Behindertenhilfe - Hilfe für behinderte Menschen?

Geschichte und Entwicklungsphasen der Behindertenhilfe in Tirol

Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Schreiber, Horst (2010): Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol. Innsbruck: Studienverlag, Seite 317-346
Copyright: © Sascha Plangger, Volker Schönwiese 2010

Behindertenhilfe - Hilfe für behinderte Menschen? Geschichte und Entwicklungsphasen der Behindertenhilfe in Tirol

Der folgende Beitrag setzt sich mit der Wohnsituation von Menschen mit Behinderungen in Tirol und Südtirol und den internationalen Entwicklungen in der Behindertenhilfe seit den 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts auseinander. Zur Geschichte behinderter Menschen gibt es in Österreich kaum veröffentlichte Berichte und wissenschaftliche Literatur. Die Entwicklung zur Gründung von Einrichtungen der Behindertenhilfe reicht in das 18./19. Jahrhundert zurück. Im Zusammenhang mit der Französischen Revolution haben die Wissenschaften allgemein und die Medizin sowie die Psychiatrie speziell einen enormen Aufschwung genommen. Die Unterbringung in Kliniken und Anstalten (Asylierung) und Schaffung von Ordnung wurden als entscheidende neue Prinzipien eingeführt, die bis heute große Auswirkungen auch auf die Einrichtungen der Behindertenhilfe haben. Philippe Pinel (1745-1826) war Arzt und ab 1793 in Paris Leiter einer großen und berühmt gewordenen psychiatrischen Anstalt, der Salpêtrière. Sie war gleichzeitig Hospiz, Erziehungsanstalt, Hospital sowie Zucht- und Besserungshaus. Mit Pinel lassen sich drei wichtige Punkte der neuen Vorstellung einer Unterbringung von unterschiedlichen als abweichend definierten Personen in Anstalten (Asylen) und damit im Zusammenhang von Ordnung beschreiben:

"‚Ordnung' [ist] einer der wesentlichsten Begriffe bei Pinel, ihr liegt seine gesamte Asylpraxis zugrunde. Die Einschließung bzw. Isolierung ist für ihn die erste Ordnungsleistung seiner Reform; sie ist die erste Bedingung einer jeder Therapie. (...) Die zweite Ordnungsleistung Pinels beruht darin, dass er eine strenge Asylordnung aufstellt, die nicht nur die Handlungen der Irren minutiös nach Zeit und Ort regelt, sondern auch die Hierarchie der Beziehungen festlegt. Die ‚Unordnung' dieser Menschen verlangt nach einer Umprogrammierung, die nur in einem veränderten Milieu stattfinden kann. Die ‚normale' Welt ist nun der Ort, an dem sich die Unordnung reproduziert, während sich durch die Ordnung im Asyl die Vernunft entfalten soll. Die dritte Ordnungsleistung ist die Autoritätsbeziehung zwischen Arzt/Pfleger und Kranken. Da der Wahnsinn Unordnung, Charakterleere und Willenlosigkeit ist, muss der Kranke zunächst einen fremden, aber vernünftigen Willen (die Vernunft des Arztes) verinnerlichen und dadurch seine eigene Unruhe und Unordnung bezwingen. Sobald dies geschehen ist, ist er geheilt!"[1]

Die Wurzeln der sich speziell mit behinderten Personen beschäftigenden Heilpädagogik sind im 19. Jahrhundert in dieser Vorstellung von Psychiatrie zu finden. Heilpädagogik verstand sich aber auch als Vermittlerin zwischen Medizin und Pädagogik, als angewandte Psychopathologie oder als Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dem seelsorgerischen Bereich verbundene Pädagogen gaben der Silbe "Heil" zusätzlich noch eine religiöse Bedeutung, die mit dem medizinisch-psychiatrischen Ansatz verbunden wurde. Es gab große Fortschritte, da die historisch aus dem Mittelalter nachwirkende Dämonisierung von behinderten Menschen zurückgedrängt und im Gefolge der Idee der Heil- und Bildbarkeit des Menschen an medizinischen und pädagogischen Maßnahmen gearbeitet wurde. Die Entwicklung war allerdings sehr ambivalent. Aus dem aufklärerischen Willen, die Welt zu ordnen, um sie zu verstehen und zum größtmöglichen Nutzen des Allgemeinwohls, für das alle beitragen müssen, zu entfalten, entstand die Spaltung in brauchbare und weniger brauchbare Menschen und die Eugenik.[2] Die Asyle hatten damit in diesem gesellschaftlichen Kontext mehrere Funktionen, der Förderung, der Disziplinierung und Aufbewahrung, nicht aber der Integration. Die in dieser Tendenz auch beinhaltete Eugenik führte unter den bekannten politischen Bedingungen zu Beginn des 20 Jahrhunderts zu dem Tötungsprogramm der Nationalsozialisten.[3] Unter dem Schock dieser Entwicklung wurde in den skandinavischen Ländern schon in den 1950erJahren an ersten Integrationsmaßnahmen für behinderte Menschen und an der Entwicklung des weiter unten beschriebenen "Normalisierungsprinzips" gearbeitet. Österreich setzte wieder bei der Institutionalisierung behinderter Menschen an.



[1] Gertraud Egger, Irren-Geschichte - irre Geschichten. Zum Wandel des Wahnsinns unter besonderer Berücksichtigung seiner Geschichte in Italien und Südtirol. Diplomarbeit Innsbruck 1999. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/egger-irre.html (Zugriff 21.9.2010).

[2] Vgl. zur Entstehung des Blicks auf behinderte Menschen im 19. Jahrhundert: Inghwio aus der Schmitten, Schwachsinnig in Salzburg. Zur Geschichte einer Aussonderung. Salzburg, Verlag Umbruch 1985. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/schmitten-schwachsinnig.html (Zugriff 21.9.2010)

[3] Vgl.: Peter Malina, Grundsätzliches zu den Lebensrechten behinderter Menschen. In: TAFIE (Hrsg.): Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. 5. Gesamtösterreichisches Symposium. Eigenverlag 1989, S. 131 - 164. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/malina-recht.html (Zugriff 21.9.2010)

Die Institutionalisierung behinderter Menschen

Die Strukturen der Behindertenhilfe knüpften im deutschsprachigen Raum nach 1945 an die Konzepte einer heilpädagogisch bzw. karitativ motivierten pflegerischen Versorgung von Menschen mit Behinderung der Vorkriegsjahre an. Die Behörden hielten an der traditionellen Psychiatriesierung und Medikalisierung fest und die Versorgung von Menschen mit Behinderung konnte, so die damalige Auffassung, nur von Anstalten und sogenannten Behindertenabteilungen (Oligophrenenabteilungen) geleistet werden.[4] Bis weit in die 1970er Jahre hinein wurden Menschen mit Behinderungen in Großheimen untergebracht. Die Dekaden zwischen 1950 und 1970 können daher als Institutionalisierungsphase bezeichnet werden. Die Führung der Behindertenanstalten und die Versorgung der InsassInnen wurden von kirchlichen Trägerorganisationen übernommen. Die großen heilpädagogischen bzw. karitativen Organisationen in Tirol waren zur damaligen Zeit die Barmherzigen Schwestern des heiligen Vinzenz von Paul, die Schwestern des Benediktinerinnenklosters Scharnitz und ab 1973 auch das Seraphische Liebeswerk der Kapuziner. Die Benediktinerinnen führten nach dem Zweiten Weltkrieg in Martinsbühl bei Zirl eine Sonderschule mit einem Heim für geistig und körperlich behinderte Mädchen. Die Barmherzigen Schwestern errichteten bereits 1898 das St.-Josefs-Institut in Mils als "Versorgungshaus für Arme und Cretine".[5] 1925 übernahmen sie auch das 1906 gegründete Jesuheim in Südtirol. An beiden Standorten wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts Sonderschulen eingerichtet. Mit dem Unterschied, dass durch länderspezifische gesetzliche Regelungen die Sonderschule im Jesuheim 1967 ihren Unterricht einstellen musste, da die nationalen Vorschriften der Schulbehörde nicht mehr erfüllt werden konnten und der hauseigenen Schule für schwerstbehinderte Kinder im St.-Josefs-Institut 1976 das Öffentlichkeitsrecht erteilt wurde. Beide Einrichtungen zählen heute noch zu den zahlenmäßig größten Institutionen für Menschen mit Behinderung in Tirol und Südtirol. Das Jesuheim in Girlan war bis in die 1970er Jahre hinein die einzige Einrichtung für Menschen mit Behinderung in Südtirol, was zur Folge hatte, dass viele von ihnen in die damaligen Tiroler Behindertenheime, wie Martinsbühel, St.-Josefs-Institut und Elisabethinum Axams untergebracht wurden.

