Heimerziehung und kriminelle Karrieren

Eine empirische Untersuchung anhand von Jugendamtsakten Ein erster Bericht über diese Arbeit wurde unter dem Titel »Kriminalität durch Fürsorge?« veröffentlicht (C. Schumann 1974).

Autor:in - Carola Schumann
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Manfred Brusten/Jürgen Hohmeier(Hrsg.), Stigmatisierung 2, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt 1975. S. 33 - 56 ; Beide Bände sind leider Vergriffen und werden auch nicht mehr aufgelegt. Der Luchterhand-Verlag hat BIDOK die Erlaubnis zur Veröffentlichung gegeben.
Copyright: © Carola Schumann 1975

Einleitung

Die »labeling perspective« - im deutschen Sprachraum auch als »Stigmatisierungsansatz« bekannt - ist in den letzten Jahren sehr in das Zentrum wissenschaftlicher Beschäftigung mit Kriminalität gerückt. Inzwischen mehren sich auch die Studien, die den Erklärungsgewinn dieses theoretischen Ansatzes zu prüfen versuchen. Die vorliegende Arbeit kann als ein früher Versuch in dieser Richtung gelten. Ihr Ziel war die Prüfung des »labeling approach« auf seine Brauchbarkeit für die Erklärung »krimineller Karrieren«, die ihren Ausgangspunkt im Kindesalter haben. Dabei stand vor allem die Bedeutung der Fürsorgebehörden für die Verstärkung oder gar Produktion solcher Karrieren zur Diskussion.

Die Ergebnisse der Arbeit beruhen auf einer zweimonatigen Tätigkeit im Jugendamt der Stadt Konstanz sowie auf einer Dokumentenanalyse von Akten über Kinder, die unter Freiwillige Erziehungshilfe (FEH) oder Fürsorgeerziehung (FE) gestellt wurden. Die Analyse des Jugendamtes beschränkt sich dabei hauptsächlich auf die Funktion, die ihm hinsichtlich der Selektion von Kindern zukommt. Die Konfrontation von Daten und Theorie dient einer recht generellen Überprüfung der Angemessenheit des Stigmatisierungsansatzes. Die dabei gewonnenen Einsichten illustrieren einige Gesichtspunkte, die gegen den Ansatz in seinem gegenwärtigen Zustand vorgebracht werden können.

1. Darstellung des »labeling approach«

Der Labeling-Ansatz geht von der Prämisse aus, daß »kriminell« keine Eigenschaft einer Handlungsweise ist, bzw. daß es keine Handlungsweisen gibt, die schon als solche kriminell wären, sondern daß Handlungen erst durch soziale Normen und deren Anwendung so definiert werden. Damit ist Kriminalität die Folge eines Zuschreibungsprozesses: kriminell ist derjenige, dem das Etikett (Label) »kriminell« erfolgreich angeheftet wurde. Abweichendes Verhalten ist ein Verhalten, das von anderen so klassifiziert wurde (vgl. Becker 1973, S. 8).

Da manche Gruppen mehr Einfluß auf die Entstehung und Durchsetzung von Normen, Regeln und Gesetzen haben als andere, liegt die Vermutung nahe, daß die einflußloseren Gruppen besonders leicht zu Opfern dieser Normen werden können. Der Herrschaftsaspekt der Normentstehung und -durchsetzung wirft also die Frage nach der Selektion auf. In bezug auf Strafgesetzgebung und Strafverfolgung heißt die konkrete Frage: wer hat die größten Chancen, in die Justizmaschinerie zu geraten?

Die Selektion erfolgt nach bestimmten Kriterien. Damit eine Person selegiert werden kann, muß sie sich zunächst »auffällig« verhalten. Welches Verhalten als auffällig gilt, definieren in erster Linie Gesetzgeber, zuständige Strafverfolgungsbehörden (Instanzen sozialer Kontrolle) und die Öffentlichkeit. »Auffälligkeit« bedeutet für diese potentielle Kriminalität und damit die Aufforderung zum rechtzeitigen Eingreifen, um auf diese Weise spätere Kriminalität frühzeitig abwehren zu können. An diesem Punkt setzt die Theorie ein. Sie behauptet - in grober Vereinfachung dargestellt - folgenden Zusammenhang:

Eine ausgelesene (selegierte) Person wird für ein bestimmtes Verhalten (primäre Abweichung) als deviant oder - gemessen an den Normen des Strafgesetzbuches - als kriminell klassifiziert. Dies verändert ihre Identität dahingehend, daß sie die ihr angesonnene Deviantenrolle schließlich als neue Identität akzeptiert. Hinzu kommen gesellschaftliche Reaktionen, die ihre-sozialen Chancen beschränken und die Etablierung der neuen Identität unterstützen. Die veränderte Identität und die reduzierten Chancen erhöhen die Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine kriminelle Karriere eingeschlagen wird (sekundäre Abweichung).

1.1. Das Zustandekommen von »Auffälligkeit«

Die Theoretiker des »labeling approach« vermuten bei der Öffentlichkeit, den Instanzen sozialer Kontrolle und in der näheren Umgebung einer Person die Tendenz, insbesondere diejenigen als »Abweichler« zu klassifizieren, die durch bestimmte sichtbare Auffälligkeiten offenbar anders sind. Dies ist möglich bei physischen (blind, verkrüppelt) und bei psychischen Auffälligkeiten (leicht erkennbare Debilität), aber auch hinsichtlich der sozialen Situation (ungünstige Familienverhältnisse, Armut, Umgang mit bereits auffälligen Personen) und bestimmter Verhaltensweisen (Schule schwänzen) der betroffenen Personen. In der Regel werden solche Auffälligkeiten wahrgenommen, die in der eigenen sozialen Gruppe entweder nicht existieren oder wenigstens nicht vermutet werden. Lehrer, Fürsorger, Polizisten oder Richter werden also spezifische Eigenarten der Unterprivilegierten innerhalb der Unterschicht für besonders ungewohnt halten und sie als auffällig definieren. Abstrakter: mit der sozialen Distanz der Agenten der sozialen Kontrolle zu einem gegebenen Personenkreis nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, daß deren Verhalten anders, auffällig wirkt, einfach weil es sich vom eigenen Verhalten so stark unterscheidet.

Zur Andersartigkeit kommt rasch die negative Bewertung. Tannenbaum (1968) führt hier folgendes Beispiel an: Was für Kinder und Jugendliche eine durchaus normale Situation ist - nämlich anderen einen Streich zu spielen - und von ihnen als Abenteuer, Spiel oder übermut bewertet wird, mag Erwachsenen leicht als bösartiger und schädlicher Unfug erscheinen, eventuell als kriminelles Verhalten, das nach Kontrolle und Bestrafung verlangt. Zunächst wird das, was das Kind angerichtet hat, als schlimm (übel, böse) beurteilt, dann der negative Wertakzent auf den Täter verlagert: nun gilt das Kind als bösartig, und was immer es in Zukunft tut wird verdächtigt, böser Absicht zu entspringen. Die Folgen erfährt das Kind in einer veränderten Behandlung, in Mißtrauen. Diese Entfremdung, in der Kommunikation und Interaktion erkennbar, schlägt sich im Selbstverständnis des Kindes nieder. Bewußt oder unbewußt sucht es mehr die Nähe jener, die es verstehen, womöglich von Kindern, die sein Schicksal teilen. Indem es so »seinesgleichen« sucht, wird es noch auffälliger. Der nächste Schritt, die Kontrolle der Fürsorgebehörde, ist nicht mehr weit, ist erwartbar geworden.

1.2. Reaktionen und ihre Konsequenzen

Ein einmaliges öffentlich erkennbares Klassifizieren eines Menschen als deviant, als auffällig, kann zur Folge haben, daß seine Umwelt auf ihn stereotyp als Devianten reagiert. Unterstützend wirkt dabei die »retrospektive Selektion«, d.h. die rückblickende Suche nach Beweisen zur Rechtfertigung der Klassifizierung. Das Bekanntwerden einer Person in einem bestimmten Zusammenhang verändert ihre Identität in der Wahrnehmung anderer: die frühere Identität scheint zufällig, die neue als die wirkliche: »What he is now is what, >after all<, he was all along« (Garfinkel, 1956, S. 189). Greift diese neue Identitätsdefinition Raum, gehört sie zum Bezugsrahmen der Interaktion mit dem etikettierten Menschen, so wird es für diesen schwer, die bisherige Identität gegen die Übermächtige neue zu verteidigen. War auch der Aufhänger des Etiketts »kriminell« nur ein einzelner Akt, so wird nun jedoch von ihm auf mögliche andere Verhaltensweisen in den verschiedensten Situationen geschlossen. Dieser Generalisierungsaspekt meint nichts anderes, als daß der betreffende Mensch nun für eine Person gehalten werden kann, die ganz allgemein einer kriminellen Handlung fähig ist.

