kommentierte dann: »Der Vortrag Prof. Meggles stellt für mich persönlich weder hinsichtlich der Systematik der Darstellung noch in sprachlicher Hinsicht eine besonders gelungene philosophische Abhandlung zum Thema Euthanasie dar. Schon in terminologischer Hinsicht stellt z. B. die Verwendung zweier in der Alltagssprache synonymer Begriffe, nämlich >unfreiwillig< und >nicht freiwillig< anderseits für zwei völlig verschiedene Sachverhalte dem Philosophen Meggle kein gutes Zeugnis aus. Die in der vorliegenden Mitschrift teilweise wiedergegebene Diskussion zeigt mir deutlich, daß Meggle zu den Nachfragen, die er unter anderem durch die Verwendung problematischer Begriffe (Wert des Lebens) veranlaßt hat, durchwegs keine klaren Antworten zu geben vermag.«

    In einer zweiten Anfrage wollte Manfred Srb dann wissen, in welcher Höhe das Wissenschaftsministerium das 15. Wittgenstein-Symposium und damit die Einladung von Singer und Co. subventionierte. Damit begann eine österreichweite Auseinandersetzung: Der Präsident der Wittgenstein-Gesellschaft (Adolf Hübner) distanzierte sich öffentlich von der Einladung Singers, die liberale Tageszeitung »Der Standard« begann zu berichten, Organisationen von Behinderten protestierten, einige Behinderten-Initiativen kündigten Protestaktionen am Tagungsort insbesondere gegen die Thesen von Singer und Meggle an. Das Organisationskommitee der Wittgenstein-Gesellschaft (unter Leitung von Prof. Edgar Morscher) begann sich vor Protestaktionen zu fürchten und versuchte als Rettungsversuch behinderte Personen als Gegenreferenten gegen Singer zu finden. Dafür fand sich kein Behinderter, Spaemann zog seine Zusage zu referieren zurück, eine Eskalation wie in Innsbruck drohte. In dieser Situation verlangte Hübner die Ausladung von Singer und Meggle, Morscher die Absage des gesamten Symposiums. Morscher setzte sich 7:2 durch, das Symposium wurde abgesagt.

    Es folgte eine ausführliche Debatte im »Standard«, die noch nicht beendet ist. Die Debatte ist insofern erfreulich, als tatsächlich GegnerInnen der neuen Euthanasie-Debatte und philosophischen Wahremder ungebrochenen Freiheit jeglicher Diskussion gleich viel Platz zur Argumentation eingeräumt wird. Interessant ist, daß sich bisher noch kein österreichischer Philosoph gefunden hat, der Singers und Meggles Thesen direkt unterstützt hat, dagegen wird voll darauf gesetzt, Euthanasie-Gegenern Demokratiefeindlichkeit vorzuwerfen (wie es Prof. Werner Leinfellner, Wien, machte). Im Juni 1991 wurde z. B. eine »Erklärung österreichischer Philosophen« von 52 österreichischen Universitätsphilosophen - darunter 7 Moraltheologen - unterschrieben. In der Erklärung heißt es u. a.: »Die Tendenzen, die zur Absage (des Wittgenstein-Symposiums) geführt haben, entsprechen nicht der Idee einer offenen pluralistischen Gesellschaft. In der Demokratie muß die Freiheit der akademischen, philosophischen Diskussion gewährleistet sein. Es werden bedenkliche Zeichen der Vernunftfeindlichkeit gesetzt, wenn die Teilnahme an einer rationalen Diskussion abgelehnt und die Verhinderung derselben betrieben wird ... Letzte Maßstäbe für die Beurteilung philosophischer Erwägungen ergeben sich nicht aus vorgefaßten weltanschaulichen Grundhaltungen ... (Es) können die Maßstäbe ... nur im Rahmen freier philosophischer Diskussion gefunden werden ... « Entsprechend kritisiert auch der Philosophiedozent Peter Strasser (Graz) die Wittgensteingesellschaft, sie hätte »alles daran setzen müssen, Zivilcourage gegen die Intoleranz zu mobilisieren, und sei es unter Zuhilfenahme der Polizei.« Dem setzt der Philosophieprofessor Rudolf Burger (Wien) entgegen: »Daß ein Kongreß auf Druck der Straße abgesagt werden muß, ist schlimm; aber daß die Philosophie ihre Reflexion abbricht über die Motive der Proteste, ist nicht weniger schlimm. Erschrecken muß auch die Haltung einer Philosophie, die ihre mangelnde Sensibilität durch Wehleidigkeit ersetzt und gegen ein paar arme Krüppel gleich nach dem Polizeieinsatz schreit, nur weil die ihr Glasperlenspiel stören ... In Wahrheit geht es ihr nur um zünftische Interessen, um ein Reservat ihres angeblich reinen Denkens.«

    Die Hintergründe der Debatte

    Daß nur 50 Jahre nach der Nazi-Euthanasie unhistorisch und wertneutral über Euthanasie nachgedacht wird, ist schon ein Phänomen für sich. Wir bekommen hier einen Teil der Rechnung dafür präsentiert, daß Aufarbeitung und »Trauerarbeit« in bezug auf Faschismus und Nationalsozialismus international so wenig gelungen sind. Der Mechanismus des Verdrängens, Vergessens und Wiederholens historischer Vorgänge kennzeichnet auch die neue Euthanasie-Debatte. Es ist in diesem Zusammenhang viel Wissen darüber verlorengegangen, wie in der Nazi-Zeit die Euthanasie zustande gekommen und praktiziert worden ist.

    Die Nazis haben - neben einer klar nationalökonomischen Kalkulation und Argumentation - mit dem Leiden der Betroffenen argumentiert - es hieß ja auch »Gnadentod« -, wobei eine Mischung aus Propaganda und Glauben, etwas tatsächlich moralisch Richtiges für die Betroffenen zu tun, hergestellt wurde. Sie haben ein großes Stück gesellschaftlichen Konsenses erzielt, weil sie auf herrschende Vorurteile aufgebaut haben.

    Dabei ist damals das passiert, was auch heute noch ungebrochen ein entscheidendes Problem darstellt und in der neuen Euthanasie-Debatte von Bioethikerlnnen wissenschaftlich weitergekocht wird: Die realen Probleme der behinderten Menschen werden mit den vorurteilsbeladenen Vorstellungen des »Leidens« der Behinderten systematisch vertauscht. Das drückt sich z. B. so aus, daß geglaubt wird, man könne sich im Interesse von behinderten Kindern dafür entscheiden, sie zu töten. Singer nennt z. B. Kinder mit Down-Syndrom (sog. Mongolismus), nennt andere Behinderungen. Kaum jemand hat derartig nichts von behinderten Menschen verstanden, ist unfähig zu einfühlendem Verstehen wie ein solcher Tötungsphilosoph. Was hier praktiziert wird, muß auch psychologisch benannt werden: es ist Leidensprojektion. Leidensprojektion ist die Methode, behinderte Menschen gesellschaftlichen Vor-Urteilen auszuliefern, eigene existentielle und gesellschaftlich produzierte Probleme auf behinderte Menschen zu projizieren, an ihnen abzuhandeln und abzuwehren. Damit wird das »Leiden« im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung erzeugt, statt ein politisches Klima zu unterstützen, das die Durchsetzung verbesserter Lebensmöglichkeiten für behinderte, pflegebedürftige sowie alte Menschen ermöglicht. Diese Leidensprojektion wird auch auf sterbende Personen und Personen im Koma nur zu leicht angewandt. So sehr wir uns medizinisch helfend bemühen und u. U. intensiv mit Schmerztherapie helfen müssen - wir wissen letztlich nicht, was jemand im Sterbeprozeß erlebt oder was Personen im Koma wahrnehmen; was wir darüber erfahren haben, läßt eher vermuten, daß unsere Vorstellungen falsch sind. Und etwas, worüber wir so gut wie nichts wissen, soll zum Kriterium für eine Tötung werden? Sollen wir zulassen, daß unsere Unfähigkeit zur Sterbebegleitung in die Notwendigkeit der Lebensverkürzung umgedeutet wird?

    Singer und manche seiner Anhänger transportieren die schlimmsten Vorurteile gegenüber behinderten Menschen um einer Begrifflichkeit willen, die vielleicht in ihre Philosophie paßt, aber mit der Realität behinderter Menschen nichts zu tun hat.

    Dazu noch einmal das Beispiel, wie mit Terminologie fahrlässig umgegangen wird. In der neuen Euthanasie-Debatte wird zwischen »freiwilliger Euthanasie«, wo jemand selbst getötet werden will, »nicht freiwilliger Euthanasie«, wo jemand in seinem (unterstellten) eigenen Interesse getötet wird, der nicht gefragt werden kann, und »unfreiwilliger Euthanasie«, wo jemand gegen seinen Willen getötet wird, unterschieden. »Freiwillige« und »nicht freiwillige« Euthanasie werden unterstützt, »unfreiwillige« Euthanasie wird abgelehnt. Ich behaupte, daß die Unschärfe der Begriffe nicht zufällig ist. Sie gibt ein Zeugnis dafür ab, daß »unfreiwillige Euthanasie« und »nicht freiwillige Euthanasie« sich nur terminologisch trennen lassen, aber nicht praktisch. Wer die »nicht freiwillige Euthanasie« akzeptiert, der akzeptiert, daß für jemanden anderen entschieden wird. Denkt man sich dann strukturelle Bedingungen des Pflegenotstandes wie in Lainz dazu, sind wir schon bei der aktiven, unfreiwilligen Euthanasie gelandet. Dieses Argument der »schiefen Bahn« bedenken manche Bioethiker - wie z. B. der prominente Anhänger von Singers Thesen, Prof. Georg Meggle - selber, schieben aber die Verantwortung für die selbst in die Welt gesetzten Thesen den anderen zu und meinen, um der Wahrheit willen müßten auch Mißverständnisse in Kauf genommen werden. Bei einer solchen Argumentation ist die immer wieder beschworene Verantwortlichkeit von Wissenschaft zu Ende.

    Um noch einmal zum Nazionalsozialismus zurückzukommen. Singer meint ja, daß eventuell die Eltern von behinderten Kindern über den Tod ihres Kindes entscheiden könnten und daß dadurch ein Mißbrauch ä la Nazi-Euthanasie ausgeschlossen werden könnte. Singer - in zeitgeschichtlichen Fragen ganz generell äußerst naiv - kennt auch hier nicht die Zusammenhänge. Auch die Nazis ließen die Wünsche der Eltern nicht immer unberücksichtigt. Dazu eine Aussage eines leitenden Arztes einer Tötungsklinik in Hamburg: »Die Erteilung der Sterbehilfe wurde in Hamburg nach Weisung des Gesundheitsdezernenten nur mit Zustimmung der Eltern gewährt. Zu diesem Zweck wurde den Eltern schon bei der Einweisung gesagt, daß für das Kind eventuell eine Behandlung in Frage käme, die äußerst gefährlich sei und zum Tode führen könnte. Äußerten die Eltern dazu, daß das Ableben des Kindes eine Erlösung bedeute, so wurde bei gegebenen Krankheitsvoraussetzungen und nach Erlaubniserteilung durch den Reichsausschuß Sterbehilfe gewährt. Lehnten sie die >Behandlung< ab oder ließen sie auch nur starke elterliche Bindungen an das mißgestaltete Kind durchblicken, wurde dasselbe kurz beobachtet und darauf entlassen (Aly 1990, 3).« Auch Wer ist sichtbar, daß die Vorschläge von Singer und die Praxis der Nazis gleitende Übergänge haben.

    Singer und Co. haben mit nationalsozialistischen Intentionen nichts zu tun, das soll auch hier deutlich betont werden. Aber sie sind, was zeitgeschichtliche und politische Dimensionen betrifft, sehr naiv und greifen eindeutig Argumente auf, die vor der Entstehung des Nationalsozialismus im Sinne einer biologischen Gesellschaftsreform, Gesundheitsökonomie und Bevölkerungspolitik entwickelt und von den Nationalsozialisten verwendet, weiterentwickelt und schließlich in die Wirklichkeit umgesetzt wurden.

    Wir behinderte Menschen sind in einer schwierigen Lage. Einerseits sind wir potentielle Opfer von Behindertenfeindlichkeit bis zur Euthanasie, andererseits werden wir, wenn wir gegen Behindertenfeindlichkeit und Euthanasie protestieren, zu Zensoren oder zu Personen gestempelt, die Demokratie gefährden. Diese perverse Verdrehung möchte glauben machen, daß die betroffenen Philosophen zu Opfern werden und nicht die behinderten, alten, kranken oder sterbenden Menschen.

    In diesem Zusammenhang muß vor einer weiteren gefährlichen Verdrehung gewarnt werden. Was sich mit viel Pathos als neues »Bürgerrecht«, über den eigenen Tod entscheiden zu können, darstellt, wird tendenziell zur Pflicht über den eigenen Tod zu entscheiden. Recht wird leicht zum Zwang, und es ist zu befürchten, daß man von alten und kranken Menschen bald erwarten wird, daß sie endlich den Wunsch äußern, getötet zu werden. Kurz gesagt: Statt Behebung des Pflegenotstandes wird Druck in Richtung freiwillige Tötung erzeugt. Der Philosoph Robert Spaemann hat unlängst diesen Aspekt kritisch beleuchtet. Spaemann ist einer der ganz wenigen Philosophen, die ganz klar gegen Euthanasie auftreten. Er ist für mich der einzige erkennbare profilierte Euthanasie-Gegner, der beim Wittgenstein-Symposium eingeladen worden ist. Er hat dann von sich aus die Teilnahme abgesagt. Anscheinend sehen auch viele Philosophen keinen Sinn darin, in der Form, wie es die Wittgenstein-Gesellschaft geplant hat über Euthanasie zu diskutieren.

    Grundsätzlich: Ich denke, das Hauptproblem der betroffenen Philosophen ist, daß sie sich weigern, einen Entstehungs- und Verwertungszusammenhang ihrer Wissenschaft zu berücksichtigen, sich hinter die Mauern einer »reinen« Wissenschaft und einer abstrakten Vernunft zurückziehen und einzig auf die Richtigkeit ihrer Methodik vertrauen. Aber gerade die existierende oder mögliche Verwertung von Theorien müßte doch in jedem Falle zur Bewertung von Theorien herangezogen werden.

    Deshalb einige Hinweise zur Entstehung und Verwertung der neuen »Euthanasie«-Debatte.

    1. Entstehungszusammenhang Gen- und Reproduktionstechnologie.

    In der neuen »Euthanasie«-Philosophie wird Forschung nach den Gesetzen des Nutzens und der Nützlichkeit betrieben; diese Forschung paßt sich Wirtschaftsinteressen an. In Australien führten erbitterte öffentliche Debatten über die Biotechnologie zur Einrichtung des »Centre for Human Bioethics« an der Monash University. Direktor: Peter Singer. Diese Universität hat ein durch die Wirtschaft hochgefördertes Gen- und Reproduktionstechnik-Institut. Die »Praktische Ethik« ist nämlich vor allem eine für die Genforschung und Gen- und Reproduktionstechnologie praktische Ethik. Singer kann mit seiner Ethik begründen, daß Labortiere durch menschliches >Material< ersetzt werden (Klee 1990, 80 u. 81). Es geht darum, gentechnologische Embryo-Experimente zu ermöglichen.

    2. Verwertungszusammenhang: Es gibt bereits eine Euthanasie-Praxis.

    »Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben« versteht sich als ethische Bürger-Bewegung (und hat inzwischen 30.000 Mitglieder), die das Recht auf den eigenen Tod einklagt. Sie hat schon mehrfach an behinderte - z. B. querschnittgelähmte Menschen in depressiven Phasen - Zyankali verteilt. Dies ist die Organisation der Selbst-Euthanasie. Statt Hilfe für das Leben wird als Dienstleistung Sterbehilfe mit Zyankali angeboten (Klee 1990, 50). Dazu noch ein Hinweis: Ernst Klee schreibt in seinem Buch »Durch Zyankali erlöst«, daß die Philosophen Dieter Birnbacher (Essen) und Norbert Hoerster (Mainz) ein Naheverhältnis zur »Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben« haben sollen, der eine als ehemaliges Mitglied, der andere als Mitglied. Beide Philosophen standen auf der Rednerliste zum Wittgenstein-Symposium.