Diese heilpädagogischen bzw. karitativen Einrichtungen wurden im Laufe der Zeit zu großen Institutionen umgebaut und erweitert. Sie tendierten dazu sich auszuweiten und sie haben stets versucht, sich gegenüber neuen Entwicklungen abzuschirmen.[6] Die organisatorische Grundstruktur in den Großeinrichtungen mit ihren Folgen struktureller Gewalt ist bis heute unverändert geblieben: Die BewohnerInnen werden nach ihrem Geschlecht getrennt in einem Haus untergebracht, in dem sich Wohngruppen, Sonderschule und Geschützte Werkstätte befinden. Die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen in solchen Großanstalten war über Jahrzehnte in jeder Hinsicht katastrophal. Isolation, monotone Tagesstrukturen, begrenzte Möglichkeiten individueller Lebensführung und Entpersönlichung zeichneten die Situation der dort lebenden BewohnerInnen aus. Die Auswirkungen solcher Zustände auf die menschliche Psyche waren verheerend. Der italienische Psychiater Giovanni Jervis beschreibt in seinem kritischen Handbuch der Psychiatrie von 1978 die daraus resultierenden Folgen: "Der Patient verschließt sich langsam immer mehr in sich selbst, wird energielos, abhängig, gleichgültig, träge, schmutzig, oft widerspenstig, regrediert auf infantile Verhaltensweisen, entwickelt starre Haltungen und stereotype Ticks, passt sich einer extrem beschränkten und armseligen Lebensroutine an, aus der er nicht einmal mehr ausbrechen möchte. (...) wenn man einem Insassen seine menschliche Würde nimmt, wird sein Verhalten unwürdig und unmenschlich, wenn er dauernder Bewachung, brutalen Freiheitsbeschränkungen, Missbrauchshandlungen und psychischen Gewalttätigkeiten ausgesetzt ist, wird sein Verhalten umso ärmer, würdeloser, feindseliger, verzweifelter und gewalttätiger."[7]

1961 veröffentlichte der amerikanische Soziologe Erving Goffman seine empirische Studie: "Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen." Er beschrieb geschlossene Welten, wie Gefängnisse, Kasernen, Internate, Klöster, Behindertenanstalten und Irrenhäuser als "totalen Institution". Die zentrale Funktion dieser "totalen Institutionen" ist es, die menschlichen Bedürfnisse der InsassInnen durch Vorschriften, Einschränkungen und Bestimmungen zu reglementieren. Das erfordert natürlich eine massive Gewalteinwirkung, um individuelle Verhaltensweisen und die Bedürfnisse der PatientInnen an das Regelwerk der Institutionen anzupassen. Für Goffman bilden totale Institutionen einen radikalen Gegenpol zur Gesellschaft. In diesen künstlichen Gegenwelten wird das kümmerliche Leben der PatientInnen an die Vollzugsregeln der Institutionen gebunden. "Totale Institutionen" rauben ihren InsassInnen die Fähigkeit und Möglichkeit zu selbstbestimmten Handlungen, ihr Leben zeichnet sich durch die radikale Reduzierung von Handlungsoptionen aus.[8]

In totalen Institutionen wird vor allem Anpassung an das Anstaltsleben erzielt. Goffman[9] hat vier Formen der Anpassung von HeiminsassInnen beschrieben, wobei im Laufe einer Heim-Karriere mehrere Formen der Anpassung als Strategie der Bewältigung der Anstalts-Situation verfolgt werden können.

Goffman beschreibt zum einen die Strategie des "Rückzugs aus der Situation", den Abbruch der Beteiligung an Interaktionsprozessen. Diese Anpassungsform äußert sich in Resignation und Interesselosigkeit, die immer weitere Bereiche der Umwelt und des Erlebens betrifft. Es folgt der Rückfall in entwicklungsmäßig frühere Verhaltensmuster. So beginnen etwa. Kinder (aber nicht nur Kinder), die schon sauber waren, wieder in die Hose zu machen. Dauert diese Anpassung lange an, so geht sie bis zu einer sehr weitgehenden und irreversiblen Entpersönlichung.

Eine weitere Form der Anpassung ist der "kompromisslosen Standpunkt". Der Anstalts-Insasse bedroht die Institution, indem er die Zusammenarbeit mit dem Personal verweigert. Diese Ablehnung erfordert von InsassInnen eine dauernde Orientierung an der formalen Organisation der Anstalt und daher paradoxerweise ein starkes Interesse an der Institution. Diese Form der Anpassung äußert sich z. B. in hohen Fluchtraten oder auch in aggressivem Verhalten und aktiver Essens-Verweigerung. Dort, wo das Personal den Standpunkt vertritt, dass der Wille des kompromisslosen Insassen gebrochen werden muss, kommt es zu einem Hochschaukeln von Ablehnung und Sanktion, zur Einführung von Korrektions-Zellen, Zwangsjacken, Schlägen, kalten Duschen usw. Die Anpassungsform der Kompromisslosigkeit kann jedoch kaum ein Anstalts-Insasse sehr lange durchhalten. Sie hat meist den Charakter einer anfänglichen Reaktionsphase, der andere Formen der Anpassung folgen.

Eine dritte Form der Anpassung an die Welt der Institution beschreibt Goffman als "Kolonisierung". Der Insasse nimmt dabei das Maximale, das an Befriedigung in der Anstalt erreichbar ist, an und versucht damit relativ zufrieden zu leben und in der Anstalt zu bleiben. Angestellte, die das Leben in totalen Institutionen erträglicher gestalten wollen, müssen damit rechnen, dass sie dadurch auch die Kolonisierung erhöhen.

Die vierte Art der Anpassung ist die "Konversion". Der Insasse macht sich dabei das amtliche oder medizinische Urteil über seine Person zu eigen und versucht die Rolle des perfekten Insassen zu spielen. Er ist diszipliniert, moralistisch, biedert sich an die BetreuerInnen an und ist auch bereit, Aufsichts-Aufgaben über andere InsassInnen zu übernehmen.

Einen Einblick in das Funktionieren "totaler Institutionen" gibt Brigitte Wanker in ihrem Bericht von 1982 über das St.-Josefs-Institut in Mils:

"Ich stehe einer Gruppe von 24 Kindern und Jugendlichen gegenüber. Es wird mir bewußt: Alle Menschen, die ich hier treffe, habe ich weder auf der Straße, noch im Konzert, nicht im Cafe, auch nicht im Wirtshaus gesehen. Aber nach und nach begreife ich: Diese Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen kennen das Wirtshaus nicht, sie dürfen nicht ins Cafe, nicht ins Konzert. Ihr Leben spielt sich zwischen den Mauern und Gittern der Anstalt ab, die Ausnahme sind Spaziergänge, wohlgemerkt in Zweierreihen, Hand in Hand, auf sich immer wiederholenden Wegen. (...) Mittagessen am zweiten Arbeitstag: Wolfgang weigert sich, den Rest der Mahlzeit aufzuessen. Die Schwester stopft ihm alles in den Mund. Er schluckt nicht, sie droht: ‚Wir gehen ins Bad.' Gebet, alle stehen auf, Wolfgang hat noch immer den Mund voll. Die Schwester zerrt ihn ins Bad. Ich muß inzwischen mit den anderen Kindern geschlossen zum Klo gehen. Wir hören im Nebenraum die Schwester brüllen, zuschlagen und Wolfgang schreien. (...) Walter, ein 15jähriger Bub aus meiner Gruppe, gibt mir gutgemeinte Tips: 'Brigitte, Du bist viel zu wenig streng, der Wolfgang muß die Knödel essen, auch wenn sie ihm nicht schmecken. Mit die schlimmen Kinder muß man streng sein, das hat die Schwester zu mir auch schon gesagt, ich helf Dir dabei.' Er ist den anderen Kindern gegenüber sehr autoritär und fühlt sich für alles, was in der Gruppe vorgeht, verantwortlich. (...) Da stehe ich im langen, düsteren Gang, kahle hohe Wände, oben abgerundet, die wenigen Lampen - das spärliche Licht, der viel zu lange Gang, gehe vorbei an versperrten Türen, hab wenig Einblick in diese Abteilung, weiß aber, wie es in den Zimmern aussieht. Angebundene Kinder in weißen Krankenhausbetten, Lederriemen, Gurten - höre wieder Schreie, nicht verständliche Laute. Ein Bub liegt mit Zwangsjacke im Bett, da er in tiefster Verzweiflung oder in wilder Wut am Vortag das Kruzifix zerbrochen hat. Jede Regung, alle Abweichungen oder Ausbruchsversuche werden brutal unterbunden, sie enden meist in Zwangsjacken, mit Schlägen ins Gesicht oder kalter Dusche."[10]



[4] Ulrich Hähner, Von der Verwahrung über die Förderung zur Selbstbestimmung. In: Hähner, Ulrich / Niehoff, Ulrich / Sack, Rudi / Walther, Helmut (Hrsg.): Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung. Marburg, Verlag der Lebenshilfe 1998. S. 26.

[5] Andrea Runggatscher: Lebenssituationen Gehörloser Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus in Tirol. Diplomarbeit Innsbruck 2003. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/runggatscher-gehoerlos.html#id2993033 (Zugriff 21.9.2010)

[6] Vgl. Christian Klicpera, Barbara Klicpera-Gasteiger, Paul Innerhofer, Lebenswelten von Menschen mit geistiger Behinderung. Heidelberg, Asanger Verlag 1995, S. 17.

[7] Giovanni Jervis, Kritisches Handbuch der Psychiatrie. Frankfurt a. Main, Athenäum Verlag 1978

[8] Vgl. Erving Goffman, Asyle - Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2009

[9] Vgl. Erving Gofffman, Asyle - Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1973, 65ff

[10] Brigitte Wanker, Mauern überall. In: Rudolf Forster, Volker Schönwiese (Hrsg.), Behindertenalltag - wie man behindert wird. Wien, Verlag Jugend und Volk 1982. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/wanker-mauern.html (Zugriff 21.9.2010). Vgl. Peter Kohler, So wias der Herrgott gwellt hat. Diplomarbeit Universität Innsbruck 1990

Bewahrung und Verbesserung der Heime

Die seit den 1960er Jahren einsetzende Kritik gegenüber großen Anstalten[11] führte langsam dazu, dass in vielen Ländern mit Veränderungen begonnen wurde. Zwei parallel verlaufende Tendenzen bestimmten in großen Zügen ab den 1970er Jahren die Ausrichtung der Behindertenhilfe in Österreich. Zum einen ist eine systemerhaltende Absicht festzustellen. Es wurden Anstrengungen unternommen, die Qualität der Betreuung und die strukturelle Ausstattung der Behindertenanstalten zu verbessern. Nicht nur die Heimträger, sondern auch die HeilpädagogInnen, sowie Landespolitik und Landesfachabteilungen der Landesregierungen hielten an der Einstellung fest, dass Behindertenheime als adäquate Schutz- und Schonräume die bestmöglichen Lebensumgebungen für behinderte Menschen darstellen, innerhalb derer man die "speziellen" Bedürfnisse der InsassInnen optimal fördern kann. Die Folgen dieser Modernisierung im Sinne der erwähnten "Kolonisierung" und "Konversion" wurden nicht problematisiert. Die Abhängigkeitsverhältnisse der BewohnerInnen, der Anpassungsdruck an die institutionellen Regeln, die Einschränkung individueller Handlungsmöglichkeiten und die Bevormundung durch das Betreuungspersonal blieben dieselben. Genau diese Defizite bestehen in den Tiroler und Südtiroler Behindertenanstalten bis heute.