Dem als kriminell Entlarvten werden Teilnahmechancen entzogen; er wird gemieden; die Weiterführung seiner Alltagsroutinen wird ihm unmöglich gemacht (Ausstoß aus Schule, Vereinen, Verlust der Berufsposition etc.). Seine Lebenssituation wird durch all dies erschwert, und mehr noch: zu ihrer Bewältigung stehen ihm weniger Mittel zur Verfügung als zuvor. so wächst die Wahrscheinlichkeit, daß er zu illegalen Mitteln greift und damit am Beginn einer kriminellen Karriere steht.

Darüber hinaus kann die Stigmatisierung seitens der Behörden so stark und unausweichlich sein, daß der Betreffende sein Selbstverständnis ändert und sich selbst für einen Kriminellen hält. Sei es aus Protest gegen die erfahrene Degradierung und Verminderung der sozialen Teilnahmechancen (»nun erst recht«), oder sei es eine Rationallsierung (»von einem Kriminellen kann man ja nichts anderes erwarten«) - die Chance, daß weitere illegale Verhaltensweisen willentlich gewählt werden, wächst.

Die Konfrontationen mit Kontrollinstanzen wie Polizei, Jugendamt und Gericht münden zumeist in Statusverlust oder Statusminderung, in eine Beschränkung der Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten und in dauernder oder zeitlich begrenzter Überwachung durch Agenten der sozialen Kontrolle. Diese Veränderung der äußeren Situation entspricht dem Identitätswandel. Sie ist eine Stigmatisierung: man reagiert auf einen Menschen vor allem als Träger der Eigenschaft »kriminell«, und macht damit dieses Attribut primär; es überschattet die Definition der gesamten Existenz, wie etwa in einer nicht vorurteilsfreien Gesellschaft die Hautfarbe »schwarz« alle anderen Eigenschaften zweitrangig macht. Man kann ebenso von der Zuweisung einer neuen Rolle sprechen, um die sozialen Zwänge deutlich zu machen, die in Richtung auf Fortsetzung der kriminellen Aktivitäten wirken, in Richtung auf eine kriminelle Karriere.

1.3. Identitätswandel und»Karriere«

Der Identitätswandel läuft nach dem Mechanismus der »self-fulfilling prophecy« ab. Dadurch, daß die Umwelt eines als deviant Abgestempelten auf ihn wie auf einen unverbesserlichen Kriminellen, einen gesellschaftlichen Außenseiter reagiert, werden Mechanismen in Gang gesetzt, die bewirken, daß dieser sich dem Bild, das seine Umwelt sich von ihm macht, allmählich annähert, um ihm schließlich zu entsprechen, wenn nicht andere Mechanismen diesem Prozeß entgegenwirken.

Die deviante »Karriere« setzt eine erfolgreiche Identitätsveränderung voraus. Übernahme einer devianten Identität und Fortschreiten in der Karriere sind theoretisch stark miteinander verflochten. Beide Prozesse sind aber auch von strukturellen Bedingungen abhängig. Die Bedingungen, die eine Eskalation devianter Handlungen begünstigen, sind gegeben, wenn der Adressat der Etikettierung zum Zweck der »Besserung« in ein Heim, ein Gefängnis oder eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Er wird damit an Plätze gebracht, die überwiegend für Deviante zur Verfügung stehen, ihm werden Dinge entzogen, die den Normalbürger kennzeichnen (z.B. Ausweise, Ausbildungschancen) und dafür typische Verhaltensweisen des Abweichlers abverlangt (Meldepflicht). Diese Stigmatisierung und der Kontakt mit anderen Devianten lassen eine kriminelle Karriere wahrscheinlich werden.

Dennoch kommt es nicht immer zu einer solchen Karriere. Unter welchen Bedingungen werden Karrieren abgebrochen oder verhindert? Oder anders gefragt, welche Bedingungen erschweren einen für die Karriere notwendigen Identitätswandel?

Cicourel und Kitsuse (1968) weisen auf eine wichtige Bedingung hin: die Uneinheitlichkeit der Etikettierungen kann den Erfolg eines negativen Labels verhindern. Weil ein Individuum in Interaktion mit sehr unterschiedlichen Personengruppen und Organisationen steht, kann es gleichzeitig mehrere Karrieren durchlaufen, also auch konkurrierende, deren Einflüsse sich gegenseitig neutralisieren. Einem guten Schüler etwa, der etwas »ausfrißt«, was ihm starke Mißbilligung des Lehrers einträgt, werden die guten Leistungen in Rechnung gestellt, die die Lehrer Y und Z von ihm berichten, so daß er keiner weiteren Degradierung ausgesetzt wird. Obwohl als »Unruhestifter« bekannt, wird er primär als »guter Schüler« klassifiziert. Oder: ein schlechter Schüler wird wegen häufigen Schwänzens dem Jugendamt gemeldet, das seinerseits nun zunächst Maßnahmen gegen ihn (z.B. Heimeinweisung) erwägt, dann aber wieder davon Abstand nimmt, weil über ihn ein hervorragendes Urteil als Pfadfinder bekannt wird. Der Jugendliche selbst kann die negativen Urteile mit den positiven kompensieren, er kann also einer generellen Typisierung als deviant entgehen; er muß sich selbst nicht als einen »schlechten Menschen « auffassen.

Der Entschluß, eine Karriere aufzugeben, kann eine Frage des Alters oder der sich bietenden Alternativen sein. Becker (1973) vermutet, daß ein Ausbruch aus der Karriere gelingen könnte, wenn dem Devianten einerseits klar ist, daß er an einen Punkt gelangt ist, wo eine solche Entscheidung notwendig ist, weil es sonst zu spät sein kann zur Umkehr, und wenn andererseits Alternativen existieren, die eine gewisse Attraktivität besitzen. Ob diese Situation eintritt, hängt wiederum von den erlernten Berufsfähigkeiten, vom Interesse, das seine engste »normale« Umwelt an ihm hat und von den Einflußchancen seiner Bekannten ab.

2. Empirische Analyse von Jugendamtsakten

Es wurde eine Analyse der abgeschlossenen Akten aller Kinder durchgeführt, die zwischen 1945 und 1952 (inklusive) geboren wurden, vor dem 14. Lebensjahr auffielen und die vom untersuchten Jugendamt uner Freiwillige Erziehungshilfe (FEH) oder Fürsorgeerziehung (FE) gestellt worden waren. Obwohl es sich um eine Vollerhebung handelt, umfaßt die Untersuchungsgruppe nur 43 Kinder. Eine Vergrößerung der Untersuchungsgruppe wäre nur möglich gewesen durch Einbezug anderer Jugendämter, was aufgrund der Kosten unterbleiben mußte. Akten über Kinder, die vor 1945 geboren waren, waren nicht zugänglich. Kinder, die nach 1952 geboren waren, mußten aus der Untersuchungsgruppe ausgeschlossen werden, weil sie zum Zeitpunkt der Untersuchung (Sommer 1970) noch nicht alt genug waren (notwendig unter 18 Jahren), um endgültige Aussagen über Vorliegen oder Fehlen einer kriminellen Karriere zuzulassen. Die Beschränkung auf Kinder, die einer FEH oder FE ausgesetzt wurden, war leider unumgänglich, weil allein bei solchen Kindern die Akten relevante Informationen erhielten. Eine Untersuchung aller zwischen 1945 und 52 geborenen Kinder, die im Jugendamt überhaupt registriert wurden, hätte die Konsequenz gehabt, daß zu entscheidenden Fragen bei über 62 Prozent keine Informationen erwerbbar gewesen wären.

