Schwachsinnig in Salzburg

Zur Geschichte einer Aussonderung

Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Buch
Copyright: © Inghwio aus der Schmitten 1985

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Die heutige öffentliche Diskussion um Erziehung und Fürsorge für geistig behinderte Menschen kreist um ein zentrales Schlagwort: I n t e g r a t i o n.

Der fortschreitende Ausbau von Sonderinstitutionen ist für deren Befürworter eine »stille Revolution«, eine Chance für geistig Behinderte »zueinem erfüllten Leben in unserer Mitte«)[1]; für die Kritiker aber »Ausdruck und Mitursache der Desintegration«. Sie fürchten, das Wort Integration diene der Gegenseite nur als »Beschwörungsformel für die 'Grenzen der Integration'«[2]

In der Tat wurden geistig behinderte Kinder und Erwachsene so lange in Sonderinstitutionen sondergefördert, daß heute die sogenannten Normalen kaum Gelegenheit haben, alltägliche Beziehungen zu Behinderten zu pflegen; sie leben in getrennten Welten. Diese Trennung ist ein idealer Nährboden für ein defektorientiertes und ausgrenzendes Denken, Fühlen und Handeln von Nichtbehinderten gegenüber geistig Behinderten.

Beim Stöbern in alten Akten und ärztlichen Schriften fand ich zu meiner Überraschung, daß vor kaum 200 Jahren jene Menschen, die man später als Schwachsinnige bezeichnete, noch selbstverständlich akzeptierter Teil der Gesellschaft waren. Weil andere Merkmale als eine reduzierte individuelle Denkfähigkeit im Vordergrund standen, gab es auch noch keine allgemein üblichen Bezeichnungen für diesen Personenkreis. Die damalige Gesellschaft kannte andere Rechtfertigungen für soziale Privilegiertheit und Unterdrückung.

Wenn aber die uns heute als normal erscheinenden Verhältnisse, nämlich die besondere Betrachtung und Behandlung geistig Behinderter, erst eine offensichtlich junge Geschichte haben, so müßten sich aus der Analyse der beginnenden Aussonderung Erkenntnisse für die heutige Entwicklung ziehen lassen.

Über die aktuelle Lage wurde schon vieles, auch gegensätzliches geschrieben. Die Geschichtsschreibung im Bereich der Heil- und Sonderpädagogik hingegen blieb im wesentlichen einem Muster verhaftet, das im frühen 20. Jahrhundert gestrickt wurde.[3] Demnach waren Schwachsinnige schon immer ein besonders wahrgenommener, gesellschaftlich ausgegrenzter und diskriminierter Personenkreis; die Anstaltsgründungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert erscheinen als Meilensteine im Versuch einer humaner werdenden Gesellschaft, die Ausgrenzung zu überwinden. Diese Geschichtsschreibung verdankt sich dem Bedürfnis eines neuen Berufsstandes um 1900, der auf der Suche nach Identität und Tradition war. Die je aktuellen Ansichten werden der Vergangenheit übergestülpt.

In diesem Buch soll umgekehrt versucht werden, die zunehmende Sonderstellung Schwachsinniger aus dem geschichtlichen Zusammenhang heraus zu verfolgen und zu erklären. Dem muß auch die Terminologie Rechnung tragen, was einige Probleme mit sich bringt. In den verschiedenen Bezeichnungen - Kretin, Depp, Idiot etc.- widerspiegeln sich auch die Beziehungen zwischen den Bezeichnern und ihren Objekten. Diese Bezeichnungen und ihre Veränderung sind daher selbst Gegenstand der Untersuchung. Ich brauche aber ebenfalls einen Überbegriff und werde damit zum Bezeichner, wenn auch einer, der mit seinem Begriff nichts 'Objektives' aussagen will, sondern ihn braucht, um jene Menschen zu benennen, die zum Objekt besonderer Betrachtung und Behandlung gemacht worden sind.

Die heute weitgehend übliche Bezeichnung 'Geistig Behinderte' ist für die geschichtliche Untersuchung ungeeignet, weil sie selbst erst Ergebnis jüngerer Entwicklungen ist.

Ich verwende die Ausdrücke 'Schwachsinn' und 'Schwachsinnige'. Sie fanden in einem Zeitraum von etwa 100 Jahren häufige Verwendung als Überbegriffe und drücken außerdem die zunehmende Abgrenzung gegenüber 'Wahnsinnigen', 'Viersinnigen' (Blinde, Taubstumme) und 'Vollsinnigen' aus.

In dieser Arbeit ist viel von Besonderung und Aussonderung Schwachsinniger die Rede. Als Besonderung bezeichne ich alle jene Prozesse, in denen der Unterschied schwachsinniger Individuen gegenüber anders Auffälligen und der übrigen Bevölkerung größer, die Unterschiede untereinander jedoch kleiner werden. Das betrifft sowohl konkrete Lebensverhältnisse, als auch wissenschaftliche und populäre Ansichten, behördliche Maßnahmen, Pflege- und Förderungsbestrebungen u.v.m.

In gesteigerter, qualitativ neuer Form wird Besonderung zur Aussonderung; der Unterschied zwischen Schwachsinnigen und ihrer sozialen Umgebung wird zur Hauptseite. Zwischen beide schiebt sich eine Wand: aus wirklichen Ziegeln, aus speziell funktionierenden Menschen, aus Techniken, aus moralischen (Vor-) Urteilen, aus Nicht-Verstehen, Angst, Aggression, Mitleid und Abwehr.



[1] Lebenshilfe für Behinderte. Menschen brauchen Menschen. Sonderheft zum Jahr der Behinderten.

Wien 1980, S. 6 und 2.

[2] Rudolf Forster und Volker Schönwiese (Hg.): Behindertenalltag. Wie man behindert wird.

Wien 1982, S. iii und 138.

[3] Gerhardt 1904, Bösbauer 1909, Kirmße 1922, Hilscher 1930.

SALZBURG UM 1800 UND DIE WAHRNEHMUNG VON SCHWACHSINN

Reisende Ärzte und Naturforscher 'entdecken' den Kretinismus in Salzburg.

Jeder von uns kennt den Ausdruck 'Kretin', die wenigsten wissen jedoch, daß mit dem Kretinismus eine spezifische Krankheit bezeichnet wird. Ein Blick in aktuelle medizinische Lexika verrät uns, daß die Entstehung dieser Krankheit bis heute nicht restlos geklärt ist. Man weiß allerdings seit Wagner-Jauregg, daß Jodmangel damit in ursächlichem Zusammenhang steht, da die Schilddrüse ohne Jod bestimmte Hormone nicht erzeugen kann, die wiederum für die Gehirnreifung eines Fötus unabdingbar sind. Entsprechender Mangel kann zu schwersten Störungen des Zentralnervensystems, zu Hörschäden und körperlichen Mißbildungen führen. Die Kropfbildung stellt den Versuch des Körpers dar, durch Gewebsvermehrung die Produktion dieser Hormone zu verstärken. Seit der Einführung der Jodprophylaxe ist diese Krankheit fast völlig verschwunden.

In Mitteleuropa wurde die Medizin Ende des 18. Jahrhunderts auf den Kretinismus aufmerksam. Den Ärzten waren seine Ursachen nicht bekannt. Sie entdeckten und untersuchten eine »Menschen-Abart«, an der sie in erster Linie die physischen Merkmale interessierten, deren 'Blödsinn' für sie jedoch von untergeordneter Bedeutung war.

Im Jahre 1792 reisten Joseph und Karl Wenzel, »der Arzneygelehrtheit Doctoren« , nach Salzburg und legten das Ergebnis ihrer Forschungen später schriftlich nieder.[4] Begleiten wir sie auf ihrem Fußmarsch ins Gebirge:

»Schon in und um Salzburg herum trafen wir mehrere Cretinen an, die aber, der Zahl und dem Grade des Uebels nach, bey weitem nicht mit jenen in Verhältniß standen, die man in dem Thale bey Hallein ... und vorzüglich bey Golling bis Werfen sieht. Von Golling ungefähr zwey Stunden seitwärts bey Moseck, trafen wir einige Menschen an, die nebst dem, daß sie Cretinen sind, noch so viel Ausgezeichnetes haben, daß sie unter allen Menschen dieser Art, die wir sahen, unsere Aufmerksamkeit am meisten rege machten. .. . nach Hüttau, wo wir noch viele Cretinen fanden, bis gegen Radstadt hin. Hier wird das Thal nicht nur geräumiger, sondern auch höher. In Radstadt und der umliegenden Gegend gibt es keine wirklichen Cretinen; wir bemerkten nur einige, die undeutlich sprachen, oder völlig taubstumm waren. So trafen wir auch von Radstadt über den Tauren, einem mäßig hohen Schneegebirge, bis an den Fuß der Südseite dieses Gebirges keine Cretinen an; von da aber vermehrte sich ihre Anzahl, so wie wir weiter ins Longau nach Tamsweg und von da rechts nach St. Michael kamen. In letzterem Orte und seiner Nachbarschaft waren sie vorzüglich zahlreich, dann verminderte sich wieder ihre Menge nach dem Zederhause hin. ... Der würdige Pfarrer dieser Gegend ... kannte unter seiner 1400 Seelen starken Gemeinde keinen Cretinen. ... Gleich beim Eingang in dieses tiefe und enge Thal (Großarltal) fanden wir wieder mehrere Cretinen; die meisten im Inneren desselben. ... Um in das Thal von Gastein, das wegen seiner warmen Bäder in der dortigen Gegend bekannt ist, zu kommen, überstiegen wir die Tofer-Alpen, und trafen in diesem von dem Badeort aus sich immer erweiternden, sehr angenehmen Thale nur im Marktflecken Hof einen einzigen Cretinen an, der selbst nur in geringerem Grade mit dem Uebel behaftet war. Nun kehrten wir durch den Paß Klamm wieder an die Salzach zurück und trafen in der Lendt, zu St. Johann und Bischofshofen wieder Cretinen in sehr großer Menge an. Hier endeten wir unsere Reise, und gingen dann durch Werfen den nähmlichen Weg zurück, den wir bey unserer Hinreise genommen hatten.« (S.2 ff)