Die beiden Großheime der Barmherzigen Schwestern, in denen seit den 50er-Jahren relativ konstant um die 200 behinderte Personen vom Säugling bis zu alten Personen lebten, gerieten in den 1980er Jahren ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit. Die untragbaren Zustände und Misshandlungen von Kindern mit Behinderung im St.-Josefs-Institut in Mils erregten großes Aufsehen. Über das Jesuheim schrieb die Südtiroler Wochenzeitschrift "FF":

"Im Jesuheim werden die Behinderten lebendig begraben. Im Jesuheim ist die perfekte Pflege aber auch alles. (...). Kaum Beschäftigungstherapie, kaum Körpertraining, kaum Sprachübungen, kaum Förderung der sozialen Fähigkeiten, kaum Kontakt mit der Familie und der Außenwelt, man begnügt sich mit Pflege und Gebet. Ordnung ist dann auch das Losungswort in der Anstalt. (...). Im Jesuheim dürfen die Behinderten vegetieren: nicht mehr und nicht weniger. (...). Zärtlichkeiten zwischen Mann und Frau gibt es nicht."[12]

Die konservative Medienlandschaft in Tirol und Südtirol, wie "Tiroler Tageszeitung", ORF Tirol und "Dolomiten", wirkte jedoch nicht aufklärerisch, sondern stellte sich hinter die geistlich geführten Heime und griff die KritikerInnen an. Das enge Verhältnis zwischen den Landesregierungen, der katholischen Kirche, den Ordensgemeinschaften und den Medien führte zu einer Vertuschung der Missstände. Die "Dolomiten" berichteten über das Jesuheim mit dem Titel "Bei den Unheilbaren in Girlan" und der Schlagzeile "Ideale Lebensbedingungen für die Kranken - Selbstloser Dienst der Schwestern":

"An der Tür ist ein Blatt Papier angeschlagen. ‚Niemand ist unnütz. Weil der Mensch den Menschen braucht'. In den folgenden zwei Stunden, in denen mich die Schwester Oberin durch das Jesuheim führt, denke ich noch oft an diese Sätze. So kurz sie sind, so abstrakt sie scheinen, für die 42 Barmherzigen Schwestern des hl. Vinzenz von Paul, von denen jede im Durchschnitt 5 Patienten betreut, sind sie inhaltsschwer. Denn diese sehen auch im schwächsten, im kränksten Menschen ihren Bruder, ihre Schwester. Für sie ist die Nächstenliebe nicht Theorie, sondern Praxis, harte, manchmal bittere, oft beglückende Praxis. Die Frauen in den weißen Gewändern opfern sich, ihre Wünsche, ihre Fähigkeiten für andere auf, die zum Teil gar nicht verstehen, wie unermesslich groß dieses Geschenk ist. (...) Den Kranken wird im Jesuheim nicht nur liebevolle Pflege zu teil, sie haben auch sonst manche Annehmlichkeiten: eine idyllische Ruhe auf dem östlich von Girlaner Dorfkern gelegenen Rebhügel, sodann die Möglichkeit, den ganzen Tag über im Garten und auf den großzügigen Terrassen und Balkonen Licht, Luft und Sonne zu genießen, und drittens nette behagliche Aufenthaltsräume. Man kommt sich zwar nicht wie in einem Hotel vor, aber doch wie in einer Pension. Wer an den Rollstuhl gefesselt ist, kann in jedem Geschoss ohne weiteres auf einer der herrlichen Balkone gelangen; wer basteln, arbeiten oder spielen will, findet auch dazu Gelegenheit. (...) In einem der Aufenthaltsräume erblicke ich sogar ein Tischfußballgerät. Ja, auch die Männer bzw. die ‚großen Jungen' kommen nicht zu kurz. Natürlich wird niemand gezwungen zu arbeiten. Dafür hat die Schwester Oberin eine goldene Regel parat: ‚Tun sie etwas ist`s gut. Tun sie nichts, macht es auch nichts.' Was mich besonders beeindruckt: Immer wieder sehe ich Kranke, die sich gegenseitig helfen. (...). Oberin Maria Oswalda fügt hinzu: ‚Wenn der Geist der Liebe durch alle Räume flutet, kann man sich auch als unheilbar Kranker wohlfühlen.' "[13]

Peter Kohler, der im Zuge eines Sommerpraktikums eine Diplomarbeit über das Jesuheim verfasste, wies darauf hin, dass die meisten HeimbewohnerInnen mit Psychopharmaka ruhig gestellt wurden. Wie Wanker gegenüber dem St.-Josefs-Institut kritisierte auch Kohler den Mangel an therapeutischen Angeboten, an Professionalität, diagnostischem Fachwissen und Personal.[14] 1989 nahm schließlich eine Delegation des Landes das Jesuheim in Augenschein, die zu denselben Schlüssen kam. Speziell der niedrige Betreuungsschlüssel gab Anlass zu Kritik. Zwei Drittel der Schwestern waren über 50 Jahre alt und mussten 90 Menschen mit Behinderung zwischen 15 und 55 Jahren sowie weitere rund 100 alte Menschen betreuen.[15] Eine wissenschaftliche Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen. So hieß es unter anderem: "Bei unserem Besuch im Jesuheim befanden sich in einem Stock etwa 20 Behinderte in einem nicht allzu großen Raum, der vom Gang durch eine große Glasscheibe einzusehen war und in dem Bänke und einzelne Stühle standen. Die behinderten Erwachsenen gingen in diesem Raum auf und ab. Einige blätterten in Zeitschriften, die dort auflagen, offensichtlich, ohne lesen zu können. Sonst waren sie völlig unbeschäftigt."[16]

Auf die immer lauter werdende öffentliche Kritik reagierten die Einrichtungen mit Umbauarbeiten, mit der Einführung bestimmter qualitativer Standards und Verbesserungen im Bereich der Betreuung und Pflege. Eine Auflösung der Einrichtungen als Voraussetzung für Integration und Selbstbestimmung stand jedoch nie wirklich zur Diskussion. In den neuen Konzepten wurde am Gedanken des benötigten Schutz- und Schonraums und an die "heilvolle Gemeinschaft" von Menschen mit Behinderung festgehalten. So betont nun etwa das Jesuheim, ein Ort zu sein, wo Friede und Lebensfreude walten trotz der vielfältigen Leiden und Gebrechen, die seit jeher den Alltag dieses Heimes geprägt hätten. Das St.-Josefs-Institut in Mils (nunmehr Soziales Zentrum St. Josef) konzipierte seinen Wohnbereich nach dem "Wabenprinzip". Wohngruppen wurden geschaffen, in denen die zu betreuenden Menschen nach Geschlechtern getrennt gemeinsam mit ihren HelferInnen mehr oder minder autonom ihren Wohnalltag bewältigen. So soll das Gefühl des Daheim-Seins und das Eingebettet-Sein in einer - idealisierten - (Groß-)Familie vermittelt werden. Von den Schwestern gehe eine "mütterliche Energie" aus, die eine besondere Atmosphäre im Heim schaffe.[17] Maßnahmen zur Selbstbestimmung kommen in diesen Konzepten nicht vor. Im Fachjargon werden die pädagogischen Anstrengungen als "Hinführung zur Selbstständigkeit" bezeichnet, was letztendlich eine Anpassung an institutionelle Werte, Praktiken und Normen meint und als Fremdbestimmung bezeichnet werden muss.

Diese hier beschriebene Entwicklungstendenz, die sich in den 1970er Jahren sowohl national als auch international als Reaktion auf Kritik abzuzeichnen begann, führte zu qualitativen Verbesserungen der Betreuung bei gleichzeitigem Festhalten an den Großeinrichtungen. Die getätigten Investitionen verhinderten eine Infragestellung dieser institutionalisierten Betreuungsform, die sogar noch ausgebaut wurde. 1973 kam es zur Gründung des Elisabethinums in Axams. Träger der Einrichtung ist wiederum eine heilpädagogische bzw. karitative Organisation, das Seraphische Liebeswerk der Kapuziner (SLW). Das Elisabethinum ist Westöstereichs größtes Förderzentrum für körper- und mehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche. Derzeit werden im Elisabethinum mehr als 100 Kinder und junge Menschen zwischen zwei und 20 Jahren betreut. Um einen Eindruck in das Funktionieren und in die langfristigen Folgen dieser mit dem Ziel der heil- und sonderpädagogischen Förderung eingerichteten Strukturen zu vermitteln, soll ein Betroffener selbst zu Wort kommen:

"Ich habe, bevor ich mit sechs Jahren ins Heim kam, gerade noch genügend Erfahrung in einem ‚normalen' Leben machen können, um zu erkennen, dass das Heim lebenseinschränkend, freiraumbegrenzend und entpersönlichend wirkt. Während meiner ganzen Heimzeit habe ich das Bild eines normalen Lebens, wie ich es von meinen Geschwistern erkannte, bewahrt. Ich fiel deshalb im Heim als nicht angepasstes, trotziges und schwererziehbares Kind auf. (...). Nach meinen langen Heimerfahrungen brauchte ich mehrere Jahre, um wieder ein richtiges Verhältnis zu mir zu finden. Das betraf vor allem mein Selbstwertgefühl und meine negative Selbsteinschätzung."[18]

Auch in dieser Einrichtung wurden, wie Betroffene berichten, Schläge, Misshandlungen, Essenszwang und der Zwang das Erbrochene zu essen als Erziehungs- und Disziplinierungsmittel angewandt.[19]



[11] Vgl. z.B.: Klaus Dörner, Gegen die Schutzhaft der Nächstenliebe. Umgang mit Kranken und Behinderten. In: Publik-Forum Nr. 15, 1999. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/doerner-schutzhaft.html (Zugriff 21.9.2010)

[12] Hans Karl Peterlini, Die letzte Station. FF-Artikel Nr. 13, 6. Jahrgang, 23.3.1985. S. 14 - 16.

