Folgen von Gewalt

Neben direkten physischen Folgen von Gewalterfahrungen können vor allem langfristig massive Einschränkungen Folgen von Gewalterfahrungen sein. Dazu zählen Destabilisierungen und Schwierigkeiten im Erwerb, Entwickeln und Anpassen von Lebensbewältigungsstrategien.

Die folgende Aufzählung ist eine Auswahl von nachgewiesenen Folgen von Gewalterfahrungen.

  1. Angst
  2. Traumata
  3. Einsamkeit
  4. Scham- und Schuldgefühle
  5. Sprachlosigkeit
  6. Folgen von Straffreiheit
  7. Anpassung und Transformation im Rahmen struktureller Gewalt

1 Angst

  • Extreme Verlustängste
  • Tiefes Misstrauen gegenüber Menschen
  • Allgemeiner Verlust von Vertrauen
  • Angst verletzt zu werden

Das Wort Angst kommt vom dem lateinischen Wort angustiae, die Enge. Eng wird es, wenn Menschen sich klein machen, um die Angriffsfläche des Körpers zu minimieren, oder wenn Menschen die Luft anhalten, um nicht durch Atemzüge verraten zu werden, oder wenn sich die Blutgefäße verengen und Angstschweiß austritt. Diese Körpersprache erzählt von Unterwerfung. Die Gegner_in wird als übermächtig eingeschätzt, Widerstand erscheint zwecklos und Problemlösungen stehen nicht zur Verfügung. (PERNER 1999, S. 12)

„Viele Menschen die in Einrichtungen leben oder arbeiten haben Angst. Sie haben Angst davor, sich zu beschweren wenn etwas nicht passt oder sie ungerecht behandelt werden.“ (WIBS 2010)

„Ich hab nach wie vor Panikattacken. Dass diese Traumatisierung von damals eigentlich nie richtig weggegangen ist. Sie ist zwar wesentlich schwächer oder mal stärker, aber nie wirklich weggegangen, die ist nach wie vor präsent. Und ein bestimmter Teil meines Lebens. Traumatisierung hat definitiv stattgefunden und die bestimmt mein Leben.” (ANONYM, SCHACHNER et al. 2014)

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2 Traumata

Ein Trauma als ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten” entsteht durch ein erschütterndes Ereignis und geht mit Kontrollverlust, Entsetzen und (Todes-) Angst einher […]. Das Ausmaß der Traumatisierung ist abhängig von Art, Umständen und Dauer des Ereignisses sowie vom Entwicklungsstand, in dem sich das Opfer zu diesem Zeitpunkt befindet. Zu den Umständen zählt auch, ob es vor, während oder nach der Traumatisierung schützende Faktoren gegeben hat. Die wichtigsten umgebenden Schutzfaktoren sind stabile Bindungsverhältnisse. Genau diese fallen jedoch bei vielen komplexen traumatischen Erfahrungen in der Kindheit und bei Gewalt und Missbrauch aus. (GAHLEITNER 2012)

„Also ich hab das erst sehr spät realisiert, dass das war. Nicht einmal bei der Geburt von meinem Sohn. Das hat so lang gedauert weil mein Muttermund nicht aufgegangen ist, dann haben sie gesagt der Muttermund ist komplett vernarbt. Nicht einmal da hab ich geschalten. Erst viel später mit vierzig Jahren hab ich erst gewusst, richtig gewusst, was passiert ist. Also mein Unterbewusstsein hat’s vorher noch nicht zugelassen.“ (ANONYM, SCHACHNER 2014)

 „Niemandem habe ich davon erzählt, weil ich Angst hatte, dass er mich wieder schlägt, wenn er davon erfährt. Ich musste schweigen. Es war so grausam. (…) Ich glaube heute, dass ich es nicht gesagt habe, weil der Lehrer dann das Jugendamt verständigt hätte und die hätten einen Brief an die Eltern geschrieben, die hätten mich dann für den Verrat geschlagen. Dann hätte ich noch mehr gelitten. Aber wenn das Jugendamt es den Eltern nicht gesagt hätte, sondern uns sofort getrennt hätte, sodass ich die Eltern nie mehr sehe… das wäre besser gewesen.” (ANONYM, SCHACHNER 2014)

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3 Einsamkeit

Einsamkeit kann als das Produkt der hier aufgezählten Faktoren gesehen werden. Sie zeigt sich in:

  • Sozialer Isolation
  • Gefühlen totaler Verlassenheit
  • Süchten
  • Genussmittelmissbrauch
  • Selbstmordgedanken
  • Depressionen
  • Kontakt- und Bindungsängsten

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4 Scham- und Schuldgefühle

Bestimmende Elemente in der Gewaltdynamik sind Schuld und Schuldgefühle, die es Betroffenen fast verunmöglichen, über ihre Erlebnisse zu sprechen und um Hilfe zu suchen.

