Stigmatisierung 1+2 - Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen

Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen im Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied und Darmstadt 1975. Beide Bände sind leider vergriffen und werden auch nicht mehr aufgelegt. Der Luchterhand-Verlag hat bidok die Erlaubnis zur Veröffentlichung gegeben.
Copyright: © Hermann Luchterhand Verlag 1975

Vorwort

Gesellschaftliche Randgruppen sind in den letzten Jahren immer deutlicher ins Zentrum des sozialwissenschaftlichen Interesses gerückt, nachdem sie vorher fast ausschließlich unter pragmatischen Gesichtspunkten behandelt wurden. Dabei werden sowohl Ursachen als auch Folgen sozialer Randständigkeit in zunehmendem Maße unter dem Aspekt der Stigmatisierung betrachtet. Das der neuen Orientierung zugrundeliegende wissenschaftliche Paradigma ist inzwischen unter der Bezeichnung »Etikettierungsansatz« - häufig auch »labeling approach«, »social reaction approach« oder »Definitionsansatz« genannt - bekannt geworden.

Vor- und Nachteile, Tragfähigkeit und Grenzen des neuen Ansatzes, dessen Entfaltung noch keineswegs abgeschlossen ist, werden zur Zeit heftig diskutiert. Insbesondere die Auseinandersetzung mit den älteren »ätiologischen Ansätzen«, in denen abweichendes Verhalten je nach fachwissenschaftlichem Zugriff auf abnorme Persönlichkeitsstrukturen, defizitäre Sozialisationsprozesse oder subkulturelle Prägungen zurückgeführt wird, ist noch in vollem Gange.

Die Rezeption des »labeling approach«, der zunächst vor allem in den angelsächsischen Ländern entwickelt wurde, vollzog sich in der Bundesrepublik mit dem typischen zeitlichen Abstand von zehn Jahren und war von Anfang an durch zwei Umstände belastet, die eng mit der spezifisch deutschen Tradition der Soziologie zusammenhängen. Zum einen wurde die Diskussion auf einer sehr abstrakten Ebene geführt, die häufig jeden konkreten Bezug vermissen ließ; zum anderen war sie von Anfang an ideologisch überfrachtet. Dabei erfuhr der neue Ansatz einerseits eine unnötige Einengung auf Behandlung und Erklärung abweichenden, speziell kriminellen Verhaltens; andererseits wurden Fragen der praktischen Relevanz des Paradigmas sowie der Operationalisierung grundlegender Annahmen und ihrer Umsetzung in empirische Forschung vernachlässigt. Eine Konsequenz dieser Rezeption war, daß die wissenschaftliche Fruchtbarkeit des Ansatzes häufiger postuliert wurde als konkret nachgewiesen werden konnte.

Auch der Stigmatisierungsbegriff selbst hat sich erst in den letzten Jahren in der Analyse gesellschaftlicher Abgrenzungs- und Ausgliederungsprozesse durchsetzen können, obwohl verschiedentlich auch schon vorher - insbesondere seit Erving Goffman's berühmter Abhandlung »Stigma« aus dem Jahre 1963 - mit ihm gearbeitet worden ist. Als »Stigmatisierung« werden soziale Prozesse bezeichnet; die durch »Zuschreibungen« bestimmter - meist negativ bewerteter - Eigenschaften (»Stigmata«) bedingt sind oder in denen stigmatisierende, d. h. diskreditierende und bloßstellende »Etikettierungen« eine wichtige Rolle spielen, und die in der Regel zur sozialen Ausgliederung und Isolierung der stigmatisierten Personengruppen führen. Stigmatisierungsprozesse haben sowohl für die Lebenssituation als auch für die Identität der von ihnen Betroffenen beträchtliche Folgen.

Unser in zwei Bänden vorgelegtes Sammelwerk soll die Bedeutung und Fruchtbarkeit des neuen Paradigmas an Gegenständen aufzeigen, die gemeinhin als »soziale Probleme« bezeichnet werden. Funktion und Folgen von »Etikettierungen« lassen sich hier sichtbar machen. Alle Beiträge wurden eigens nach einer zwischen Herausgebern und Autoren abgestimmten Gesamtkonzeption verfaßt, in der insbesondere dieser konkrete Bezug im Mittelpunkt steht.