[13] Dolomiten, 06.09.1982. Zitiert nach: Josef Innerhofer, Sonne im Schatten - 100 Jahre Jesuheim in Girlan. Bozen, 2006. S. 251.

[14] Vgl. Brigitte Wanker, Mauern überall. In: Rudolf Forster, Volker Schönwiese (Hrsg.), Behindertenalltag - wie man behindert wird. Wien, Jugend und Vol 1982. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/wanker-mauern.html (Zugriff 21.9.2010). Vgl. Peter Kohler, So wias der Herrgott gwellt hat. Diplomarbeit Universität Innsbruck 1990

[15] Josef Innerhofer, Sonne im Schatten - 100 Jahre Jesuheim in Girlan. Bozen 2006. S. 246.

[16] Christian Klicpera, Barbara Klicpera-Gasteiger, Paul Innerhofer,: Lebenswelten von Menschen mit geistiger Behinderung. Eine empirische Bestandsaufnahme in Südtirol. Heidelberg, Ansanger Verlag 1995. S. 215; hier S. 219.

[17] Vgl. Gerd Auer, Ja zum Leben - 100 Jahr St.-Josefs-Institut. Eine festliche Bedenkschrift. Mils, Eigenverlag 1998. Vgl. Homepage Jesuheim: http://www.jesuheim-girlan.it/handlung.htm

[18] Ernst Schwanninger, Alle Macht der Betreuung. In: Rudolf Forster/ Volker Schönwiese(Hrsg.), Behindertenalltag - wie man behindert wird. Wien, Jugend und Volk 1982. S. 9-12. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/schwanninger-macht.html (Zugriff 21.9.2010)

[19] Zit. n. Gernot Zimmermann, Für jeden Schlag dankbar, in: Echo Nr. 9/2010, Innsbruck, S. 52-56,

Normalisierung und De-Instititutionalisierung

Die historische Entwicklung von totalen Institutionen in Richtung Deinstitutionalisierung und Normalisierung lässt sich anhand des Berichtes eines Betroffenen nachvollziehen:

Josef Wörter ist eines von zehn Kindern einer Bauernfamilie. Zu Beginn der 1960er Jahre kommt er als Zehnjähriger in das St.-Josefs-Institut in Mils (Heim mit Sonderschule), weil die Dorfschule seine Aufnahme verweigert. Josef Wörter erzählt in einem Interview:

"Da war ich am öftesten von allen in Dunkelhaft, das ist ein Zimmer das stockfinster ist. Ungefähr drei Stunden. Als Strafe, weil ich in der Kirche geschwätzt habe (...). Einmal habe ich auch geschwätzt, da wollt' mich die Schwester aus der Bank herausholen, aber ich bin nicht hinaus gegangen, sie hat mich nicht hinaus gebracht. Dann war der Rosenkranz, dann sind wir hinauf in den Tagraum gegangen. Die Schwester hat gesagt: ‚Geh mit.' Dann haben die Schwestern mich in die Badewanne hinein gesetzt und fünf oder sechs Kübel arschkaltes Wasser über den Kopf. Dann hinaus aus der Badewanne, dann habe ich die Hände ausstrecken müssen und die Schwester hat mit dem Stock drauf gehaut. (...) Ich habe drauf gezahlt, weil ich der Schlimmste war. Eine Bewohnerin, die Emma, hat auf uns aufpassen müssen. Die hat genau gesehen, was da vorgefallen ist - mein unkeusches Verhalten.

(Frage: Du hast einmal erzählt, dass du deinen Penis heraußen gehabt hast und die Emma hat das gesehen und hat das dann gemeldet).

Ja, genau. Sie hat das gemeldet. Dann bin ich sofort wieder in die Badewanne gekommen. (...) Einmal habe ich aufgezeigt und zur Lehrerin, der Klosterschwester B., gesagt, ich muss aufs Klo. Dann habe ich hinter der Schulbank in einen Topf machen müssen und dann vor gehen und dann hat sie mir mit einem Stock auf die Hände gehaut."

Josef Wörter kommt als Jugendlicher wieder zu seinen Eltern und arbeitet bei einem Bauern. Als er um seinen Lohn betrogen wird, zündet er eine Almhütte an.

"Ich bin in das Gefangenenhaus gekommen und dann hat es geheißen, ich komme nach Hall in das psychiatrische Krankenhaus. Da habe ich ein Zimmer bekommen, wo ungefähr neun Leute geschlafen haben und hab' Anstaltskleider bekommen: ein kariertes Hemd und eine offene Unterhose. Dann habe ich Verhandlung gehabt. Dann bin ich bis 1985 Häftling in der Psychiatrie gewesen. Am 7. Mai 85 habe ich eine Batterie geschluckt.

(Frage: Warum hast du das getan?) Weil ich eigensinnig war. Dann habe ich vierzehn Tage keinen Ausgang gehabt, als Strafe. Vierzehn Tage immer im Tagraum auf der Bank. Dann hat mich der Primar Bernstich immer versetzt. Einmal auf die Station neun, einmal zehn, einmal neun und dann wieder zehn. Am 29. November habe ich die zweite Batterie geschluckt. (...) Strafen waren: Kein Ausgang und Spritzen. Einmal hab' ich an einem Tag drei Spritzen bekommen, weil ich gesagt habe, ich möchte mich umbringen. Dann hat der Doktor gesagt: ‚Du bist zu gefährlich.' Einmal sind fünf Pfleger gekommen und haben mich in die Badewanne gesetzt, weil ich jemanden geschlagen hab'. Ganz leicht geschlagen. Einmal ist es passiert dass ich gesagt habe. ich schlage ein Fenster zusammen, dann haben die Pfleger das dem Arzt erklärt, dann habe ich einen Gurt bekommen um den Bauch und zwei Spritzen. Dann bin ich den ganzen Tag im Bett gehängt. Ich war der, der am öftesten den Gurt bekommen hat. Einmal habe ich einen Radio gehabt, da war keine Kassette drin, dann musste ich schlafen gehen und dann habe ich den Radio kaputt gemacht. Und dann habe ich Spritzen und den Gurt bekommen.

Ein eigenes Zimmer habe ich keines gehabt. Es waren fünfzig Leute auf einer Station. Wir haben immer im Tagraum sitzen müssen. Dann habe ich am Christtag, am 25. Dezember, zum Pfleger gesagt, ich möchte mich umbringen. Dann ist er hinaus gegangen zum Arzt und hat ihm das erklärt und dann habe ich zwei Spritzen bekommen und gehe ich ins Zimmer hinein und patsch, Kreislaufkollaps. Ich hatte einen zu hohen Blutdruck. 200 Blutdruck. Dann habe ich Tabletten bekommen und alles Mögliche. Ich war überall, auf allen Stationen."[20]

Josef Wörter konnte 1994 im Zuge der Umsetzung des Unterbringungsgesetzes (UbG 1991) nach 17 Jahren die geschlossene Psychiatrie in Hall verlassen. Seitdem wohnt er relativ selbstständig in einer kleinen Wohngemeinschaft, die vom Verein W.I.R. in Hall in Tirol betreut wird.

Die Situation in der Psychiatrie Hall stellte sich 1991 so dar:

"Mit Inkrafttreten des UbG ... befanden sich ca. 130 Menschen mit der Diagnose einer geistigen Behinderung im Psychiatrischen Krankenhaus Hall: Getrennt nach Geschlecht waren sie bis zu diesem Zeitpunkt vorwiegend auf den Stationen Männer 6 und Frauen 10, zwei sogenannten ‚Oligophrenenstationen', eingesperrt und verwahrt worden, einzelne waren verstreut auf anderen Stationen untergebracht und nur wenige alte behinderte Frauen und Männer auf den ‚Gerontostationen'. [Das lag daran, dass] (...) wenige Menschen mit der Diagnose einer geistigen Behinderung der Euthanasie in der NS-Zeit entronnen sind. Aus den Gauen Tirol und Vorarlberg waren insgesamt 707 ‚Geisteskranke' (...) im Zuge der Euthanasie getötet worden. Ein Großteil von ihnen kam aus Hall bzw. aus den umliegenden ‚Heimen für Schwachsinnige' (...). Auf jeder ‚Oligophrenenstation' befanden sich damals [1991] ca. 50 geistig Behinderte unterschiedlichen Alters, die untertags in der Regel von 3 bis 4 Pflegern, nachts meist nur von einem Pfleger beaufsichtigt worden sind. Der geringen Betreuung entsprechend war die Dosierung neuroleptischer Psychopharmaka hoch, eine zusätzliche ‚Bedarfsmedikation' bei auftretender ‚Unruhe' alltägliche Praxis. Auf den Stationen Männer 6 und Frauen 10 bot sich dem Besucher, der Besucherin das Bild ‚reiner Verwahrung': untertags von den großen Schlafräumen ausgesperrt, zum Dahinvegetieren in den Aufenthaltsraum gezwungen, der von der Atmosphäre wie von der Ausstattung her eher einem Bahnhofswarteraum glich, ohne jede Beschäftigung und als einzige Abwechslung und zugleich einziger wiederkehrender Rhythmus im Tagesablauf: die Essensausgabe."[21]

Das Unterbringungsgesetz bestimmte, dass Menschen mit Behinderungen, die in Psychiatrischen Anstalten zwangsverwahrt waren, entlassen werden mussten. Sie wurden darauf hin auf verschiedene Einrichtungen der Behindertenhilfe aufgeteilt, ohne dass dies grundsätzlich etwas an der Struktur und der Entwicklung der Behindertenhilfe änderte. Diese Entwicklung verstärkte aber gezwungenermaßen die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der pädagogischen Förderungen von schwerst hospitalisierten Personen in gemeindenahen Einrichtungen.[22] Die Schließung der Psychiatrischen Abteilungen mit sogenannten geistig behinderten Personen ist der einzige bundesgesetzlich geregelte Bruch mit traditionellen Verwahrsystemen. Eine entsprechende landesgesetzliche Reaktion, die Konsequenzen aus fachlich unhaltbaren Zuständen in Einrichtungen der Behindertenhilfe zieht, gab und gibt es bis heute nicht.

