Wie oft erleben Menschen mit Behinderungen Gewalt?

Menschen mit Behinderungen erleben signifikant häufiger Gewalt und Missbrauch als Menschen ohne Behinderungen. 

  • 31% aller Kinder mit Behinderungen erleiden Misshandlungen.
  • Menschen mit Kommunikationsschwierigkeiten tragen ein sehr großes Risiko, Gewalt zu erleben.
  • Mädchen mit Behinderungen erleben zwei- bis dreimal häufiger sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend als Mädchen ohne Behinderungen.
  • Frauen mit Behinderungen sind signifikant häufiger schweren Formen psychischer Gewalt ausgesetzt als nichtbehinderte Frauen.
  • Junge Männer mit Körperbehinderungen tragen ein fast dreimal höheres Risiko als nichtbehinderte junge Männer, direkte sexuelle Gewalt zu erleben.
  • Junge Frauen und junge Männer mit Körperbehinderungen tragen ein signifikant höheres Risiko als nichtbehinderte Jugendiche, sowohl sexuelle, als auch sexualisierte Gewalt zu erleben. Dabei ist das Risiko für Burschen mit Körperbehinderungen deutlich höher als für Mädchen mit Körperbehinderungen.
  • Frauen mit Lernschwierigkeiten erleben am häufigsten von allen Frauengruppen sexualisierte Gewalt.
  • Menschen mit körperlichen Behinderungen erfahren häufiger Vernachlässigung, finanzielle und psychische Gewalt als Menschen mit anderen Behinderungen.
  • Menschen mit Behinderungen erleiden häufiger Gewalt und Missbrauch durch Ehe- und Lebenspartner_innen, Familienmitglieder und professionelle Unterstützer_innen als Menschen ohne Behinderungen. Die Täter_innen sind häufiger Männer als Frauen.
  • Männer mit Lernschwierigkeiten, die in Institutionen leben, sind häufiger von Gewalt durch Mitglieder der Peergroup betroffen als Frauen mit Lernschwierigkeiten.
    (FITZSIMONS 2009, S.36; FLIEGER in JURIDIKUM 1/2015, S.108)

Integratives Gewaltmodel

Die Realität der häufigen Gewalterlebnisse erklärt sich aus dem Zusammenspiel folgender vier Risikofaktoren:

Risikofaktoren für potentielle Opfer

Jede Person lebt in dem Risiko, Gewalt und Missbrauch zu erleben. Die Höhe des Risikos für Gewalterfahrungen wird durch folgende Faktoren bestimmt: das Maß an Bewusstsein für die eigenen psychischen und physischen Grenzen, die Möglichkeiten zur Grenzsetzung, Kommunikationsmöglichkeiten, körperliche Verteidigungsmöglichkeiten, die Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung, Wahlmöglichkeiten und freie Zugänge zu Alternativen der eigenen Lebenswelt. Besonders negativ wirken sich soziale Isolation, Abhängigkeit, gelernte Hilflosigkeit, gelernte Folgsamkeit und das Fehlen von Informationen aus (FITZSIMONS 2009).

Risikofaktor potentieller Täter_innen

Der zentrale Faktor für gewaltvolles Agieren ist die Einschätzung darüber, wie hoch das Risiko ist, entdeckt zu werden. Täter_innen handeln lieber im Verborgenen. Weitere Charakteristika potentieller Täter_innen sind Kontrollbedürfnisse, autoritäre Selbstbilder, mangelnde Selbstwertgefühle, Aggressionspotentiale, geringe Bindungen zu den potentiellen Opfern, entwertende Haltungen, impulsive Verhaltensmuster und Identifikationen mit missbrauchenden Rollenmodellen, wie das Schaffen von Abhängigkeitsverhältnissen und eigene Abhängigkeiten (FLIEGER 2015). Potentielle Täter_innen können Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen sein.

Risikofaktoren in der direkten Umwelt

Organisatorische Strukturen erhöhen das Gewalt- und Missbrauchsrisiko nachweislich. In Routinen, festgelegten Abläufen und institutionellen Zwängen ist die Gewaltgeneigtheit groß (UNABHÄNGIGER MONITORINGAUSSCHUSS ÖSTERREICH 2011). 90% aller Gewalthandlungen werden zu Hause (familiär und institutionell) und bei Bekannten erlebt. Der höchste Prozentsatz von sexueller Ausbeutung von Menschen mit Behinderungen findet im unmittelbaren Umfeld statt (Einrichtungen, Familie, Werkstätte etc.). In der Regel werden bei Bekanntwerden eines Gewaltvorkommnisses seitens der Einrichtung kaum wirksame Maßnahmen zum Schutz des Opfers gesetzt. (SCHÖNWIESE 2011)

Risikofaktoren in der Gesellschaft und Kultur

Die gesellschaftliche Abwertung der Gruppe von Menschen mit Behinderungen, das Verleugnen und Tabuisieren von Problemen, die Entwertung und Stigmatisierung von Opfern und das unflexible System der Behindertenhilfe sind verstärkende Faktoren für Gewalt und Missbrauch. Weitere Kennzeichen der in Strukturen eingebauten Gewalt sind die ungleiche Verteilung von Ressourcen und die ungleiche Verteilung der Entscheidungsgewalt über diese Ressourcen, wie Einkommen, Bildung, politischer Einfluss und gesellschaftliche Position. (SCHÖNWIESE 2011)

Multiple Gewaltgefährdung

Weiter Faktoren erhöhen das Risiko einer Gewaltgefährdung.

Risikofaktor Alter

Drei Altersgruppen sind besonders von Gewalt betroffen: Kinder, Jugendliche und ältere Menschen. Die häufigsten Formen von Gewalt an Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sind seelische Gewalt, körperliche Gewalt und Vernachlässigungen. Die Tatsache, dass an Orten, an denen Schutz und Geborgenheit ermöglicht werden sollen, Gewalt ausgeübt wird, ist gerade im Kontext von Kindern und Jugendlichen besonders problematisch.
Die Gewaltgefährdung von älteren Menschen mit Behinderungen entsteht sowohl im Kontext mit Pflege durch nahe Angehörige im privaten Umfeld, als auch durch den Aufenthalt in Pflegeinstitutionen und deren Strukturen (UNABHÄNGIGER MOITORINGAUSSCHUSS ÖSTERREICH 2011).

Risikofaktor Geschlecht

Frauen und Männer mit Behinderungen werden aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert, indem Frauen und Männern mit Behinderungen Sexualität abgesprochen wird und indem sie als asexuelle Menschen betrachtet werden. Frauen und Männer sowie Mädchen und Buben mit Behinderungen erleben sexualisierte Gewalt. Beeinflussung und Durchführung von Unfruchtbarmachungen (Sterilisation, Vasektomie) oder Abtreibungen ohne Einverständnis sind häufig durchgeführte Gewalthandlungen.

Risikofaktor Armut

Bedingt durch erschwerte bis unmöglich gemachte Zugänge zu Bildungseinrichtungen und Erwerbsarbeitsmärkte sind Menschen mit Behinderungen überproportional häufig von Armut betroffen. Das Fehlen von finanziellen Ressourcen wirkt sich negativ auf die Möglichkeiten selbstbestimmten Lebens aus (siehe "Risikofaktor für potentielle Opfer").

Weitere Kapitel zu multipler Gewaltgefährdung

Quellen und weiterführende Literatur


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