    Der Hauptteil der Personen, die Selbst-Euthanasie betreiben, dürfte bei alten Menschen zu suchen sein, die sozial entrechtet unter der Angst vor dem Pflegeheim Selbst-Euthanasie durchführen. Die Enttabuisierung der Euthanasie führt aber auch zur aktiven Euthanasie. Die Morde von Lainz mögen Einzelfälle sein, dennoch ist die Frage nach den entsprechenden Dunkelziffern zu stellen. In anderen Ländern ist man diesbezüglich offener. In Holland sollen von 120.000 Sterbefällen pro Jahr zwischen 5 und 9 Prozent auf aktive Euthanasie zurückzuführen sein (Klee 1990, 24).

    Genetische Beratung wird zu dem Zweck angeboten, behinderte Kinder vor der Geburt zu entdecken und dann auf ärztliche Empfehlung abzutreiben. Dies wird auf Grund klarer Kosten-Nutzen-Berechnungen, in denen die Kosten der »Vorsorge«-Untersuchungen mit den lebenslangen Sozialkosten für behinderte Menschen verglichen werden, durchgeführt. Dies ist geplante Abtreibung nach Euthanasie-Kriterien mit dem bevölkerungspolitischen Ziel, eine Gesellschaft ohne Behinderte zu erreichen. Ausgerechnet im Jahr der Behinderten 1981 erhielt z. B. eine derartige Kosten-Nutzen-Analyse den »Gesundheitsökonomiepreis« des Deutschen Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (Klee 1990, 48). Zynischer geht es schon nicht mehr.

    Verdeckte und auch offiziell illegale Euthanasie nach der Geburt wird durch das »Liegenlassen« von Neugeborenen betrieben. Unwidersprochenen Schätzungen zufolge werden z. B. in der BRD jährlich 1200 Kinder »liegengelassen«. Und das hat nichts mit einem »sanften Sterbenlassen« zu tun, sondern meint verhungern, ersticken oder unbehandelt an einer behandelbaren Krankheit sterben. (Tolmein 1990, 23)

    Dieser Praxis setzt die Bioethik Singers nicht nur nichts entgegen, sondern sie ist imstande, sie zu begründen und rational zu legitimieren - sie »verbessert« tödliche Selektion. Die Bioethik Singers behauptet, wertfrei Kriterien dafür erarbeiten zu können, wer getötet werden kann und soll, und produziert damit eine neue Ideologie: Die Ideologie' daß Lebensrechte von Menschen keinen absoluten Wert darstellen. Dabei erscheint Fremdes nur mehr durch Töten beherrschbar zu sein. Damit wird an den Grundfesten unseres menschlichen Zusammenlebens gerüttelt. Die eigentlichen gesellschaftlichen Interessenszusammenhänge dieser Diskussion werden verschwiegen.

    Ich hoffe, wir kommen nie in die Situation von Albert Einstein, der nach dem Abwurf der ersten Atombombe, an deren Entstehung er mitgewirkt hat, nur mehr klagend »Oh weh« gesagt haben soll. Die Verantwortung der Wissenschaft muß schon vor der Anwendung ihrer Ergebnisse beginnen (obwohl bezogen auf Euthanasie schon genug Anwendung vorhanden ist und war).

    Die Wittgenstein-Gesellschaft, die über die neue Euthanasie-Debatte sehr gut informiert war und ist, hätte, statt das gesamte Symposium abzusagen, besser daran getan, ihr Symposium ohne Singer und Meggle in kritischem Geiste abzuhalten. Sie hat keinen Grund, jetzt nach Schuldigen zu suchen. Man kann es auch so sehen: Endlich beginnen wir behinderte Menschen das zu tun, was andere Bevölkerungsgruppen schon lange praktizieren, nämlich unser demokratisches Grundrecht auf Meinungsäußerung und auch Protest wahrzunehmen und für unsere Rechte zu kämpfen.

    Sterbehilfe: Verlust jeglicher Solidarität - Von Volker Schönwiese

    Es war zu erwarten. Wer die gegen vielfachen Protest und Widerstand international offensiv geführte Diskussion zur Bioethik kennt, den kann nicht überraschen, daß nun auch in Österreich über »menschenwürdiges Sterben« diskutiert wird. Begonnen hat es mit der durch die Thesen von Peter Singer ausgelösten »neuen Euthanasiedebatte«. Die beteiligten Philosophen haben immer betont, daß sie nur denken und keine Verantwortung für irgendwelche Folgen oder gesetzliche Umsetzungsversuche übernehmen wollen. Das war immer Illusion oder denkende Beschränktheit. Jetzt haben wir den nächsten zu erwartenden Schritt der Umsetzungsversuche vor uns - mehrere Philosophen, Ärzte und Juristen fordern Gesetzesänderungen nach dem Vorbild der gesetzlichen Lage in den Niederlanden.

    Gefragt wird nicht, wie kann unser Reichtum dafür eingesetzt werden, daß wir menschenwürdig leben und ebenso bis zum Tod begleitet werden können. Verteilungsfragen sind in diesem Zusammenhang tabu. Diese zeitgeistige »Sterbehilfdebatte« findet aber unter Rahmenbedingungen neoliberaler Deregulierungversuche und Sparprogramme statt - ob das die Betreiber der »Sterbehilfe« wollen oder nicht. »Jeder sei seines Glückes Schmied« ist die Formel bis in den Tod, die Menschenrechte zur Individualisierung gesellschaftlicher Probleme verkommen läßt. Mit Menschenrecht hat das wenig zu tun. Die Betroffenen werden bei Nichtbestrafung der Tötung auf Verlangen mit einer Möglichkeit konfrontiert, über die sie vorher nicht nachdenken mußten. Vorher galt ausschließlich das Recht auf Hilfe. Jetzt geht es darum, den Zwang einzuführen, über die eigene Tötung nachzudenken. Gewollt oder nicht, es werden Ängste geschürt. Der üblichen Tabuisierung des Todes wird eine repressive Enttabuisierung gegenübergestellt. Dabei geht es nicht um irgend eine abstrakte Würde des Menschen. Es geht um sehr praktische Fragen: Wie werden meine Schmerzen bekämpft, falle ich meinen Angehörigen zur Last? usw.

    Bei einer »freien Entscheidung für den eigenen Tod« bestimmen andere über ganz wesentliche Fragen: Wie oft muß der Tötungswunsch geäußert werden, daß er ernstgenommen wird; ist er glaubhaft usw. Da hilft auch keine Formalisierung über Patientenverfügungen oder Freitoderklärungen hinweg. Wir wissen, daß Todeswunsch und Selbstmordversuche sehr oft appellativen Charakter haben. Sollen wir nun bei jedem Selbstmordversuch ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen?

    Wer entscheidet, ob ein Tötungswunsch appellativ oder ernst gemeint ist? Die Leidensprojektionen der Nichtbetroffenen können prinzipiell nicht ausgeschaltet werden. Bei Tötung kann nicht die Verantwortung auf den abgeschoben werden, der getötet werden will. Es ist und bleibt auch ein Entscheidungsakt von außen, wer »einen unabwendbaren Leidenszustand« hat oder bei wem »ein menschenwürdiges Leben nicht mehr erwartet werden kann« (wie es die österr. Initiatoren des »menschenwürdigen Sterbens« formulieren). Die Entscheidung ist - gewollt oder nicht - immer auch abhängig von sozialen Bedingungen und dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Ressourcen (Geld, medizinische Apparate usw.).

    Damit ist Mißbrauch von formalisierten Regelungen zur Tötung auf eigenen Wunsch nicht als Ausnahme oder Unglücksfall zu sehen, sondern als logische Folge der Entsolidarisierung durch Tötung auf Wunsch. Das ist mehr als eine These. Dazu muß nicht auf die NS-Zeit als Beispiel zurückgegriffen werden. Es genügt ein Blick auf Holland. Dort ist die Sterbehilfe jeglicher Kontrolle entglitten, was inzwischen schon die niederländische Regierung zugibt. Es wird in großer Zahl ohne Wunsch und Zustimmung von Patienten getötet. Unabhängige Untersuchungen sprechen auch davon, daß in den Niederlanden inzwischen bei 40 % aller geistig Behinderten, die jährlich sterben, der Tod durch den Arzt herbeigeführt wird (aus: monat, 3/1998, Seite 3).

    Ein Regierungsbericht hat die Praxis der Sterbehilfe in den Niederlanden untersucht: »Der von der ... Regierung eingesetzte Remmeling-Ausschuß hat in einer Untersuchung ... festgestellt, daß 70 % der Ärzte, die Sterbehilfe geleistet haben, fälschlich selbst einen Totenschein ausstellen« (Rutenfrans 1995, S. 30) und sich damit jeglicher Kontrolle entziehen. »Die Untersuchung des Remmeling-Ausschusses 1990 und 1991 hat ergeben, daß schätzungsweise pro Jahr 2.300 Fälle aktiver Sterbehilfe auf Verlangen des Betroffenen vorkommen. Geschätzt wird, daß in 1.000 Fällen pro Jahr das Leben der Patienten beendet wird, die nicht darum gebeten haben. Bei diesen Fällen, einem Drittel der Gesamtzahl, sind die gesetzlichen Kriterien für Sterbehilfe oder Hilfe bei Selbsttötung nicht gegeben, wohl aber die für Mord und Totschlag. Das wichtigste Kriterium, daß nämlich der Arzt auf ausdrückliches und wiederholtes Verlangen des Patienten selbst dessen Leben beendet hat, ist nicht erfüllt. Zusätzlich zu diesen 1.000 Fällen wird schätzungsweise in 4.000 Fällen das Leben von Patienten beendigt, indem auf eine lebensverlängernde ärztliche Behandlung verzichtet wird, ohne daß ein Patient darum gebeten hat ... In manchen medizinischen Kreisen in den Niederlanden wird es heute ... akzeptiert, auf eine Behandlung zu verzichten, wenn man der Meinung ist, daß das Leben des Patienten >sinnlos< ist ... Hier geht es aber nicht mehr um ein objektives medizinisches Kriterium, sondern um ein subjektives Urteil über den Sinn des Lebens anderer Menschen ... « (Rutenfrans 1995, 31).

    Die Justiz bestraft auch kaum mehr, die Angst vor dem Richter ist gering. Dazu zwei Beispiele:

    • 1987 wurde bekannt, daß bei einem neugeborenen Kind, das unter einem Down-Syndrom und einer Darmverschlingung litt, auf Bitte der Eltern auf eine Operation verzichtet wurde, die sicher erfolgreich gewesen wäre. Das Kind starb, was auch die Absicht war. Das höchste niederländische Gericht ... verfügte, daß die Staatsanwaltschaft nicht verfolgen durfte.

    • 1991 hat ein Psychiater einer Frau Hilfe bei der Selbsttötung geleistet, die schwermütig war, aber darüber hinaus nicht krank. Die Frau hätte noch erfolgreich behandelt werden können, aber verweigerte jede Behandlung. Der Psychiater berief sich auf einen Notstand. Der Richter erachtete ihn zwar für strafbar, verzichtete jedoch wegen seiner >wertvollen Persönlichkeit< auf eine Bestrafung.« (Rutenfrans 1995, 32)

    Wollen wir tatsächlich am Tod der Solidarität in Österreich mitarbeiten?

    Der liebe Gott hat sie besonders lieb.* - Die Kirche und ihr Umgang mit Behinderten

    * Der liebe Gott hat sie besonders lieb. Die Kirche und ihr Umgang mit Behinderten. Erschienen in: Wiener Zeitung, 24. 6. 1994, Extra-Beilage, S. 5.

    Boltzmanngasse 9, Priesterseminar. Zur Begrüßung ein »herzliches Grüß Gott«, ein warmer Händedruck und Stufen, für die man sich gleich entschuldigt: »Wir sind hier nicht auf Behinderte eingestellt. Sie sind der erste Behinderte, der sich um ein Priesteramt erkundigt«, meint Regens Mathias und rechnet nach, wie lange er sein Amt schon ausübt.

    Dann blättert er im christlichen Gesetzestext. Die freudige Botschaft: Seit 1983 beinhaltet der Codex des kanonischen Rechts keinen grundsätzlichen Ausschließungspassus behinderter Menschen vom Priesteramt mehr. Prüfender Blick des Regens: »Menschlich, sittlich, geistlich und intellektuell muß aber alles stimmen. Und auch die physische und psychische Gesundheit muß gegeben sein.«

    »Kein Problem«, lächle ich. »Gelähmte Beine sind keine Krankheit, ich bin gesund.«

    Regens Mathias schlägt sein Gesetzesbüchlein zu: »Gesundheit hängt von der Psyche ab. Manche fühlen sich krank, z. B. Doppelamputierte«.

    Innerlich danke ich Gott dafür, nicht doppelamputiert zu sein, womit sich meine Chance, Priester werden zu können, verdoppeln dürfte.

    »Grundsätzlich« könnte sich der Regens einen Priester im Rollstuhl vorstellen. Allerdings ist es nicht vorstellbar, daß der behinderte Kandidat im Priesterseminar wohnt, »ein Lift würde sich wegen der nicht vorhandenen Größe des Problems nicht rentieren«. Und auch das Studium scheint mehr als mühsam: »Eine Studentin im Rollstuhl steht oft stundenlang vor Stufen und wartet auf die Hilfe ihrer Studienkollegen.« Alle belegen Studienrichtung Theologie.

    Sollte der Kandidat sein Studium beendet haben, wird er ein Jahr lang in einer »gut funktionierenden Kirchengemeinde« auf die Probe gestellt. »Ich würde in einer Messe selbst auf die Kanzel steigen und die Gemeinde um Mithilfe bitten«, meint Bruder Mathias euphorisch. Helfende Menschen müßte sich der Kandidat selbst organisieren. Ehrenamtlich natürlich, »denn dafür hat die Kirche kein Geld«.

    Ich denke nach. Es fällt mir niemand ein, der sich für mich aus christlicher Nächstenliebe aufopfern würde.

    Nach dieser Prüfung steht einem Einsatz als Kirchendiener nichts mehr im Wege - »am besten wohl in einem Kloster«, sinniert Mathias, »dort gibt es eine fixe Gemeinschaft und fixes Essen. Man braucht sich nicht um den Einkauf bemühen. Das ist doch für RollstuhlfahrerInnen auch ein Problem, nicht?«

    Man beginnt zu verstehen, warum in der österreichischen Kirche grundsätzlich alles möglich ist, aber in der Realität kein Behinderter ein höheres Amt bekleidet.

    Dipl.-Ing. Ehrlich vom Wiener Erzbischöflichen Bauamt ist über die Frage nach baulichen Adaptierungen für behinderte Pfarrer höchst verwundert. Die hat es noch nicht gegeben. Wozu auch, »denn in dem Augenblick, wo einer an den Rollstuhl gebunden ist, kann er doch keine Pfarre mehr führen«. Und auch im Personalreferat der Erzdiözese Wien weist Adalbert Stich darauf hin, »daß es für Priester keinen geschützten Arbeitsplatz geben kann, da der Bischof die Sorgepflicht hat« und nicht der Staat oder ein Unternehmen.

    Ausnahmen bestätigen die Regel. So bewegt sich Anton Rindler, der Rector Spiritualis vom Grazer Bischöflichen Gymnasium, auf Krücken fort. Aber auch derartige Positionen scheinen Abstellgleise für Behinderte zu sein. Kann sich ein Pfarrer etwa aus Altersgründen nicht mehr auf den eigenen Beinen halten, »wird er eben zum Rektor in einem Altersheim« (Stich).

    Lisa (Name geändert) ist auf die Erzdiözese nicht gut zu sprechen: »Die kenn ich«, meint sie und dreht nervös an der Bremskappe ihres Rollstuhles. Die Nachricht, daß die 35jährige Religionslehrerin an einer progressiven Muskelerkrankung leidet und nicht mehr alleine in den vierten Stock der Meidlinger Volksschule kommt, verbreitete sich in Windeseile. Bald kam die erste Anfrage der Erzdiözese: Wie funktioniert denn der Unterricht überhaupt? Ein Bericht der Direktorin wurde angefordert. Diese stellte sich hinter ihre Lehrerin. Lisa enttäuscht: »Die Kirche hätte mich ohne zu zaudern an die Luft gesetzt!«

    Stolz verweist man in der Erzdiözese Wien darauf, daß man das vom Staat verordnete »Invalideneinstellungsgesetz« sehr wohl erfülle. Immerhin sind in Wien eine blinde Telefonistin, zwei Rollstuhlfahrer, ein Krückengeher und kein Gehörloser angestellt. Der Rest, ca. 990 Personen, sind chronisch Kranke, die man nicht an die Luft gesetzt hat. Und damit, meint man, hat man nicht nur dem Gesetz, sondern auch der Gerechtigkeit auf Erden Genüge getan.