Dabei entwickelte sich auch bei uns in den 1960er- und 1970er Jahren unter den Schlagwörtern Normalisierung eine Reformbewegung, die auf eine Ergänzung der Großheime und auf einen Umbau der Systeme der Behindertenhilfe in Richtung gemeindenahe Unterbringung von Menschen mit Behinderungen abzielte. Die angestrebte Struktur von Einzel- und Gruppenwohnungen/ Wohngemeinschaften nach dem Normalisierungsprinzip lässt sich so beschreiben[23]:

"a) Normaler Tagesrhythmus: In Wohngruppen können die Bewohner ihren eigenen Tagesablauf bestimmen und sind darin unabhängig von Institutionsvorgaben.

b) Trennung von Arbeit - Freizeit - Wohnen: Durch die Trennung werden vielfältige Kontakte möglich und Lernerfahrungen wahrscheinlich, die zur Selbständigwerdung wesentlich beitragen können. Durch die klare Trennung von Wohnen und Arbeiten kann der Wohnbereich neue Werte annehmen: als Ort des Erholens, des sich Wohlfühlens, der Zerstreuung, der Ruhe und Entspannung, des sich zu Hausefühlens.

c) Normaler Jahresrhythmus: In Wohngruppen können die Behinderten die ganz normale Jahreszeitenfolge mit deren spezifischen Möglichkeiten, Erschwernissen und Pflichten erleben (Schneeschaufeln, Sonnenbaden, Gartenarbeit, Laubkehren, Langlaufen usw.).

d) Normaler Lebensablauf: Geistig Behinderte sollen in Wohngruppen altersentsprechende Rollen übernehmen. Sie dürfen nicht wie die ‚ewigen' kleinen Kinder behandelt werden. Es ist wichtig, sie als Jugendliche, Erwachsene oder alte Menschen zu respektieren. Dazu gehören auch so scheinbare Banalitäten wie altersentsprechende, auch modische Kleidung und Frisuren, die Verfügungsgewalt über das eigene Zimmer, das vom Bewohner auch abgeschlossen werden darf oder das eigene Namensschild an der Haustür und am Briefkasten.

e) Respektierung von Bedürfnissen: Die Betreuer haben nicht den Tagesablauf und die Bedürfnisse der Betroffenen zu bestimmen, sondern müssen sich mehr als ‚Dienstleistende' für die Behinderten verstehen. Dieser ‚Machtwechsel' der Bezugsgruppen trägt unweigerlich zur Übernahme neuer Verantwortungsbereiche durch die Behinderten bei und erweitert deren Kompetenz und Autonomie.

f) Angemessene Kontakte zwischen den Geschlechtern: Das vollkommen normale Zusammenwohnen ermöglicht den Behinderten einen besseren Bezug zum anderen Geschlecht innerhalb und außerhalb der Wohngruppe. Freundschaften zwischen den Behinderten sind nicht zu behindern, sondern zu ermöglichen. Für geistig behinderte Paare ist das Zusammenleben in einem gesonderten Teil der Wohngruppe oder in einer selbständigen Wohnung denkbar.

g) Normaler wirtschaftlicher Standard: Die günstigeren Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb der Wohngruppen können es eher bewirken, dass die Zahl der Behinderten, die außerhalb von geschützten Werkstätten arbeiten, sich merklich erhöht. Jedenfalls sollte dies angestrebt werden. Alle Behinderten (auch die Rentner und Sozialhilfeempfänger) sollen ihr Geld - wenn irgend möglich - selbst verwalten, einteilen und ausgeben können. In jedem Fall sollte der selbständige Umgang zumindest mit gewissen Geldern pädagogische Zielsetzung sein.

h) Standards von Einrichtungen: Die Wohnqualität muss dem allgemeinen gesellschaftlichen Standard entsprechen. Kompetenzen und Privilegien müssen abgebaut und neu verteilt werden und dies in zweifacher Hinsicht: Die Kompetenz- und Verantwortungsbereiche müssen von den Großeinrichtungen auf die neu entstehenden, relativ autonomen Kleineinrichtungen verlagert werden.

Innerhalb dieser kleinen Institutionen werden sich Kompetenzverlagerungen zwischen Betreuern, Therapeuten und Behinderten einstellen. Während bisher die Mitarbeiter den Alltagsverlauf entscheidend bestimmten, werden es nun mehr und mehr die Behinderten sein, die zur Selbstbestimmung gelangen. Die Rolle der Mitarbeiter kommt so zusehends in die Position die ihr zusteht, nämlich in die einer Dienstleistung für die Behinderten."

Bereits in den 1950er Jahren forderten Bengt Nirjie und Bank-Mikkelsen in Schweden: "Man soll den geistig Behinderten dazu verhelfen, ein Dasein zu führen, das so normal ist, wie es nur irgendwie ermöglicht werden kann."[24] Menschen mit Behinderung sollten also ihr Leben so gestalten können, dass es dem Leben nichtbehinderter Menschen in möglichst vielen Aspekten ähnlich ist. Vor allem die Lebenshilfe Deutschland teilte seit ihrer Entstehung im Jahre 1958 diesen Normalisierungsgedanken im Wohn- und Arbeitsbereich. "Das wohnortnahe, teilstationäre Konzept der Lebenshilfe war anfangs ganz bewusst und öffentlich als Alternative zur Anstaltsunterbringung entwickelt worden. Geistig behinderte Kinder sollten gefördert werden können, ohne dass eine dauerhafte Trennung von der Familie zu erfolgen hatte. Die Anstalten waren für viele Eltern geistig behinderter Kinder immer noch verbunden mit dem Grauen der Euthanasieprogramme und dem Bild der bloßen Pflege und Verwahrungsanstalten."[25]

In den Augen der Heim- und AnstaltsbefürworterInnen stellte das teilstationäre Konzept eine Provokation dar und wurde heftig attackiert: "Ihr geht in der Lebenshilfe den falschen Weg, wenn ihr durch Teilzeiteinrichtungen den geistig behinderten Menschen der Grausamkeit seiner Umwelt aussetzt, anstatt ihn im Schonraum der Vollzeiteinrichtungen hiervor zu bewahren."[26] Nach diesen ersten Anfeindungen sollte das teilstationäre Konzept der Deutschen Lebenshilfe jedoch bald seine Bestätigung finden. In Deutschland legte die Enquete-Kommission Mitte der 1970er Jahre ihren Bericht zur Lage der Psychiatrie vor. Darin wurde hingewiesen, dass ca. 17.500 geistig behinderte Menschen fehlplatziert und unter elenden, zum Teil menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen in psychiatrischen Anstalten leben.[27] Dieser Bericht und die allgemeinen Tendenzen stärkten der Lebenshilfe mit ihrem teilstationären Konzept den Rücken. Sie hatte gegenüber den Behindertenheimen und psychiatrischen Anstalten einen Modernisierungsvorsprung. Und sie konnte sich aus ihrem Schattendasein als Elternvertretung befreien und sich als kooperativer Fach- und Trägerverband im Feld der Behindertenhilfe in Deutschland etablieren.