Diese Beschränkung der Untersuchungsgruppe verringert die Verallgemeinerungsfähigkeit der Ergebnisse ebenso, wie sie die Möglichkeiten statistischer Auswertung begrenzt. Mit 43 Fällen sind nur wenige Aufgliederungen möglich; das Schwergewicht muß daher bei der qualitativen Analyse liegen. Diese Methode ist einer Fragestellung, die im Rahmen der Labeling-Theorie untersucht wird, an sich durchaus angemessen, wie Cicourel (1968) gezeigt hat. Allerdings erhebt sich die Frage, ob die Akten die zur Prüfung der Theorie notwendigen Daten wirklich enthalten. Es ging ja nicht darum, deviantes Verhalten auf Sozialisationsmängel (wie sie oft in den Akten genannt werden) zurückzuführen, sondern um den Nachweis, daß die Konfrontation mit dem Jugendamt und die darin implizierte Definition des Kindes zum »Abweichler« unter bestimmten zusätzlichen Bedingungen eine deviante Karriere in die Wege leiten kann[1].

Brusten (1973), der selbst eine Analyse von Jugendamtsakten durchgeführt hat, weist darauf hin, daß diese Akten eher über die Definitions- und Selektionsprozesse der Instanzen informieren, als daß sie eine wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion der Fälle erlauben. Die Aussagen der einzelnen Instanzenvertreter über ein auffälliges Kind können nicht als Beschreibung eines objektiv feststellbaren Tatbestandes gewertet werden, vielmehr spiegeln sie die jeweiligen Wertmaßstäbe, Einstellungen und Beurteilungsmuster der Kontrollagenten wieder. Dies zeigt sich vor allem in der Eigendynamik des Fortschreibungsprozesses der Akten, wenn nämlich zu einem frühen Zeitpunkt gemachte Beurteilungen immer wieder auftauchen, obwohl sie mit dem aktuellen Verhalten der betreffenden Person nicht mehr übereinstimmen. Darüber hinaus gilt: »Die in den Akten auffindbaren Definitionen oder Typisierungen werden - was die Beurteilung des Kriminalisierungsprozesses anbetrifft - nicht nur aktenmäßig registriert, sondern in aller Regel auch in den Interaktionen mit den jeweiligen Jugendlichen aktiviert; d.h. sie erhalten für bestimmte Aktionen und Folgebeurteilungen handlungsleitende Relevanz, und zwar nicht nur für den Instanzenvertreter, der sich ihrer bedient, sondern auch für die jeweiligen Jugendlichen«. (Brusten 1973, S. 85 f.).

Einschränkend sei jedoch gesagt, daß eine Aktenanalyse zur Überprüfung des Labeling-Ansatzes nicht gerade optimal erscheint, solange nicht erwiesen ist, daß die in den Akten zum Ausdruck kommenden Bewertungen auch Handlungswirksamkeit haben. Es scheint zwar plausibel, daß ein Betreuer, der einen Heiminsassen negativ beurteilt, von dieser Beurteilung in seinem Bericht ans Jugendamt nicht abweicht, gleichzeitig aber muß berücksichtigt werden, daß in der Praxis Betreuer und Berichterstatter vielfach nicht identisch sind, und daß zudem mit diesen Berichten mitunter bestimmte Zwecke verfolgt werden; so werden Berichte zuweilen zu positiv gefärbt, um bestimmte Jugendliche möglichst schnell wieder loszuwerden, und umgekehrt zu negativ, wenn man sie aufgrund ihrer stabilisierenden Funktion in der Jugendgruppe behalten möchte.

Selbst wenn man annimmt, daß dieses Verfahren die Ausnahme bildet, und daß die Bewertungen in den Akten denen in der Heimwirklichkeit geäußerten weitgehend entsprechen, bleibt noch off en, in welchem Maße diese für die Heiminsassen wirksam werden. Damit ist allerdings bereits ein Kernstück der Theorie angesprochen. Die Frage, in welchem Ausmaß die in den Akten auffindbaren Definitionen und Typisierungen tatsächlich handlungsrelevant werden, wäre wohl nur durch teilnehmende Beobachtungen über einen längeren Zeitraum hinweg bei den betroffenen Instanzen (Jugendamt und Erziehungsheim) zu überprüfen.

Ein weiterer Mangel der Aktenanalyse besteht darin, daß die Akten kaum Auskunft darüber geben, in welchem Ausmaß die sozialen Chancen der Heiminsassen reduziert werden. Das Material ist nicht daraufhin angelegt, Ereignisse festzuhalten, die eindeutig auf reduzierte Chancen verweisen. Es kann auch nicht im Interesse des Jugendamtes liegen, das Erziehungsheim als Produzenten verminderter Chancen zu begreifen.

2.1. Prozesse der Selektion

Im Rahmen der Jugendhilfe ist das Jugendamt für Minderjährige zuständig, die in ihrer leiblichen, geistigen oder seelischen Entwicklung gefährdet oder bereits geschädigt sind[2].

Damit fallen in den Kontrollbereich des Jugendamtes alle Minderjährigen unter 16 Jahren, die sich außerhalb des Elternhauses in Familienpflege befinden, alle unehelichen Kinder unter 16 Jahren, deren Mütter nicht - was auf Antrag möglich wäre - die volle Erziehungsgewalt überlassen wurde, und alle Kinder, die unter Vormundschaft stehen, wobei bis zum Sommer 1970 alle unehelich geborenen Kinder automatisch unter Vormundschaft gestellt wurden, meistens unter eine sogenannte Amtsvormundschaft.

Das bedeutet, daß unehelich geborene Kinder, Waisen und Kinder, die bei fremden Familien aufwachsen, in der Regel für »potentiell gefährdet« gehalten werden[3]. Sie werden durch Kindheit und Jugend hindurch beobachtet, über die wird eine Akte angelegt und die zuständige Fürsorgerin überprüft von Zeit zu Zeit die Familienverhältnisse, in denen das Kind aufwächst. Diese Aufmerksamkeit des Jugendamtes interessiert hier nur insofern, als solche Kinder ehe »auffällig« werden als andere, und zwar einfach deshalb, weil sie von Anfang an einer Beobachtung ausgeliefert sind, durch die normabweichende Verhaltensweisen weit eher offengelegt werden. Hieraus erklärt sich auch die hohe Anzahl von unehelichen Kindern, die schließlich wegen ihres »auffälligen« Verhaltens unter FEH oder FE gestellt werden. Von den 43 hier untersuchten Kindern sind 21 unehelich geboren, das sind etwa 50 Prozent. Der Anteil der unehelichen Kinder in der Bevölkerung der BRD liegt bei etwas mehr als 5 Prozent (Claessens/KlönnelTscboepe 1965, S. 360). Die Überrepräsentation (iofach) unterstreicht das Selektionsprinzip: Unehelichkeit bedeutet Beobachtung durch das Jugendamt, und dies wiederum führt häufig zur Anordnung von FEH und FE.

Für insgesamt 17 Kinder war das Jugendamt Vormund; dies galt auch für zwei weitere adoptierte Kinder. über zwei Kinder hatte das Jugendamt Sorgerechtspflege, und ein Kind stand unter der Mündelaufsicht des Jugendamtes. Damit standen insgesamt 22 Kinder unter »legaler Kontrolle«; weitere acht Kinder konnten als »faktisch kontrolliert« gelten, weil Familienmitglieder Fürsorge erhielten, straffällig geworden waren oder Geschwister bereits unter FE oder FEH standen. Nur in den verbleibenden 13 Fällen wurden die Kinder aufgrund der Intervention anderer Stellen als das Jugendamt selegiert. Bringt man dies mit der Frage in Zusammenhang, ob die erste registrierte Auffälligkeit des Kindes in einer kriminellen Handlung oder in einem Erziehungsproblem bestand, ergibt sich Tabelle 1:

Tabelle 1: Vorliegen oder Fehlen sozialer Kontrolle durch das Jugendamt und Kriminalität als Selektionsgrund

JA hatte ...

aufgefallen wegen

   
 

Erziehungsproblemen

Kriminalität

Summe

legale Kontrolle

16

6

22

faktische Kontrolle

4

4

8

keine Kontrolle

11

2

13

Summe

31

12

43

In den meisten Fällen bestand die erste Auffälligkeit nicht in einem - im strafrechtlichen Sinne - kriminellen Akt, sondern es genügten geringere Abweichungen, um das Jugendamt zu Maßnahmen zu veranlassen. Anhand der für die Selektion des Jugendamtes verwendeten Kriterien lassen sich grob folgende Kategorien bilden:

  1. »kriminelle« Kinder,

  2. verwahrloste Kinder, die als milieugeschädigt gelten,

  3. schwer-erzichbare Kinder, die durch Fehlverhalten der Eltern als erziehungsgeschädigt gelten,

  4. retardierte Kinder, die mehr oder weniger debil sind, sei es aufgrund schwerer Sozialisationsmängel, schwerer Krankheiten oder eines frühkindlichen Hirnschadens.