Neben wenigen mehr theoretischen Arbeiten stehen Berichte über erste Ergebnisse empirischer Untersuchungen sowie Sekundäranalysen bereits vorliegender Forschungen. Die beiden Sammelbände wenden sich damit vor allem an Studenten der Soziologie, der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, der Pädagogik und der Psychologie sowie an wissenschaftlich interessierte Praktiker.

Band 1 beginnt mit Beiträgen, die als Einführung in die Thematik herangezogen werden können, weil in ihnen wichtige theoretische Konzepte erläutert und die zentralen Perspektiven des Ansatzes diskutiert werden. Es folgen vier Arbeiten, die Stigmatisierungsprozesse und deren Folgen an verschiedenen Gruppen untersuchen: an Obdachlosen, älteren Arbeitnehmern, Lernbehinderten und straffällig gewordenen Jugendlichen. Der erste Band schließt mit einer kritischen Betrachtung des Zusammenhanges zwischen soziologischer Theoriebildung und gesellschaftlicher Definition von Randgruppen.

Band 2 enthält zunächst Arbeiten, in denen bestimmte gesellschaftliche Institutionen - Schule, Fürsorgeerziehung, Polizei, Psychiatrie und Strafvollzug - im Hinblick auf die Entwicklung, Verarbeitung und Durchsetzung von Stigmata analyisert werden. Hinweise auf die Konsequenzen und Folgen, die das Handeln von Kontrollinstanzen für die Ausgliederung gesellschaftlicher Gruppen hat, gehören zu den - bereits in ihrer theoretischen Perspektive angelegten - kritischen Intentionen dieser Beiträge. Den Abschluß bildet eine Auseinandersetzung mit dem Problem der »Entstigmatisierung« - ein Thema, das bislang fast völlig vernachlässigt wurde und dessen mangelnde Berücksichtigung dem »labeling approach« den Vorwurf des sozialen Determinismus einbrachte.

Dieser Vorwurf besteht insofern zu Recht, als zwar die fatalen Folgen von Stigmatisierung thematisiert, mögliche Schritte zur Entstigmatisierung aber bisher weitgehend außer acht gelassen wurden.

Zu den Beiträgen des 1. Bandes

Zur Klärung des theoretischen Ansatzes, der den Arbeiten des zweibändigen Sammelwerkes zugrunde liegt, werden zunächst die wichtigsten Begriffe und Perspektiven dieses Ansatzes vorgestellt. Jürgen Hohmeier gibt hierzu u. a. einen Überblick über Struktur und Funktion von Stigmata, über die Folgen der Stigmatisierung für die davon Betroffenen sowie über den Zusammenhang zwischen Maßnahmen der Institutionen sozialer Kontrolle und Prozessen formeller Stigmatisierung.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Beiträgen, die sich - trotz gelegentlicher Kritik und dem Eingeständnis theoretischer und methodischer Grenzen - am sogenannten »labeling approach« orientieren, versucht Wolfgang Lipp, ein Alternativmodell zu entwerfen, in dem Prozesse der »Selbststigmatisierung« als Versuche der Unidefinition gesellschaftlicher Werte und Normen im Mittelpunkt stehen.

Weder abweichendes Handeln noch Prozesse der Stigmatisierung sind ohne genaue Analyse der hierbei wirksam werdenden Typisierungen hinreichend erklärbar. Eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Typisierung gehört daher zur Voraussetzung, um Prozesse der Ausgliederung gesellschaftlicher Randgruppen verstehen zu können. Ausgehend von einer begrifflichen Klärung und gestützt auf die Ergebnisse einer empirischen Feldforschung behandelt Ulrich Gerke die voneinander abweichenden Handlungsdefinitionen von jugendlichen Randgruppen und Vertretern der Kontrollinstanzen.

Obwohl mehrere Untersuchungen der letzten Jahre die Lebenssituation von Obdachlosen erforscht und bestimmte sozialstrukturelle Bedingungen für Obdachlosigkeit herausgearbeitet haben, wurden diese Erkenntnisse bislang noch nicht konsistent unter dem Gesichtspunkt der Stigmatisierung analysiert.