Die allmähliche Anerkennung des Normalisierungsprinzips führte dazu, dass die medizinische Vorherrschaft und Deutungsmacht im Behindertenbereich zurückgedrängt wurde. Pädagogik und entwicklungstheoretische Ansätze gewannen deutlich an Raum. Das medizinische Modell, das behinderte Menschen als krank, schwach, schwer beschädigt, ohnmächtig und als hilfe- und behandlungsbedürftig beschreibt, wurde von einer optimistisch-pädagogischen Sichtweise zurückgedrängt, die sich auf die Entwicklungsfähigkeit von Menschen mit Behinderung beruft.[28] Die Förderung und Rehabilitation von Menschen mit Behinderung stand nun im Vordergrund. 1980 schloss sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diesem veränderten Konzept an. Sie verwies darauf, dass Behinderung nicht adäquat mit einer medizinischen Klassifikation allein beschrieben und beurteilt werden kann.[29] Behinderung wird nun mittels eines dreidimensionalen Konzepts beschrieben, das Schädigung, individuelle Beeinträchtigung und soziale Behinderung vereint. Bei einer länger andauernden Störung entsteht aus einer Krankheit eine Schädigung, woraus sich für die Person eine Beeinträchtigung entwickeln kann. Diese Beeinträchtigung kann zur Behinderung führen, die "die Erfüllung einer Rolle einschränkt oder verhindert, die (abhängig von Geschlecht, Lebensalter sowie sozialen und kulturellen Faktoren) für diesen Menschen normal ist."[30]

Mit diesem neuen Verständnis von Behinderung stellte sich ein Heiloptimismus ein, da davon ausgegangen wird, dass durch Rehabilitation, Therapie und Förderung eine (Wieder-)Eingliederung und Integration von gesundheitlich beeinträchtigten Menschen jederzeit möglich ist. Im Mittelpunkt steht nun die Wiederherstellung der Funktions- und Handlungsfähigkeit der Personen, die auf die gesellschaftliche Integration und Anpassung der Betroffen abzielt.[31]

In Tirol wurde dieser Ansatz vom Verein "Lebenshilfe für das entwicklungsbehinderte Kind", der 1963 unter dem Leitspruch von Peter Rosegger "Auf dem Wege zum Licht, lasset keinen zurück" aus der Taufe gehoben wurde, geteilt. Der Verein begann 1964 in einem Kellerraum in Innsbruck mit Beschäftigungstherapien. Die Zahl der Betreuten stieg kontinuierlich an. Im November 1964 wurde dann das Tiroler Behinderten- und Pflegebeihilfengesetz beschlossen. Dadurch konnten Eltern behinderter Kinder beim Land Tirol erstmals um die sogenannte Eingliederungshilfe ansuchen. Diese Maßnahme bildete dann die Grundlage der Förderarbeit der Lebenshilfe. Ab 1967 wurde sie nicht mehr über den Subventionsweg finanziert, sondern über Tagsatzberechnungen pro Kind und Anwesenheit.[32] 1970 nahm die Lebenshilfe ihren Hauptsitz im Domanigweg 3 in Innsbruck, wo sie zwei Jahre später ihr erstes Wohnheim gründete. Das teilstationäre Konzept basierte auf folgendem Leitsatz: "(...) jeder behinderte Mensch hat das Recht solange wie möglich in seiner gewohnten Umgebung, in seinem Heimatort und in seiner Familie zu leben. Also muss man die Arbeit, Beschäftigung, Betreuung und Therapie so nahe wie möglich zum Behinderten heranbringen. D.h. unmittelbare Hilfe für den behinderten Menschen dezentralisiert - finanzielle, personelle und vereinsmäßige Leitung zentralisiert in nur einem Verein."[33]

Anfangs gab es allerdings noch sehr viele Probleme bei der Umsetzung des teilstationären Konzepts, da die Werkstätte und das neue Wohnheim in einem Gebäude untergebracht waren. Dazu stellte das Vorstandsmitglied der Lebenshilfe, Karl Winkler, fest:

"Wenn viele Menschen auf sehr engen Raum beisammen wohnen, kann man sich gut vorstellen, dass es auch so manche Probleme im täglichen Zusammenleben gibt. Es war nur das Stockwerk zu wechseln, um vom Wohnbereich in den Arbeitsbereich zu gelangen. Weder Kleidung noch Schuhe mussten gewechselt werden, mit den Patschen konnte man gehen. Unsere Behinderten mussten nicht einmal die Straße queren. Sie wussten tagelang nicht, welches Wetter draußen ist, sie nahmen weder Wind, Sonne, noch Schnee und Regen wahr, auch keine anderen Menschen begegneten ihnen auf dem Weg von und zur Arbeit. Das alles bedeutet eine Einschränkung, eine Reduzierung von Eindrücken auf ein Minimum. Sie konnten sich nicht abreagieren, aufgestaute Aggressionen und Probleme wurden vom Arbeitsbereich in den Wohnbereich und umgekehrt getragen."[34] 1973 lebten im Domanigweg bereits 30 BewohnerInnen und der Bedarf an Wohnplätzen stieg weiter sprunghaft an. Mitte der 1970er Jahre entstanden Wohneinrichtungen auch in Baumkirchen, Absam, Lienz und Landeck. Dazu bemerkte Winkler: "Diese Einrichtungen gehören alle zum geschützten Wohnbereich. Die Bewohner bedürfen der ständigen Betreuung und Begleitung. Sie sollen hier einen Lebensraum finden, der ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen entspricht, und soweit möglich, zu einer größeren Selbständigkeit geführt werden, um später in eine andere Wohnform mit größerer Selbständigkeit überzuwechseln."[35] Auch das therapeutische Angebot wurde zunehmend ausgebaut, das Credo lautete: Betreuung, Rehabilitation, Förderung und Therapie für alle:

"Menschen mit Behinderung sollten beim Eintritt in die Lebenshilfe eine Beobachtungsphase durchlaufen und anschließend, je nach Schwere ihrer Behinderung und ihrer Begabungs- und Leistungsschwerpunkte, in Gruppen eingeteilt und dementsprechend gefördert werden. Ungefähr ein Drittel sollte einer Ausbildung zugeführt und in einem passenden Beruf eingegliedert werden. Das zweite Drittel sollte in einer Art Geschützten Werkstätte oder auf einem Geschützten Arbeitsplatz kommen, und wenn es die gesetzliche Lage erlaubt, ähnlich wie nach kollektivvertraglichen Sätzen entlohnt werden. Das letzte Drittel wird wegen des hohen Behinderungsgrades ständige Betreuung und Beschäftigungstherapie brauchen und in den Tagesheimstätten, ohne Entlohnung, mit einem monatlichen Taschengeld bleiben müssen."[36]

In den 1980 Jahren legte die Lebenshilfe ihre Priorität auf die Verbesserung der Wohnsituation von Menschen mit Behinderung, indem sie vermehrt kleinere und überschaubarere Einrichtungen gründeten wollte. Ende der 1980er Jahre war das Wohnheim am Domaniweg hoffnungslos überfüllt. Rund 100 BewohnerInnen waren überwiegend in Dreibettzimmern untergebracht. Es "konnte im wahrsten Sinne des Wortes nur mehr von einem ‚Dach über dem Kopf' geredet werden. (...) von Wohnkultur konnte nicht mehr gesprochen werden.", stellte Winkler fest.[37] Die Umstrukturierung des Wohnbereichs wurde in den 1990er Jahren zur Haupttätigkeit der Lebenshilfe. Die Konzeption orientierte sich an den angenommenen Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungsfähigkeiten von behinderten Menschen: "In der Stammwohnung leben die schwerbehinderten Bewohner, die ständige Betreuung brauchen. Von dort aus werden Wohnungen mit ‚mittlerem Betreuungsniveau' versorgt, die in etwa 300 bis 400 Meter Entfernung liegen sollen. Einzelwohnungen für weitgehend selbständige geistig behinderte Erwachsene werden bei Bedarf mitversorgt."[38] Damit verband die Lebenshilfe das Normailisierungsprinzip mit einem traditionellen sonderpädagogischen Konzept der Trennung von behinderten Personen nach (diagnostizierten) Schweregraden von Behinderung, wie sie auch in den Sonderschulen erfolgt.

1991 kommt eine österreichweite Studie über die Wohnsituation behinderter Menschen zu folgender Erkenntnis: "Tirol wird im Bereich der Geistigbehindertenhilfe und im Bereich der Sozialarbeit (...) von ehrwürdigen, überwiegend aus dem konfessionellen Bereich überkommenen und von diesen weiterhin betriebenen Strukturen bestimmt. Dementsprechend folgen die Einrichtungen in Größenordnung, Organisationsform, Betreuungskonzeption etc. weitaus überwiegend traditionalistischen Gebarungsmustern. (...). Ähnliche Rückstände finden sich im Übrigen auch in Nachbarsektoren, wie etwa im Bereich der Wohnversorgung psychisch behinderter Menschen."[39] Nichts desto trotz hat sich die Lebenshilfe in der Zeit von 1992 bis 2003 zum größten Sozialträger in Tirol entwickelt. Im Wohnbereich ist die Zahl der BewohnerInnen von 120 im Jahre 1992 auf 362 im Jahre 2003 angestiegen[40].

In Südtirol nahm die Entwicklung einen anderen Weg. Deutschsprachige SüdtirolerInnen mit Behinderung, vor allem Kinder, wurden in deutschsprachige Heime in Österreich, vor allem in Tirol, untergebracht. Im Jahr 1970 wurden z.B. 173 Personen[41] in österreichischen Heimen aufgenommen, da es in Südtirol im ländlichen Raum keine Strukturen und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen gab. Besonders wenn Eltern ihren Kindern eine Schulbildung zukommen lassen wollten, waren diese gezwungen, Heime im Ausland aufzusuchen, da Sonderschulen nur in den größeren Ortschaften vorhanden waren.

Erst 1983 verabschiedete der Südtiroler Landtag ein Gesetz zur Errichtung von Behindertenzentren in mehreren Orten des Landes. Dies hatte zur Folge, dass das Jesuheim in Südtirol 1984 den letzten Jugendlichen aufnahm. Langsam entstanden gemeindenahe Wohnheime, die Gruppengrößen von acht bis zehn BewohnerInnen umfassten, sowie Wohngemeinschaften mit fünf bis acht Personen. Allerdings konzentrierte sich der Aufbau neuer Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung vor allem auf das städtische Ballungsgebiet. 1989 war die Großzahl der Betroffenen immer noch in Pflegeanstalten und Altersheimen untergebracht. Doch auch gegenüber den errichteten Wohnheimen in den neu entstandenen Sozialzentren wurde in der Studie von Klicpera und Innerhofer Kritik geäußert, denn ihr Charakter entsprach eher dem Modell der "totalen Institution" als einem teilstationären Wohnkonzept: "Diese Wohnheime sind in größeren Gebäuden und Gebäudekomplexen untergebracht, die auch eine Werkstatt für Behinderte sowie Beschäftigungseinrichtungen beherbergten. Sie sind alle behindertengerecht ausgestattet (...), jedoch klar als Behinderteneinrichtungen zu erkennen und entsprechen daher nur teilweise dem Prinzip der Gemeinwesenintegration."[42] Auch heute sind viele Einrichtungen für Menschen mit Behinderung in Südtirol immer noch nach dem Prinzip "Arbeit und Wohnen unter einem Dach" organisiert.