    Klagenfurt. Jesuitenkirche. Am Altar bereitet der Pfarrer die Gaben. Ein Ministrant klingelt. Die Kirchengemeinde hebt zum Gesang an: »Oh Gott, nimm an die Gaben, die du uns hast verliehn ... « Der Meßdiener schreitet die Reihen ab und sammelt für den Opferstock. Neben den Bänken sitzt ein Rollstuhlfahrer. Der Meßdiener will ihm auch das Körberl reichen, dann zögert er, faßt dem behinderten Mann auf den Kopf und malt ihm mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. Im Hintergrund singt die Kirchengemeinde: »Bereite Herz und Hände, daß würdig wir begehn das Opfer ohne Ende, das du dir ausersehen.«

    Auch Elisabeth hat ähnliche Erfahrungen: »In der Kirche greifen mir die Leute oft auf den Kopf. Die Leute sagen, wie toll und bewundernswert du bist. Sie glauben, du bist besser als sie. Als Kind habe ich das als Achtung gesehen. Super, habe ich gedacht.« Heute kann sie diesem religiösen Gehabe nichts mehr abgewinnen: »Wenn die sagen, durch dich leuchtet Jesus, wird mir ganz schwummrig, so blöd ist das.« Diese Sätze erzeugen ein Rollenbild, dem man dann entsprechen soll: »Ich darf nicht böse sein. Muß ein leuchtendes Beispiel sein.«

    Brauchen Christen Behinderte, um ins Himmelreich zu gelangen? fragt sich die Sozialarbeiterin Hanne Müller in der Zeitschrift Puls. Sie analysiert, daß Behinderten in der Kirche rein die Rolle des »Empfängers von Wohltaten« zukommt. Ohne solche Handlungen kann der Christ sein Seelenheil nicht erlangen. Wie es dabei den Behinderten selbst geht, ist oft nachrangig. Von ihm wird lediglich Dankbarkeit erwartet. Bleibt diese aus, tritt an die Stelle von Hilfsbereitschaft Abwehr und Ausgrenzung. Der behinderte Mensch als mündiger Partner mit dem Recht auf Mitsprache und Partizipation in kirchlichen und gesellschaftlichen Belangen wird meist nicht akzeptiert.

    Martin ist in der Katholischen Jugend aktiv. Dort fühlt er sich aufgenommen und akzeptiert. Strahlend erzählt er von einer Feldmesse: »Wir hatten keinen Altar. Daher legten sie mir ein Brett über die Beine und gaben ein Tuch darüber. So feierten wir Messe.« Diese kirchliche Gemeinschaft hat ihm viel gegeben und aus so mancher Lebenskrise herausgeholfen. Allerdings war dazu ein Prozeß notwendig: Aus Mitleid wurde Solidarität. Vergangenen Sommer etwa half die Katholische Jugend mit, eine Demonstration für die Rechte behinderter Menschen zu organisieren.

    »Solche Beispiele sind sicherlich die Ausnahme«, meint Martin achselzuckend. Auch ihm wurde während der Messe schon vom Banknachbar die Hand segnend aufgelegt. Oder da war die Geschichte von einer Spastikerin, der in einer italienischen Messe die Beine gesegnet wurden. Gott segne ihre Füße, hieß es, sie sind ein Zeichen. Das hat Martin schockiert.

    »Behinderte werden immer über Leid definiert«, meint Martin. Da gibt es die Körperbehinderten, die geheilt werden müssen, die blinden Seher und die geistig Behinderten. Die letzte Gruppe sind »die ganz Armen, die der Geist Gottes nur peripher gestreift hat. Die kommen auch direkt in den Himmel«.

    Wer heuer nach Lourdes fahren möchte, ist zu spät dran. Alle Fahrten des Lourdes-Komitees in den französischen Marienwallfahrtsort waren schon zu Jahresbeginn restlos ausgebucht. KatholikInnen aus aller Welt pilgern dorthin, wo Glaube und Kirche noch »lebendig sind« (Wallfahrtsprospekt). Im Handgepäck dabei sind Behinderte, die vielleicht von der Mutter Gottes geheilt werden. Die letzte Wunderheilung soll 1976 stattgefunden haben. Nach einem Bad in der Heilquelle wurde eine junge Italienerin von einem bösartigen Tumor am Bein geheilt.

    Vom dritten Lebensjahr bis zum siebzehnten fuhr Elisabeth jährlich mit den Omas, dem Opa, den Eltern und Geschwistern nach Lourdes. »Wie Urlaub machen war das«. Der Kreuzweg mit den zwölf Stationen hat ihr gut gefallen. Nur die Heilmessen, die haßte Elisabeth. Da waren so viele Leute. Man wurde ganz nackt ausgezogen. Wenigstens waren Männer und Frauen getrennt. Und dann ins kalte Wasser, »da wirst du hineingetunkt. Das ist so eisig kalt, daß du Spasti kriegst, die dich zusammenhauen«. Danach mußte sie sich immer lange wärmen, bis die spastischen Krämpfe nachließen. »Diese Zeremonien absolvierte ich, damit der Familienfriede gewahrt bleibt«, erklärt sich Elisabeth, warum sie sich nie dagegen gewehrt hat.

    Die Heilmessen empfand sie in ihrem damaligen Denken als Bedrohung: »Ich wollte ja nicht gehn können. Das hätte meiner Theorie vorn auserwählten Menschen widersprochen. Darum machte ich Gegengebete: Bitte lieber Gott, laß mich nicht gehen.« Sie hatte auch Angst davor, aus Dankbarkeit Krankenschwester oder gar Klosterfrau zu werden.

    Mit 17 weigerte sich Elisabeth, mit nach Lourdes zu fahren. Es gab einen furchtbaren Familienstreit. Dann hieß es: Wenn du nicht fährst, fahren wir auch nicht. Elisabeth darauf zu den Eltern: »Glaubt's ihr, daß ihr keine Heilung braucht's?«

    Heute spricht Elisabeth das aus, was in der Familie lange verdrängt worden war: »Man wollte mich heilen, ich wurde auch so oft operiert. Das war nicht gut. Meine Eltern wollten mich nicht, so wie ich bin. Und ich konnte mich auch nicht selbst annehmen.«

    Die Unsicherheit der Kirche macht es Eltern und Betroffenen nicht einfach, Behinderungen annehmen zu können. So werden auch heute noch in Taufen strahlende Gesundheit und Vollkommenheit gepriesen. Und niemand fragt sich, ob ein Franz von Assisi heute nicht sein Dasein in einer Behinderteneinrichtung fristen würde. Denn wer mit Tieren spricht, wird heutzutage nicht heilig gesprochen, sondern in kirchlichen Heimen vor der Gesellschaft geschützt.

    Vor nunmehr drei Jahren fragte die Grazer »Arbeitsgruppe für behindertengerechtes Bauen« beim Bischof von Graz-Seckau an, ob man nicht den Dom und die Herz-Jesu-Kirche behindertengerecht adaptieren könnte. Der Bischof antwortete mit einem erfrischenden »Grüß Gott!« und versicherte der Initiativgruppe, daß ihn »deren Anliegen sehr berührt«. Er verwies auf eine beigeschlossene Stellungnahme des Bauamtes, welche die Schwierigkeiten für eine Adaptierung beschrieb; versprach, sich für eine gute Lösung einzusetzen, und segnete zum Abschluß noch die Tätigkeit des Vereins.

    Obwohl die Arbeitsgruppe auf Beispiele im Ausland verwies und Lösungsvorschläge erarbeitete, wurde bis heute vom Bischof nichts zur Adaptierung unternommen. Die Argumente lauten nach wie vor: Die Rampen seien zu lange, optisch unattraktiv, Kinder könnten sich beim Skateboardfahren auf einer Rampe verletzen, und nicht zuletzt seien auch die Kosten beträchtlich. Man verweist auf »menschliche Lösungen« wie Hebedienste. Eine gute Gelegenheit für Leute, schon vor der Messe Nächstenliebe zu üben. Was dem Streben der Betroffenen, wenigstens beim sonntäglichen Kirchgang selbständig sein zu können, widerspricht.

    Ob eine Kirche für Behinderte adaptiert wird oder nicht, »hängt immer von der Eigeninitiative des jeweiligen Pfarrers ab«, weiß Dipl.-Ing. Ehrlich aus langjähriger Erfahrung. »Ein Zeichen«, nennt Pfarrer Freiler seine Eingangsrampe zur 1217 geweihten Kirche in Perchtoldsdorf. Es war ihm ein Anliegen, »zu denen am Rande zu stehen«, meint er. Die Realisierung des Umbaus war dann kein Problem mehr: Die Stadtgemeinde subventionierte, die Kirchengemeinde spendete.

    Anderen Pfarrern ist die Adaptierung ihrer Kirche offenbar nicht ein so großes Anliegen. In einer Untersuchung des Institutes für Soziales Design zeigte sich, daß 1982 von 192 Kirchen nur 19 für Rollstuhlfahrer »ohne fremde Hilfe« zugänglich waren. Das Problem ist nicht neu und auch kein österreichisches. Dieter Berdel verweist lächelnd auf das Plakat einer Schweizer Behindertenorganisation mit der Aufschrift »Eher kommt ein Behinderter in den Himmel als in die Kirche«.

    Die National Organisation on Disability in Washington brachte unter dem Titel »That all may Worship. An Interfaith Welcome to people with disability« eine Zeitschrift heraus, in der penibel aufgezeigt wird, woran noch gearbeitet werden muß. Priester im Rollstuhl, blinde oder gehörlose Priester; Messen, die von Dolmetschern in die Gebärdensprache übersetzt werden, lauten einige der Forderungen.

    Wer in der österreichischen Kirche eine Änderung herbeiführen soll, ist unklar. Kein Bischof ist mit dem Referat »Behinderte« betraut. Die Gehörlosenseelsorge und das Blindenapostolat, wie es sie etwa in der Erzdiözese Wien gibt, sind nur mit ehrenamtlichen MitarbeiterInnen besetzt. Und so ist es auch kaum verwunderlich, daß Bruno Heinisch, Leiter des Blindenapostolates, zwar eine Asoliertheit von Blinden in der Pfarre« ortet, aber überfragt ist, wieviele Blinde in der Erzdiözese Wien angestellt sind.

    Kornelia ist seit fünf Jahren aus der Kirche ausgetreten. »Aufgrund meiner Behinderung kam ich mit der Kirche immer mehr in Konflikt«, erzählt sie heute. Während die »Kirche gar so gerecht tut«, spürte sie »täglich die Ungerechtigkeiten der Welt, die auch in der kirchlichen Gemeinschaft nicht aufgehoben sind«.

    4. Kultur, Medien, Kommunikation

    Gedanken zu Kunst und Behinderung - Von Annemarie Klinger

    »Kunst« ist, kann man in jedem Lexikon nachlesen, die gestaltende Tätigkeit des schöpferischen Menschengeistes in Architektur, Plastik, Malerei, Graphik, Kunsthandwerk, Musik, Dichtung, Theater und Tanz. Fragt man allerdings nach dem Thema »Kunst« im Zusammenhang mit Behinderung, so wird man an ganz andere »Fachleute« verwiesen, als zu vermuten wäre, nämlich an Sozialarbeiter, Ärzte, Therapeuten, Stadträte für Soziales oder Direktoren von Betreuungsinstitutionen. Dieses Phänomen hätte keine Bedeutung, wäre es nicht auch Ausdruck der mit Vorurteilen behafteten Meinung vom künstlerischen Schaffen behinderter Menschen in unserer Gesellschaft.

    Kreatives und künstlerisches Schaffen behinderter Menschen wird nicht nur ausschließlich in einer Art karitativen »Betreuungsecke« vermutet, sondern auch landläufig gar nicht als »Kunst«, sondern als Vehikel für außerkünstlerische Zwecke interpretiert.

    Ein Indiz für die einseitige Sichtweise, mit der »Kunst« in Verbindung mit »Behinderung« betrachtet wird, ist unter anderem auch, daß für die kulturellen Belange behinderter Menschen europaweit in der Regel die Sozial- und nicht die Kulturministerien zuständig sind.

    Sollte es etwas geben, was die Kunst beispielsweise eines Malers oder Autors mit einer Behinderung von der eines sogenannten »normalen« Künstlers unterscheidet? Wohl kaum. Das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben, ist auch nicht mit einem erweiterten Kunstbegriff zu lösen, der jegliches menschliche Gestalten miteinbeziehen muß, sondern ist zum einen das Ergebnis einer unterschiedslosen Vermischung der sozial und therapeutisch motivierten sowie künstlerischen Ansätze, die im Zusammenhang mit »Behinderung« zu finden sind, und zum anderen die Folge von Einschränkungen und Vorurteilen, von denen behinderte Menschen in unserer Gesellschaft betroffen sind.

    Behinderte Menschen sind vom Kulturleben mehr oder weniger ausgeschlossen (eine Studie aus dem Jahr 1993 kam zu dem Ergebnis, daß hochgerechnet lediglich 5 % aller Kulturstätten und -einrichtungen vollkommen barrierefrei und behindertengerecht zugänglich und benutzbar ([inkl. d. WC-Anlagen] sind, ÖBIG 1993), sondern auch im Hinblick auf eine Verweigerung der Anerkennung ihrer, in diesem Fall, künstlerischen Leistungen.

    Obwohl es selbstverständlich sein sollte, ist festzuhalten, daß die Vielfalt der Möglichkeiten, in denen kreatives und künstlerisches Schaffen seinen Ausdruck finden kann, sei es als Kunst oder begleitend zu einem außerkünstlerischen Zweck, genau jener entspricht, die allgemein existiert. »Behinderte« Kunst gibt es nicht. Was sich allerdings gravierend vom Rest der Gesellschaft unterscheidet, ist die Situation behinderter Menschen. Wenn es eine Notwendigkeit gibt, die Thematik »Kunst« in Verbindung mit Behinderung zu diskutieren, dann deshalb, weil diese, mehr noch als in anderen Zusammenhängen von den gesellschaftlichen Voraussetzungen geprägt ist. Es geht nicht um einen Kunstbegriff, bzw. die Frage ob Kunst oder nicht, sondern um die auch in diesem Bereich zu verwirklichenden Ziele wie Integration im Sinne eines gleichberechtigten Miteinanders, Selbstbestimmung und Anerkennung.

    Eine Differenzierung muß demnach mehrfach stattfinden. Zum einen im Hinblick auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, die es gibt, zum anderen aber auch auf ihre emanzipatorischen Inhalte hin. Letztere sind in der österreichischen Behindertenbewegung noch sehr jung. Ihre Ursprünge findet man in der zweiten Hälfte der 70er Jahre. In diese Zeit fällt als erster Schritt zu einer gemeinsamen schlagkräftigeren Vertretung der Interessen von Behinderten die Gründung der »ÖAR« (1975), der mittlerweile 73 Mitgliedvereine, die 380.000 behinderte Menschen in Österreich vertreten, angehören. Ebenso entwickelten sich nach dem Vorbild der amerikanischen Independent Living Movement (ILM) auch in Österreich die ersten Ansätze einer autonomen, für Selbstbestimmung kämpfenden Behindertenbewegung, die 1989/90 im »Forum der Krüppel- und Behinderteninitiativen« eine lockere Organisationsform fand. Wichtige Daten dieser Entwicklung sind auch das Jahr 1981, als die Bundesregierung erstmals das »Jahr der Behinderten« ausrief, und 1986, als mit Manfred Srb der erste behinderte Abgeordnete, der sich der »Selbstbestimmt-Leben-Bewegung« verpflichtet fühlte, ins Parlament einzog.

    Die Inhalte der »Selbstbestimmt-Leben-Bewegung« und auch ihre Erfolge in Amerika, zu denen seit fünf Jahren der Anti-Discrimination-Act gehört, der u. a. den Bau von für Behinderte nicht zugängliche öffentliche Verkehrsmittel oder Gebäude und Lokale einklagbar macht, waren und sind für viele Behinderte ein Anstoß, sich auch in Österreich gegen entmündigende Betreuungsstrukturen aufzulehnen sowie von der Gesellschaft gesetzlich verbürgte Rechte statt mitleidiger Willkür einzufordern. Innerhalb der österreichischen Behindertenbewegung zeigte sich in den letzten Jahren ein neues Selbstbewußtsein, das mittlerweile auch im kulturellen Bereich neue Impulse setzt. Eine der wichtigsten Initiativen auf diesem Gebiet ist die 1989 gegründete EUCREA (European Network on Creativity by and for disabled persons), die internationale Organisation zur Förderung und Unterstützung von Kunstschaffenden mit einer Behinderung. Sie hat ihren Sitz in Brüssel, wird derzeit aber von München aus von Dr. Peter Radtke, den man in Österreich vor allem als Schauspieler aus mehreren Theaterproduktionen mit George Tabori kennt, geleitet.