Diese Kategorien schließen sich gegenseitig nicht aus, sie können sogar sämtlich für dasselbe Kind zutreffen. Alle Kinder sind im Sinne einer dieser Kategorien deviant, aber nicht alle sind »kriminell« oder »delinquent«.

Wahrscheinlich ist Delinquenz eines der wichtigsten Selektionskriterien, allerdings allein selten ausreichend, um in ein Heim eingewiesen zu werden. 15 Kinder sind wenigstens einmal straffällig gewesen, bevor sie ins Heim kamen, aber bei insgesamt 24 Kindern wird in den Akten erwähnt, daß sie schon einmal etwas gestohlen haben (z.B. Geld von der Mutter). Damit steht Stehlen als am häufigsten benutztes Merkmal an der Spitze aller in den Akten erwähnten negativen Merkmale. Weitere Selektionskriterien zeigt Tabelle 2:

Tabelle 2: Häufigkeit der Nennung von Selektionskriterien für die weitere Bearbeitung des Falles (bei insgesamt 43 Kindern)

Rang

Kriterium

Zahl der Nennungen

1

Stehlen

24

2

Schwierigkeiten mit Eltern

21

3

Schule schwänzen

18

4

Umgang mit Amtsbekannten

16

5

Auffällige Familienangehörige

16

6

Herumtreiben

14

7

schlechtes Betragen in der Schule

13

8

Eifersucht

12

9

schlechte Schulleistungen

12

10

schwer erziehbar

12

Fast alle Selektionskriterien scheinen schichtunabhängig zu sein, d.h. sie können in jeder sozialen Schicht vorkommen. Tatsächlich aber sind bei allen Kindern die sozio-ökonomischen Verhältnisse auffallend schlecht. Armut scheint also ein wichtiges zusätzliches Selektionskriterium zu sein.

Zusammenfassend läßt sich sagen: das Jugendamt versteht seine Funktion in der Hilfe für die bedürftigsten Kinder und Jugendlichen. Da diese - wie die Mitarbeiter des Jugendamtes meinen - unter den ärmsten Familien zu suchen sind, weil solche »erfahrungsgemäß« am wenigsten geeignet sind, eine angemessene Erziehung ihrer Kinder sicherzustellen, ist die Selektion der Kinder aus diesen Gruppen beabsichtigt. Die Selektion trifft damit eine Gruppe, deren Stigma der Armut sie für das Jugendamt auffällig macht. Die Tatsache, daß sämtliche 43 Kinder aus Familien der untersten Einkommensschicht stammen, belegt diese These.

2.2. Bewertung und Etikettierung

Eine erfolgreich angebrachte Etikettierung (Iabel) erweist sich im Sinne des theoretischen Ansatzes darin, daß sie die Wirksamkeit einer Verhaltenserwartung für den Betroffenen hat. Um diese Wirksamkeit zu erlangen, müssen solche Etikettierungen durch eine Reihe von negativen Bewertungen stabilisiert werden. Erfolgen solche Bewertungen seitens der Agenten der sozialen Kontrolle über einige Zeit hin konsistent und einheitlich, so kann angenommen werden, daß der davon Betroffene sein Selbstverständnis diesen Bewertungen anpaßt, d.h. er identifiziert sich mit der neuen Definition seiner Persönlichkeit und handelt entsprechend. Das Etikettieren eines Kindes oder Jugendlichen als deviant bewirkt, daß seine Umwelt auf ihn als einen Stigmatisierten, Andersartigen reagiert.

Die Bewertungen eines aufgefallenen Kindes lassen sich in den Akten des Jugendamtes verfolgen. Die erste Bewertung stammt gewöhnlich von einer Fürsorgerin. Sie beurteilt den Charakter des Kindes, seine Verhaltensweisen, seine Umgebung. Sie notiert die Klagen der Eltern und die Familienverhältnisse. Auf ihre Empfehlung hin entscheidet der Sachbearbeiter im Jugendamt - und zwar fast immer in ihrem Sinne - über das weitere Vorgehen. Hat das Kind bereits vorher eine Erziehungsberatungsstelle besucht, wird von dieser auf Anfrage ein psychologisches Gutachten über das Kind dem Jugendamt zugeschickt. Die Beurteilung der Fürsorgerin und - soweit vorhanden - der Psychologen tauchen in der Fortschreibung der Akten immer wieder in dem Schriftverkehr auf, den das Amt etwa mit übergeordneten Stellen oder Heimen unterhält. Angereichert werden diese Beurteilungen häufig noch durch solche von Polizeibeamten, Lehrern, Hortleitern, Nervenärzten und manchmal Nachbarn oder Verwandten. Auch der Heimleiter wird, bei Einweisung des Kindes, über diese Beurteilungen informiert. In den von ihm verfaßten Führungsberichten ans Amt reichert er die alten Beurteilungen mit neuen Einschätzungen an. Aber nichts, was früher über das Kind gesagt wurde, wird so einfach vergessen. Die Beurteilungen werden also von Stelle zu Stelle weitergegeben und undiskutiert übernommen. Dabei werden sie stereotypisiert und verkürzt, sie werden inhaltslos und sinnentleert, eine bloße Anhäufung von Bewertungsformeln. Es kommt durchaus vor, daß solche Wertungen den Berichten über die aktuelle Führung völlig widersprechen; trotzdem werden sie als gesichertes Wissen über das Kind fortgeschrieben.

Das aufgefallene Kind erfährt also schon vor der Heimeinweisung alle möglichen Bewertungen. Wenn die Heimeinweisung dann schließlich erfolgt ist, beginnt in der Regel erst die entscheidende Phase der Etikettierung. Denn auch im Erziehungsheim ist das Kind mit gewisser Regelmäßigkeit Bewertungen ausgesetzt; es kann sich den ständigen Urteilen über sein Benehmen gar nicht entziehen; es hat in dieser »totalen Institution«, wie Goffman sie nennt, nicht einmal die Chance, sich zurückzuziehen. Daher bietet ein Heim - als totale Institution aufgefaßt - ideale Umstände zum »Labeling«. Der Eintritt in die totale Institution bedeutet den Abbruch des bisherigen Lebensstils und der bisherigen Sozialkontakte. Damit wird die Identität vieler Stützen beraubt und für Manipulationen leichter zugänglich.

In dieser Situation fällt es dem Kind schwer, die ihm angebotene deviante Identität abzuwehren. Deren Unterstellung, sowie die Zweifel der Betreuer, ob eine Besserung überhaupt möglich ist oder angestrebt wird, und Skepsis gegenüber der Glaubwürdigkeit eines normgerechten Verhaltens, erschweren es dem Kind, eine normale Identität zu entwickeln bzw. aufrechtzuerhalten.

Die Bewertungen in den Heimberichten sind daher bessere Indikatoren für Labelingprozesse als die Berichte und Gutachten anderer Stellen, weil, anders als in ihren Kontakten zu Fürsorgern und Sozialarbeitern des Jugendamtes, die Kinder in den Heimen täglich - oft über Jahre hinweg - mit Erziehern zusammenleben, die diese Bewertungen in der Interaktion zum Ausdruck bringen können.

Daß nun bei den Kindern im Verlauf des Heimaufenthaltes wirklich eine Identitätsänderung in Richtung auf deviante Selbsteinschätzung stattgefunden hat, läßt sich aus den Akten nicht verläßlich erkennen. Dieser Wandel kann nur bei denjenigen unterstellt werden, die eine kriminelle Karriere nach dem Heimaufenthalt (oder zwischen zwei Aufenthalten) beginnen.