Wie die Entwicklungen zeigen, hat es eine trennscharfe Abhebung des Normalisierungsprinzips und der Deinstitutionalisierungsbestrebungen von traditionellen Betreuungsformen in beiden Landesteilen bis in die 1990er Jahr nur ansatzweise gegeben. Rehabilitation und Förderung standen als handlungsleitende Maxime im Vordergrund. Behinderung bleibt nach wie vor ein individuelles Merkmal der Person, das durch guten Willen, Fleiß, konsequenter Rehabilitation, Förderung und Therapie überwunden werden kann. Dabei ging es zwar hauptsächlich darum, Menschen mit Behinderung zur Selbständigkeit zu erziehen, damit sie in die Gesellschaft integriert werden können. Aber auch dieser Fortschritt einer Individualisierung gegenüber dem medizinischen Menschenbild sieht Behinderung ausschließlich im Lichte von Schädigung, Abweichung und Defiziten, "zudem gelten Betroffene als inkompetent und unfähig, Schwächen oder Fehlleistungen aus eigener Kraft zu überwinden. Folglich sind es die professionellen Helfer, denen die Aufgabe obliegt, für Menschen mit Behinderungen einen Rehabilitations- oder Förderplan zu entwickeln und für eine gewissenhafte Durchführung Sorge zu tragen."[43]



[20] Interview mit Josef Wörter im September 2010

[21] Dokumentation der Koordinationsstelle zur Ausgliederung von geistig behinderten Personen aus der Psychiatrie Hall/Tirol "Verein zur Integration geistig behinderter Menschen" zu ihrer unfreiwilligen Auflösung, 1995 (unveröffentlicht). S. 6-7

[22] Vgl.: Dietmut Niedecken, Irene Lauschmann, Pötzl, Marlies: Psychoanalytische Reflexion in der pädagogischen Praxis. Innere und äußere Integration von Menschen mit Behinderung. Weinheim, Beltz 2003.

[23] Richard Günder, Normalisierung durch Auflösung. Wohnen in der Gruppe. In: Sozial Extra, Nr. Juni 1988. S. 36 ff

[24] Bengt Nirjie, Das Normalisierungsprinzip und seine Auswirkungen in der fürsorglichen Betreuung. In: R. Kugel und W. Wolfensberg (Hrsg.): Geistig Behinderte - Eingliederung oder Bewahrung? Stuttgart, Thieme 1974

[25] Johannes Schädler, Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe unter Bedingungen institutioneller Beharrlichkeit: Strukturelle Voraussetzungen der Implementation Offener Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung. Dissertation, Universität Siegen 2002.

[26] Lebenshilfe Bundesvereinigung, 25 Jahre Lebenshilfe. Marburg, Verlag der Lebenshilfe 1983.

[27] Vgl. Günther Häßler, Frank Häßler, Geistig Behinderte im Spiegel der Zeit. Stuttgart / New York, Thieme 2005. S. 40.

[28] Vgl. Ulrich Hähner, Von der Verwahrung über die Förderung zur Selbstbestimmung. In: Ulrich Hähner, Ulrich Niehoff, Rudi Sack, Helmut Walther(Hrsg.) Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung. Marburg, Verlag der Lebenshilfe 1998. S. 30.

[29] Vgl. Marianne Hirschberg, Behinderung im internationalen Diskurs. Die flexible Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation. Frankfurt/Main, Campus, 2009. S. 46 ff.

[30] World Health Organization: Internationale Klassifikation der Schädigung, Fähigkeitsstörung und Beeinträchtigung, Ein Handbuch zur Klassifikation der Folgeerscheinungen der Erkrankung. Berlin, Ullstein Mosky 1995. S. 245.

[31] Vgl. Anne Waldschmidt,: Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? 2005. S. 15. Im Internet: http://www.ssoar.info/ssoar/files/2008/520/disability%20studies.pdf (Zugriff 21.9.2010),

[32] Vgl. Karl Winkler, Chronik der Lebenshilfe Tirol 1963 - 1988. Innsbruck, Eigenverlag der Lebenshilfe. S. 115.

[33] Winkler, Karl: Chronik der Lebenshilfe Tirol 1963 - 1988. Innsbruck, Eigenverlag der Lebenshilfe. S. 233.

[34] Karl Winkler, Chronik der Lebenshilfe Tirol 1963 - 1988. Innsbruck, Eigenverlag der Lebenshilfe. S. 290.

[35] Karl Winkler, 25 Jahre Lebenshilfe Tirol. Miteinander Leben füreinander Dasein. Innsbruck, Eigenverlag der Lebenshilfe 1988. S. 33.

[36] Karl Winkler, Chronik der Lebenshilfe Tirol 1963 - 1988. Innsbruck, Eigenverlag der Lebenshilfe. S. 239.

[37] Karl Winkler, Chronik der Lebenshilfe Tirol 1990 - 2000. Innsbruck, Eigenverlag der Lebenshilfe. S. 20.

[38] Jeff Bernard, Hans Hovorka, Walter Schaffranek, Normalisierung. Zur Entwicklung integrativer Wohn- und Lebenszusammenhänge geistig und mehrfach behinderter Menschen in Österreich. Wien, Institut f. soziales Design 1991. S.19.

[39] Jeff Bernard, Hans Hovorka, Walter Schaffranek, Normalisierung. Zur Entwicklung integrativer Wohn- und Lebenszusammenhänge geistig und mehrfach behinderter Menschen in Österreich. Wien, Institut f. soziales Design 1991. S. 356.

[40] Vgl. Karl Winkler, Chronik der Lebenshilfe Tirol 1990 - 2000. Innsbruck, Eigenverlag der Lebenshilfe. S. 317, und Bericht des Tiroler Landesrechnungshofs: Behindertenhilfe in Tirol am Beispiel der Lebenshilfe Tirol, gemeinnützige Gesellschaft m.b.H., Innsbruck 2005, S. 41

[41] Michela De Santi, Cristina Endrizzi, Annemarie Haas, Carla Vettorazzi, Geschichte des Sozialdienstes - Geschichte der Sozialassistenten in Südtirol von 1949 bis 1999. Bozen, Autonome Provinz Bozen. S. 101.

[42] Vgl. Christian Klicpera, Barbara Klicpera-Gasteiger, Paul Innerhofer, Lebenswelten von Menschen mit geistiger Behinderung. Heidelberg, Asanger Verlag 1995. S 88.

[43] Georg Theunissen, Empowerment und Inklusion behinderter Menschen. Einführung in die Heilpädagogik und soziale Arbeit. Freiburg im Breisgau, Lambertus-Verlag 2009. S. 64.

Leben mit Unterstützung

Gegenüber all diesen Vorstellungen und Bildern von behinderten Menschen hat sich immer wieder heftiger Widerstand formiert. Kritik kam aber nicht nur aus der Ecke von ExpertInnen[44] und Eltern[45], die Integration einforderten, sondern als historisch neues Faktum in Österreich seit dem Ende der 1970er Jahre auch von den Betroffenen selbst. Als Beispiel dafür kann eine Aktion der Innsbrucker "Initiativgruppe Behinderte-Nichtbehinderte"[46] 1978 bei der Eröffnung des vom Kamillianer-Pater Dr. Anton Gots gegründeten Behindertendorfes Altenhof am Hausruck in Oberösterreich angeführt werden. Dieses Behindertendorf hatte und hat österreichweite Bedeutung, auch behinderte Personen aus Tirol sind in das Behindertendorf eingezogen. In einem Flugblatt wurde es 1978 als "Behindertenghetto" bezeichnet und "behindertengerechte Wohnungen überall" sowie "Servicehäuser" nach skandinavischem Vorbild gefordert.[47] Über den Verlauf der Protestaktion wurde berichtet:

"....Nacheinander treffen ein: der Bischof, der Landeshauptmann, ein Staatssekretär im Bundeskanzleramt, der Botschafter der königlichen niederländischen Reichsregierung, ein Abgesandter aus dem Vatikan. Alle reden sie salbungsvoll, voll tiefer Würdigung des Geleisteten, hie und da werden auch die Behinderten erwähnt, so z. B. von Pater Gots dem Sinne nach ‚die Behinderten sind dazu da, die Gesunden zum Gutsein zu provozieren' (...). Z. B. wurde an allen Schulen Oberösterreichs Geld gesammelt, und allein die im Wohltun aufgeklärten Berufsschüler Oberösterreichs haben mehrere 100.000,- ö. S. aufgebracht. Die Schulsprecher aller Berufsschulen Oberösterreichs durften deshalb auch bei der Eröffnung des Behindertendorfes anwesend sein und ihre Menschlichkeit noch einmal öffentlich zur Schau stellen: sie überreichten Behinderten des Dorfes Blumen. Mir fällt dazu nur das Wort ‚obszön' eine (öffentliche Zurschaustellung, die geeignet ist, Menschenwürde zu verletzen). Das Bild des Behinderten als arm, bemitleidenswert, als jemand, der grundsätzlich anders ist als ein ‚Gesunder', als jemand, der weniger wert ist, wird in einem öffentlichen Akt aufgerichtet, der Stempel auf der Stirn wird erneuert, er ist zwar kein Judenstern, aber er löst einen dumpfen Schmerz der Hilflosigkeit aus, Wut kann sich nur jemand leisten, der ein bisschen frei ist. Wir jedenfalls wollen wenigstens protestieren (...).Mehrere Vereinsfunktionäre vom ‚Lebenswerten Leben' stürzen sich nach ca. 10 verteilten Flugblättern auf uns, entreißen uns mit Gewalt die Flugblätter und fordern uns auf: ‚Verschwindets, das ist unsere Feier' (...).Als ein Gruppenmitglied von uns auf den Gang geht, wird es gleich in einen kleinen Raum gebracht, umringt von 10 Gendarmen: ‚Wer seid ihr, was wollt ihr, wir räumen euch, ungesetzlich (...)! Störung (...), seids ihr politisch? Was, Behinderte sind auch dabei???' (...) währenddessen segnet der Bischof mit einem großen Kreuz, mit einem wirklich leidenden, armseligen Christus darauf das Gebäude (...). Wir ziehen belämmert ab (der Behinderte, der sich im Namen aller Behinderten in Altenhof bedankt, lobt, würdigt, mit dünner leidender Stimme, spricht gerade - ich empfinde nur mehr Scham), wir kommen noch einmal ohne Anzeige davon."