Die beiden Ärzte wissen noch nicht, wie erfolgreich ihre Studien sein werden, haben jedoch von der notwendigen Methode genaue Vorstellungen: Nachdem der Kretinismus ein »einheimisches Uebel« sei, wären die hiesigen Ärzte und die ansässige Bevölkerung an den Anblick gewöhnt, und da man es überdies für klimatisch bedingt und daher unbehebbar halte, ziehe es keine weitere Aufmerksamkeit auf sich. Daher müßten fremde Ärzte und Naturforscher, welche die nötige Muße und das entsprechende Interesse mitbrächten, diese Aufmerksamkeit erst wecken. Ihre Aufgabe sei die genaue Beobachtung und Beschreibung aller Tatsachen, die ihnen im Zusammenhang mit dem Übel begegneten. Sei die Bahn einmal gebrochen, könnten die einheimischen Ärzte die Ansichten der Fremden präzisieren; deren Beobachtungen würden so entweder befestigt oder berichtigt, teilweise überhaupt als falsch befunden. »Die Untersuchung nähert sich auf diese Art der Vollkommenheit, und die Entscheidung über solche Uebel dem höchsten Grade der Wahrscheinlichkeit. Und nun erst tritt der Fall ein, daß die einheimischen Ärzte im Stande sind, den Landes - Obrigkeiten zur Verminderung, Heilung oder gänzlicben Ausrottung solcher einheimischen Uebel die zu treffenden Medicinal- und Polizey-Anstalten vorzulegen und mit ihrer landesväterlichen Beyhülfe demselben zu steuern.« (S.VII)

Wenn sie die Ansichten anderer Kretinismusforscher zum Teil einer heftigen Kritik aussetzten, so diene das lediglich dazu, »entweder durch ihre (der Kritik) Widerlegung seiner (Fodérés[5]) Meinung einen höheren Grad an Festigkeit zu geben; oder aber durch Anerkennung des Gewichts unserer Einwendungen eine neue Untersuchung dieses Gegenstandes zu veranlassen. In beyden Fällen kann nur die Wahrheit gewinnen; und dies ist ja das einzige Ziel aller unserer Bemühungen.« (S.198).

Das sind Ansichten, die der neuen Wissenschaftlichkeit verpflichtet sind, wie sie die Aufklärung hervorgebracht hat. Betont wurde die Empirie, das Experiment, die Analyse, der Schluß vom Besonderen auf das Allgemeine; bekämpft wurden die jahrhundertealten A - priori - Wahrheiten der traditionellen Autoritäten und die Methode der Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen.[6]

Die Brüder Wenzel wollen ihre Arbeit in den Dienst des Staates stellen. Es entspricht staatswirtschaftlichen Ideen des Aufgeklärten Absolutismus,wenn sie schreiben, »daß die Blüthe eines Staates nach der Menge der betriebsamen und thätigen Bürger zu berechnen sey; desto größer ist die Pflicht der Ärzte, auf Ausrottung aller jener Uebel zu denken, die dem großen Interesse desjenigen Staates, dessen Mitglieder sie sind, entgegenwirken.« (S. 233)

Am Beginn der Untersuchung müssen geduldige Beobachtungen und exakte Beschreibungen stehen. Zuerst werden die Wohnplätze der Kretinen beschrieben,sowie die klimatischen Verhältnisse. In den tiefgelegenen,engen und feuchten Alpentälern sollen viel mehr vorkommen als in denhochgelegenen, luftigen. In ersteren sollen die Menschen insgesamt träge und hinfällig sein.

Die äußeren Verhältnisse zu kennen ist wichtig bei einer Krankheit, die als endemische, d.h.örtlich begrenzte, dort aber häufige, bekannt ist. Noch wichtiger, diese Verhältnisse zu vergleichen mit jenen in anderen Kretinengebieten.Die Brüder Wenzel haben sich natürlich sowohl vor als auch nach ihrer Reise intensiv mit den Berichten anderer Forscher auseinandergesetzt. Die vermutete Ähnlichkeit der Salzburger Gebirgstäler mit jenen in der Schweiz und Piemont, die schon länger als exquisite Kretinennester bekannt waren, hat sie überhaupt erst zu ihrer Salzburgreise bewogen.

In der Steiermark und Kärnten sollen viele »Kropfichte, mit und ohne Blödsinn« vorkommen. In der Steiermark hießen die männliche Trodeln, Dosten, Lümmel, die weiblichen Dosteln. In Kärnten sage man Dosten, Doggen, armes Häscherle. Ja selbst aus fernen Ländern lägen Berichte vor. So beschreibe ein englischer Gesandter Menschen mit Kröpfen und Geistesschwäche, die er auf seiner Reise durch die Tartarey in China gesehen habe. Ein anderer halte die Quimos auf Madagaskar für Kretinen. Einige Kollegen wollten sogar in landschaftlich völlig anders gearteten Gegenden Kretinismus entdeckt haben, nämlich im Harz und um Tübingen.

Selbstverständlich werden die Einheimischen nach ihren Ansichten über »dieses Uebel« befragt, wobei die Besucher erst einmal feststellen, daß es gar nicht als so großes Übel betrachtet wird. Der Kropf verletze das ästhetische Gefühl der Gebirgsleute nicht, da er so verbreitet sei, »daß von den Erwachsenen nur wenige davon frey sind.« (S.96) Obwohl die Kretinen meistens aus sehr armen Familien kämen, die selbst nur sehr schlechte Nahrung hätten, würden sie von den gutmütigen Einwohnern unterstützt, ernährt und lebten mitten unter ihnen. Wer kein Zuhause mehr habe, lebe auswärts bei »guten Leuten«.

Die Bezeichnung 'Kretin', die aus dem Wallis und aus Piemont kommt, ist den Salzburgern unbekannt. Hier sagt man in manchen Tälern Lappe, Teppeck, Trutsched. Aber »am gewöhnlichsten pflegt man einen solchen Menschen Fex zu nennen.« Nur klagen die beiden Ärzte, daß man viel zu viele so benenne, nämlich »alle in geringem Grade Blödsinnigen, auch bloß taubstumme, überhaupt alle, dieirgendeinenungewöhnlichen Fehler an sich haben.«(S.24)

Während die Einheimischen also eine nach ärztlichen Kriterien sehr unspezifische Bezeichnung verwenden, verfügen die Brüder Wenzel und andere Ärzte bereits über einen Begriff von Kretinismus, von Blödsinn, von Taubstummheit, wo jeder vom anderen deutlich unterschieden ist. Die Kategorie Blödsinn ist aber nicht Gegenstand ihres Interesses. Spätere Forscher hingegen werden den Kretinismus als Unterkategorie des Blödsinns begreifen, oder auch als Synonym.

Die Ansichten der Einheimischen über die Ursachen des Kretinismus erscheinen den Besuchern allesamt nicht brauchbar: Das Wasser könne alleine keine so spezifische Schädigung hervorrufen; das Schneewasser im besonderen würde gerade in den hochgelegenen kretinenarmen Gegenden getrunken; die Nahrung des armen Volkes (ein Argument Wohlhabender) sei zwar sehr schlecht, aber sehr unterschiedlich in seinen Auswirkungen auf die Gesundheit, da »die größere Hälfte der arbeitsamen Classe sich bey beynaheunverdaulich scheinender Nahrungsmittel wohl befindet, die dem unthätigen Theile unvermeidlich Krankheiten zuführen würde.« (S.100)

Eine drastische Version für die Entstehung des Kropfes überhaupt laute, daß er durch einen heftigen Schrei bei gewaltsam zurückgebogenem Hals gleich nach der Geburt entstehe. Manche hielten Kropf und Kretinismus für angeboren oder vererbt.