2.3. Beziehungen zwischen Etikettierung und Karriere

Vergleicht man Kinder, aus deren Heimberichten auf eine konsistent negative Bewertung, auf Etikettieren also, geschlossen werden kann, mit denjenigen, bei denen dies nicht der Fall zu sein scheint, unter der Fragestellung, ob sie eine spätere kriminelle Karriere eingeschlagen haben, so ergibt sich ein signifikanter Zusammenhang im Sinne der Theorie (Tabelle 3).

Tabelle 3: Etikettierung als Abweichler im Heim und spätere kriminelle Karriere. Verteilung ist auf .01 Prozent signifikant (x2 = 9.374)

 

Label

   
 

gegeben

nicht gegeben

Summe

später nicht kriminell

4

21

25

später kriminell

11

7

18

 

15

28

43

»Später kriminell« umfaßt als Kategorie sowohl Kinder, bei denen sich deutlich eine kriminelle Karriere abzeichnet, als auch die größere Gruppe derjenigen, die entweder nur wegen eines einzelnen Delikts vor Gericht standen oder sich wegen mehrerer Bagatellen zu verantworten hatten. Eingeschlossen sind auch einige Kinder, die zwischen zwei Heimaufenthalten gegen Gesetze verstießen, aber nach der endgültigen Entlassung nicht mehr. Bei ihnen kann wenigstens die nach dem 1. Heimaufenthalt registrierte Kriminalität auf Labeling-Effekte im Heim zurückzuführen sein.

Das Vorliegen von Bewertungen, die eine deviante Identität unterstützen (Iabel), wurde unterstellt, wenn in den Führungsberichten Bemerkungen standen, die entweder in eine (oder mehrere) von fünf Kategorien negativer Bewertungstendenz[4] einzuordnen waren, oder insgesamt eine Konsistenz der negativen Bewertung aufzeigten. Waren hingegen neben negativen Bewertungen auch positive Einschätzungen gegeben, wurde ein Mischfall angenommen, der nicht in die Labelklassifikation gehörte. Um die Gruppe der als Abweichler, als Gesellschaftsfeinde oder als Kriminalitätsrisiko Etikettierten von denjenigen eindeutig zu trennen, für die eine solche Etikettierung nicht angenommen wird, wurden auch für die andere Gruppe Kategorien formuliert[5].

Tabelle 3 zeigt, daß von 15 Kindern, die als Abweichler etikettiert wurden, in der Tat 2 kriminell wurden, aber nur 7 von den 28, denen kein solches Etikett angeheftet wurde. Dies mag als Bestätigung der Theorie gewertet werden.

Möglicherweise liegt aber eine Scheinkorrelation in dem Sinne vor, daß ein dritter Faktor beides - Das Labeling und die spätere Kriminalität - bewirkt. Ein solcher Faktor könnte frühere Kriminalität sein. Um dies zu prüfen, wird diese Variable in Tabelle 4 kontrolliert. Es ergibt sich, daß bei denen, die vor dem Heimaufenthalt eine kriminelle Tat begingen, ein Labeling in jedem Fall zu späterer Kriminalität führte. Umgekehrt sind praktisch alle vorher nicht als »kriminell« Aufgefallenen, die keine Etikettierung im Heim erfuhren, später nicht kriminell geworden. Vorher als »kriminell« Aufgefallene, die keine Etikettierung erfuhren, wurden in gleicher Proportion später kriminell.

Erkennbar wird aber auch, daß vorherige Kriminalität kaum mit Labeling korreliert (vgl. die Summenwerte in den Spalten: 6-9; 9-19), und daß vorherige Kriminalität/Nichtkriminalität gleich stark mit späterer Kriminalität/Nichtkriminalität zusammenhängt (vgl. die Zwischensummen der Zeilen: 11-4; 7-21). Im ganzen gesehen scheinen sich beide Variablen praktisch additiv zu verhalten.

Tabelle 4: Voneinander unabhängige Wirkung der Variablen »Labeling« und »vorherige Kriminalität« auf spätere Kriminalität (n = 43 Kinder)

 

vorher kriminell

vorher nicht kriminell

         
 

Label

kein Label

Zwi-Summe

Label

kein Label

Zwi-Summe

Summe

später kriminell

6A

5B

(11)

5C

2D

(7)

18

später nicht kriminell

0E

4F

(4)

4G

17H

(21)

25

 

6

9

(15)

9

19

(28)

43

Kurz gesagt entspricht es der Theorie, wenn die Felder A, F, C und H besetzt sind, während es ihr widerspricht, wenn die Felder E, B, G und D besetzt sind. Besonders günstig ist, daß im Feld E kein einziger Fall zu verzeichnen ist. Hingegen sind die Felder B, G und D besetzt, so daß es wichtig ist, diese aus der Überprüfbarkeit durch die Untersuchung herausfallenden oder der Theorie des »labeling approach« widersprechenden Einzelfälle genauer zu analysieren.

Feld G ist am einfachsten zu erklären. Alle vier Personen sind Mädchen. Bekanntlich werden Mädchen ohnehin weitaus seltener kriminell als Jungen. Man kann annehmen, daß hier frühe Heirat eine erstrebenswerte Alternative zu einer devianten Karriere darstellt, daß Heirat auch reduzierte Berufschancen wettmachen kann, die das Abgleiten in die Deviantenrolle bei Männern unterstützen, und daß die Umwelt gegenüber verheirateten Frauen primär auf ihre Rolle als Ehefrau und weniger auf ihre Rolle als ehemaliger Heimzögling reagiert.

Feld D enthält zwei Fälle. Da aber weder Labeling noch frühere Kriminalität vorkommt, sollte dieses Feld ebenso leer geblieben sein wie Feld E. Für beide Fälle gilt aber, daß Labeling außerhalb des Heimes stattgefunden haben kann, im Material aber nicht dokumentiert ist[6].

Feld B enthält fünf Fälle. Drei der Jungen haben eine eindrucksvolle kriminelle Karriere aufzuweisen, die Karriere des vierten ist vergleichsweise bescheiden und endet abrupt mit dem Eintritt in die Bundeswehr. Alle vier beginnen ihre Karriere früh (10 oder 11 Jahre alt) und haben wenigstens zwei Delikte begangen, ehe sie ins Heim kommen. Sie bleiben zwischen 1 und 3 Jahren dort, also relativ kurz. Ihre Karriere scheint sich weitgehend unabhängig vom Heimaufenthalt zu entwickeln. Das Heim scheint weder zur Definition ihrer Identität als deviant beizutragen noch ihnen zum Ausbruch aus der Karriere zu verhelfen. Der fünfte Fall ist ein Mädchen, das mehrfach aus einem Heim entwich und auf der Flucht mehrere Ordnungsverstöße beging. Nach Lage der Akten scheinen diese Fälle im Widerspruch zur Theorie zu stehen: aus den Heimberichten geht nichts über Labeling-Prozesse hervor, und dennoch wird die bereits zuvor begonnene Karriere konstant fortgesetzt. Eine genauere Analyse aller Ausnahmefälle ergab, daß

4 Mädchen, die im Heim etikettiert wurden, keine Karriere begannen,

2 Jungen ohne Labeling im Heim später kriminell wurden,

4 Jungen mit früh begonnener Karriere ohne erkennbares Labeling im Heim diese Karriere fortsetzten, und

1 Mädchen als Reaktion auf die Heimsituation (ohne Labeling) zu Ordnungskriminalität veranlaßt wurde.

Die sich für den »labeling approach« ergebende Problematik dieser 11 Fälle darf jedoch nicht überbewertet werden, solange spezifizierende Bedingungen unberücksichtigt bleiben, wie z.B. die Heirat der Mädchen als Alternative zur devianten Karriere. Ebenso können Stigmatisierungen in der Außenwelt, Beschneidungen von Alternativen zur Devianzkarriere durch das Stigma als Fürsorgezögling und die Reduzierung von Berufschancen durch das Fehlen adäquater Ausbildungsmöglichkeiten in den Heimen für das Einschlagen einer devianten Karriere eine Rolle spielen.