    EUCREA wurde 1989 auf Anregung der EG-Kommission gegründet, »um die vielfältigen Initiativen kulturellen Wirkens von einzelnen blinden, geistig behinderten, gehörlosen oder körperbehinderten Künstlern, von kreativen Werkstätten, von Theatergruppen und Einrichtungen im Raum der EU zu unterstützen und zu fördern.« (Radtke). Der damalige Vertreter Österreichs war der Autor Erwin Riess (zuständig für die Bereiche Literatur und Theater). Die Unterstützung von Projekten sollte seiner Ansicht nach ebenso an das künstlerische Niveau wie an die Berücksichtigung von Integration und Selbstbestimmung geknüpft werden. Sein Ziel war es, »weg von therapieorientierten Beschäftigungen hin zu wirklich spannender künstlerischer Auseinandersetzung« (Riess) zu kommen. Die gesetzten Schwerpunkte von Kunst und emanzipatorischer Zielsetzung schließen insbesondere jene Projekte aus, in denen beispielsweise geistig behinderte Menschen für fremde künstlerische oder geschäftliche Interessen benutzt werden und gar nicht die Möglichkeit eigener kreativer Entfaltung bekommen.

    Emanzipatorische Ansätze werden im Bereich »Kunst und Behinderung« auf vielfältige Weise und in verschiedener Ausprägung erprobt. Sie beziehen ihre Anregungen zum Teil aus der soziokulturellen Animation, der Kunsttherapie und der künstlerischen Avantgarde, wie zum Beispiel aus neuen Formen des Körpertheaters oder des Tanzes. Eine Abgrenzung der verschiedenen Gruppen und Initiativen untereinander ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Meistens sind mehrere Vorbilder impulsgebend oder hängen von der jeweiligen kunsttherapeutischen, sozialpädagogischen sowie künstlerischen Vorbildung bzw. dem persönlichen Interesse ab. Gemeinsam ist ihnen lediglich eine auf Integration und Selbstbestimmung abzielende Haltung. Auch ist jede Behinderung anders und erfordert auch im künstlerischen Bereich unterschiedliche kreative Wege und Ausdrucksmöglichkeiten.

    So hat z. B. soziokulturelle Animation ihre Wurzeln in den kulturreformatorischen Konzepten Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, die als Annäherung von Kultur und Sozialem bzw. als erweitertes Verständnis von Kultur formuliert wurden. Dieses bezog sich einerseits auf den Zugang aller Bevölkerungsschichten zur Kultur und andererseits auf die aktive Teilnahme, die eigenständige Entwicklung kultureller Ausdrucksformen und das Ausschöpfen eigener kreativer Möglichkeiten von gesellschaftlicher Gruppen.

    Soziokulturelle Animation (aus dem französischen »animer«, »beseelen«, »beleben«) ist innerhalb dieser Konzeptionen eine Methode, das Spannungsfeld zwischen der einzelnen sozialen Gruppe (sie wird definiert durch die Voraussetzungen, unter denen sie sich zusammenfindet, seien es nun Kinder, Senioren, Frauen oder in diesem Fall Behinderte) und der Gesellschaft in Kreativität umzusetzen und auf kreativem Weg vorhandene Widersprüche und Probleme zu formulieren und auszutragen. Der emanzipatorische Anspruch dieser kreativen Arbeiten ist deutlich formuliert und zielt auf eine Veränderung auch im sozialen Bereich ab. Der Zweck ist ein außerkünstlerischer, wenn auch künstlerische Qualität dabei durchaus ein Nebenprodukt sein kann.

    Schwieriger ist eine Beschreibung dessen, was Kunsttherapie ist. Die Wortdefinition »Therapie mit künstlerischen Mitteln« ist noch einfach, doch zum einem ist sie in den letzten Jahren geradezu zu einer Modeerscheinung geworden, die alle möglichen kreativen Tätigkeiten in Zusammenhang mit Therapie bringt, und zum an dem herrscht im Hinblick auf die Vielfalt ihrer Anwendungsgebiete heillose Begriffsverwirrung. Das hat zur Folge, daß sich in diesem weiten Feld auch, wie das Beispiel des »No Problem Orchestra« zeigt, höchst »individuelle« Therapievorstellungen mit »künstlerischen Mitteln« einfinden.

    Die Kritik eines Berichtes der Zeitschrift Profil zielte einerseits auf die durchaus umstrittene Musiktherapie (geistig behinderte Jugendliche spielen auf elektronischen Instrumenten, wobei die Tasten in der richtigen Tonfolge des vorher einprogrammierten Liedes aufleuchten), andererseits auf die undurchsichtige Finanzgebarung, die bei manchen Eltern den Verdacht weckte, daß es eigentlich mehr um das Geschäft der Betreiber als um das Wohl ihrer Kinder geht.

    Das Image der Kunsttherapie ist durch die nahezu beliebig verwendbare Anwendung des Begriffs angekratzt. Insbesondere im kritischen Teil der Behindertenbewegung beginnt man sich mittlerweile gegen die großzügige Auslegung zu wehren, weil dadurch jeglichem künstlerischen und kreativen Schaffen behinderter Menschen eine Art »therapeutischer Zweck« unterstellt wird.

    Als richtungsweisend für eine seriöse Abgrenzung und Definition der Anwendungsgebiete kann Karl-Heinz Menzen genannt werden, der 1993 eine Gastprofessur für Projekte im sozialen, rehabilitativen und klinischen Bereich an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien innehatte. Menzen reduziert den »Kunsttherapie«-Begriff im wesentlichen auf die Mittel der bildenden Kunst. Er differenziert zwischen drei verschiedenen Ansätzen: den psychoanalytisch-kunsttherapeutischen im klinisch-psychiatrischen Bereich, den erlebnis- und gestaltungstherapeutischen im Bereich von Psychosomatik und Neurosentherapie sowie den kunstdidaktisch-heilpädagogischen im Behindertenbereich.

    Letzterer ist rehabilitativ orientiert und »sucht vor allem die Selbsterlebnis- und Erfahrens-Formen des geistig und körperhaft in vielfältiger Weise behinderten Menschen zu restituieren - in langen und langwierigen Wiederaneignungs- und Anknüpfungsversuchen an unterbrochene Sozialisation. Das versucht sie [die Kunsttherapie] mit ästhetisch-psychologisch und ästhetisch-physiologisch entwicklungsangemessenen Schritten. Das versucht sie mit den Mitteln der Kunst, mit den Facetten der ästhetisch-bildnerischen Material-, Form- und Farbgebungen, eine je eigene Psychodynamik, die aus den erstarrten Verhaltens- und Bewußtseinsformen herausführen soll.« (Menzen 1996)

    Sowohl bei der soziokulturellen Animation als auch bei der Kunsttherapie bleibt festzuhalten, daß beide einem außerkünstlerischen, wenn auch durchaus emanzipatorischen Zweck dienen. So wichtig sie für eine gelungene Integration sein können, so unabdingbar bleibt es, jenen Bereich, wo behinderte Künstler um gesellschaftliche Anerkennung kämpfen, davon abzugrenzen.

    Hier entsteht die schon angesprochene abstruse Situation, daß ihre künstlerische Tätigkeit sich dem Therapieverdacht aussetzen muß.

    Zwar ist die Frage, ob ein Autor, Maler, Schauspieler oder Tänzer mit einer Behinderung sich ausgerechnet diesen Beruf gewählt hat, weil er, wie es der Autor und Kabarettist vom 1. Wiener Krüppelkabarett, Franz-Joseph Huainigg, selbst ein Rollstuhlfahrer, bissig formuliert, »sein schweres Schicksal«, sprich seine Behinderung aufarbeiten muß. Im Hinblick darauf, daß jeder Künstler auch persönliche Erfahrungen in seine Kunst einfließen läßt, ist diese Fragestellung müßig, und doch wird sie, wie auch Dr. Peter Radtke bestätigt, immer wieder gestellt.

    Er führt diese Haltung auf das in unserer Gesellschaft vorherrschende Bild des Behinderten als »defizitäres« Wesen zurück, das auf Hilfe angewiesen ist. »Kaum einmal wird der Einzelne mit seiner Behinderung als Gebender, als einer, der die Gesellschaft bereichert, anerkannt«.

    Selbst ein Künstler mit einer Behinderung, ist für ihn gerade die Kunst ein Weg, dieses Bild zu ändern. Allerdings betont Radtke auch, daß dies nicht bedeutet, daß eine Behinderung keinen Einfluß auf das jeweilige Kunstwirken hat. Im Gegenteil. Im kreativen Prozeß kann Behinderung zu einer Qualität werden, die positiv eingesetzt werden kann.

    Differenzierungen lassen sich in der Praxis oft nicht aufrechterhalten, und Problemstellungen, die sich aus dem Zusammenhang von Kunst und Behinderung ergeben, sind meist wesentlich komplexer, doch sie ermöglichen einen besseren Zugang zu Einzelinitiativen und -gruppen. Einige davon sollen vor diesem Hintergrund kurz und beispielhaft vorgestellt werden.

    Soziokulturelle Animation

    Die Theatergruppe SOB 31 wurde vor nunmehr neun Jahren von Martin Rohsmann gegründet. Die Schauspieler sind geistig und mehrfach behinderte Menschen, die von vier Sozialarbeitern von »Jugend am Werk« begleitet werden (Animationsausbildung an der Sozialakademie). »Die Idee, mit geistig behinderten Menschen Theater zu spielen, ist«, so Martin Rohsmann, »eigentlich naheliegend. Wer mit dieser Personengruppe näher zu tun hat, ist immer wieder von der Spontanität, der Neigung, Situationen theatralisch zu lösen, oder vom gradlinigen Humor dieser Menschen beeindruckt«. Stücke werden in dieser Gruppe selbst erfunden. Ausgangspunkt ist eine Fülle von Ideen der behinderten Spieler, die vom Animator gesammelt werden. In einem langsamen Prozeß ensteht das Stück, daß immer mehr angereichert wird. Alle sind an dieser Entwicklung beteiligt, bringen ihre Ideen ein und entscheiden, welche Richtung die Handlung nimmt. Die Schauspieler müssen dabei einander genau wahrnehmen, sie können in die Rolle des anderen schlüpfen und so auch hierarchische »Fronten« einfach wechseln. Verschiedene Problemstellungen können so thematisiert, spielerisch umgesetzt und dann reflektiert werden. Die Aufgabe des Animators dabei ist, wie es Rohsmann definiert, die Pole Spiel und Ernst im Gleichgewicht zu halten: »Genügend Ernst - immerhin haben alle Beteiligten hart gearbeitet -, um gewisse Werte zu vermitteln, und doch auch genug Spielerisches, damit es Spaß bleibt und nicht eine Frage von Versagen oder Bestehen wird.« Die Stücke, die so entstehen, haben manchmal eine bemerkenswerte künstlerische Qualität und zeugen auch von einer geistesgegenwärtigen Spontanität, wie sie dem »normalen« Stegreifspiel gelegentlich zu wünschen wäre.

    Es gibt eine ganze Reihe solcher kleinen Initiativen wie SOB 31. Ihre »Lebenszeit« ist allerdings meistens sehr kurz, weil sie irgendwann ins Stocken geraten und ihnen mangels finanzieller Unterstützung die Kraft ausgeht. Auch die Existenz von SOB 31 hängt nahezu ausschließlich vom privaten Gratis-Engagement ihrer Mitglieder ab, welche diese Arbeit neben einer Vierzigstundenwoche bewältigen. Ein Versuch, eine Kulturszene zu schaffen, die durch gemeinsames Auftreten mehr Öffentlichkeit und mehr Gewicht bei der Durchsetzung ihrer Forderungen nach mehr Anerkennung und dem Recht auf aktive Teilnahme am Kulturleben erreichen kann, war das im Juni 1996 von SOB 31 organisierte erstmalige »Kulturfestival mit behinderten Menschen für alle« im W.U.K., bei dem Künstler und Gruppen aus den unterschiedlichsten Bereichen mitarbeiteten.

    Integratives zeitgenössisches Tanztheater

    Unter völlig anderen Voraussetzungen entstanden und arbeiten die Bilderwerfer. Der Choreograph und künstlerische Leiter der Gruppe, Daniel Aschwanden, wehrte sich seit jeher gegen das »Konzept des perfekten Körpers« im Tanz. Er wollte »mit Leuten bzw. mit Körpern arbeiten, die keine professionell geschulten Körper haben, sondern sich dadurch auszeichnen, daß sie eine spezielle Beziehung zur Bewegung und zum Tanz haben«. 1992 begann er aus dieser Intention heraus die Zusammenarbeit mit Christian Polster, dem Tänzer mit dem Down-Syndrom (bekannt aus den Niki-List-Fihnen »Mama lustig« und »Muß denken«), aus der sich eine Tanzcompagnie entwickelte, die heute unter dem Namen »Bilderwerfer« arbeitet. Die Performer, drei behinderte und drei nichtbehinderte Menschen, gehen völlig neue künstlerische Wege, wobei Integration mehrfach angestrebt wird. Zum einen durch einen Ansatz des Miteinanders von behinderten und nichtbehinderten Menschen, bei dem Differenzen nicht unter den Teppich gekehrt, sondern selbstbewußt zutage gebracht werden, und zum anderen die Integration verschiedener medialer Formen wie Tanz, Schauspiel, Performance, Video, Musik, bildende Kunst und Architektur als künstlerische Aussage. Mittlerweile touren die »Bilderwerfer« sehr erfolgreich in ganz Europa und Amerika und erhalten fünf bis sechs Einladungen jährlich zu internationalen Tanzfestivals.

    Grundlage ihrer künstlerischen Arbeit ist die von Steve Paxton begründete und von Alito Alessi populär gemachte tänzerische Methode der Kontaktimprovisation, die fast völlig auf vorgegebene Formen verzichtet und aus dem künstlerisch-tänzerischen Zusammenspiel zweier Körper bzw. deren Möglichkeiten einen neuen Fundus an Bewegungssprache aufspürt.

    Alito Alessi ist der mittlerweile international bekannte Begründer von »Danceability«, einem innovativen und kreativ richtungsweisenden Projekt auf dem Gebiet des New Dance, das KünstlerInnen aus verschiedenen Tanzformen und unterschiedlichen Kulturen mit Behinderten und Nicht-Behinderten zusammenbringt. Danceability ist, wie es der Verein Intako, eine Initiative aus Vorarlberg, die seit 1993 jährlich ein internationales Tanzfestival für Behinderte und Nicht-Behinderte veranstaltet, formuliert, »ein Projekt des Gemeinsamen, ein common ground des künstlerisch-kreativen Ausdrucks für alle Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihres ethnisch-kulturellen Hintergrundes, ihrer körperlichen Fähigkeiten und ihres ökonomisch-sozialen Status« (Intako 1995). Die integrativen Tanzformen, die bei »Danceability« erprobt werden, sind ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Ausdrucksmöglichkeiten, bei der sich behinderte Menschen nicht den Tanzkonventionen anpassen, sondern ihre Bewegungssprache als Grundlage für die Suche nach einer neuen Körpersprache jenseits stereotyper Vorstellungen entwickeln.

    Kreative Arbeit im Spannungsfeld zwischen Kunst und Therapie

    Aus dem Bereich der bildenden Kunst kommen zwei andere Gruppen, die Kunstgruppe Retz und PIKT-Projekte in Kunst und Therapie.

    Erstere ist eine Einrichtung im Caritasheim für vorwiegend geistig behinderte Menschen in Retz.

    Im Februar 1993 von Direktor Werner Nachbagauer ins Leben gerufen, um das künstlerische Potential der Heimbewohner zu fördern, kann das Projekt bereits auf eine mehrjährige erfolgreiche Arbeit zurückblicken. Es gehört zu jenen Initiativen innerhalb weniger großer Institutionen, die neben den traditionellen kreativen Freizeitbeschäftigungen auch dem »freien künstlerischen Schaffen« einen Raum geben wollen. Geleitet wird das Projekt vom akademischen Maler Mano H. Lindner, der seinen Schülern größtmögliche Freiheit läßt, aber ihnen auch neue kreative Aspekte zeigen und künstlerische Techniken vermitteln kann. So entstehen mitunter Bilder, die, wie es Lindner einmal formulierte, »in jeder Galerie stehen könnten«. Nachbagauer und Lindner pflegen auch einen regen kulturellen und künstlerischen Austausch mit anderen Initiativen, Sie organisieren niit der Künstlergruppe (an der selbstverständlich alle interessierten Heimbewohner teilnehmen können) eigene Ausstellungen und nehmen an Festivals teil wie dem oben genannten oder beispielsweise bei dem Projekt »RapsoDIVAdlo« in Krumau 1995, dessen Höhepunkt die Aufführung der Multi-Media-Performance »Big little Carmen« auf der Grundlage von Bizets »Carmen« war. Das Werk wurde von zwei Minderheiten konzipiert und getragen, den Roma und einer Gruppe behinderter Menschen verschiedener Nationalitäten (Judmayer 1995). Im Heim selbst wurde ein Jahr zuvor sogar ein eigenes Theaterprojekt produziert, die »Erste österreichische Behindertenpassion«, von Regisseur Manfred Michalke inszeniert und von fünfzig Bewohnern gespielt.