Günter Albrecht versucht, diese Lücke durch den Aufweis verschiedener Problem-Perspektiven und durch die Vorlage wichtiger Ergebnisse der empirischen Sozialforschung zu schließen. Zentrale Ebenen der Analyse sind die Stigmatheorie der Bevölkerung, die Stigmatheorie der »professionellen Hilfeexperten« und die Wahrnehmung der Stigmatisierung durch die Obdachlosen selbst. Stigmatisierungsprozesse formaler Art sind keineswegs ausschließlich an Instanzen sozialer Kontrolle gebunden. Dies macht der Beitrag von Hans-Joachim Pohl deutlich, der die Stigmatisierung älterer Arbeitnehmer im Industriebetrieb untersucht. Im Mittelpunkt steht der Einfluß des Altersstereotyps bei personellen Entscheidungen.

Analysen und empirische Forschungen, in denen die Lebenssituation sozialer Randgruppen auf konkret nachweisbare Stigmatisierungsprozesse zurückgeführt wird, sind in der Bundesrepublik noch recht selten. Walter Thimm untersucht die Stigmatisierung von »Lernbehinderten«, der - obwohl es sich hierbei um eine zahlenmäßig relativ große Gruppe von betroffenen Personen handelt - bislang noch keine entsprechende Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Im Zentrum seines Beitrages stehen Fragen zur sozialen Herkunft der Lernbehinderten, ihre Stellung in Schule und Beruf sowie Probleme der Identität von »Sonderschülern«.

In der empirischen Sozialforschung gelten diskriminierende Einstellungen gegenüber Personen und Gruppen sehr häufig als Nachweis für entsprechend stigmatisierende Handlungen, obwohl die Annahme eines derartigen Zusammenhanges keineswegs unproblematisch ist. Andrea Abele und Wolf Nowack legen erste Ergebnisse einer psychologischen Untersuchung vor, deren Ziel es ist, die Determinanten der Einstellung zu straffällig gewordenen Jugendlichen empirisch nachzuweisen.

Es gehört inzwischen längst zu den Selbstverständlichkeiten der neueren Kriminalsoziologie, daß Alltagstheorien von Vertretern der Kontrollinstanzen einen wichtigen Faktor in der Produktion sozialer Randgruppen darstellen. Weniger untersucht wurden dagegen bislang die strukturellen Aspekte der Entstehung, der Funktion und der Folgen wissenschaftlicher Theoriebildung. Susanne Karstedt hat sich - nach einem intensiven Studium der Literatur zur Randgruppenproblematik - diesem Thema gestellt. Ihre Analyse zeigt sehr deutlich den engen Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Theoriebildung und gesellschaftlicher Definition sozialer Randgruppen.

Zu den Beiträgen des 2. Bandes

Es zählt inzwischen zu den Selbstverständlichkeiten der neueren Kriminalsoziologie, daß die Produktion gesellschaftlicher Randgruppen ganz entscheidend von der Struktur und von den Maßnahmen der Institutionen sozialer Kontrolle abhängt. Zu diesen Instanzen gehört bisher noch viel zu wenig beachtet - auch die Schule. Durch die von Lehrern (meist unbewußt und unbeabsichtigt) ausgehenden Stigmatisierungen werden häufig die Weichen für eine spätere »kriminelle Karriere« gestellt. Friedrich Lösel untersucht die verschiedenen sozialpsychologischen Faktoren und Phasen schulspezifischer Stigmatisierungen anhand bereits vorliegender empirischer Befunde, und setzt sie mit Hilfe eines Ablaufmodells zueinander in Beziehung.

Die Heimerziehung führt seit Jahren zu heftigen Diskussionen innerhalb der Sozialarbeit. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil bekannt ist, daß bestimmte Kinder und Jugendliche - insbesondere solche aus den unteren sozialen Schichten sowie aus »unvollständigen Familien« - eher Gefahr laufen, in ein Erziehungsheim zu kommen als andere. Kaum untersucht sind dagegen die mit der Einweisung verbundene Stigmatisierung und deren Folgen. Carola Schumann ist dieser Frage durch eine Analyse von Jugendamtsakten nachgegangen. Ihre Arbeit gehört zu den wenigen, die den »labeling approach« empirisch auf seine Brauchbarkeit für die Erklärung »krimineller Karrieren« überprüfen. Sie gelangt dabei auch zu Ergebnissen, die gegen den Ansatz in seinem gegenwärtigen Zustand verwendet werden können.