[1] Peters und Cremer-Schäfer (1975) kritisieren, daß der von mir verwendete Ansatz die Untersuchung von Etikettierungsunterlassungen ausschließe. Daher könne meine Studie nicht zur Etikettierungsthese Stellung nehmen. Nun hat meine Arbeit nicht das Ziel von Peters/Cremer-Schäfer verfolgt, nämlich den Nachweis zu führen, daß Sozialarbeiter Etikettierungen unterlassen, bzw. Sozialarbeit nicht als Etikettierungsinstanz fungiere; vielmehr ging es mir darum, die Folgen zu untersuchen, die Etikettierungen haben können, wenn sie überhaupt auftreten (und zwar vorwiegend in Erziehungsheimen!). Auch in meinem Sample gibt es eine Reihe von Fällen, bei denen keine Etikettierungen in Richtung Devianz (Stigmatisierungen) ersichtlich waren (vgl. Tab. 3 und 4), dennoch scheint mir die Tatsache, daß in anderen Fällen Etikettierungen vorfindbar waren, die These, daß Sozialarbeit nicht im Sinne einer Etikettierungsinstanz wirke, zumindest einzuschränken. Da Stichproben immer nur in gewissen Fehlergrenzen Schlüsse auf die Gesamtheit erlauben, scheint mir die These von Peters/Cremer-Schäfer, Sozialarbeit fungiere nicht als Etikettierungsinstanz, in dieser Allgemeinheit empirisch nicht eingelöst worden zu sein.

[2] Laut Jugendwohlfahrtsgesetz sind die Aufgaben des Jugendamtes u.a. der Schutz der Pflegekinder, die Mitwirkung im Vormundschaftswesen, die Mitwirkung bei der Erziehungsbeistandschaft, der Freiwilligen Erziehungshilfe, der Fürsorgeerziehung, die Jugendgerichtshilfe und die Mitwirkung in der Jugendhilfe bei den Polizeibehörden, insbesondere bei der Unterbringung zur vorbeugenden Verwahrung.

[3] Vgl. den im vorliegenden Sammelband veröffentlichten Beitrag von R. Lautmann

[4] Folgende fünf Kategorien wurden gebildet:

I. Wesensmäßige Andersartigkeit: Bemerkungen, in denen zur Erklärung der Devianz ausdrücklich auf Charakter, Erbmasse, Rasse oder Triebe verwiesen wird. Verhaltensweisen werden als unabänderlich deviant angenommen, weil sie angeblich anlagemäßig oder erblich bedingt sind.

II.Sexuelle Perversion: Es werden fortgeschrittene homosexuelle Neigungen unterstellt.

III. Geisteskrank: Abweichendes Verhalten wird auf psychische Abnormitäten zurückgeführt.

IV. Psychopathisch: Bemerkungen über Charakterzüge oder Verhaltensweisen, die als gesellschaftlich störend oder gefährlich angesehen werden; Beispiele: »extreme Neigung zum Lügen«, »Fehlen von ethischen und verstandesmäßigen Hemmungen«, das Fehlen eines »Eigentumsbegriffs«, »primitive Genußsucht«, »unberechenbar, durchtrieben, gemütsstumpf, verschlagen, hinterhältig, undurchsichtig«.

V. Allgemein negative Prognose: Klare Vorhersage späterer Abweichung; Beispiele: »wird seiner Mutter Kummer machen, wird sich nicht mit einem Mann begnügen, wird seinen Triebwillen außerhalb der menschlichen Gesetze durchsetzen«.

[5] Die Kinder dieser anderen Gruppe sind nicht vollkommen von Etikettierungen verschont geblieben, aber die Art der Label ist milder und die gleichzeitige Betonung positiver Züge und Verhaltensweisen läßt auf eine eher freundliche Behandlung schließen. Trotz negativer Eigenschaften werden ein guter Charakter oder gute Entwicklungsmöglichkeiten unterstellt, die im Grunde als dominant angesehen werden. Kategorien dieser Art sind:

a) Positiv-negativ: Es werden Fortschritte gegenüber früherer negativer Erscheinung betont und positive Züge genannt, die Mängel kompensieren; Beispiele: »Fortschritte in Sauberkeit und Ordnung«, Mangel an Intelligenz, aber guter Wille oder Fleiß, Einzelgänger, der allen anderen überlegen ist.

b) Entwicklungsprobleine: Auffälligkeiten und deviante Verhaltensweisen werden auf Entwicklungsverzögerung zurückgeführt; Beispiele: »Nervosität, Ängstlichkeit, Infantilität, Neigung zu Depressionen, Unsicherheit, Weinausbrüche, Mangel an Selbstvertrauen, Leben in der Phantasiewelt, Kontaktschwierigkeiten, resignative Haltung, Labilität, Introvertiertheit, unmännlich«.

c) Passivität: Verhaltensweisen werden als unangenehm, aber weder als gefährlich noch als störend geschildert, auch weil sie unauffällig sind; Beispiele: »Trägheit, primitiv, interessenlos, lebhafte Phantasie, faul, ohne Initiative, gleichgültig, ohne Pflichtbewußtsein«.

d) (Restkategorie): Darunter fallen die wenigen Fälle, in denen sich entweder nur positive Beurteilungen finden lassen oder gar keine (was der Fall ist, wenn der Betreffende weniger als ein halbes Jahr im Heim verbrachte, so daß kein Führungsbericht angefertigt wurde.) Mangels Information muß hier offen bleiben, ob dennoch relevante Labels angebracht wurden oder nicht.

[6] Bei dem ersten Fall handelt es sich um einen Jungen, der während eines vierjährigen Heimaufenthaltes positiv beurteilt wird und erst Jahre später durch ein Bagatelldelikt straffällig wird. Dieser geringfügige Rechtsbruch scheint das Ergebnis einer Kette von Frustrationen zu sein, die mit dem Scheitern in der Berufslehre begann. Dieses Scheitern allerdings scheint mit seiner Stigmatisierung als ehemaliger Fürsorgezögling zusammenzuhängen, im Sinne der Theorie also mit einer Reduzierung von Chancen. Beim zweiten Fall handelt es sich um einen Jungen, über dessen kurzen Heimaufenthalt keine Berichte vorliegen. Wiederum Jahre nach dem Heimaufenthalt kommt es bei einem familiären Streit zur ersten Strafhandlung, die impulsiv geschieht und sich auf unerträgliche familiäre Spannungen zurückführen läßt. Die darauffolgende kriminelle Karriere könnte jenen Labeling-Prozeß zum Anlaß haben, der durch die Gerichtsverhandlung eingeleitet und während der Dauer des Jugendarrests fortgeführt wurde.

3. Kritik des »labeling approach«

Die Ergebnisse der Konfrontation mit empirischen Daten zeigte, daß einige Aspekte der Theorie unklar und kritisch bleiben.

3.1. Primäre und sekundäre Devianz

Zunächst ergab sich, daß der Effekt des Labeling nicht größer ist als der, den der Faktor »frühere Kriminalität« bewirkt. Deviante Aktivität, die vor jedem Labeling-Prozeß auftritt, scheint für eine deviante Karriere eine größere Rolle zu spielen als in der Labeling-Theorie angenommen wurde; aber diese Theorie kann und will auch nicht die Kriminalität, die vor dem Labeling auftritt, erklären. Für ihren Ansatz, der Devianz in Begriffen der sozialen Reaktion definiert, müssen als deviant geltende Handlungen, die ihrerseits nicht eine Reaktion auf soziale Kontrolle darstellen, als Erklärungsobjekt irrelevant bleiben. Sie werden als primäre Devianz von jener »sekundären Devianz« unterschieden, für die die Theorie anwendbar ist. So werden dann erstmalige »deviante Aktivitäten« (deren Devianzcharakter gesellschaftlich definiert ist) als einmalige, episodenhafte, zufällige und impulsive Handlungen gesehen, die völlig im Bereich des Normalen liegen und sich ziemlich gleichmäßig über alle sozialen Schichten erstrecken. Ihre Bezeichnung als »primäre Devianz« geht auf Lemert zurück; von ihr verschieden ist die sekundäre Devianz, die sich erst infolge sozialer Reaktionen auf die primäre Devianz einstellt (Lemert 1951).