    Die zweite Gruppe aus dem Bereich der bildenden Kunst PIKT (Projekte in Kunst und Therapie) ist ein Verein, der sich 1994 konstituierte. Impulsgebend war für die damaligen StudentInnen der Hochschule für angewandte Kunst Karl-Heinz Menzens Einführungsseminar in die Kunsttherapie, bei dem in unterschiedlichen sozialen, rehabilitativen und klinischen Einrichtungen mit den Studenten achtzehn Projekte durchgeführt wurden. Heute arbeiten die KünstlerInnen sowohl im künstlerischen wie im kunsttherapeutischen Bereich. Die Arbeit mit Behinderten macht dabei nur einen Teil aus. Der Verein definiert seine Tätigkeit sehr umfassend als Förderung und Durchführung von künstlerischen Projekten im pädagogischen Kontext (z. B. Kinder-, Schule-, Museumspädagogik) sowie mit geistig und körperlich Behinderten, Sinnesgeschädigten, Suchtkranken, psychisch erkrankten Menschen und sozialen Randgruppen.

    Das breite Spektrum stellt den Verein vor die Aufgabe, die spezifischen Voraussetzungen für einzelne Projekte zu definieren. Sie sind sich, wie Theresa Baruh erzählt, »der Probleme mit dem Therapiebegriff durchaus bewußt«, können aber mittlerweile »ganz gut damit leben«, indem sie »nicht alles in einen Topf werfen«, sondern die Projekte auf die unterschiedlichen künstlerischen und therapeutischen Voraussetzungen der Teilnehmer abstimmen.

    Tatsächlich kann aber auch bei kreativ-künstlerischen Projekten durchaus etwas entstehen, was in die Nähe von Therapie führt.

    Für Baruh sind Abgrenzungen vor allem ein Problem der Sprache, »denn Differenzierungen gibt es. Das, was hinter den PIKT-Projekten steht, ist schwer zusammenzufassen, denn es gibt einfach unterschiedliche Aspekte. Es gibt eine Trennung von Kunst und Therapie, aber es ist auch so, daß die Linien auch immer wieder ineinanderlaufen. Wir arbeiten in einem Spannungsfeld, und je nachdem bekommt das eine oder andere mehr Wertigkeit. Man hält sich sehr viele Türen offen, hat aber das Problem, daß man mit diesen Türen arbeiten muß. «

    Gehörlosentheater

    Daß die Bezeichnung »behindert« nicht zuletzt auch ein fragwürdiges Etikett einer sogenannten »normalen« Mehrheit für eine Minderheit ist, zeigen vor allem jene Initiativen, die sich für die Kultur der Gehörlosen mit ihrer Gebärdensprache einsetzten. »Gehörlosigkeit als Behinderung zu sehen, ist«, wie es Helene Jarmer, die erst vor kurzem als erste Gehörlose in Österreich ein Hochschulstudium abschloß, formuliert, »nach wie vor alltäglich.« Mit Günter Roiss und Jo Spelbrink gründete sie den Verein D.E.A.F. mit dem Ziel, »das Wesen der Gebärdensprache zu entdecken, Gehörlosenkultur als eigene Kultur zu erleben, weiterzuentwickeln und anderen Gehörlosen sowie Hörenden in Europa zugänglich zu machen.« Das 1. Internationale D.E.A.F-Gebärdensprachfestival am 4. Oktober 1997 war ein kräftiges Lebenszeichen der Initiative. (Jarmer/Roiss 1998)

    Älter ist die Theatergruppe Deaf Act, der die Pädagogin angehört. 1994 wagten fünf Gehörlose das Experiment, ein Theater zu gründen, dessen zentrales Ausdrucksmittel die Gebärdensprache ist. Helene Jarmer, die mit »TAUBstumm« (Uraufführung im Rahmen des Weltkongresses in Wien 1995) das bislang einzige Stück schrieb, das die Gruppe zur Aufführung brachte, verzichtet auf jegliche Beschönigung der tristen Situation des Gehörlosentheaters: »Die wenigen Filme, die sich gehörlosen-bezogener Themen annehmen, sind durchwegs von Hörenden geschrieben, zum Teil unrealistisch, und vor allem in Filmen wird manchmal eine Gebärdensprache einstudiert, die es gar nicht gibt«. Gebärdensprache ist, wie betont wird, kein beliebiges nebeneinander von Gebärden, Mimik, nonverbaler Kommunikation, Wörtern und Pantomimen, sondern ein eigenes Sprachsystem, in dem es Zusammenhang und Ordnung in Gebärdensprachsätzen gibt. Im Theater ist Gebärdensprache »sprechende Bewegung im Raum«, deren Vielfalt mit dem Stück »TAUBstumm« sowohl einem hörenden wie auch gehörlosen Publikum vermittelt werden sollte. »TAUBstumm«, in der Schreibweise daraufhinweisend, daß Gehörlose zwar nicht hören, keineswegs aber »stumm« sind, ist ein aufklärendes Plädoyer für eine eigenständige Gehörlosenkultur. Gebärdensprache mit modernen Tanzformen, klarer Ausdrucksweise, innerer Empfindungen und Lautsprache verbindend, zeigt »TAUBstumm« vorurteilsbehaftete Stereotypen im Umgang mit Gehörlosen auf und führt selbstbewußtes Geschichtsbewußtsein vermittelnd von jener Zeit, als diese noch aus Kirchen verwiesen wurden, weil sie das Wort »Amen« nicht aussprechen konnten, über die Greuel der Nazizeit bis zur Gegenwart.

    Theater in der Gebärdensprache und dessen vielfältige Symbiosen mit dem Sprech- oder Musiktheater in komprimierter Form zu erleben, ermöglichte im März/April 1998 das 1. Österreichische Gehörlosentheaterfestival im Wiener Theater des Augenblicks (ARBOS 1998). Erstmals konnten hier unter anderem die Aufführung von Peter Handkes »Das Mündel will Vormund sein« durch gehörlose Schauspieler oder grenzüberschreitende Experimente wie das Musik- und Theaterprojekt »Die andere Seite der Stille«, in dem Gedichte amerikanischer gehörloser Schriftsteller von österreichischen Komponisten vertont und vom gehörlosen Schauspieler Werner Mössler und Musikern des ensemble kreativ hör- und sichtbar gemacht werden, in Wien erlebt werden. Den Impuls für die beeindruckende Werkschau des ARBOS-Gehörlosentheaters gab 1997 der Erfolg der europäischen Erstaufführung von Rico Petersons, auch beim Festival wieder gezeigtem Plädoyer für die Gleichberechtigung der Gebärdensprache gegenüber anderen Sprachen, »Schausplatz«. Inszeniert haben es der durch seine Zusammenarbeit mit Peter Sellers bei den Salzburger Festspielen auch in Österreich bekannte amerikanische gehörlose Regisseur Howie Seago und der österreichische hörende Regisseur Herbert Gantschacher. Beide sind Teil des seit fünf Jahren arbeitenden Ensembles gehörloser und hörender Schauspieler und Regisseure, Musiker, Komponisten und Dirigenten, denen Grenzüberschreitung nach allen Richtungen Teil ihres künstlerischen Konzeptes ist. Anders als Deaf-Act blickt die Gruppe auf ein kontinuierliches Aufbauprogramm zurück, zu dem auch eine professionelle Ausbildung von gehörlosen Schauspielern durch gehörlose und hörende Theaterfachleute gehört. »Es war ein sehr langsamer Aufbau«, erinnert sich die gehörlose Schauspielerin Brigitta Palecek an die ersten Workshops im Jahr 1991. »Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, daß tatsächlich ein wirkliches Ensemble mit gehörlosen Schauspielern entstehen wird, doch dann ist es passiert.« Der Arbeitsprozeß innerhalb der Gruppe war (und ist noch immer) auf gegenseitigem Kennenlernen aufgebaut, wobei es für Herbert Gantschacher, zugleich auch der Gründungsobmann von ARBOS, besonders wichtig ist, Hörende nur zu engagieren, wenn sie sich für Gebärde interessieren. »Jemand, der kein Interesse an der Gebärdensprache hat, ist ungeeignet für Gehörlosentheater. Es ist eine Sprache wie jede andere auch. Ich bin hörend, andere Mitarbeiter auch, aber es ist zum Beispiel wichtig, daß gehörlose Regisseure unterrichten, weil das kann ein Hörender nie einem gehörlosen Schauspieler ersetzen.«

    Aber genauso gesteht Gantschacher auch ein, daß alles »seine Zeit braucht, um seine Entwicklung zu nehmen.« Vorbilder für ein Gehörlosentheater gibt es in Österreich nicht, genauso wenig wie heimische gehörlose Regisseure oder Schauspieler, die bereits unterrichten. Bis 1984 als Unterrichtssprache sogar an Gehörlosenschulen verboten, wird Gebärdensprache erst seit wenigen Jahren hierzulande auch als Kunstform für Theater, Gedichte oder Dialoge entdeckt. Die kompromißlose emanzipatorische Haltung, mit der Gruppen wie Deaf-Act oder das ARBOS-Gehörlosentheater ihren Weg gehen, sichtbar an den überwiegend aufklärerischen Inhalten der Stücke, ist nicht zuletzt »Öffentlichkeitsarbeit« für einen Kampf um gleiche Chancen. »Wir wollten zeigen und aufwecken«, so Palecek. »Gehörlose wurden jahrhundertelang nur lautsprachlich gefördert und erzogen. Das entspricht aber nicht unserer Natur. Wir sind visuelle Menschen, wir brauchen die Gebärde als Begriff und als Kommunikationsmittel.«

    Die kleine Auswahl praktischer Beispiele ist gewiß nicht repräsentativ für das breite Spektrum der Möglichkeiten im Zusammenhang von »Kunst und Behinderung«, zeigt aber doch, wie unterschiedliche emanzipatorische Ansätze wirksam werden können. Noch erweist sich das Aufspüren solcher Beispiele als mühsame Spurensuche, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb der Institutionen. Die Verwirklichung von gelungener Eman¬zipation und Integration geht oft nur in kleinen Schritten vorwärts, wird aber stets und deutlich sichtbar an der Haltung der Beteiligten.[5]

    Im Blickpunkt: Nikolaus / Gleichberechtigung durch Gebärde

    Bis zum Alter von zweieinhalb Jahren wuchs ich als hörendes Kind auf, bis ich an Gehirnhautentzündung durch Fieber erkrankte und mein gesamtes Hörvermögen verlor. Ich trug in meinem früheren Lebensalter Hörgeräte und machte Hörkontrollen, doch mein Hörvermögen hat sich nicht verbessert. Heute weiß ich, daß ich vollkommen gehörlos bin.

    Schon im frühesten Alter ging ich mit meinem Handikap in einem »normalen« Kindergarten, wechselte nach kurzer Zeit ins »Taubstummeninstitut Speising«. Dort besuchte ich anschließend wegen des Neuumbaues des Bundesinstitutes der Gehörlosenbildung die Volksschule und machte die Unterstufe in der Sonderschule für Schwerhörige.

    Dann ging ich zur vierjährigen Fachschule für Mechaniker (Wien, Ungergasse) und absolvierte die Abschlußprüfung mit gutem Erfolg. Weil ich an Weiterbildung interessiert war, wechselte ich in die Höhere technische Abendschule für Wirtschaftingenieurwesen am Technologischen Gewerbemuseum und schloß die Matura ebenfalls mit gutem Erfolg ab.

    Bis zu meinem 14. Lebensjahr bin ich größtenteils mit der Lautsprache aufgewachsen. Als ich in die Fachschule Ungergasse ging, traf ich mehrere Gehörlose, die bildungsfähig waren und mehr Wißbegier hatten. Als ich bei dem 13. Weltkongreß der Gehörlosen in Wien mitarbeitete, konnte ich viel besser Gebärden. Somit habe ich die Erfahrung beim Umgang mit der Kommunikation bei hörenden Menschen und lernte erst zu einem späteren Zeitpunkt den Umgang mit Gehörlosen kennen. Heute verstehe ich beide Seiten gut, dennoch wäre es mir lieber, Dolmetscher beim Verkehr mit Behörden und gehörlosen Diskussionen dabei zu haben.

    Ich lebe mit meiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Baby zusammen. Ich arbeite auch wöchentlich in den Abendstunden als Kassier beim Österreichischen Gehörlosenbund. Seit einiger Zeit bereite ich mich auf ein Projekt zur Beratung und Förderung für Gehörlose vor.

    Ich habe einige Male mit Gehörlosen zusammengearbeitet, beim Jugendlager des Weltverbandes der Gehörlosen 1995 und bei einem Seminar in Oberösterreich. Mein Interesse im allgemeinen gilt besonders der Problematik der Gehörlosen im technischen und schulischen Bereich.

    Ich machte letztes Jahr auch bei der Theatergruppe »Deaf Act« beim Stück »TAUBstumm« mit.

    Ich habe heuer meine Ausbildung abgeschlossen und werde mich langsam auf den Weg machen, im Gehörlosenbund aktiv mitzuarbeiten. Ich mache meine Erfahrung mit dem Österreichischen Gehörlosenbund und mit dem Verein »Begabung und Förderung für Gehörlose«.

    Mein Wünsche sind:

    • Mehr Rücksicht der Gesellschaft Gleichberechtigung

    • Anerkennung der Gebärdensprache (als Minderheitssprache für Gehörlosenbildung)

    Entfesselte Behinderte in den Neuen Medien

    Freude herrschte bei den Gehörlosen an einem Frühlingssonntag 1996, als die Wochenschau auf ORF 2 um 13.05 Uhr erstmals mit einer Gebärdensprachdolmetschung gesendet wurde, »Ein Meilenstein«, gebärdete sich der selbst gehörlose Präsident des Österreichischen Gehörlosenbundes, Prof. Peter Dimmel. Seit Jahren kämpften er und die ca. 8.000 gehörlosen Menschen in Österreich um eine offizielle Anerkennung der Gebärdensprache, wie es etwa in den USA und Skandinavien schon längst der Fall ist. Die Wochenschau als regelmäßiges Nachrichtenmagazin würde, so die Hoffnung der Gehörlosen, auch die Menschen mit ihrer Sprache vertraut machen. Medien prägen schließlich.

    Die Situation ein Jahr später: Ende April 1997 überreichen Gehörlosenvertreter Nationalratspräsident Fischer eine Petition, in der die Anerkennung der Gebärdensprache gefordert wird. Vom ORF verlangt man mehr Untertitel und mehr Gebärden am Schirm. Doch ob und wann diese Wünsche umgesetzt werden sollen, ist mehr als fraglich. Obwohl sich die Gebärdensprache in der Wochenschau sehr bewährt hat, besteht nach Auskunft von Intendant Nagiller »kein Bedarf an einer Zeit im Bild« in Gebärdensprache. Die technische Umgestaltung (= Platz für die Einblendung des Dolmetschers, dadurch würde etwa die schriftliche Headline wegfallen) »darf nicht auf Kosten der anderen Zuseher gehen« (Nagiller). Bleibt noch einiges an Meinungsbildung bei den Meinungsbildnern zu tun.

    Die neuen Medien wie CD-Rom oder Internet eröffnen behinderten Menschen aber auch eine Unzahl ungeahnter Möglichkeiten. So war es ein ungelöstes Problem, daß man beim Erlernen der Gebärdensprache die einzelnen Finger- und Handbewegungen sowie die dazugehörige Mimik nicht aufzeichnen und daher auch kein Vokabelheft führen konnte. Die Linzer Firma Fischer entwickelte mit Unterstützung des Unterrichts-, Sozial- und Familienministeriums das CD-Rom-Gebärdensprachlexikon »Mudra«. Durch die Vernetzung der Informationen und den raschen Zugriff auf einzelne Informationseinheiten kann man auf der CD-Rom sekundenschnell verschiedene Gebärden abfragen, die in Form von kurzen Filmen am Bildschirm präsentiert werden. Eingesetzt soll die CD-Rom vor allem im Bildungsbereich werden. Darüber hinaus werden derzeit praktische Anwendungen im Spitalsbereich erprobt. Vom Gesundheitsministerium wurde eine Spezialversion von »Mudra« in Auftrag gegeben, mit der Ärzte mittels der CD-Rom Sprachübersetzung von gehörlosen Patienten eine Diagnose erfragen können. Bisher pilgerten gehörlose Menschen aus ganz Österreich nach Linz ins Krankenhaus, weil dort ein Arzt der Gebärdensprache mächtig ist.