„Es ist durch die Eltern transportiert worden, sie müssen das machen, weil ich so schlimm bin, deshalb müssen sie mich schlagen. Das hab ich tausende Male gehört und gespürt. Das ist ja diese Schuldspirale, ich bin schuld dass ich so bin, deswegen müssen die Eltern so sein, das wollen sie eigentlich gar nicht.“ (ANONYM, SCHACHNER 2014)

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5 Sprachlosigkeit

Sprachlosigkeit entwickelt sich aus erlebter Hilflosigkeit und Ohnmacht. Sie verstärkt die erlebte Isolation und erschwert den Ausbruch aus der Gewaltspirale. Im Gegenzug kann der Besuch von Selbsthilfegruppen und Empowermentangeboten zur Wiedererlangung der eigenen Sprache und einer Veränderung des Realitätsbezugs führen. Die im Gruppenprozess bestätigte Gültigkeit von erlebten Gefühlen während und nach Gewalterfahrungen hilft aus der Sprachlosigkeit heraus und kann eine Gegenerfahrung und somit eine starke „Gegenstimme“ zu den nachhaltigen Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühlen durch Gewalterfahrungen bilden. Die Wahrnehmung der Betroffenheit der Zuhörer_innen führt zu einer Veränderung in der Akzeptanz der Gewalterfahrungen. Sie öffnet die Sicht auf die Möglichkeit, dass es nicht so sein muss, wie es gerade ist.

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6 Folgen von Straffreiheit

Straflosigkeit legitimiert Gewalthandlungen und schafft folgenschwere Freiräume für Gewalttäter_innen, nämlich Freiräume für weitere Gewalthandlungen. Die Folgen für die gewalterfahrenden Personen sind weitere Gewalterfahrungen und - in weiterer Folge - Selbstaufgabe und Akzeptanz von Wirkungslosigkeit.

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7 Anpassung und Transformation im Rahmen struktureller Gewalt

Unter den Bedingungen von Isolation und Gewalt finden Transformationen von Affekten statt. Nach Goffman wird in Institutionen vor allem Anpassung als Strategie zur Bewältigung der ohnmächtigen Situation gewählt. Anpassung zeigt sich in den folgenden vier Transformationsformen:

„Goffman beschreibt zum einen die Strategie des "Rückzugs aus der Situation", den Abbruch der Beteiligung an Interaktionsprozessen. Diese Anpassungsform äußert sich in Resignation und Interesselosigkeit, die immer weitere Bereiche der Umwelt und des Erlebens betrifft. Es folgt der Rückfall in entwicklungsmäßig frühere Verhaltensmuster. So beginnen etwa Kinder (aber nicht nur Kinder), die schon sauber waren, wieder in die Hose zu machen. Dauert diese Anpassung lange an, so geht sie bis zu einer sehr weitgehenden und irreversiblen Entpersönlichung.

Eine weitere Form der Anpassung ist der "kompromisslose Standpunkt". Der Anstalts-Insasse bedroht die Institution, indem er die Zusammenarbeit mit dem Personal verweigert. Diese Ablehnung erfordert von InsassInnen eine dauernde Orientierung an der formalen Organisation der Anstalt und daher paradoxerweise ein starkes Interesse an der Institution. Diese Form der Anpassung äußert sich z. B. in hohen Fluchtraten oder auch in aggressivem Verhalten und aktiver Essens-Verweigerung. Dort, wo das Personal den Standpunkt vertritt, dass der Wille des kompromisslosen Insassen gebrochen werden muss, kommt es zu einem Hochschaukeln von Ablehnung und Sanktion, zur Einführung von Korrektions-Zellen, Zwangsjacken, Schlägen, kalten Duschen usw. Die Anpassungsform der Kompromisslosigkeit kann jedoch kaum ein Anstalts-Insasse sehr lange durchhalten. Sie hat meist den Charakter einer anfänglichen Reaktionsphase, der andere Formen der Anpassung folgen.

Eine dritte Form der Anpassung an die Welt der Institution beschreibt Goffman als "Kolonisierung". Der Insasse nimmt dabei das Maximale, das an Befriedigung in der Anstalt erreichbar ist, an und versucht damit relativ zufrieden zu leben und in der Anstalt zu bleiben. Angestellte, die das Leben in totalen Institutionen erträglicher gestalten wollen, müssen damit rechnen, dass sie dadurch auch die Kolonisierung erhöhen.

Die vierte Art der Anpassung ist die "Konversion". Der Insasse macht sich dabei das amtliche oder medizinische Urteil über seine Person zu eigen und versucht die Rolle des perfekten Insassen zu spielen. Er ist diszipliniert, moralistisch, biedert sich an die BetreuerInnen an und ist auch bereit, Aufsichts-Aufgaben über andere InsassInnen zu übernehmen.“ (PLANGGER, SCHÖNWIESE 2010)

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Literatur

Gahleitner, Silke Brigitta (2012): Traumapädagoigk. In: Soziale Arbeit Zeitschrift für soziale und sozialverwandte Gebiete 61/2012.

Perner, Rotraud A. (1999). Darüber spricht man nicht: Tabus in der Familie - Das Schweigen durchbrechen. München: Kösel Verlag.

Sascha Plangger, Volker Schönwiese (2012). Behindertenhilfe - Hilfe für behinderte Menschen? Geschichte und Entwicklungsphasen der Behindertenhilfe in Tirol. Aus: Schreiber, Horst: Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol. Innsbruck: Studienverlag, S. 317-346. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/plangger-behindertenhilfe.html

Schachner, Anna; Sprenger, Claudia; Mandl, Sabine; Mader, Helena (2014). Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen Nationaler Empirischer Bericht Österreich. Im Internet: http://women-disabilities-violence.humanrights.at/sites/default/files/reports/ws_3_empirischer_bericht_oesterreich.pdf

Wibs (2010). Missbrauch. http://bidok.uibk.ac.at/library/wibs-missbrauch-l.html

 

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