Im Grunde genommen wäre diese Unterscheidung nicht nötig. Man könnte auch die erste, die das Labeling auslösende Tat, auf früheres Labeling zurückführen, nicht durch Agenten der sozialen Kontrolle, sondern z.B. innerhalb der Familie, der Schule und der Spielgruppen. Aus dieser Sicht würde angenommen, daß kleine Normverstöße, wie zu spät zur Schule kommen und laut abends auf der Straße spielen, von Lehrern, Nachbarn oder Eltern zum Anlaß von Labeling genommen würde, und daß diese Reaktionen die Entfaltung einer devianten Identität einleiten, der dann das Verhalten entspringt, das als Initialhandlung des offiziellen Labeling fungiert.

Dies wiederum verallgemeinert die Theorie so stark, daß sie unhandlich wird und ihren Sinn verliert. Der Begriff des Labeling wird zu sehr strapaziert und verliert seine Erklärungskraft, wenn man das, was jeder jeden Tag an Beurteilungen erfährt, mit darunter rechnen will. Die Labeling-Theorie würde unversehens zu einer Sozialisationstheorie über die Entwicklung devianten Verhaltens.

Die Unterscheidung von primärer und sekundärer Devianz bewirkt aber noch ein weiteres Dilemma des Ansatzes. Erklärtes Ziel der Theoretiker ist, das Interesse bestimmter Gruppen und Organisationen in der Gesellschaft an der Kriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen zu klären, und sie konzentrieren sich daher konsequenterweise nur auf die registrierte Delinquenz, auf Selektionsmechanismen und Identitätsmanipulation, unabhängig von der Dunkelziffer-Kriminalität und der Vorgeschichte der Täter (Instanzenforschung); und allein dieses Interesse berechtigt sie zur Übernahme einer legalistischen Definition von Devianz. Andererseits möchten die Labeling-Theoretiker auch nachweisen, daß die Öffentlichkeit und ihre Kontrollorganisationen Delinquenz erst schaffen, und zwar nicht in rein definitorischem Sinne, sondern real und mit realen Konsequenzen. Dabei genügt es ihnen nicht, die Wirksamkeit der Rollenzuweisung dafür anzuführen, sondern sie möchten zeigen, daß bevor ein Individuum als deviant abgestempelt worden ist, es nicht wirklich »deviant« war, sondern gewissermaßen nur das tat, was viele tun, ohne in die Justizmaschinerie zu geraten. Nach der Abstempelung gilt dies und folgendes Verhalten als deviant. Ist das Verhalten als solches nachher verschieden von dem vorherigen? Oder ist es das gleiche, und der Unterschied liegt nur darin, daß das eine nicht registriert wurde, wohl hingegen das andere. Wenn eigentliche Devianz nur registriert ist, warum kommen dann wieder jene Definitionen von Verhalten zur Anwendung, die vorher konsequenterweise verworfen wurden, Definitionen, die nicht mehr auf legalistischer Basis beruhen, sondern auf - kraß gesagt - »common sense«, insofern zwischen «normaler« und »kriminallsierter« Devianz unterschieden wird. Der Begriff der normalen, primären Devianz ist irreführend und inkonsequent. Er sollte fallengelassen werden, denn tatsächliche Entdeckung der Devianz im Sinne öffentlicher Bekanntheit ist eine notwendige Bedingung für die Definition eines Verhaltens oder einer Person als deviant.

3.2. Unklarheiten im Identitätskonzept

Ein weiteres Ergebnis der empirischen Konfrontation ist, daß (a) nicht jedes Labeling zu einer devianten Karriere führt, und daß (b) Personen, denen offenbar keine deviante Identität im Erziehungsheim offeriert wurde, später dennoch eine deviante Karriere begannen. Empirisch stellt sich z.B. auch die Frage, ob Kinder, die mal negativ und mal positiv beurteilt wurden, und somit in die Kategorie »ohne eindeutiges Label« kamen, nicht dennoch aufgrund der negativen Beurteilungen eine deviante Identität übernahmen. Theoretisch ist dies die Frage nach den konkreten Bedingungen, die zur Identitätsmanipulation geeignet sind. Vermutlich ist die öffentliche Reaktion als solche noch nicht entscheidend für das Hervorbringen einer devianten Identität, sondern erst ihre besonderen Formen. Der Labeling-Ansatz aber läßt offen, ob z.B. ein formaler Gerichtsbeschluß ausreicht, um dem Verurteilten eine deviante Identität aufzuzwingen, oder ob nicht degradierende Gerichtsverhandlungszeremonien gemeinsam mit dem Erlebnis eines entwürdigenden Gefängnisaufenthaltes hinzukommen müssen.

Um die Effektivität des Etikettierungsprozesses vorhersagen zu können, müssen die Bedingungen, unter denen Identitätswandel erfolgt, spezifiziert werden. Das erfordert das Hineinnehmen psychologischer Erklärungfaktoren in eine ansonsten soziologische Theorie. Ohne sie bleiben viele Fragen offen. Wie wirken sich Verschiedenartigkeit und Uneinheitlichkeit der Reaktionen auf die Identität aus? Wie lange braucht ein Labeling-Prozeß, um effektiv zu sein? Wer hat neben den Kontrollorganisationen einen relevanten Einfluß auf die Entwicklung der devianten Identität? Peer groups, Familie, Schule oder Berufskolegen? Wer sind die »significant others«? Brauchen sie legale Autorität für das Anbringen eines Labels, damit diese erfolgreich wirkt? Oder müssen sie dazu eine bestimmte Beziehung zum »Devianten« aufbauen? Wie groß müssen Beeinflußbarkeit und Orlentierungslosigkeit eines Menschen sein, damit das deviante Label auf fruchtbaren Boden fällt? Welche Rolle spielen darüber hinaus das Maß der Stigmatisierung, die Länge des Heim- und Gefängnisaufenthaltes, die Anzahl der Verurteilungen, der Bekanntheitsgrad des Täters (etwa wenn die Presse den Fall aufgreift) und die Schwere (strafrechtlich gesehen) des Delikts? Es fehlt die Klärung der Bedingungen, nicht nur theoretisch, sondern auch durch empirische Untersuchungen.

3.3. Identitäswandel und reduzierte Chancen

In dem Labeling-Ansatz vermischen sich zwei Konzepte, die relativ eigenständig nebeneinander existieren können, und deren Verzahnung Schwierigkeiten bereitet. Das eine, wohl das problematischere, ist das der »Identität«, das andere, empirisch vermutlich leichter zu überprüfen, ist das der »reduzierten Chancen«. Beide dienen der Erklärung einer devianten Karriere im Sinne dieses Modells:

In dieser empirischen Untersuchung konnte infolge des unzureichenden Materials nicht überprüft werden, in welcher Weise des Stigma, Fürsorgezögling zu sein, die Chancen reduziert. Schütte (1968) aber beliegt in seiner Arbeit, in der er ehemalige Fürsorgezöglinge untersucht, daß die Chancen durch einen Heimaufenthalt in der Tat reduziert werden, insbesondere was den beruflichen Werdegang betrifft.

Generell kann man sagen, dass es dem ehemaligen Führsorgezögling schwer gemacht wird, zu einem normalen Leben zurückzufinden. Seine Entlassung aus dem Heim macht seine Stigmatisierung nicht ungeschehen. Seine Wiederanpassung wird erschwert oder gar blockiert durch die Ablehnung seiner Umwelt, die sich schwer tut, ihn in ihrem Kreis wieder aufzunehmen (Erikson, 1970).

Reduzierte Chancen, so scheint es, führen zu krimineller Karriere in Ermangelung von Alternativen. Erikson verzichtet völlig darauf, in diesen Prozeß die Veränderung der Identität einzubeziehen, sondern unterstreicht die fatale Wirkung reduzierter Chancen gerade durch Kontrastierung mit der Suche nach künftiger Konformität (readjustment), also dem Wunsch nach konformer Identität. Die Ungeklärtheit der Beziehung zwischen Identitätsänderung und reduzierten Chancen erlaubt deshalb die These: die Gesellschaft produziert ihre Kriminellen weniger durch Akte der Stigmatisierung, als dadurch, daß sie ihnen konforme Handlungsalternativen durch die Beschränkung sozialer Teilnahmechancen verweigert.