    Die Behinderung des nicht Hören-Könnens von Sprache fällt im Internet völlig weg. Gehörlose, die sich mittels Modern ins Internet einklinken, sind von den Kommunikationsmöglichkeiten überwältigt. Mit anderen Menschen ohne Probleme und schnell schriftlich »reden« zu können und das auch direkt, also online, war für viele ein neues Lebensgefühl. Während man bisher mittels Schreibtelefon nur mit anderen gehörlosen Menschen, die ein gleiches Gerät besitzen, in Kontakt treten konnte, hat man nun plötzlich einen nahezu unbegrenzten Zugang zu Menschen und Gruppen auf der ganzen Welt. Die Freude der Gehörlosen und ihr verständlicher Wunsch, anstelle der Schreibtelefone vom Sozialministerium PCs und Modems finanziert zu bekommen, stößt dort auf wenig Verständnis: »Die Aufwendungen für einen Personalcomputer sowie einen Internet-Anschluß können nicht als behinderungsbedingt angesehen werden und somit nicht gefördert werden«, schreibt Sozialminister Hums am 23. Februar 1996 auf eine diesbezügliche Anfrage an den Österreichischen Gehörlosenbund. Die Ablehnung erfolgt nicht aus finanziellen Gründen, da gehörlosen Menschen für einen Zeitraum von jeweils fünf Jahren ohnehin ein Betrag von insgesamt S 36.436,- als Zuschußleistung für Kommunikationshilfsmittel zusteht. In dieser Frage wird von den Gehörlosen noch einiges an Informationsarbeit zu leisten sein, bis auch das Sozialministerium das Internet nicht mehr als Spielerei, sondern als Möglichkeit des barrierefreien Kommunizierens von Gehörlosen erkennt.

    Auch in Österreich nützen Behinderte mehr und mehr die Möglichkeiten im Netz und surfen ohne Rollstuhl und Blindenstock auf den Informationswellen des Internet. Da gibt es beispielsweise die Möglichkeit, die www-Seite »Interabilist« des Behindertenberatungszentrum, BIZEPS abzurufen. Vermittelt werden politische Inhalte mit dem Ziel, AktivistInnen zu verflechten und »deutlich zu machen, daß es bei der Gleichbehandlung behinderter Menschen nicht um Integration aus Mitleid, sondern um ihre Rechte als Menschen geht«. In den Mailboxen Magnet und BlackBox gibt es Diskussionsforen zum Thema Behinderung, »wo versucht wird, das neue Medium für politische Aktivitäten zu nutzen. Als Robert Hochner in der ZIB 2 vom 29. 11. 95 in einem Beitrag über den englischen Physiker Stephen Hawking von einem »an den Rollstuhl gefesselten« Menschen sprach, rief Martin Ladstätter von BIZEPS zu einer Mailaktion auf. Und Robert Hochner antwortete: »Mir liegt es fern, die Gefühle der ZuschauerInnen zu verletzen, ob sie nun behindert sind oder nicht. Aber die von mir in Zusammenhang mit S. Hawking verwendete Formulierung war zumindest sachlich zutreffend. ( ... ) Ich würde die von Ihnen und (angesichts der E-Mail-Flut) auch anderen so heftig kritisierte Formulierung in anderem Zusammenhang sicher nicht verwenden. Wenn es aber nur um das Wort >gefesselt< geht, da läßt sich sicher eine andere Formulierung finden. Mit herzlichen Grüßen Robert Hochner.«

    Die Möglichkeiten der Nutzung von neuen Medien durch behinderte Menschen ist längst noch nicht ausgelotet. Es wird jedoch schon jetzt klar, daß es eine neue Chance ist, die Anliegen selbst darzustellen und für eine gerechtere, barrierefreie Welt zu kämpfen.

    Behinderte im Internet:

    BIDOK

    http://bidok.uibk.ac.at/

    BIZEPS-INFO

    http://www.bizeps.or.at/

    Mit dem ORF erarbeitete die AG »Behinderte Menschen und Medien« das Konzept der »Wochenschau in Gebärdensprache«. Die AG hat eine Punktation erarbeitet, die die wichtigsten Forderungen an Medienverantwortliche beinhaltet:

    Die Rolle behinderter Menschen in den elektronischen Medien. Die Darstellung Behinderter in Radio und TV.

    Punktation der Österreichischen AG »Behinderte Menschen und Medien«

    1) Recht auf gleichwertige Behandlung

    Behinderte Menschen haben ein Recht darauf, als gleichberechtigte, gleichwertige und selbstbestimmte Individuen behandelt und dargestellt zu werden. Das gilt für alle Behinderungsarten gleichermaßen.

    2) Behinderte sind ExpertInnen in eigener Sache

    Daher muß darauf geachtet werden, daß der Grundsatz »Betroffene berichten über Betroffene« möglichst umfassend eingehalten wird.

    3) Erfüllung des Behinderteneinstellungsgesetzes

    Jeder Medienträger muß ausreichend viele behinderte Menschen entsprechend ihren Ausbildungen beschäftigen. Da es wesentlich ist, daß Betroffene selbst ihre Anliegen darstellen und präsentieren, muß ihnen dazu in ihrem Arbeitsbereich Möglichkeit gegeben werden. Durch die gleichwertige Zusammenarbeit von behinderten und nichtbehinderten MitarbeiterInnen werden Inhalte und Darstellungsformen der Medienbeiträge wesentlich geprägt.

    4) Anbieten von Ausbildungsangeboten

    Nach dem Muster der BBC muß den behinderten Mitarbeitern eine entsprechende Ausbildung angeboten werden, damit diese selbst Beiträge gestalten und Redaktionen betreuen können.

    5) Schulung der MitarbeiterInnen

    Auch nichtbehinderte MitarbeiterInnen müssen im Umgang mit ihren behinderten KollegInnen geschult werden (z. B. Gebärdensprache). Betroffene müssen auch als Ausbildner fungieren: Das Vorbild eines Kollegen, einer Kollegin hat einen nachhaltigeren Effekt als die Belehrung der besten nichtbehinderten ExpertInnen.

    6) Recht auf eine nicht diskriminierende Darstellung

    In der Berichterstattung ist darauf Bedacht zu nehmen, daß behinderte Menschen nicht auf ihre Behinderung reduziert werden. Diskriminierende Darstellungsformen verbaler Art (z. B. »an den Rollstuhl gefesselt«) wie auch bildmäßiger Art (der Mensch verschwindet hinter seinem Hilfsmittel) sind zu vermeiden.

    7) Einstellung der »Schicksalsberichterstattung«

    Behinderte Menschen dürfen in der Berichterstattung nicht auf abstrakte Leidvorstellungen Nichtbehinderter reduziert werden. Behinderte Menschen als mediale »Schicksale« reißerisch und voyeuristisch zu präsentieren ist diskriminierend, verletzt die Würde des Menschen und ist daher einzustellen. Der Grundsatz einer ausgewogenen und sachlichen Information ist stets einzuhalten (z. B.: Welche speziellen Hilfen benötigt der Mensch, um seinen Bedürfnissen entsprechend leben zu können).

    8) Behinderte als mediale AlmosenträgerInnen

    Die Aktion »Licht ins Dunkel« schafft eine eigene Wirklichkeit. Behinderte kommen meist nicht oder als mitleiderregende Kreaturen vor. Die Sendungen sind voller Klischees, Scheinlösungen werden angeboten. »Licht ins Dunkel« ist inhaltlich und konzeptionell abzuändern oder in der derzeitigen Form einzustellen.

    9) Darstellung in allen Gestaltungsformen

    Der Medienträger muß Informationen über alle Aspekte, des Lebens behinderter Menschen verbreiten. Und zwar in Dokumentationen, Magazinen und Diskussionsforen ebenso wie in Filmen und Serien. Damit kann der Ausgrenzung behinderter Menschen begegnet werden.

    10) Medium für alle

    Es ist darauf Bedacht zu nehmen, daß auch sinnesbehinderte Menschen die Mediendarstellungen verfolgen können. Gehörlose Menschen sind im TV auf Untertitel bzw. Gebärdensprache angewiesen. Die Gebärdensprache entspricht der Kultur der Gehörlosen und ist insbesondere bei Informationssendungen und Livesendungen (wo eine Untertitelung nicht möglich ist) zu verwenden. Auch blinde Menschen konsumieren Fernsehen. Österreich soll, wie bereits in anderen Ländern üblich, den Zweikanaltonbereich als Erklärungsleisten für blinde Menschen nutzen.

    11) Einrichtung von Behindertenmagazinen

    Behinderte Menschen sind als Minderheit zu betrachten, die ihre eigenen Anliegen und Bedürfnisse hat. Die Zahl von Betroffenen und deren Angehörigen ist nicht unbeträchtlich (ca. 10 % der Bevölkerung). Um den Informationsbedarf dieser Gruppe zu entsprechen (z. B. auch Verwendung der Gebärdensprache), ist - wie es auch in anderen Ländern praktiziert wird - ein Behindertenmagazin einzurichten.

    12) Kooperation Behinderteninstitutionen und Medienträger

    Zwischen den Behindertenvereinen, -verbänden, Selbsthilfegruppen und den Medienträgern soll ein Informationsaustausch stattfinden, der durch neue Strukturen ermöglicht werden soll. Daher soll jeder Medienträger eine eigene Behindertenredaktion einrichten, der den Austausch nach außen, aber auch innerhalb der verschiedenen Redaktionen vollzieht.

    13) Behinderte als Entscheidungsträger

    Der Medienträger hat behinderte Menschen bei gleicher Qualifikation bevorzugt einzustellen. In Gremien, die in einer beratenden oder auch kontrollierenden Funktion dem Medienträger beigegeben sind, sind behinderte Menschen zu nominieren.

    14) Realisierung und Kontrolle

    Die oben angeführten Grundsätze müssen für alle Anbieter elektronischer Medien gelten (ORF und potentielle private Medienträger) und sind daher gesetzlich zu verankern. Notwendig ist die Erarbeitung eines Konzepts zur Realisierung der dringendsten Forderungen und deren Umsetzung. Das Konzept muß Angaben über die personelle Ausstattung, Kosten und Umsetzungstermine enthalten. Jährlich muß der Bundesregierung bzw. dem Parlament ein Bericht des Medienträgers über die Defizite bzw. die Erfolge erlegt werden.

    15) Gleichheitsgrundsatz

    Die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Mediengeschehen ist für die Festigung demokratischer Strukturen unverzichtbar.

    Im Blickpunkt: Jo / Die Isolation Gehörloser ist nicht selbstgewollt

    • Die Gehörlosen sind im Bereich von Kunst, Sport und Freizeit sehr selbständig.

    • Die Gehörlosen versuchen sehr wohl, ihre eigene Kultur dem Hörenden näherzubringen, aber erleben sehr oft Enttäuschungen und fühlen sich dadurch mißverstanden. Das ist ein Grund, warum Gehörlose gegenüber Hörenden ein gewisses Mißtrauen hegen.

    • Kunst, Sport und Freizeit werden überhaupt nicht als integrativ erlebt, sondern die Gehörlosen müssen zuerst durch den »Dschungel« von Vorurteilen kämpfen, um respektiert zu werden. Das gelingt nur in ganz wenigen Ausnahmen. Dabei haben Gehörlose sehr wohl beeindruckende Leistungen vorzuweisen. Viele werden nur deshalb daran gehindert, ihre Leistungen zu zeigen, weil sie eben »gehörlos« sind. Man braucht nur das Wort »gehörlos« erwähnen, und schon wird man abgewiesen.

    • Die bisherige Situation ist das Resultat eines ständigen Mißverständnisses. Hier hilft nur gegenseitiger Respekt.

    Zünd an ein Licht - erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann stehen die Krüppel in der Fernseh-Himmelstür

    Das erste Licht: Anstelle einer Vorgeschichte

    Hochsommer war es. Ich komme mit meinem Auto nach Hause. Gut gelaunt, nur etwas müde. Also entschließe ich mich, jemanden anzusprechen, damit er mir den Rollstuhl aus dem Auto hebt. Ein junger Mann eilt an mir vorbei. Ich rufe ihm nach: »Entschuldigung!« Er bleibt stehen, dreht sich um, sieht mich, einen Behinderten, der auf Stützapparaten vor seinem Auto steht. Der junge Mann zuckt die Schultern: »Tut mir leid, ich hab kein Geld!« Mein Magen krampft sich zusammen. Immer dieses Licht-ins-Dunkel-Syndrom!

    Das zweite Licht: Die helle Weit des Ernst Wolfram Marboe und seiner Nachfolger

    Wo sind sie hin die Zeiten, in denen Ernst Wolfram Marboe, der Gründer der Sendung »Licht ins Dunkel«, auftrat und man wußte: Jetzt ist es Weihnachten. Unvergeßlich werden uns Szenen wie jene bleiben, in denen Almut und ihre Mutter, NRAbg. Helene Partik-Pablé, zu Gast bei Marboe waren:

    Marboe begrüßt die Mutter von Alma. Alma faßt er mit der linken Hand am Ärmel, worauf Almut ihm ihre rechte Hand hinstreckt. Marboe überlegt, wechselt dann seine Hand und begrüßt Almut mit den Worten »Grüß dich, servus«.

    Es folgt ein langes Gespräch zwischen Mutter und Moderator. Almut selbst wird von der Mutter immer wieder aufgefordert, etwas zu sagen. Sie setzt zwar ein paar Mal an, die Sendezeit erlaubt es Marboe aber offenbar nicht, Almut genug Zeit zu lassen, damit sie ihre Gedanken in Worte kleiden kann. Nur einmal beginnt Almut zu erzählen:

    »P.: Almut hat etwas mitgebracht. Schatzi, gib es ( ... )

    (Almut gibt Marboe ein selbstgebasteltes Schwein)

    Sag etwas dazu, sag was! Almut. Das habt ihr ...

    Almut: ... in der Anonigasse, Schultruppe (!!Schnitt)

    P.: Ich habe hier eine Kette mitgebracht ( ... ).«

    Was Almut sagen wollte, bleibt ein Rätsel. Denn der aufgezeichnete Beitrag wurde an dieser Stelle geschnitten. Man darf annehmen, daß Almut »zu langwierig« oder auch »zu umständlich« in den Augen von E. W. Marboe war. Behinderte müssen sich eben ihrer Grenzen bewußt sein. So läßt man auch heute noch fast zur Gänze Nichtbehinderte über die Situation der armen behinderten Menschen berichten.

    Das dritte Licht: Wie »Licht ins Dunkel« die Welt verändert

    Die Konfrontation mit Behinderten erzeugt allgemein vielfach Unsicherheit bis Angst (ÖAR 1985, 8 1). Gegen diese Emotionen wird eine Vielzahl von Abwehrmechanismen entwickelt. Die Palette reicht von Flucht, Abwertung, Overprotection bis zu Vorurteilen. Man muß auch nicht mehr unsicher sein, »wenn man ja immer schon gewußt hat, wie Behinderte sind« (ÖAR 1985, 81). Diese Klischeebilder sind Teil der Fernsehwirklichkeit von »Licht ins Dunkel«. Watzlawick beschreibt, wie jede neue Wirklichkeit sofort nach einer neuen Ordnung sucht. Begriffe müssen neu definiert werden, Harmonie wird angestrebt. Das neugeschaffene System lernt selbständig aus den Reflexen, die es als Rückmeldung von Maßnahmen bekommt. Nach einiger Zeit ist nicht mehr eindeutig, was als Reaktion auf was zu werten ist: Ist der Reflex die Konsequenz auf die Maßnahme oder die Maßnahme die Konsequenz auf den Reflex? Watzlawick vergleicht das mit dem Pferd, das gelernt hat, daß nach jedem Glockensignal einer seiner Hufe einen leichten elektrischen Schlag bekommt. Mit der Zeit hebt es nach jedem Glockenzeichen automatisch den Huf. Auch wenn es schon seit langer Zeit keine elektrischen Schläge mehr gibt (Watzlawick 1983, 57). Auf »Licht ins Dunkel« umgemünzt, drängt sich die Frage auf, ob diese Fernsehrealität funktioniert, weil sie den Einstellungen des Publikums entspricht; oder ob viele spendende Rezipienten gerne die vorgesetzte Fernsehrealität annehmen.