Bereits in den 1960er Jahren entstand in den USA unter der Federführung des stark auf Assistenz und Beatmungsgeräte angewiesenen Studenten Ed Roberts ein Konzept für ein autonomes Wohnen behinderter Menschen in der Gemeinschaft (Independent Community Living).[48] Ed Roberts gilt als der Gründer der internationalen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und formulierte: "Die Leute sagen, dass viele von uns verärgert sind. Natürlich sind wir verärgert. Wir mussten die schlimmsten Gemeinheiten hinnehmen. Wir wurden zu vegetierenden Krüppeln gebrandmarkt. Man hält uns für krank und chancenlos. Da hat man eben einmal die Nase voll. Für mich ist der Zorn eines der wichtigsten Elemente in unserer Bewegung"[49] Im Laufe der Jahre entstanden dann in den USA die ersten "Centre for Independent Living" durch den Zusammenschluss von körper-, sinnes- und auch psychisch behinderten Menschen, die in eigenverantwortlicher und selbstbestimmter Weise ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nahmen und die Unterstützungsform der persönlichen Assistenz etablierten.

Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung (Independent Living Movement) kämpfte und kämpft gegen Diskriminierung und für die Selbstbestimmung, Autonomie und politisch für gleiche Rechte für behinderte Menschen. Behinderung wird als Produkt sozialer Ungleichheit definiert: "Danach entsteht Behinderung durch ein behinderndes Sozialsystem, das mit wirtschaftlichen, politischen und sozialen Hindernissen Formen des Ausschlusses und folglich der Unterdrückung schafft."[50]

Im Gegensatz zum medizinischen oder individuellen Modell von Behinderung wird nun der Blick auf die behindernden sozialen Bedingungen gelegt. Danach muss sich die Aufmerksamkeit darauf richten, Barrieren gegen die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen zu identifizieren und diese abzubauen. Ziel ist, Selbstbestimmung und die volle und gleichberechtigte Inklusion von Menschen mit Behinderung zu verwirklichen. Dem Grundsatz der Inklusion liegt das Verständnis zugrunde, dass jeder Mensch das Recht hat, als vollwertiges und gleichberechtigtes Mitglied anerkannt zu werden.

Ausgehend von der Independent-Living-Bewegung entwickelte sich aus der Gruppe der sogenannten geistig behinderten Personen die People-First-Bewegung als ein Zusammenschluss von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die beanspruchen, "Für sich selbst zu sprechen". Sie fordern, das eigene Leben entsprechend den eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten.

Beide Bewegungen vertreten eine Menschenrechtsperspektive, in der es darum geht, Menschen nicht durch Rehabilitation an gesellschaftliche Bedingungen anzupassen, sondern eben diese so zu verändern, um die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe und Inklusion unabhängig vom Schweregrad der Behinderung für alle Betroffenen zu gewährleisten. Sie streben die Überwindung paternalistischer Abhängigkeitsbeziehungen an, um durch adäquate Assistenz- und Unterstützungsmaßnahmen ein selbstbestimmtes Leben in allen Gesellschaftsbereichen (Wohnen, Arbeit, Freizeit usw.) zu führen. Folglich soll jede Person die Möglichkeit haben, für sich selbst zu entscheiden, wo, wie und mit wem sie leben will und welche Unterstützung sie dafür benötigt. Beide Bewegungen beanspruchen ein Leben mit Unterstützung und Assistenz, sodass diese Phase als "Leben mit Unterstützung" bezeichnet werden kann, die weit über das oben genannte Normalisierungsprinzip hinausreicht.

Handlungsleitendes Prinzip ist, dass sich die Systeme und Leistungen an der Person orientieren müssen, statt auf Versorgung abzuzielen. Die Geldflüsse dürfen nicht mehr über die Einrichtungen der Behindertenhilfe abgewickelt werden, sie müssen der behinderten Person als "persönliches Budget" zur Verfügung gestellt werden. Supported Living nennt sich dieser Ansatz, der die Interessen und Bedürfnisse der Personen in den Vordergrund stellt. Ein weiteres Kriterium ist die Trennung von Wohnung und Unterstützung, also eine Absage an der traditionellen Dienstleistung "Wohnen und Betreuung aus einer Hand". Es sollen Wohnformen geschaffen werden, die unabhängig vom Anbieter einer Unterstützungsleistung ausgewählt werden können. Menschen mit Behinderung sollen MieterInnen oder EigentümerInnen von Wohnungen sein. Die Personen sollen in allen Bereichen und Lebenssituationen Wahl-, Entscheidungs- und Kontrollmöglichkeiten erhalten. Und eine ganz wesentliche Forderung ist, dass es bei allen Maßnahmen keine Zurückweisung von Menschen mit schwersten Behinderungen bzw. hohem Unterstützungsbedarf geben darf.[51] Inklusion und Teilhabe, als grundlegendes Menschenrecht, ist unteilbar. "Leben mit Unterstützung" ist inzwischen nicht nur fachlicher Standard der inklusiven Pädagogik[52], sondern entspricht auch der wegweisenden UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2006 von der UNO beschlossen). Diese Konvention ist wesentlich von der internationalen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung initiiert worden. Die größte Herausforderung für die unmittelbare Zukunft ist, dass die österreichischen Bundesländer und die Bundesregierung die von Österreich 2008 ratifizierte UN-Konvention aktiv umsetzen.[53] Selbstvertretungsgruppen von Personen mit Lernschwierigkeiten - wie z.B. in Tirol das Projekt WIBS[54] - und Selbstbestimmt-Leben Initiativen[55] müssen im Sinne der UN-Konvention bei der Gestaltung gesetzlicher Maßnahmen und Umsetzungen eine entscheidende Rolle spielen - die historische Dominanz und Defintionsmacht der VertreterInnen der Anbieter der Behindertenhilfe muss auch hier abgebaut werden.

Quelle:

Sascha Plangger, Volker Schönwiese: Behindertenhilfe - Hilfe für behinderte Menschen? Geschichte und Entwicklungsphasen der Behindertenhilfe in Tirol.

Aus: Schreiber, Horst (2010): Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol. Innsbruck: Studienverlag, Seite 317-346

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 28.01.2014



[44] Vgl.: Der Mythos vom harten Kern. Sozialpsychiatrische Informationen Heft 1/1983, 13. Jg. Nr. 73/74, Bonn: Psychiatrie Verlag. Vgl. auch: Rupert Schmidt: Die Paläste der Irren: kritische Betrachtungen zur Lebenssituation geistig behinderter Menschen in Österreich. Wien: WUV-Univ.-Verlag, 1993

[45] TAFIE-Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung: Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. 5. Gesamtösterreichisches Symposium "Schule ohne Aussonderung -Leben ohne Aussonderung Reutte/Tirol ", Eigenverlag 1989

[46] Vgl.: Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten: Befreiungsversuche und Selbstorganisation. In: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): Behindertenalltag - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 377 - 390 ; Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/initiativgruppe-befreiungsversuche.html (Zugriff 21.9.2010)

[47] Ernst Klee, Ernst (1980) Behindert. Über die Enteignung von Körper und Bewußtsein. S. Fischer-Verlag, Frankfurt 1980: Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/klee-behindert.html (Zugriff 21.9.2010)

[48] Georg Theunissen, Empowerment und Inklusion behinderter Menschen. Einführung in die Heilpädagogik und soziale Arbeit. Freiburg im Breisgau, Lambertus Verlag. S. 98.

[49] Billy Golfus, David E. Simpson, When Billy Broke His Head... and Other Tales of Wonder (deutscher Titel: »Als Billy sich den Schädel einschlug«). Dokumentarfilm, USA 1995

[50] Cornelia Renggli, Disability Studies - ein historischer Überblick. In: Weisser, Jan / Renggli, Cornelia (Hrsg.): Disability Studies. Ein Lesebuch. Luzern, Edition SZH/CSPS 2004. S. 17.

[51] Georg Theunissen, Empowerment und Inklusion behinderter Menschen. Einführung in die Heilpädagogik und soziale Arbeit. Freiburg im Breisgau, Lambertus Verlag 2009. S. 389.

[52] Andreas Hinz: Inklusion und Arbeit - wie kann das gehen? In: impulse Nr. 39, März 2006, Seite 3 - 12 impulse (39/2006). Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/imp-39-06-hinz-inklusion.html (21.9.2010)

[53] Siehe dazu: "Unabhängiger Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen" in Österreich: http://www.monitoringausschuss.at/cms/monitoringausschuss/index.html (Zugriff 21.9.2010)

[54] Selbstvertretungs-Projekt WIBS - Wir informieren, beraten, bestimmen selbst: http://www.selbstbestimmt-leben.net/wibs/ (Zugriff 21.9.2010)

[55] Vgl. z.B. Selbstbestimmt Leben Innsbruck: http://www.selbstbestimmt-leben.net (Zugriff 21.9.2010)

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