3.4. Ist die »Labeling-Theorie« eine Verhaltenstheorie?

Über die bisher diskutierte Kritik hinaus, die, von der empirischen Konfrontation angeregt, immanente Probleme der Theorie aufgriff, können ganz allgemeine Vorbehalte geäußert werden in bezug auf den Erklärungsanspruch der Theorie[7]. Diese Kritik wird besonders von Turk (1964) herausgearbeitet; er weist mit Nachdruck darauf hin, dass es einen Unterschied macht, ob man Kriminalität oder »kriminelles« Verhalten untersuchen will. Registrierte Devianz (und damit eine legalistische Definition von Devianz) zur Grundlage der Forschung zu machen, ist nur sinnvoll, wenn man sich auf die Erklärung wie Kriminalisierung von bestimmten Verhaltensweisen zustande kommt beschränkt. Dagegen »kriminelles« Verhalten auf dieser Grundlage untersuchen zu wollen, hieße nicht nur, unwissenschaftliche Definitionen zur Grundlage von Verhaltensforschung zu machen, sondern auch den Zustand zu reifizieren, den man an sich erklären will, nämlich Kriminalität.

Das neue Devianzkonzept postuliert, daß es kein Verhalten gibt, das an sich als solches kriminell ist, sondern nur Verhalten, das von der Öffentlichkeit und ihren Institutionen als kriminell erkannt und definiert wird[8]. In diesem Sinne produziert die Öffentlichkeit Kriminalität. Das Konzept wird inkonsistent, wenn von dieser Ebene der Definition auf eine reale übergegangen wird. Die Produktion der Kriminalität wird nicht mehr nur definitorisch, sondern auch real verstanden: die Definition von Personen als »kriminell« habe die Tendenz, daß das mißbilligte Verhalten bestärkt oder stabilisiert wird und gehäuft hervorgebracht wird (Karriere).

Nach Meinung Turks wird damit der Versuch unternommen, kriminelles Verhalten zu erklären. Die Einsicht der Labeling-Theorie, daß es kriminelles Verhalten per se nicht gibt (da die Gesellschaft jedes beliebige Verhalten dazu erklären kann), steht in einem gewissen Widerspruch zu der theoretischen Annahme, daß Personen durch Identifikation mit einem devianten Label (unter bestimmten, noch anzugebenden Bedingungen) zu Verhaltensweisen gelangen, die in bestimmten Gesellschaften als kriminell betrachtet werden.

Dieser Widerspruch ist aufzulösen, wenn man den Labeling-Ansatz nur als Erklärungsmodell für die Habitualisierung eines bereits gegebenen Verhaltens begreift, nicht aber für dessen Genese. Dann kann man sagen: der Labeling-Prozeß zwingt unter bestimmten Bedingungen zur Übernahme einer devianten Rolle. Solche Rollen implizieren per definitionem Verhaltensweisen, die die Gesellschaft mißbilligt. Sie implizieren ferner die Habituallsierung solchen Verhaltens und dessen Intensivierung (im Sinne der Zunahme des Devianzgrades). Für jede Art von Gesellschaft lassen sich deviante Rollen unterschiedlichen Inhalts denken. Das heißt: Inhalte variieren je nach Gesellschaft (das konkrete Verhalten, das den Inhalt ausmacht, ist damit beliebig variabel und für die Labeling-Theorie uninteressant), aber ihre Bewertung als »deviant« bleibt konstant. Auf eine konkrete Gesellschaft angewendet, erklärt die Labeling-Theorie, in anderen Worten, Rezidivismus, Rückfallkriminalität[9].



[7] Generelle Kritik kann auch gegen das der Theorie zugrundeliegende Menschen- bzw. Gesellschaftsbild erhoben werden. Eines ihrer wesentlichen Teilstücke, der Mechanismus der »self-fulfilling prophecy«, suggeriert die Vorstellung eines völlig passiven und rezeptiven Individuums und unterschätzt damit seine dynamischen und innovativen Eigenschaften. Es scheint, als würde damit der Zwangscharakter des Labeling-Prozesses überbetollt, während Mechanismen, die für Widerstand und Neutralisierung gegen das Label sorgen, vernachlässigt werden.

Außerdem werden Unterschiede in den strukturellen Spannungen, sozioökonomische und kulturelle Bedingungen, die bis zu einem bestimmten Grad das Verhalten hervorrufen, gegen das die öffentliche Reaktion sich richtet, vernachlässigt und eventuell in ihren Auswirkungen unterschätzt. Ihre Bedeutung für die Selektion wird zwar gesehen, nicht aber für den Labeling-Prozeß selbst.

[8] Dies bedeutet z.B. auch, daß sich die kriminelle Karriere nur an Verhaltensweisen erkennen läßt, die in der Öffentlichkeit registriert wurden. Ein wesentlicher Aspekt der »Professionalisierung« der Devianz-Rolle besteht aber auch darin, Fertigkeiten zur Verbergung des abweichenden Verhaltens zu entwickeln. Ob solches Verhalten durch Mangel an öffentlicher Bekanntheit und sozialer Reaktion aus der Reichweite der Theorie herausfällt, ist umstritten. Es wird argumentiert, daß der Deviante selbst die Rolle der mutmaßlichen öffentlichen Reaktion übernehmen kann. Dieses Selbst-Label wird als ebenso effektiv verstanden, wie die Etikettierung durch Kontrollorganisationen. Das Konzept des Selbst-Labels steht theoretisch in völliger Übereinstimmung mit dem symbolischen Interaktionismus. Forschungstechnisch gesehen aber hat es den Nachteil, empirisch schwer überprüfbar zu sein. Die Verwendung dieses Konzepts bedeutet aber auch eine Inkonsistenz der Theorie, da ja eine ihrer wesentlichen Bedingungen die Reaktion auf bekanntgewordene Devianz ist.

[9] Vergleiche hierzu die Arbeit von Schäfer im vorliegenden Sammelband.

Literatur

Becker, H. S., Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, Frankfurt 1973

Brusten, M., Prozesse der Kriminalisierung - Ergebnisse einer Analyse von Jugendamtsakten, in: H. U. OttoIS. Schneider (Hrsg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Neuwied/Berlin 1973, 2. Halbband, S. 85 - 125

Cicourel, A. V., The Social Organization of juvenile Justice, New York 1968

Cicourel, A. V.lKitsuse, J. 1., The Social Organization of the High School and Deviant Adolescent Careers, in: E. RubingtonIM. S. Weinberg (Hrsg.), Deviance - The Interactionist Perspective, London 1968, S. 124-135

Claessens, D.lKloenne, A.JTschoepe, A., Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf/Köln 1965

Erikson, K. T., The Sociology of Deviance, in: G. P. StonelH. A. Faberman (Hrsg.), Social Psychology through Symbolic Interaction, Waltham 1970

Garfinkel, H., Conditions of Successful Degradation Ceremonies, in: American journal of Sociology 1956 (hier zitiert nach: E. RubingtonIM. S. Weinberg (Hrsg.), Deviance - The Interactionist Perspective, London 1968, S. 187-192

Lemert, E. M., Social Pathology, New York 1951

Peters, H.Icremer-Schäfer, H., Produzieren Sozialarbeiter abweichendes Verhalten? in: Soziale Welt, 1/75, S. 58-75

Schütte, H., Das Kriterium »Amtsbekanntheit«, unveröffentlichte Magisterarbeit, Konstanz 1968

Schumann, C., Kriminalität durch Fürsorge?, in: Kriminologisches Journal 2/ 1974, S. 89-104

Tannenbaum, F., The Dramatization of Evil, in: E. RubingtonIM. S. Weinberg (Hrsg.), Deviance - The Interactionist Perspective, London 1968, S. 17-19

Turk, A. T., Prospects for Theories of Criminal Behavior, in: Journal of Criminal Law, Criminology and Police Science 1964 (hier zitiert nach M. LeftonlJ. K. SkipperIC. H. McCaghy (Hrsg.), Approaches to Deviance, New York 1968)

Zur Person

Geb. 1944, M. A., Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Hochschuldidaktik der Universität Bielefeld. Arbeitsgebiete: Soziologie abweichenden Verhaltens und sozialer Kontrolle, Stadtsoziologie, Diskriminierung der Frau.

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Quelle:

Carola Schumann: Heimerziehung und kriminelle Karrieren. Eine empirische Untersuchung anhand von Jugendamtsakten

erschienen in: Manfred Brusten/Jürgen Hohmeier(Hrsg.), Stigmatisierung 2, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt 1975. S. 33 - 56

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.03.2005

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