    In der Analyse von »Licht ins Dunkel« (Huainigg/Schönwiese, 1995) kamen kaum Behinderte vor (ZS Präsent 1988). Die meisten Aktionen standen unter dem Motto: »Etwas für Behinderte tun«. Völkstumsgruppen und klassische Orchester spielten auf, PolitikerInnen und SchauspielerInnen, Prominente und weniger Prominente ... traten auf, sagten, daß sie etwas »für die >Aktion Licht ins Dunkel<« getan hätten. Hier stand also eindeutig die Aktion selbst - vor ihren Motiven - im Vordergrund.

    Licht vier: Hoffentlich Ihr eigenes!

    Wenn heuer wieder »Licht ins Dunkel« über die Bildschirme flimmert, sehen Sie es sich skeptisch an: Wofür wird gespendet? Kommen wieder die »ewigen Kinder« vor (= Sorgenkinder)? Wird von Integration geredet und Ghettoisierung gezeigt? Kommen Betroffene selbst zu Wort? Wie oft wird betont, daß es sich um »österreichische behinderte Kinder in Österreich« handelt?

    Noch ein letzter Tip: Zeichnen Sie die Sendung auf Ihrem Videorekorder auf und sehen Sie sich das Video im Hochsommer an. Ein einzigartiger Lacherfolg ist Ihnen garantiert!

    Internationaler Vergleich der TV-Anstalten*

    * Internationaler Vergleich der TV-Anstalten. Entnommen dem Buch »Schicksal täglich«. Wien/Innsbruck 1996.

    In der Erhebung zur Studie »Schicksal täglich« wurden die wichtigsten europäischen und amerikanischen Fernsehstationen miteinbezogen. Unserer schriftlichen Einladung, sich an der Erhebung zu beteiligen, folgten zahlreiche Briefe mit einer Art Selbstdarstellung. Die Antworten erfolgten sehr ehrlich und sind auch sehr unterschiedlich ausgefallen. Vor allem differieren die Ansätze der einzelnen TV-Anstalten sehr. Wir stellten folgende Fragen:

    1. Inwieweit sind Behinderte derzeit in die inhaltliche und gestalterische Arbeit Ihrer Sendeanstalt eingebunden?

    2. In welchen Gremien arbeiten Behinderte in welcher Form mit?

    Auf diese beiden Fragen antworteten die meisten Sendeanstalten, daß behinderte Menschen integriert sind. In vielen Ländern gibt es - wie in Österreich - eine Art »Behindertenquote« (analog der »Frauenquote«), die es zu erfüllen gilt. Auf die Programm- und Sendungsgestaltung können allerdings nur sehr wenige behinderte Beschäftigte Einfluß nehmen, da sie kaum entsprechende Posten einnehmen. Auch in entscheidenden Gremien finden sich kaum Behinderte. Gleichzeitig versichern die Anstaltsverantwortlichen jedoch, daß die Sendeanstalt keine Vorurteile gegen behinderte Menschen hegt. Der mangelhafte Beschäftigungsgrad wird von den meisten mit der schlechten Ausbildung der Behinderten begründet. Es wird jedoch kein eigenes Ausbildungsprogramm angeboten. Die große Ausnahme: BBC. Dort gibt es ein eigenes Aus- und Weiterbildungsprogramm für angestellte Behinderte. Es werden allerdings nicht nur die Behinderten weitergebildet, sondern auch die nichtbehinderten Angestellten im Umgang mit ihren behinderten KollegInnen.

    Eine interessante Situation gibt es auch in Australien. Durch das dort eingeführte Antidiskriminierungsgesetz sind die dortigen Sendeanstalten gezwungen, Behinderte anzustellen. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit den Behindertenvereinen und -verbänden. Da der Ausbildungsgrad oft nicht den Anforderungen entspricht, man aber dennoch gezwungen ist, behinderte Menschen anzustellen, ist man bei der TV-Anstalt dazu übergegangen, eigene Ausbildungsprogramme für behinderte Menschen zu entwickeln.

    3. Welche Sendungen werden für Gehörlose untertitelt? Ist an eine Ausweitung gedacht?

    Eine überwiegende Zahl der Sendeanstalten bietet ein Teletextservice an. Vor allem skandinavische Länder offerieren dieses Service nicht speziell gehörlosen ZuseherInnen, sondern untertiteln Sendungen, anstatt sie zu synchronisieren. Ausnahmen bestätigen die Regel: Die Deutsche Welle beispielsweise meldet »keinen Bedarf« seitens der Gehörlosen an (während der WDR einen »großen Bedarf« ortet). Moldawien hat andere Probleme: Dort würde man zwar gerne untertiteln, hat aber dazu keine SpezialistInnen. Eine Zusammenarbeit mit anderen Sendern, etwa dem ORF, wäre dringend erwünscht.

    Norwegen denkt schon in anderen Dimensionen: Alle Programme seien untertitelt, und man denke im norwegischen Fernsehen bereits daran, ein System für aktuelle (=live) Sendungen zu erarbeiten. Dies ist ja bisher nicht möglich. Mit diesem System sollen dann auch Shows für gehörlose Menschen mitverfolgbar sein. Ähnlich gut geht es gehörlosen Menschen in Dänemark.

    4. Wie steht Ihre Sendeanstalt zu einem Magazin, in dem behinderte Menschen selbst mitgestalten und -präsentieren?

    An den Antworten auf diese Frage waren die unterschiedlichen Einstellungen der Sendeanstalten ablesbar. Während vor allem die deutschen Sendeanstalten keinen Wert auf eine eigene, von behinderten Menschen mitgestaltete Sendung legen, ist sie in den meisten anderen Ländern bereits eine nicht mehr wegzudenkende »Einrichtung«. Das ZDF beispielsweise lehnt ein eigenes »Behindertenprogramm« mit der Feststellung ab, daß Behinderung eine »Querschnittsmaterie« sei. Also sollen diese Themen in allen Programmen vorkommen. Das ist jedoch nur in einem sehr eingeschränkten Rahmen der Fall, und der Vergleich mit anderen Ländern (mit eigenen Behindertensendungen) fällt nicht gerade zugunsten des ZDF aus. Beim ZDF setzt man den Behindertenschwerpunkt mit der »Aktion Sorgenkind«. In dieser Sendung dürfen sich KünstlerInnen und andere Veranstalter (auch das ZDF) selbst darstellen, wenn sie für Behinderte Geld gesammelt haben. In der Sendung gibt es auch ein Preisrätsel - man kann gewinnen. Behinderte selbst kommen in diesen Sendungen nicht vor. Auch untertitelt werden die »Aktion Sorgenkind«-Sendungen »aus programmtechnischen Gründen« nicht. Eine ähnliche Situation gibt es beim israelischen Fernsehen: Spendenaktionen, aber keine Sendungen, in denen Behinderte ihre Situation selbst präsentieren können. Auch im belgischen Fernsehen wird gesammelt - immerhin aber nur alle zwei Jahre, und man gesteht den behinderten Redakteuren eine eigene Sendung zu, die monatlich ausgestrahlt wird.

    Zahlreiche Sender haben eigene »Gehörlosenmagazine«, die von Gehörlosen selbst produziert werden. Im Deutschen und Schweizer Fernsehen heißt die Sendung »Sehen statt hören«. Irland sendet »Sign of the Times«, ein sehr modernes und gutes Magazin, das offenbar ganz stark von der Geldfrage abhängt. Das Schweizer Fernsehen gibt zu, daß die Sendung »Sehen statt hören« sehr schwach finanziell dotiert ist, da die Reichweiten sehr gering sind. Irland hat mit seinem Magazin jedoch sehr gute Erfahrungen gemacht und durch die gute Aufmachung auch genug ZuseherInnen.

    Vorreiter sind wieder die skandinavischen Länder: Norwegen besitzt eine Gehörlosensendung, eine Sendung für gehörlose Kinder, eine tägliche Infosendung in Gebärdensprache (und das neben den Untertitelungen). Auch Tschechien bringt zweimal am Tag Nachrichten für Gehörlose. Und es gibt ebenfalls ein TV-Magazin für Kinder in der Gebärdensprache. Wichtige Parlamentsreden werden grundsätzlich in der Gebärdensprache übertragen.

    Die BBC zeigt auch bei der Frage nach »Behindertenmagazinen«, wo es langgehen sollte: Es gibt eigene Sendungen für gehörlose Erwachsene, eigene Sendungen für gehörlose Kinder. Und man bietet Sendungen für Menschen mit anderen Behinderungen an. Die englische TV-Anstalt ITV produziert das »Link Program«, in dem behinderte Menschen ihre Anliegen selbst darstellen können. Diese Sendung hat einen derart großen Erfolg, daß sogar gesetzliche Veränderungen durch die Ausstrahlung dieser Sendung erzielt werden konnten. Die in Deutschland produzierten Magazine »normal« (Deutsches Sportfernsehen) und »Selbstbestimmt« (Mitteldeutscher Rundfunk) nehmen sich hingegen sehr sanft und mild aus.

    Erstaunlicherweise hat sogar die TV-Anstalt in Moldawien ein eigenes Magazin für behinderte Kinder. Dort ist diese Sendung ebenso selbstverständlich wie in der Slowakei, wo man sich zur Präsentation von Sendungen durch behinderte Menschen bekennt. Solche Sendungen, heißt es von der dortigen TV-Anstalt, »erzeugen Authentizität« und seien zweckmäßig.

    5. Welche Sendungen sind für 1994 zu dieser Thematik geplant?

    6. Weiche Überlegungen gibt es, die Situation von behinderten Menschen in der zukünftigen Programmgestaltung zu berücksichtigen? Gibt es dafür schon Konzepte?

    Zwei Sender, nämlich ITV (England) und das ZDF, planen Versuche in der Ausstrahlung für blinde Menschen. Diese sollen durch einen individuell zuschaltbaren Tonkanal Bilderklärungen mit ins Haus geliefert bekommen. ITV nennt sein System »Audetel«. Der ZDF versucht es über den Stereokanal.

    Ansonsten gibt es in naher Zukunft wohl nicht viel Neues: Algerien hat mit Behinderten nach wie vor keine Erfahrungen. Und der Bayerische Rundfunk versucht in seiner medizinischen Sendung »Lebenslinien« weiterhin Verständnis zwischen Behinderten und Nichtbehinderten zu erzeugen.



    [5] Der vorliegende Beitrag ist im wesentlichen eine - um den wichtigen Bereich des Gehörlosentheaters - erweiterte und aktualisierte Fassung eines anläßlich des von SOB 31 organisierten »Kulturfestivals für behinderte Menschen für Alle« entstanden und in Die Furche (Nr. 23/96, S. 18, Titel: Therapie oder echtes Künstlertum) in gekürzter Form veröffentlichten Artikels.

    Teil III- Anhang

    1. Behindertenverbände und Initiativgruppen

    BIDOK – Behindertenintegrations-Dokumentation

    Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck

    Liebeneggstraße 8, A-6020 Innsbruck

    E-Mail-Adresse: Integration-ezwi@uibk.ac.at

    Tel.: 0512/5074038, Fax: 05125072880

    Webseite: http://bidok.uibk.ac.at

    Blindenverband

    Inhalt und Tätigkeit des Vereines siehe Interview mit Klaus Martini. Adresse: Österreichischer Blindenverband, Hägelingasse 4-6,

    1140 Wien, Tel.: 01/9827584-0

    Blickkontakt

    Speisingerstraße 119, 1230 Wien, Tel.: 01/409 82 22

    Gehörlosenbund

    Inhalt und Tätigkeit des Vereines siehe Interview mit Prof. Dimmel. Adresse: Österreichischer Gehörlosenbund, Auf der Halde 9,

    4060 Linz, Fax: 0732/777041, Schreibtelefon: 0732/777619

    Integration:Österreich

    Integration:Österreich ist eine Vereinigung der Elterninitiativen aus den Bundesländern für gemeinsames Leben und Lernen behinderter und nichtbehinderter Menschen. In den letzten Jahren haben wir es aus der Kraft unserer Mitglieder geschafft, die Schule vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dem unbezahlten Einsatz von Eltern und LehrerInnen ist es zu danken, daß heute Kinder mit Behinderungen mit nichtbehinderten Kindern in die Volksschule gehen können und dort trotzdem eine Förderung bekommen, die ihnen gerecht wird. Nach Jahren des losen Zusammenschlusses der einzelnen Bundeslandinitiativen haben wir uns am 30. Oktober 1993, in Feldkirch, beim 9. österreichweiten Symposium für Integration behinderter Menschen zum bundesweitem Verband »Integration:Österreich« zusammengeschlossen.

    Die inhaltliche Grundlage zur Tätigkeit des Vereins »Integration:Österreich« bildet deren Charta, die jedes Mitglied unterzeichnen muß:

    Gemeinsames Leben von behinderten und nichtbehinderten Menschen stellt einen Wert für die gesamte Gesellschaft dar und ist für alle ihre Mitglieder in gleicher Weise förderlich. Dies gilt für alle Lebensbereiche, Altersstufen und Entwicklungsphasen und unabhängig von Art und Schwere der Behinderung. Durch eine konsequente Gleichstellung behinderter und nichtbehinderter Menschen - unter gleichzeitiger Anerkennung der Unterschiedlichkeit jedes Menschen - erfährt das gesellschaftliche Leben jene Vielfalt und Bereicherung, die für die Entwicklung der gesamten Gesellschaft wichtig und sinnvoll ist. Werte wie Frieden, Gleichberechtigung, Solidarität, Geschwisterlichkeit und Demokratie werden erst durch die volle Integration aller Menschen unter Rücksichtnahme auf ihre allgemeine Gleichheit und Unterschiedlichkeit glaubwürdig und stabil in unserer Gesellschaft verankert. Jeder Mensch in unserer Gesellschaft hat das Recht auf Entfaltung innerhalb der Gemeinschaft, auf individuelle Zukunftsgestaltung sowie auf die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Einrichtungen und Aufgaben. Jeder Mensch ist prinzipiell erziehungs-, bildungs- und entwicklungsfähig. Jede Einstufung als integrations-, schul- oder bildungsunfähig ist ein Verstoß gegen formulierte Menschenrechte (z. B. Art. 2 des ZP zur MRK). Durch keinerlei Aussonderung behinderter Kinder bzw. Jugendlicher und Erwachsener aus Erziehungs- und Bildungseinrichtungen (Kindergarten, Schule, Berufsausbildung, Einrichtungen der Erwachsenenbildung usw.) ergeben sich wesentliche Impulse für die Persönlichkeits-, Bildungs- und Einstellungsentwicklung aller Beteiligten. Die unter Nichtaussonderung gebotene Rücksichtnahme auf individuelle Fähigkeiten, Möglichkeiten und Unterschiede kommt der Entwicklung der Fähigkeiten aller zugute. Auch fördert sie das Selbstwertgefühl als wichtige Grundlage für die Entwicklung gegenseitiger Akzeptanz, Toleranz und Verantwortlichkeit. All das für den Bildungsbereich Formulierte gilt entsprechend auch für alle übrigen gesellschaftlichen Lebensbereiche, wie Wohnen, Arbeit, Verkehr, öffentlicher Raum usw. und ist unverzichtbare Voraussetzung für den Aufbau und Bestand einer demokratischen Gesellschaft.

    Es widerspricht allen genannten Grundsätzen, von irgendeiner Personengruppe in irgendeiner Lebensphase von »lebensunwertem Leben« zu sprechen.

    Integration ist:

    • ein lebenslanger Prozeß der Nichtaussonderung, gleichgültig, welche Normabweichung (Behinderung, psychische Erkrankung) jemandem zugeschrieben wird;

    • die Akzeptanz von Individualität als natürlicher Grundlage eines gleichberechtigten Zusammenlebens;

    • ein Leben in Würde und Selbstbestimmung innerhalb der Gemeinschaft;

    • ein durch Beschlüsse internationaler Organisationen formuliertes Menschenrecht.