Die Polizei gehört zu den staatlichen Kontrollinstanzen, die ganz wesentlich mit darüber entscheiden, wer in unserer Gesellschaft den Status des »Kriminellen« erhält und wer nicht. Der polizeilichen Vernehmung kommt dabei eine wichtige Filterfunktion zu. Kriminologie und Kriminalsoziologie haben sich diesem - wegen seiner Konsequenzen so bedeutsamen - Interaktionsfeld bislang kaum gewidmet; emprische Untersuchungen liegen nicht vor. Die Arbeit von Manfred Brusten und Peter Malinozvski stellt deshalb im deutschen Sprachraum den ersten Versuch dar, soziale Determinanten, Strukturmerkmale und Methoden der polizeilichen Vernehmung zu erforschen und in ihrer Wirkung auf diejenigen, die einer Straftat beschuldigt oder verdächtigt werden, zu analysieren.

In den angelsächsischen Ländern ist der Stigmatisierungsansatz außer an den mit Kriminalität befaßten Institutionen vor allem an der Anstaltspsychiatrie entwickelt worden. Bei uns ist dieser Bereich sozialer Kontrolle dagegen bislang kaum systematisch untersucht worden. Monika Gebauer arbeitet vorliegende Analysen und empirische Erhebungen zum Einfluß psychiatrischer Institutionen auf die Stigmatisierung von psychisch Behinderten auf. Ihre Analyse erstreckt sich insbesondere auf die Funktion psychiatrischer Diagnosen, anstaltsinterne Identitätsveränderungen und die pragmatischen Legitimationstheorien der Institutionen.

Die Strafanstalt als »Endstation« in der formellen Zuschreibung des Etiketts »kriminell« ist in den letzten Jahren auch bei uns verschiedentlich behandelt worden, häufig unter der Fragestellung der »Resozialisierung«. Die soziale Situation der aus dem Gefängnis Entlassenen wurde demgegenüber vernachlässigt. Der Beitrag von Helga CremerSchäfer geht beiden Aspekten nach, indem sowohl die Identitätsveränderungen während der Haft als auch die Situation des Entlassenen, der mit dem Stigma »vorbestraft« leben muß, untersucht werden. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht der Zusammenhang zwischen der Stigmatisierung und dem erneuten Begehen von Straftaten.

Durchgreifende Perspektiven zur Entstigmatisierung sind bislang weder in der Praxis der institutionellen Sozialarbeit und Sozialpolitik noch in der theoretischen Analyse von Stigmatisierungsprozessen entwickelt worden. Lothar Böhnisch versucht, die zentralen Punkte dieser Frage aufzugreifen und programmatische Lösungsvorschläge zu machen. Seine Überlegungen gehen von der Feststellung aus, daß Individualisierung und Isolierung - als wesentliche Strukturelemente der Sozialarbeit - bereits in übergreifenden gesellschaftspolitischen Bereichen vorentschieden sind. Eine politökonomische Analyse der Rolle des spätkapitalistischen Staates ist daher die Voraussetzung für eine strukturell orientierte Konzeption von »Entstigmatisierung«. Auch im institutionell-organisatorischen Bereich kann die Diskussion über Entstigmatisierung nicht nur auf der Ebene der konkreten Interventionspraxis ansetzen; wirksame Reformen setzen vielmehr auch hier gesellschaftspolitische Perspektiven voraus, wobei Bemühungen zur Entstigmatisierung in erster Linie an Problemlagen der Klienten und nicht an den Interessen der Institutionen auszurichten sind.

Während Stigmatisierungen meist ungeplant geschehen, liegt es nahe, eine Entstigmatisierung absichtsvoll einzuleiten, als Ziel der Sozialpolitik. Dabei ist insbesondere an den Staat zu denken, dem mit der Gesetzgebung ein Mittel zur Steuerung sozialer Prozesse zur Verfügung steht. Rüdiger Lautmann behandelt theoretische Voraussetzungen und konkrete Möglichkeiten einer Entstigmatisierung durch Gesetze. Nach Darstellung der Zusammenhänge zwischen Gesetzgebung und Einstellungswandel berichtet er über eine empirische Untersuchung, die am Beispiel von »Behinderten« und »Unehelichen« die Wirkung entstigmatisierender Gesetze deutlich macht.

Quelle:

Manfred Brusten, Jürgen Hohmeier (Hrsg.): Stigmatisierung 1+2. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Luchterhand Verlag Darmstadt 1975

Erschienen im Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied und Darmstadt 1975.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 03.03.2005

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