Die Brüder Wenzel betrachten die warme Feuchtigkeit der Atmosphäre in den tiefen und engen Alpentälern als die allgemeine Ursache des Kropfes und des Kretinismus. Sie verhindere die Absonderung des Schleimes der Schilddrüse in die Luftröhre, sodaß er sich zurückstauen müsse. Das plötzliche Auftreten von oft riesigen Kröpfen habe zusätzlich mechanische Ursachen, nämlich eine Überanstrengung der Halsmuskeln durch Tragen schwerer Lasten auf dem Kopf, Bergsteigen, Krämpfe, Geburt und Erbrechen. Nur wenn die Störung von Kind auf vorhanden, sei der Kropf auch mit mehr oder weniger Stupidität verbunden. Bei starker Ausprägung des Übels sprechen sie von 'vollkommenen Cretinen'. Diese machten allerdings zahlenmäßig nur den kleinsten Teil aus, weshalb sie als weitere Unterkategorien 'Halbcretin' und 'cretinartig' vorschlagen.

Dem Kretinismus mit Heilmitteln beikommen zu wollen, halten die beiden Ärzte im Gegensatz zu einigen Kollegen für aussichtslos; eine Ausrottung sei nur durch Vorbeugung zu erreichen.

Die Disposition zur Krankheit liege bereits in der gesamten Lokalbevölkerung, die aus Bequemlichkeit in die wärmeren und fruchtbareren Alpentälergezogen sei und sich dort physisch und moralisch zu wenig anstrenge!

Der Feuchtigkeit müsse man durch Flußregulierung und Austrocknung der Sümpfe zu Leibe rücken, den Luftdurchzug durch Schlägern der vielen Obstbäume verbessern, das Klima in den Wohnungen durch Anlegen geräumigerer Häuser an luftigen Plätzen gesünder machen; die Trägheit durch beharrliche Anleitung zur Tätigkeit überwinden. Letzteres sei auch, in Verbindung mit Diätetik, die einzige Möglichkeit,den Zustand von bereits ausgewachsenen Kretinen zu verbessern.Dabei wird nicht nur an nützliche Handarbeit, sondern auch an Ausbildung gedacht. Zu diesem Zwecke solle eine Zeichensprache entwickelt werden, die eine Verständigung ermögliche. Unterrichtsfächer sollten 'Erdbeschreibung und Geschichte' sein - und dies nicht nur, um den Geist zu schulen, sondern, »was unausweichliche Folge seyn wird, das Herz zu bessern.« An die Ausbildung ist freilich nur bei Halbkretinen gedacht. Da die Wenzel auch erbliche Ursachen annehmen, fordern sie die Unterdrückung der Fortpflanzung: »Das Gesetz sollte vollkommenen Cretinen die Ehe untersagen. ... Cretinen in geringerem Grade sollte man nur Weiber aus dem Gebirge, bey welchen man keine Spur des Uebels findet, zu nehmen gestatten.« (S.244) Sollten Kinder aus solchen Ehen auch nur die Spur des Übels zeigen, müsse man sie sofort aufs Gebirge bringen, um sie der heilenden Atmosphäre sowie stärkenden und reizenden Mitteln auszusetzen.

Die Wenzel'schen Untersuchungen stellen die erste umfassende Auseinandersetzung mit einer Form von Schwachsinn in Salzburg dar. Die weite Verbreitung des Kretinismus hierzulande führte dazu, daß der Diskurs über den Schwachsinn insgesamt lange Zeit geprägt war vom speziellen über den Kretinismus.

Die Brüder Wenzel bedienen sich meist einer sachlichen und nüchternen Sprache. Sie schildern die angetroffenen Kretinen als durchwegs freundliche und umgängliche Geschöpfe. Dagegen wird ein Salzburger Arzt 30 Jahre später geradezu Monstren präsentieren.

Eine eingehende Untersuchung der damaligen Kretinismusliteratur in Europa liegt von Dorothea Meyer vor.[7] Sie fand unter den Kretinismusforschern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zwei Strömungen. Die älteren waren dem Materialismus der Aufklärung verpflichtet, der bei den späteren von einer neuen Mystik überlagert wurde, welche in der Medizin insofern Anklang fand, als die Naturwissenschaften auf Grenzen stießen. Die Brüder Wenzel gehören offensichtlich zur ersten Gruppe.

Es bleibt die Frage, warum sie und so viele andere gebildete Bürger überhaupt zu Forschungszwecken umherreisen.

Ein Vergleich mit der sich zur selben Zeit organisierenden Anthropologie drängt sich auf. Der Erforschung der 'menschlichen Natur' haben sich die verschiedensten Wissenschaften schon seit längerer Zeit zugewandt. Im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts organisieren sich Philosophen und Morallehrer, Metaphysiker und Ärzte, Historiker und Reisende, Sprachlehrer und Pädagogen in der »Societé des Observateurs de l'Homme« (Vereinigung der Menschenbeobachter), um eine 'objektive Wissenschaft vom Menschen' zu begründen.[8] Eine Reise haben sie allemal vor, eine geistige Reise in das physische, moralische und intellektuelle Dasein des Menschen. Viele gehen daher tatsächlich auf Reisen, wobei sie auf den Spuren der ehemaligen kolonialen Eroberer wandeln, mit dem Ziel, die »Wilden« an der »Wiege der menschlichen Gesellschaft« zu beobachten und so Rückschlüsse auf die Natur der zivilisierten, sprich europäischen Völker ziehen zu können. Gleichzeitig sollten sie den Wilden die 'Errungenschaften' der europäischen Zivilisation bringen. Die innere Kolonialisierung der einst eroberten Territorien wird zum Programm erhoben, deren direkte physische Besetzung ist nicht mehr aktuell.

Erobert werden auch andere 'Räume', wie der menschliche Körper, und so verschwindet ein 'weißer Fleck' nach dem anderen von der anatomischen Landkarte.

Die Brüder Wenzel befinden sich bei ihrer Reise auf der Suche nach einer »Menschen-Abart«, oder wie es andere Forscher ausdrückten, nach »Menschen nur ähnlichen Thieren«. Als sie auf jene exotischen Wesen stoßen, suchen sie deren Aufmerksamkeit und Wohlwollen mit Hilfe von kleinen Geschenken zu wecken. Dabei stellen sie fest, daß jene Brot begierig nehmen, Geld aber gewöhnlich verschmähen. KörperlicheUntersuchungen können sie nur an einigen Exemplaren vornehmen, an den ausgeprägtesten sogar in Körperregionen, »deren genauere Ansicht ein übrigens Blödsinniger nicht ohne Weigerung zugiebt.«(S.128) Dadurch ermutigt, versuchen sie »bey einigen, ob sie Nadelstiche fühlten. Aber wir mochten auch dieselbe einstechen, wo wir wollten, so beobachteten wir doch nicht, daß sie ein schmerzliches Gefühl äußerten.« (S.129)

Eine andere Erklärung für die reisende Forschertätigkeit der beiden Ärzte wäre, daß sie Vertreter jener kosmopolitischen Wissenschafter sind, die zwischen den Universitätsstädten pendelten und auf diese Weise den Austausch untereinander pflegten. Dieser Wissenschaftertyp verschwindet im 19. Jahrhundert. Die Leute werden 'seßhaft' und pflegen den schriftlichenAustausch über Fachzeitschriften.[9]

Die Brüder Wenzel waren nicht die einzigen Ausländer, die ihre Aufmerksamkeit dem Kretinismus in Salzburg widmeten. Unvorbereitete Besucher, wie der Königsberger Arzt Dr. Friedländer, waren vom Anblick der Kretinenentsetzt: »... daß hier im Salzburger Land, wo die Natur so schön und gewaltsam das Wort Gottes predigt, auch der tiefste Abgrund der Verderbnis stattfinden könne. Hier, wo die Natur sonst in aller Frische und Gesundheit erscheint, kommen jene verwahrlosten, dumpfsinnigen Geschöpfe auf, die unter dem Namen Kretinen oder Fexen mit ihren Kröpfen und tierisch rohen Zügen den Wanderer erschrecken. «[10]

Johann Wolfgang von Goethe vermerkte 1810 in seinen Tagebüchern ein langes Gespräch mit dem Irrenarzt Langermann und dem Physiker Seebeck bei ihrem Freund Knebel in Jena über die Fexen im Salzburgischen. Sie betrachteten diese als Unterklasse der 'Imbezillen' und berichteten von drei landesüblichen Gradeinteilungen:

»W e 1 t 1 ä u f i g e, welche allenfalls umher nach der Residenz geben können, um irgendein Geschäft zu verrichten; R e v i e r i g e, welche bloß in dem Revier des Dorfes können zu Hirten oder sonst gebraucht werden; U n r e v i e r i g e, welche nicht aus dem Hause kommen und nicht die mindesten Fähigkeiten haben. Diese Menschen sind so häufig, daß gewisse Gewohnheitsrechte für sie hergebracht sind.« [11]