    Adresse: Integration-Österreich, Wurzbachgasse 20, 1150 Wien, Tel.: 01/7891747

    Kriegsopfer- und Behindertenverband

    Der Krieg war zu Ende. Wien und große Teile des Bundesgebietes lagen in Trümmern. Die Not der Bevölkerung war unbeschreiblich, das öffentliche Leben zusammengebrochen. Am 17. 4. 1945 wurde General a. D. Theodor Körner von der Besatzungsmacht zum Bürgermeister von Wien ernannt. Am selben Tag wurde auch gleich nach Beendigung der Kampfhandlungen - so wie damals nach dem 1. Weltkrieg - die Kriegsopferorganisation gegründet. Nicht nur die Kameraden des 1. Weltkrieges fanden sich zusammen, sondern auch viele junge Kriegsbeschädigte des 2. Weltkrieges schlossen sich an, um in demokratischer Tradition, ohne Rücksicht auf politische Weltanschauung oder religiöses Bekenntnis, gestützt auf den guten Willen, die Organisation aufzubauen. Der Personenkreis der Kriegsopfer war jener, der wohl am nachhaltigsten an den Folgen der Schrecken des Zweiten Weltkrieges zu leiden hatte und noch immer hat. Nach über 50 Jahren nach Beendigung dieses schrecklichen Krieges leben in Österreich noch immer an die 100.000 Kriegsopfer, eine Zahl, die sehr deutlich zeigt, wie lange kriegerische Auseinandersetzungen nachwirken. Der KOBV hatte auf die Kriegsopfer- und Behindertengesetzgebung auf Bundesebene in Österreich wesentlichen Einfluß (Kriegsopfer- und Heeresversorgung, Behinderteneinstellungsgesetz, Steuerrecht für Behinderte, Bestimmungen für behinderte Autofahrer, Bundesbehindertengesetz, Tabakmonopolgesetz, Pflegegeldgesetz etc.). Aber nicht nur auf dem Gebiet der Gesetzgebung für Behinderte hat der KOBV immer wieder aktiv mitgearbeitet, sondern war in den vergangenen Jahrzehnten durch die rechtliche Vertretung seiner Mitglieder in Ämtern, Behörden und Gerichten bemüht, auch für eine entsprechende tatsächliche Umsetzung der gesetzlichen Normen zum Wohle der Kriegsopfer und Behinderten Sorge zu tragen.

    Adresse: KOBV, Lange Gasse 53, 1080 Wien, Tel.: 01/4061586

    Lebenshilfe Österreich

    Die Lebenshilfe Österreich ist die Interessenvertretung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung und deren Angehörigen und versteht sich als Mutmacher und Schrittmacher für diesen Personenkreis. Ursprünglich - in den 60er Jahren - entstanden als Selbsthilfe, sind wir heute eine Vereinigung von Eltern bzw. Angehörigen und Freunden von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung sowie der behinderten Menschen selbst. In dieser Funktion fassen wir Stimmen und Wortmeldungen jener Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung nicht oder nur bedingt für sich selbst sprechen können, in Worte. Immerhin können wir auf eine Mitgliederzahl von mehr als 20.000 verweisen.

    Etwa sechs von tausend Menschen leben mit einer geistigen Behinderung. Hochgerechnet für Österreich bedeutet das, daß mehr als 47.000 Menschen geistig behindert sind. Damit sie ein Teil unserer Gemeinschaft sein und ein Leben so normal wie möglich führen können, brauchen sie Begleitung und Unterstützung. Etwa 300.000 Angehörige tragen diese besondere familiäre Aufgabe.

    Die Lebenshilfe, weder parteipolitisch noch konfessionell gebunden, ist eine föderalistisch organisierte Institution, mit acht Landesvereinen - Sie finden uns in jedem Bundesland außer im Burgenland - und dem Dachverband mit Sitz in Wien.

    Seit 1992 bietet das Fortbildungsinstitut der Lebenshilfe Österreich Aus- und Fortbildung für Mitarbeiter/innen, Eltern und geistig behinderte Menschen an.

    Seit mehr als 25 Jahren vertritt die Lebenshilfe die Interessen von geistig und mehrfach behinderten Menschen und deren Angehörigen und ermutigt behinderte Menschen, soweit möglich, ihre Interessen auch selbst zu vertreten. Als Selbsthilfeorganisation der ersten Stunde führen die Landesvereine der Lebenshilfe in ganz Österreich begleitende Dienste für unsere behinderten Mitbürger/innen. Die Lebenshilfe setzt sich für alle Maßnahmen ein, die Menschen mit Behinderung ein Leben in unserer Mitte ermöglichen und ein menschenwürdiges Dasein sichern. Und das von der Frühförderung bis zur Altenbetreuung.

    Wir verstehen unter geistiger Behinderung die Folgen, die aus einer organischen Schädigung des Gehirns oder des Zentralnervensystemes kommen. Menschen mit geistiger Behinderung können auch mehrfach behindert sein, wenn eine körperliche oder eine Sinnesbehinderung zusätzlich vorhanden ist.

    Wir engagieren uns als großer Familienverband und Interessenvertretung für die Anliegen aller geistig und mehrfach behinderter Menschen und deren Angehörigen. Die Schwerpunkte sind:

    • gegenseitige Ermutigung und Hilfe

    • Eintreten für die - bzw. Verankerung der - Rechte unserer geistig

    • behinderten Mitbürger/innen und deren Angehörigen

    • Eintreten für die Schaffung und Führung von Förderdiensten

    • Weckung von besserem Verständnis für Menschen mit geistiger Behinderung und ihrer Familien in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft

    • Öffentlichkeitsarbeit

    • Schaffung und Weiterentwicklung der pädagogischen Grundlagen

    • der Arbeit für Menschen mit geistiger Behinderung

    • Fortbildung von Mitarbeiter/innen

    Diese Schwerpunkte werden von uns sowohl in unserer Funktion als Interessenvertretung als auch als Träger von Förderdiensten und Einrichtungen in unseren Landesvereinen umgesetzt. Wir schaffen nicht nur Modelle, die Qualitätskriterien für das Leben geistig behinderter Menschen vorgeben, sondern orientieren unsere Arbeit auch an den Forderungen der modernen pädagogischen Erkenntnisse. Die Landesvereine der Lebenshilfe führen mit rund 2.600 Mitarbeiter/innen an die 250 verschiedenen Förderdienste, in denen mehr als 6.100 Förderplätze zur Verfügung stehen.

    Adresse: Lebenshilfe Österreich, Schönbrunner Straße 179,

    1120 Wien, Tel.: 01/8122642

    Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation

    Tätigkeit und Inhalt des Vereines siehe Kapitel »Und es bewegt sich doch. Die Behindertenbewegung und ihre Geschichte«.

    Adresse: ÖAR, Stubenring 2/1, 1010 Wien, Tel.: 01/5131533

    Österreichischer Zivilinvalidenverband

    Der ÖZIV ist ein seit 1962 existierender Verein, der derzeit österreichweit ca. 25.000 Mitglieder hat. Um den vielseitigen Aufgaben und Zielsetzungen in bestmöglicher Form gerecht zu werden, ist der Verein in neun Landesverbände und zahlreiche Bezirks- und Ortsstellen gegliedert.

    Der ÖZIV sieht sich als Interessenvertretung und versucht über die Politik - siehe Pflegegeldgesetzwerdung - von der oftmals zitierten Integration und Chancengleichheit etwas zu verwirklichen. Aufgrund der derzeitigen europaweiten Sparpolitik versucht der ÖZIV, die in den letzten Jahrzehnten (Weiterentwicklung!) erreichten Verbesserungen zu erhalten. Weiters wird der Verband intern umstrukturiert und reorganisiert, wodurch man hofft, effizienter und stärker als bisher die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Insgesamt umfassen die Aufgaben folgende Bereiche:

    • Vertretung der Anliegen und Interessen von behinderten Menschen in allen Bereichen. Dies umfaßt insbesondere die Themen Integration, Rehabilitation, Barrierenabbau und Gleichbehandlung.

    • Erarbeitung von Problemlösungen und zukunfsweisenden Modellen.

    • Schaffung von Bewußtsein für die Probleme des von uns vertretenen Personenkreises auf breiter gesellschaftspolitischer Ebene.

    • Stärkung des Selbstbewußtseins der Betroffenen. Beratung und Information in allen für behinderte Menschen relevanten Themen.

    Adresse: Österreichischer Zivilinvalidenverband, Stubenring 2/1/4, 1010 Wien, Tel.: 01/5131535.

    Selbstbestimmt-Leben Österreich

    Selbstbestimmt-Leben Tirol

    Michael Gaismayrstraße 5, 6020 Innsbruck sli@net4you.co.at , Tel.: 0512/578989, Fax 0512/578989

    Selbstbestimmt-Leben-Initiative Linz

    c/o Klaudia Karoliny, Olof-Palme-Weg 1/1, 4030 Linz,

    swrgkaro@aon.at , Tel.: 0732/304433, Fax 0732/3174084

    Selbstbestimmt-Leben-Initiative Salzburg

    c/o Friederike Daringer, Eugen Müllerstraße 4 l/Top 60, 5020 Salzburg, Tel.: 0662/436378

    Selbstbestimmt-Leben-Initiative Graz

    c/o Wolfgang Mizelli, Schumanngasse 24, 8020 Graz, Tel.: 0316/356901 woolf@magnet.at

    BIZEPS - Zentrum für Selbstbestimmtes Leben

    Kaiserstraße 55/3/4a, 1070 Wien, office@bizeps.or.at , Tel.: 01/5238921, Fax 01/5238921 20 Selbstbestimmt-Leben-Initiative Wien c/o Bernadette Feuerstein, Laxenburgerstraße 28, 1100 Wien, bemadette.feuerstein@blackbox.at , Tel.: 01/602 57 76

    WITAF

    Kleine Pfarrgasse 33, 1020 Wien Tel.: 01/21608 150

    2. Quellen, Literatur und Abkürzungen

    Verwendete Literatur

    1. Internationales D.E.A.F.-Gebärdensprachfestival am 4. Oktober 1997 in Wien - Tagungsbericht von Helene Jarmer, Günter Roiss und Jo Spelbrink, Wien 1998.

    1. Österreichisches Gehörlosentheater-Festival für gehörloses und hörendes Publikum. Informationsheft, hrsg. von ARBOS, Gesellschaft für Musik und Theater, Wien 1998.

    Aly, Götz: Die heimtückischen Gefühle von Eltern. Sozial Extra, 11/1990.

    Intako - Zeitgenössischer Tanz für Behinderte und Nichtbehinderte. Dokumentation 1995.

    Judmayer, Irene: Aus Lust am Spiel. Phantasievolles Multi-Media-Spektakel im tschechischen Krumau. In: Oberösterreichische Nachrichten v. 15. Juli 1995.

    Klee, Ernst: »Durch Zyankali erlöst«. Sterbehilfe und Euthanasie heute. Frankfurt (Fischer Verlag) 1990.

    Menzen, Karl-Heinz: Wiener Projekte. Künstlerische Therapie mit verhaltenseingeschränkten und -verunsicherten Menschen. In: Kunst und Therapie II. Projekte in Kunst und Therapie. Hrsg. v. Studierenden und Absolventen der Hochschule für angewandte Kunst in Wien in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Menzen. Wien 1996.

    Tolmein Oliver: Geschätztes Leben. Die neue »Euthanasie«-Debatte. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1990.

    Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (ÖAR): Behinderte Menschen und Massenmedien. Behindern die Massenmedien behinderte Menschen? Behindern behinderte Menschen die Massenmedien? 7. Internationaler Kongreß für Sozialarbeit und Rehabilitation 5.-8. August 1985. Wien 1985.

    Profil Nr. 6 vom 5. Februar 1996. Reinatter, Andreas/Rubisch, Max: Bericht zur Lage behinderter Menschen. Freizeit, Mobilität, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Wien 1999.

    Rutenfrans, Chris: Theorie und Praxis der niederländischen »Euthanasie«. In: Die Randschau - Zeitschrift für Behindertenpolitik, Heft 4/1995.

    Sterbehilfe hat sich verselbständigt. In: Monat - Monatsbericht der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, Nr. 3/98, Seite 1-3.

    Tagungsbericht: 1. Internationales D.E.A.F-Gebärdensprachfestival am 4. Oktober 1997.

    Watzlawick, Paul: Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. Zürich 1981.

    Watzlawick, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn - Täuschung - Verstehen. 10. Auflage. München/Zürich 1983.

    Wie behindertengerecht sind Österreichs Kultureinrichtungen. Hrsg.: Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG) und Institut für Soziales Design, Wien 1993.

    Zeitschrift Präsent: Behinderte Menschen sind in den Medien zu wenig vertreten. Erste Integrationsklasse Österreichs. Wien, 15. 12. 1988

    Abkürzungen
    Abkürzung Bedeutung
    Abg. z. NR

    Abgeordnete(r) zum Nationalrat

    AHS

    Allgemeinbildende Höhere Schule

    AMS

    Arbeitsmarktservice

    ARGE

    Arbeitsgemeinschaft

    ASVG

    Allgemeine Sozialversicherungsgesetz

    AUV

    Allgemeine Unfallversicherung

    AUVA

    Allgemeine Unfallversicherungsanstalt

    AVS

    Arbeitsvereinigung der Sozialhilfeverbände in Kärnten

    b:1

    Zeitschrift betrifft:Integration

    BIZEPS

    Verein »BIZEPS«

    BMUK

    Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten

    BP

    Bundespräsident

    BRD

    Bundesrepublik Deutschland

    BSB

    Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen

    EU

    Europäische Union

    EUCREA

    European Network on Creativity by and for disabled persons

    FPÖ

    Freiheitliche Partei Österreichs

    GB

    Großbritannien

    GuKG

    Gesundheits- und Krankenpflegegesetz

    HAK

    Handelsakademie

    HELIOS

    Aktionsprogramm der Europäischen Kommission zugunsten von Behinderten

    HJ

    Hitler-Jugend

    i:ö

    Verein Integration-Österreich

    ILM

    Independent Living Movement

    IMOHI

    Initiative Mobiler Hilfsdienst

    KFZ

    Kraftfahrzeug

    KOBV

    Kriegsopfer- und Behindertenverband

    LBG

    Lautsprachbegleitende Gebärde

    LIA

    Landesinvalidenamt, heute: Bundessozialamt

    MA

    Magistrat der Stadt Wien

    MOHI

    Mobiler Hilfsdienst

    NL

    Niederlande

    NR

    Nationalrat

    NS

    Nationalsozialismus

    ÖAR

    Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation

    ÖBB

    Österreichische Bundesbahnen

    ÖBV

    Österreichischer Blindenverband

    ÖH

    Österreichische Hochschülerschaft

    ÖHTB

    Österreichisches Hilfswerk für Taubblinde und hochgradig Hör- und Sehbehinderte

    Oberösterreich

    ORF

    Österreichischer Rundfunk

    övp

    Österreichische Volkspartei

    öziv

    Österreichischer Zivilinvalidenverband

    PVA

    Pensionsversicherungsanstalt

    RZ

    Rehabilitationszentrum

    SchOG

    Schulorganisations-Gesetz

    SchUG

    Schulunterrichts-Gesetz

    SLlö

    Selbstbestimmt-Leben-Initiativen Österreich

    Spö

    Sozialdemokratische Partei Österreichs

    TU

    Technische Universität

    UNLABILITY

    Zusammenschluß der hauptamtlichen Universitäts-Behindertenbeauftragten

    UNO

    United Nations Organization

    VQö

    Verband der Querschnittgelähmten Österreichs

    WITAF

    Wiener Taubstummenfürsorgeverband

    ZIB

    Zentrum für integrative Betreuung

    ZS

    Zeitschrift

    Abbildung 1. Abbildung 1: Franz-Joseph Huainigg

    Portraitfoto von Franz-Joseph-Huainigg

    FRANZ-JOSEPH HUAINIGG, Mag. Dr. phil., geb. 1966 in Spittal/Drau. Nach einer Impfung im Babyalter ist er an beiden Beinen gelähmt und bewegt sich im Rollstuhl fort. Studium der Germanistik und Medienkommunikation an der Universität Klagenfurt.

    Schreibt Bücher, spielt Kabarett, gestaltet Radio- und Fernsehsendungen und arbeitet in der Abteilung für Medienpädagogik des Bundesministeriums für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten. 1996 gründete er die Arbeitsgemeinschaft »Behinderte Menschen und Medien«; Vorstandsmitglied von »Integration:Österreich«, Mitglied der »Selbstbestimmt-Leben-Initiativen Österreich«.

    Quelle

    Franz-Joseph Huainigg: O du mein behinderndes Österreich! Zur Situation behinderter Menschen. Erschienen als: Publikationsreihe der Initiative Minderheiten, herausgegeben von Ursula Hemetek, erstellt in Kooperation mit der Grünen Bildungswerkstatt Minderheiten, sowie mit Unterstützung des Bundeskanzleramtes -Kunstsektion und von Casinos Austria AG. Mit Beiträgen von Maria Brandl, Bernadette Feuerstein, Monika Haider, Annemarie Klinger, Barbara Levc, Sigi Maron, Erwien Riess, Heinrich Schmid, Marietta Schneider, Volker Schönwiese, Annemarie Spiegel, Manfred Srb und Danieal Treiber. Klagenfurt: Drava-Verlag. ISBN 3-85435-312-X

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 13.03.2017

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