In den Jahrzehnten um 1800 war die Beschäftigung mit dem Kretinismus in ärztlichen Kreisen modern. Der wissenschaftliche Diskurs führte ein gewisses Eigenleben , indem jeder Autor darauf bedacht war, Meinungen seiner Kollegen zu widerlegen. Die wenigsten Autoren konnten freilich lange und vielfältige Beobachtungen an lebenden Kretinen nachweisen. In Salzburg nahm man schon früh Notiz von diesem Diskurs. Seit ihrem Erscheinen im Jahre 1790 druckte die Medizinisch-chirurgische Zeitung Rezensionen über neu erschienene Bücher ab. Der Rezensent des Wenzel'schen Buches benutzte die Gelegenheit, um auch seine eigenen Ansichten und Erfahrungen kundzutun. Seine Forschungen seien insofern erschwert gewesen, als die Bevölkerung »in hohem Grade eigensinnig, und mißtrauisch« wäre. Allein im Lungau gebe es 200 Fexen aller Grade. Als Einteilung des Kretinismus (nach der Entstehungsursache) schlug der Rezensent 'geborenen', 'gezogenen' und 'Kretinismus durch Fall, Stoß und Krankheit' vor.[12]

1806 und 1813 veröffentlichten praktizierende Ärzte aus Salzburg ihre Ansichten über den Kretinismus; Dr. Susann im Intelligenzblatt von Salzburg[13] und Dr. Maffei, ein Halleiner, in seiner Inaugural-Dissertation »De Fexismo specie cretinismo.«[14] Bei beiden Autoren fällt auf, daß sie viel stärker als dies die Brüder Wenzel taten, die mangelnden Geisteskräfte, den 'Blödsinn' der Kretinen, in den Vordergrund ihrer Beschreibungen stellten. Maffei hielt sich außer der Tatsache, hier in Salzburg geboren und aufgewachsen zu sein, was ihm viel bessere Möglichkeiten der Beobachtung der Kretinen ermögliche als den durchreisenden Ärzten, eine Wortneuschöpfung zugute: »Fexismus« und »Feximus«. Mit der Latinisierung des Volksausdruckes 'Fex' wurde also ein wissenschaftlicher Terminus geprägt, wobei dieser sich mit dem Volksausdruck keineswegs deckte.

Abgesehen davon, daß der junge Arzt sich profilieren wollte, widerspiegelt seine Wortschöpfung das Bemühen, Ordnung in ein insgesamt noch neues Untersuchungsgebiet zu bringen. Das gleiche war mit dem Schweizer Volksausdruck 'Cretin' passiert. Daraus wurde zuerst der französische Zustandsbegriff 'le crétinage' und latinisiert der 'Cretinismus' abgeleitet; ins Deutsche übertragen der 'Kretinismus', und dann auch im Französischen 'le crétinism'.

Um geschwächte Geisteskräfte als besondere, abartige Kategorie medizinisch zu charakterisieren, mußte die Wissenschaft ebenfalls erst nach Begriffen suchen. Im Deutschen scheint es dafür vorerst nur den Begriff 'Blödsinn' gegeben zu haben. Das Wort 'blöd' existierte auch schon im Alt- und Mittelhochdeutschen (blodi, bloede) mit den Bedeutungen: unwissend, scheu, schwach, zart. Das Wort 'dumm' eignete sich offensichtlich nicht zur kategorisierenden Begriffsbildung, obwohl es mit 'blöd' völlig gleichbedeutend war. Als Eigenschaftswörter waren beide viel zu unspezifisch, genauso wie die Hauptwörter 'Dummheit' und 'Blödheit'. Es ging ja um die Charakterisierung eines Zustandes unterhalb des »gemeinen gesunden Menschenverstandes« (Maffei). Erst in der Kombination mit dem 'Sinn', Blödsinn, wurde daraus ein brauchbarer Begriff und davon das Eigenschaftswort 'blödsinnig' abgeleitet.

Neben 'Blödsinn' kamen im Deutschen zunehmend Fremdwörter in gleicher Bedeutung in Gebrauch. Die 'Imbezillität' kam vom französischen 'imbécillité', die dort aber genauso unspezifisch ist wie die deutsche 'Blödheit'. Das lateinische 'imbecillitas' bedeutete ursprünglich überhaupt nur 'Schwäche, Kraftlosigkeit'. Der Begriff 'Idiotie' tauchte in der Medizinisch-chirurgischen Zeitung zum ersten Mal erst 1819 auf. Die griechische Vorsilbe 'idio-' wurde und wird in der Bedeutung 'eigen, selbst, eigentümlich, besonders' in zahlreichen wissenschaftlichen Ausdrücken verwendet. 'Idiot' bedeutete im Griechischen und Lateinischen 'Privatmann, einfacher Mensch, ungeübter Laie, Stümper'.[15] Ein Mundartwörterbuch wurde (und wird heute noch in der Schweiz) ein 'Idiotikon' genannt. Der Begriff Idiotie in der Bedeutung von Blödsinnscheint erst neu erfunden worden zu sein und wurde nicht wiedie anderen Begriffe von Wörtern aus dem allgemeinen Sprachgebrauch abgeleitet.

Die Unsicherheit und die Neuschöpfungen auf dem Gebiet der Begrifflichkeit zeigen, daß die Wissenschaft um 1800 eben erst dabei war, sich einneues Feld zu erschließen.

Nicht nur Salzburger Ärzte, auch die hohen Beamten des Fürsterzbistums griffen die Anregungen der ausländischen Ärzte interessiert auf. Um einigermaßen eine Vorstellung davon zu bekommen, auf welchen Boden das neue Wissen um den Kretinismus fiel, werfen wir im folgenden einen Blick auf die politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse im Salzburg um 1800.

Salzburger Fexen

Gesellschaftliche Veränderungen an der Wende zum 19. Jahrhundert.[16]

Bis 1803 war Salzburg ein selbständiges, kirchliches Fürstentum; kirchliche und weltliche Macht waren in der Hand des Fürsterzbischofs vereinigt. Die letzte Etappe, die Regierungszeit des Hieronymus Colloredo (1772 - 1803), war gekennzeichnet von umfangreichen Reformbestrebungen und gilt als die Zeit des Salzburger Aufgeklärten Absolutismus, wie auch Hieronymus oft als Joseph II. von Salzburg bezeichnet wird.

Die Stadt Salzburg war ein kulturelles Zentrum und spielte insbesondere in den Jahren 1790-95 eine führende Rolle in der Spätaufklärung im süddeutschen Raum, weil hier die antiaufklärerische Gegenbewegung (als Reaktion auf die Französische Revolution) erst später einsetzte.

Mit der Jahrhundertwende begannen für Salzburg zwei Jahrzehnte politischer Turbulenz. Es war von den napoleonischen Kriegen nicht nur direkt betroffen als Kriegsschauplatz, sondern wechselte in der Folge diverser Friedensabschlüsse mehrmals den Besitzer: 1803 wurde das Erzstift säkularisiert und Salzburg ein weltliches Kurfürstentum. Drei Jahre später verlor es überhaupt die Selbständigkeit und kam zu Österreich. 1810 wurde es als 'Salzachkreis' Teil des Bayrischen Königreichs, 1816 wieder und endgültig Teil der Donaumonarchie. Nunmehr war Salzburg nur noch ein Kreis des Kronlandes Ob der Enns und hinterste Provinz; die Stadt war von einer Haupt- und Residenzstadtzu einer Kreisstadt herabgesunken, von der aufgelösten Universität blieben nur eine theologische Fakultät und eine Medizinisch-chirurgische Lehranstalt.

Verwaltungsmäßig war Salzburg sowohl vor als auch nach der Säkularisationin sogenannten Land- oder Pflegegerichte unterteilt, die jeweils mehrereOrtschaften umfaßten; als Pfleger fungierten meist örtlicheAdelige. Das Pflegegericht war Verwaltungs- und Justizinstanz in einem.

»Providum Imperium felix« stand auf der Gedenkmünze zu Hieronymus'Wahltag 1786: ein vorsorgendes Reich ist glücklich. Dazu bedurfte es außer der tüchtigen Initiatoren der Reformen vor allem auch eines funktionierenden Apparates, der 'Polizey'. Dieser Begriff umfaßte die Gesamtheit der Verordnungen, Maßnahmen und Personen, die jeden Lebensbereich regeln sollten, bezog sich also nicht nur auf Ordnungsfunktionen, sondern auch auf die Wohlfahrtspflege. Polizeisachen waren Angelegenheit der Pflegegerichte. In der Stadt Salzburg wurde in den letzten Jahren des Erzstifts eine eigene Polizeidirektion eingerichtet, weil die polizeiliche Tätigkeit des Stadtgerichts zu wenig effektiv schien.

Wirtschaft und Bevölkerung

Die Reformbemühungen fanden vor dem Hintergrund einer stagnierenden Wirtschaft und Bevölkerung statt. Die Hochblüte der Salzburger Wirtschaft, als wichtige Handelswege nach Italien noch über die Salzburger Tauernpässe führten, lag schon 200 Jahre zurück. Seitdem hatte auch der einst rege Bergbau deutlich abgenommen und war weiter im Schrumpfen; viele Täler versumpften, landwirtschaftliche Anbaufläche lag brach. Handel und Bergbau stellten dennoch auch um 1800 wichtige Wirtschaftszweige dar; in den Alpenregionen wurden die verschiedensten Erze gewonnen, zu deren Verarbeitung kleinere Fabriken entstanden waren. Das wichtigste Bergwerk war das Halleiner Salzbergwerk, das etwa 300 Bergleute beschäftigte.

Größere Fabriken und Manufakturen gab es nur äußerst wenige, vorwiegend im Raum Salzburg-Hallein. Zahlreich war dagegen das Kleingewerbe; etwa 40% der Stadtbevölkerung bestand aus Haushaltsangehörigen von Kleingewerbetreibenden.[17]

Landwirtschaftlich wurde vorwiegend Viehzucht in den Gebirgsregionen und Getreidebau im Flachland betrieben. Vereinzelt sollen Maßnahmen des Hieronymus Verbesserungen gebracht haben. (Beginn der Entsumpfung des Gasteinertales, Trockenlegung der Moore um die Hauptstadt, Einführung einiger neuer Nahrungspflanzen). Gleichzeitig stöhnten die Bauern unter den hohen Steuern und Abgaben, die z.B. 1778 um knappe 30 % erhöht wurden.

Die Bevölkerung litt unter einer enormen Preissteigerung der Nahrungsmittel; in den letzten 20 Jahren des Erzstifts verdreifachten sich die Preise. Die napoleonischen Kriege vervielfachten die Probleme: Dem Land wurde eine hohe Schuldenlast aufgebürdet, die Gebirgsregionen durch Kampfhandlungen ziemlich ausgelaugt; die Bauern im Flachland mußten hohe Naturalkontributionen leisten. Selbst ein Großteil des Adels soll verarmt, die Güter abgewirtschaftet gewesen sein.

Die kurfürstliche Regierung versuchte, die Wirtschaft unter anderem mittels einer liberaleren Gewerbeordnung anzukurbeln; in den drei Jahren ihrer Tätigkeit wurden 325 neue Gewerbekonzessionen erteilt. Zahlreiche Vorschläge in Richtung mehr Privatinitiative und weniger Kameralregie wurden gemacht.

Einige davon verwirklichte die Bayrische Regierung, weswegen das Geschäfts- und gewerbliche Bürgertum mit dem politischen Wechsel durchaus zufrieden war und der Rückkehr Salzburgs zu Österreich skeptisch bis ablehnend gegenüberstand.

Nicht nur die Wirtschaft, auch die Bevölkerung stagnierte in den Jahrzehnten um 1800 oder nahm sogar ab. Freilich muß mit Zahlenangaben aus dieser Zeit vorsichtig umgegangen werden, da einerseits die Zählungen selbst ungenau vorgenommen wurden, andererseits die einbezogenen Territorien häufig wechselten. Dennoch wird aus manchen Detailangaben deutlich, daß die Bevölkerung in einigen Alpenregionen abnahm.[18]

Solange die Stadt Salzburg noch Sitz der Residenz war, bildete sie einen gewissen Anziehungspunkt für Zusiedler. Hier gab es Chancen, als Taglöhner oder Hausmädchen, Handwerker oder Student unterzukommen. Außerdem war das Betteln vergleichsweise lukrativ, wenn auch manchmal riskant.

So stieg die Einwohnerzahl noch um die Jahrhundertwende, lag bis 1810 zwischen 14.000 und 15.000, nahm aber mit dem Verlust von Residenz, Universität und zahlreichen Erwerbsmöglichkeiten rapide ab. 1817 hatte Salzburg nur noch 11.251 Einwohner.[19] (Die Zahl erhöhtesich erst wieder in den 30er-Jahren).

An erster Stelle der zeitgenössischen Erklärungsversuche für die Bevölkerungsabnahmeinsgesamt stehen die Spätfolgen der Protestantenvertreibungvon 1730. Diese hatte nicht nur zur Auswanderung von 30.000 Menschen geführt,sondern in der Folge verödete Landstriche und verwaiste Bauerngüterzurückgelassen. Angeworbene Neu-Siedler wären nicht langegeblieben, sodaß die herrenlosen Höfe zu Spottpreisen an die zurückgebliebenen Bauern verkauft wurden.

Gleichzeitig war den jungen Leuten das Heiraten äußerst schwer gemacht.Wer nichts besaß, durfte ohnedies nicht heiraten, aber auch die Nachkommen von Besitzern mußten bis zur späten Hofübergabe oder bis zum Tod des Altbauern warten. Wenige und späte Ehen, wenig Geburten, eine enorme Kindersterblichkeit und bis zur Einführung der Pockenimpfung die regelmäßigen Epidemien trugen wesentlich dazu bei, daß die Geburten die Todesfälle immer nur bestenfalls ausgleichen konnten.

Wir haben es im Salzburg des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit einer relativ stationären Bevölkerung und einer in den alten Traditionen verhafteten Gesellschaft zu tun. Hier ist nichts von der massenhaften Entwurzelung bäuerlicher Bevölkerung und den Zusammenballungen in industriellen Zentren zu spüren, wie sie für entwickeltere Länder und Regionen Europas typisch waren.[20]

Ein Proletariat konnte sich nur sehr punktuell herausbilden. Auf dem Land waren die Knechte und Mägde durch feste Bande an ihre Dienstherren, und die Bauern im Rahmen des grundherrschaftlichen Verhältnisses an die Grundherren gebunden.

Die Armut der besitzlosen, arbeitenden Klassen war jedoch groß genug, daß eine schlechte Ernte, der Krieg, die Teuerung, Krankheiten und ähnliche Anlässe genügten, um viele von ihnen zu Bettlern bzw. von der öffentlichen Unterstützung abhängig zu machen.

Kirche und Religion

Bevor wir auf einige gesellschaftliche Bereiche - Kirche, Schulwesen, Gesundheitswesen, Armenversorgung - speziell zu sprechen kommen, muß festgestellt werden, daß die Reformbestrebungen des Hieronymus insgesamt auf mehr oder weniger großen Widerstand breiter Bevölkerungsschichten stießen. Den Anlaß dazu gaben v.a. die Reformen auf religiösem Gebiet. In der Sprache der Beamten hing das Volk einfach am 'Aberglauben' und an der 'barocken Frömmigkeit'; Hieronymus und seine Leute wurden des Protestantismus verdächtigt. Aber es lassen sich auch tiefere soziale Ursachen für den Widerstand ausmachen, zumindest was die besitzlose Landbevölkerung betrifft. Diese hatte sich einige Freiräume erobert, die durchwegs mit kirchlichen Festen und Feiertagen (über 100 im Jahr), Prozessionen und Wallfahrten verbunden waren, und die sie zu verteidigen suchte. Angeblich war es der chronische Mangel an ländlichen Arbeitskräften, der die Dienstherren und die Obrigkeit immer wieder zu Konzessionen zwang und - so die Klage eines berichterstattenden Beamten - dem Landvolk zu viel Selbstbewußtsein verhalf.[21]

Die Reformen auf religiösem Gebiet stellten nun einen direkten Angriff auf die erwähnten Freiräume dar: Feiertage, Wallfahrten und Andachten sollten drastisch eingeschränkt, der Sonntagsgottesdienst vereinfacht, das Mittragen von Heiligenfiguren bei Prozessionen, das Possenreißen und andere Volksbelustigungen während derselben verboten werden.

Da die Seelsorger die undankbare Aufgabe hatten, den verlängerten Arm des Konsistoriums zu spielen, waren sie die meistgehaßten Leute. Dabei waren sie selbst vielfach Gegner der Neuerungen, und mit der Entfernung von der Residenz wuchs ihre Bereitschaft, ihrerseits die Bevölkerung gegen die Reformen aufzubringen.

Der Widerstand der konservativen Geistlichen gründete sich auf die geforderte Neubestimmung ihrer Aufgabe. Ihre Seelsorge sollte in erster Linie darin bestehen, Nützliches von den Kanzeln zu predigen; von Kuhpockenimpfung, Blitzableiter, Felddünger, Säuglingsernährung u.ä. sollte die Rede sein.

Gegen die Klöster brauchte Hieronymus nicht so scharf vorzugehen wie Joseph II., weil sie hierzulande nicht so mächtig waren; der Landesfürst selbst war ja der größte Grundbesitzer. Allerdings nahm er ihnen größere Geldsummen ab und ließ diese in 'Milde Stiftungen' fließen.[22]

Mit der Säkularisation verlor die Kirche alle staatlichen Rechte, darunter die Aufsicht über das Schulwesen, die Sanitätsverwaltung und alle Stiftungen,die nicht rein geistlichen Zwecken dienten. Der Priesternachwuchs war ernsthaft gefährdet; die Zöglinge des Priesterseminars blieben einfach weg; sie strebten jetzt öffentliche Ämter an.

Unter bayrischer Regierung, die aus politischen Gründen Zugeständnissemachte und viele alte Bräuche wieder erlaubte, ging der Einflußder Kirche im Volk noch weiter zurück. Erst nach 1816 begannen für die Kirche wieder bessere Zeiten. Die 20er-Jahre brachten eine religiöseErneuerungsbewegung und nach langer Zeit der Sedisvakanz wiedereinen Erzbischof (1825, Augustin Gruber). Weil aber der Klerus mit der Sitten- und Geheimpolizei Metternichs zusammenarbeiten mußte,war er im Volk vielleicht noch mehr verhaßt als früher.

Schulwesen und Schulreform

Das Auffallendste der Schulreform des Hieronymus (aber auch der österreichischen) war die Einführung einer neuen, der 'normalen' Lernmethode,nach ihrem Erfinder auch 'Felbiger'sche Methode' genannt. Sie bestand im wesentlichen in einem gemeinsamen Unterricht aller Schüler mit einheitlichen Büchern. Während zuvor vorwiegend Katechismustexte auswendiggelernt und dann einzeln abgeprüft worden waren, sollte jetzt nach der 'sokratischen Methode' das Spiel der Fragen und Antworten mit der ganzen Klasse ein Erfassen und Verstehen des Lehrstoffs bewirken. Dieser bestand freilich weiterhin vorwiegend im Katechismus; daneben vermittelten die Trivialschulen nur noch Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen.

Neu war auch, daß das Schulwesen als Aufgabe und Interessensfeld des Staates betrachtet wurde, was 1775 in der Einrichtung einer Schulkommission seinen Ausdruck fand.

Bei der Durchsetzung der neuen Methode hatte man auf dem Land anfangs sehr geringen Erfolg, da sie auf großen Widerstand der Eltern stieß. Mancherorts wurden die Dorflehrer einfach durch Boykott gezwungen, zur alten Methode zurückzukehren. Schließlich lebten die Lehrer hauptsächlich vom Schulgeld; viele waren zur Sicherung ihrer Existenz aber auch auf Meßnerdienste, Orgelspielen und jede Art anderer Nebenverdienste angewiesen. Lehrer zu sein war ein Gewerbe, die Lehrstelle konnte verkauft und vererbt werden. Die Schulhäuser waren in elendigem Zustand, das Klassenzimmer mußte nicht selten gleichzeitig als Lehrerwohnung und als Wärmestube dienen.

Erfolgversprechend konnte nur eine einschlägige Ausbildung und Besoldung der Lehrer sein. Daher gründete Franz Vierthaler, mit dessen Namen insbesondere die inhaltliche Seite der Reform eng verknüpft ist, 1790 ein Lehrerseminar mit einjähriger Ausbildung.

Neben der Lehrmethode sollte die schulische Infrastruktur verbessert werden. Unter Hieronymus wurden 33 neue Schulhäuser errichtet, für arme Kinder das Schulgeld aus einem Schulfonds bezahlt. Immerhin sollen zum Zeitpunkt der Säkularisation etwa 60% der schulpflichtigen Kinder tatsächlich zur Schule gegangen sein, was im europäischen Vergleich als hoch anzusehen ist.[23]

In der Stadt kam die Reform etwas besser voran, Hier gab es außer zweier Trivialschulen zwei Hauptschulen, wo zwar ebenfalls die wichtigste Note jene aus 'Sitten und Fleiß' war, die Kinder aber auch auf handwerkliche Berufe vorbereitet wurden, indem die Knaben Zeichnen, die Mädchen Handarbeit lernten. Die Hauptschulen wurden die Schulen für die etwas Wohlhabenderen, die Trivialschulen jene für die Armen. Die ganz Reichen schickten ihre Kinder ohnedies nicht in öffentliche Schulen, sondern hielten sich Haus- oder Privatlehrer.

Die kurfürstliche Regierung versuchte mit neuem Elan, die Reform fortzusetzen. Vierthaler unternahm Inspektionsreisen und verpflichtete alle Lehrer, monatliche Berichte abzuliefern. Mit der steigenden Zahl jener Lehrer, die nach der neuen Methode ausgebildet worden waren, setzte sich diese auch nach und nach durch. Zu ihrer Popularisierung wurden öffentliche Abschlußprüfungen eingeführt und die erfolgreichsten Schüler prämiert.

Als Salzburg endgültig zu Österreich kam, wurde die Oberaufsicht über das Schulwesen wieder der Kirche übertragen. Wie weit Lehrmethode und Lehrbücher beibehalten wurden, ist mir nicht bekannt. Spätere Autoren des 19. Jahrhunderts klagen über das niedrige Niveau des Elementarschulunterrichts. Der Schulbesuch scheint aber weiter zugenommen zu haben und betrug 1840 etwa 80 %.[24]

Die allgemeinen Merkmale der Schulreform waren keine Salzburgspezifischen. Das wesentliche Ziel der neuen Lehrmethode war eine neue Form der Disziplin. Früher hatte das Abprüfen von Auswendiggelerntem vom einzelnen Schüler eine direkte, persönliche Abhängigkeitsbeziehung geschaffen, unterstrichen durch die ständige Anwesenheit des Stockes. Der gemeinsame Unterricht dagegen zielte auf ein Einüben der Disziplin, auf Verinnerlichung. Es sollte eine Erziehung zur 'Industrie', zur gemeinschaftlichen Arbeitsamkeit sein; Qualitäten, die im Rahmen monotoner Manufaktur- und Industriearbeit als erstrebenswert galten. Weiters sollten die Kinder zu 'guten Staatsbürgern' erzogen werden, eine Eigenschaft, die dem Volk noch ganz unvertrautwar. Schließlich sollte mancherorts der Verwahrlosung von Armenkinderndurch den Schulbesuch vorgebeugt werden; daher auch deren finanzielle Unterstützung.[25]

Medizin und Krankenversorgung

In Salzburg und in Österreich herrschte noch lange Zeit die traditionelleMedizin vor, während diese in Frankreich schon zur Zeit der Revolution von einer neuen abgelöst worden war.

Die altewar eine Medizin der Symptome, der Arten und Systeme.[26] Jede Krankheit war ein eigenes strukturiertes Gebilde, mit ihrer eigenen Natur, war ankeinen festen Platz im Körper gebunden, hatte selbst aber einen festen Platz im System der Krankheiten, mit den anderen durch Zweige und Äste verbunden. Es war eine Medizin der vergleichenden Kategorien. So standen etwa Schlaganfall, Ohnmachtsanfall und Lähmung gleich wichtig nebeneinander, da ihnen das »Aufhören der willkürlichen Bewegung, Nachlassen der Empfindlichkeit« gemeinsam war.

Eine Krankheit entdeckte sich dem Arzt durch Symptome. Solange man die an einem Menschen zu beobachtenden Symptome auf das bestehende System von Krankheiten beziehen konnte, war es unstatthaft, eine neue Krankheit zu postulieren. So scheuten sich viele Ärzte den Kretinismus als eine solche eigene Krankheit zu bezeichnen; manche glaubten die höchste Form der Rachitis gefunden zu haben.

Der Arzt durfte die Krankheit vor allen Dingen nicht 'stören', sie mußte ihren gesetzlichen Lauf nehmen. Wenn überhaupt, dann wurden ausleerende (Klistier, Aderlaß) und reizende Mittel verabreicht und Diäten verordnet. Es war eine wiederholende, gewährende, passive Medizin.

Die neue war eine forschende, klinische, aktive; eine Medizin der Körper und all ihrer Bestandteile; ihres Normalzustandes und ihrer Abweichungen.

Diese neue Medizin sollte sich in Österreich, nachdem ihre Ansätze aus der Aufklärungszeit von den Nachfolgern Josephs II. wieder rückgängig gemacht worden waren, erst nach 1848 mit der zweiten Wiener Medizinischen Schule durchsetzen.

Aber es gab natürlich Übergangsformen. Insbesondere in organisatorischer Hinsicht wurden auch hierzulande Reformen durchgeführt. Unter Hieronymus wurde eine eigene Medizinalbehörde errichtet, die für Ärzte und Hebammen Dienstordnungen zu erlassen, Prüfungen abzunehmen und die Aufsicht zu führen hatte. Vor allem aber sollte sie die Aktivitäten von 'Quacksalbern, Bruchschneidern, Hufschmieden, Giftverkäufer, alten Weibern und Schindern' einschränken. An denen hänge das Volk aber viel mehr, wurde geklagt, es würde sie »selbst in den zweifelhaftesten Fällen eher consultieren als sich an die Chirurgen oder Physiker wenden.«[27]

Die Physiker oder Doctoren waren die promovierten Ärzte erster Klasse. Mit der Unterteilung des Landes in Sanitätsdistrikte wurden sie mit der Leitung derselben betraut und vom Staat bezahlt. Die Chirurgen oder Wundärzte waren zweiter Klasse, selbständige Unternehmer, die Chirurgate käuflich zu erwerben.

Nach 1819 galten auch in Salzburg die österreichischen Sanitätsdirektiven. Aus dem Jahre 1820 liegen die ersten Zahlen über das Sanitätspersonal vor. Demnach gab es 19 meist in Wien promovierte Ärzte, davon 12 in der Stadt und 7 auf dem Land; 67 meist an der medizinisch-chirurgischen Lehranstalt in Salzburg ausgebildete Chirurgen, davon 59 auf dem Land; 6 Apotheker, davon 2 auf dem Land.[28]

Für den Gesundheitszustand der Bevölkerung war eine enorme hohe Kindersterblichkeit und eine vergleichsweise gute Gesundheit der Erwachsenen charakteristisch. 1811 soll die Säuglingssterblichkeit (0-1 Jahr) 30% betragen haben. Von jenen, die die Kindheit überlebten, wurden mehr als die Hälfte 60 Jahre und älter, was einen europäischen Spitzenwert bedeutet; selbst 80-Jährige waren keine Rarität.

Kranke wurden in der Regel zu Hause gepflegt; für Arme gab es auch Zuschüsse aus der Armenkasse für Arztbesuch und Medikamente.

In ganz Salzburg gab es im strengen Sinn nur eine Krankenheilanstalt, das St. Johanns Spital in Mülln. Seine Ursprünge gehen bis ins 17. Jh. zurück, und es diente lange Zeit ebensosehr der Bewirtung von Pilgern wie der Krankenpflege.Nachdem die Pilgerversorgung Ende des 18. Jahrhundertsfast völlig eingestellt war, wurden stiftsbriefmäßig folgende Kranke aufgenommen: unentgeltlich mittellose Studenten und Priester, Arme der Stadt, Auswärtige, falls die lokalen Armeninstitute zahlen müßten. Alle anderen gegen Kostenersatz. Ausdrücklich nicht aufgenommen wurden Arrestanten, Verkrüppelte, Sieche, Altersschwache und Blödsinnige.[29] Damit unterschied sich das St. Johanns-Spitaldeutlichvon der traditionellen Form des (europäischen) 'Spitals', das mehr Versorgungshaus als Krankenanstalt war und gerade jene Personengruppenaufnahm, die vom St. Johanns-Spital per Statut ausgeschlossenwaren.

Um 1800 wurde die Krankenversorgung im Spital von zwei Primar- und zwei Sekundarärzten geleitet, das Spital war in eine medizinische und eine chirurgische Abteilung gegliedert. Es diente außerdem Unterichtszwecken für die Schüler der medizinisch-chirurgischen Lehranstalt.Hier können wir eine Verbindungslinie zur neuen, klinischen Medizin feststellen.

Für Sieche war eine eigene Anstalt geplant, ein Fonds eingerichtet; das Siechenhaus wurde jedoch nie gebaut. Seine Funktion erfüllte zunehmenddas sogenannte Leprosenhaus am Müllnerhügel.

EineGebäranstalt, für die bereits ein Fonds gegründet worden war, wurde ebenfalls nie errichtet. Es blieb bei einer ambulanten Betreuung Gebärender, aus Fondsmitteln wurde die Ausbildung von je 4-6 Hebammen bestritten. Gebärende, die sich für Unterrichtszwecke zur Verfügung stellten, bekamen die Geburtshilfe gratis und zusätzlich eine Belohnung.

Die sogenannten Irren waren bis ins 19. Jh. kaum Objekt öffentlicher Maßnahmen. Es wird berichtet, daß vereinzelt randalierende Irre in Kotter gesperrt wurden. Hieronymus ließ erstmals 1783 im Hintertrakt des Bruderhauses in der Linzergasse eine kleine Irrenanstalt einrichten. Auch dort wurden aus Platzmangel nur Tobende interniert.

Die Irren sollten zwar durch »schickliche Pflege« und Anwendung »ersprießlicher Mittel« wieder »zur Vernunft gebracht« und damit »der menschlichen Gemeinschaft aufs Neue geschenkt« werden, wie Hieronymus im Stiftsbrief verankern ließ. Tatsächlich vegetierten sie in »größtentheiIs finsteren und feuchten Kellern«, fast ohne ärztliche Betreuung dahin, davon bedroht, in »ewige Narrheit« zu versinken, »gänzlich unheilbar« zu werden, wie man aus einem Kontrollbericht von 1801 erfährt.[30]

Die kurfürstliche Regierung kam über ein Gutachten des Medizinalrates nicht hinaus.

1808 wurde ein Gebäude neben dem St. Johanns Spital angekauft, das Platz für 18 Irre bot. Aber Adaptierung und Planung zogen sich in die Länge, obwohl die Anstalt im Bruderhaus schon halb eingefallen war. Der große Stadtbrand von 1818, dem das halbe rechte Salzachufer und eben auch die Häuser der Linzergasse zum Opfer fielen, beschleunigte die Dinge, sodaß im selben Jahr die neue Irrenanstalt in Mülln bezogen wurde.

Wie im Schulbereich müssen auch im Gesundheitswesen der Anspruch auf staatliche Regelungen und die Zielvorstellungen höher eingeschätzt werden als die unmittelbaren praktischen Veränderungen. Im Selbstverständnis der aufgeklärten Reformer stand im Vordergrund, die Sterblichkeit zurückzudrängen, den Krankheiten ihre Bedrohlichkeit zu nehmen und die Bevölkerungszahl zu heben. Als Hebel dazu sollten eine 'medizinische Polizey' etabliert und das ärztliche Niveau gehoben werden.

Armenwesen

Der überwiegende Teil der 'Milden Stiftungen' und Fonds bezog sich auf die Armenversorgung, so wie umgekehrt der Großteil des Armenwesens über Stiftungen finanziert wurde.

Das Stiftungswesen hatte eine lange Tradition, manche Fonds bestanden seit dem Mittelalter.[31] In der reichlichen Ausstattung dieser Stiftungen wetteiferten geistliche und weltliche Feudalherren und das reiche Handelsbürgertum miteinander, besonders in der Stadt Salzburg. 1790 betrug das Vermögen aller Stiftungen im Lande über 6 Millionen Gulden (Fl). Die Spende erhöhte den Glanz des Stifters und trug oft dessen Namen. Da die jeweilige Stiftung meist einem eingeschränkten Personenkreis zugute kam (z.B. Dienstboten, Handwerksburschen oder den Armen eines konkreten Ortes), diente das Stiftungswesen der Festigung loyaler Beziehungen und damit der Stabilität des Sozialgefüges.

Das formale Prinzip der Stiftungen bestand darin, daß die Zinsen des angelegten Kapitals für den jeweils schriftlich festgelegten Zweck ausgegeben wurden. Das hatte natürlich eine gewisse Schwerfälligkeit zur Folge, da manche Stiftungszwecke im Laufe der Zeit irrelevant wurden. Regierungen sahen sich öfters gezwungen, Gelder umzuwidmen. Welche Anlagemöglichkeiten in Salzburg selbst bestanden, ist mir nicht bekannt; der Großteil der Gelder wurde jedenfalls bei der Wiener Bank, sowie in Graz und Innsbruck angelegt. Die Zinsen betrugen zwischen 2 und 5 %.

Vor der Säkularisation zog die Stadt Salzburg viele Bettler an. So war es ein beständiges Anliegen bzw. Problem der Obrigkeit, den wilden Bettelabzuschaffen oder wenigstens in den Griff zu bekommen. Lange zurückfindet sich alle 30-50 Jahre eine »Allmusenordnung«, jede mit ähnlichem Inhalt: Die Privatleute sollten die Bettler von der Türe weisen, IhreSpenden vielmehr den offiziellen Einsammlern geben, damit die Behördendann nur die 'wirklichen Armen', nicht aber Arbeitsfähige und Auswärtige beteilen könnten. Letztere suchte man schon an denStadttoren abzuweisen. Jedoch scheinen alle diese Versucheebenso vergeblich gewesen zu sein wie der des Hieronymus 1785.Er ließ alle Armen versammeln, um sie in arbeitsfähige und -unfähige einzuteilen.Man »fand eine unglaublich große Menge Bettler, konnte oder wußte nicht Ernährungsquellen für so viele Hilfsbedürftige und Arbeitsmaterialien für so viele Arbeitsfähige aufzufinden, und mußte also ein mit Eifer und den besten Vorsätzen unternommenes Werk wieder fahren lassen. ... Das Betteln wurde nun wieder in der Stadt Salzburg geduldet.«[32]

Konnte man schon die Armut und deshalb auch den Bettel nicht verbieten, so suchte man die Bettler wenigstens insofern zu kontrollieren, daß man drei mal die Woche Bettelrichter mit auf die Straße schickte.

Die behördlich anerkannten Armen wurden auch aus der Stadtarmenkasse unterstützt. Das Geld dafür kam zum Teil ebenfalls aus Stiftungen, großteils aber aus Sammlungen, die notfalls auch mit Polizeiunterstützung betrieben wurden, aus Abgaben bei Gerichtsverfahren, Tanz- und Theatervorstellungen, Getreide- und Tabakverkäufen u.ä.

Soweit zur städtischen offenen Armenversorgung. Das zweite Standbein war die geschlossene Armenversorgung in Anstalten. Diese umfaßte einen relativ stabilen, überschaubaren und kalkulierbaren Personenkreis. Eine Art Altersheimfunktion erfüllten das Bruderhaus in der Linzergasse, das Bürgerspital bei der Pferdeschwemme und das Erhardspital im Nonntal. Ein Knaben- und ein Mädchenwaisenhaus beherbergten nicht nur Vollwaisen, sondern auch uneheliche Kinder von Dienstmägden. Um 1800 ging man teilweise dazu über, diese Kinder bei Privatleuten auf dem Land unterzubringen, sie 'anzustiften'. Die Kosten trug der Waisenhausfonds.

In jenen Ländern und Regionen Europas, wo Kommerzialisierung der Landwirtschaft und Industrialisierung massenhaft entwurzelte Arme erzeugte, gab es im 18. Jahrhundert riesige Zucht- und Armenhäuser.[33] In Salzburg hingegen wurde ein kleines, 1750 gegründetes Zucht- und Arbeitshaus im Jahre 1800 wieder aufgelöst. Verschiedene freiwillige und Zwangsarbeitshäuser hatten nie lange Bestand, einerseits wegen zu geringem Zulauf, andererseits wegen der Weigerung der Gemeinden, die laufenden Kosten zu tragen.

In der ländlichen Armenversorgung gab es etwas andere Traditionen als in der Stadt Salzburg. Hauptversorgungsort für Alte, Arme und Gebrechliche war ohnedies der Hof, zu dem sie gehörten. Wo dies nicht möglich war, kamen sie in die sogenannte E in l a g e zu anderer Bauern, auch A n l a g e genannt. »In jedem Gerichte werden genaue Verzeichnisse über die Armen und ihr Alter und ihre Gebrechen geführt; und diesen gemäß, die Vertheilung derselben durch die Rotten und Höfe vorgenommen. Kinder und Greise, ohne andere Gebrechen außer jenem ihres Alters werden leichte; Kranke, Preßhafte und Blödsinnige schwere Anlieger genannt. Ein Schwerer wird zwei, oder nach Umständen auch drei Leichten gleich geschätzt. «[34]

Entsprechend der Schwere des Einlegers bekam der Bauer aus der Gemeindealmosenkasse einen Zuschuß. Wer gerade keinen Einleger hatte, mußte in diese Kasse zahlen. In manchen Gemeinden wechselten die Einleger wöchentlich, meist aber monatlich oder jährlich. Zu welchen Machenschaften es bei dieser Bettlerumlage gelegentlich kam, schildert ein jungeifriger Beamter 1793:

»Erstens bringet der, welcher einen guten brauchbaren Bettler hat, selben am Umlegstage gar nicht zu Gerichte, ruft ihn vielmehr als einen Schweren aus, um ihn noch länger behalten, und überhin 1/2, 1, 1 1/2 oder noch mehrere Hilfsgelder beziehen zu können.

2) Wenn ein solcher auch zu Gerichte gestellt wird, so ist der Richter doch nicht eigentlich im Stande, seine Qualität und mithin auch seine Quantität zu beurtheilen; und die Gemeindevorsteher ... wissen sich gar sehr zu hüten, daß in das Geschäft ihrer Direction nie zu viel Licht dringe ...

3) die ganze Last auf den Nacken des Kleinen fällt, der ohnehin von seinesgleichen Despoten nicht unempfindlich tyrannisiert wird. « [35]

Wer zu gar keiner Arbeit mehr taugte, konnte in Versorgungshäusern, meist Bruder- oder Leprosenhaus genannt, unterbracht werden. Die diesbezüglichen Armenstiftungen waren viel geringer dotiert als jene in der Stadt,die Häuser oft in schlechtestem Zustand. Insbesondere die Kriegsereignisse ließen manche Versorgungshäuser völlig verrotten.

Wo immer Fondsmittel nicht ausreichten, die anfallenden Kosten zu bestreiten, mußte entweder die Differenz aus der Gemeindekasse bezahlt,oder aber die Leistung eingeschränkt werden. Prinzipiell war die Gemeindefür alle in ihr Heimatberechtigten zuständig und mußte soziale Kostentragen, die Mittellose nicht erbringen konnten. Für kleine, armeGemeinden war das ebenso schwierig wie für arme Individuen.Selbst Menschen, die jahrelang in der Stadt oder sonstwo auswärtsgelebt und gearbeitet hatten, konnten im Krankheitsfall oder im Alter inihre Heimatgemeinde zurückgeschickt werden.[36]

Im Armenwesen finden wir eine Situation vor, die stark in der Traditionverankert ist. Wenn auch auf niedrigem Niveau, war doch jedem Armendas Fortkommen irgendwie gesichert.

StaatlicheInterventionen und Ordnungsmaßnahmen gab es zwar, sie hielten sichaber in Grenzen und waren oft wenig effektiv. Die große Zahlvon Stiftungen und Fonds, auf die die Armenversorgung in Salzburg gestütztwar, stellt im österreichischen Vergleichsrahmen einen Sonderfalldar.[37]

Die Salzburger und ihre Fexen.

Die Sichtweisen und Handlungen der Angehörigen von Kretinen und der Bevölkerung kann immer nur aus den Aussagen von Ärzten und Beamten e r s c h l o s s e n werden, da die Bevölkerung selbst in den Quellen nie zu Wort gekommen ist.

Die ärztlichen Begriffe Kretinismus und Blödsinn bezogen sich nicht auf eine Personengruppe, die in ihrer sozialen Umgebung klar identifiziert oder abgegrenzt gewesen wäre. Wohl nahmen Personen mit s c h w e r e r e n Behinderungen Sonderstellungen ein, aber weder Blödsinn-spezifische noch für alle Lebensbereiche gleich.

Einige Beispiele: Mit einem sprachlosen Kretinen konnte man sich nicht in Worten verständigen, wohl aber häufig durch Gebärden; das gleiche galt für Taubstumme. Einen verkrüppelten Kretinen konnte man nicht zur Feldarbeit einsetzen, wohl aber zum Kinderaufpasser und für leichtere Arbeiten im Haus; das gleiche galt für nicht-kretinöse Krüppel und Blinde. Arbeitsunfähige Kretinen wurden entweder mitversorgt oder in die Einlage gegeben; das gleiche galt für manche Alten und Kranken. Vollkommene Kretinen fanden -außer als Spekulationsobjekt im allgemeinen keinen Ehepartner; was sie nicht von Besitzlosen unterschied, denen die Heirat bekanntlich allesamt untersagt war. Ein kretinöses Kind wurde nicht in die Schule geschickt; selbst darin unterschied es sich nicht von über einem Drittel der schulpflichtigen Kinder.

Leichtere Formen von Schwachsinn und Kretinismus stellten kein Hindernis dar für das Erlernen eines Berufs oder zumindest für das Bestreiten des Lebensunterhalts durch eigene Arbeit oder eigenes Betteln; auch nicht für die Ehe. Auf dem Land waren Halbkretinen als Knechte, Hirten, Mägde oder Handlanger beschäftigt.

In einem Buch von Karl Maffei finden wir zahlreiche Beschreibungen von Kretinen und ihren Lebensumständen. Darin fällt besonders die große Vielfältigkeit auf, der keine Allgemeincharakterisierung gerecht werden könnte.[38]

Trotz der unscharfen und fließenden Grenzen zwischen Schwachsinnigen und Nicht-Schwachsinnigen war eine allgemeine Bezeichnung für eine bestimmte Art von Menschen üblich: die Fexen.

Welche Merkmale wurden mit dieser Bezeichnung erfaßt? Die Brüder Wenzel berichteten, daß »alle in geringem Grade Blödsinnige, auch bloß Taubstumme, überhaupt alle, die irgendeinen ungewöhnlichen Fehler an sich haben« so bezeichnet wurden.[39] Hier wird deutlich, daß für die Zuordnung körperliche Auffälligkeiten und das Sprech- und Denkvermögen eine wichtige Rolle spielten. Aus den schriftlich überlieferten Jugenderinnerungen eines Johann Egger erfährt man aber, daß mit dem Wort Fex noch viel mehr verbunden war: Schrulligkeit, bestimmte Vorlieben in Kleidung und Tätigkeit, Späße und »hundert Streiche«. Zumindest in der Stadt hatten viele dieser Fexen einen eigenen Spitznamen und waren als solche auch jedem Stadtbewohner bekannt, zumal sie sich in aller Öffentlichkeit bewegten. In diese Spitznamen flossen die unterschiedlichsten Zuordnungsmerkmale ein:

  • Das Haus, aus dem einer stammte: Zinngießer Irgl, Zezi-Sigerl, Christlmayerfex, Azwanger Raimundl.

  • Der vorwiegende Aufenthaltsort: Leprosenhausfex (Er hieß Anton Steinwendner und war der einzige jener stadtbekannten Fexen, der in einer Anstalt,eben dem Leprosenhaus lebte); Moosthadädl (Ein wegen seiner Schlagfertigkeit sehr beliebter Fex aus dem Raum Leopoldskron-Moos, der einmal einen Geometer spielte, der das Land vermessen muß, dann wieder einen Pestpfarrer bei der Predigt und andere Berufe); Baron von Rothwang.

  • Die Beschäftigung: Hundshansl (Der Bruder des Leprosenhausfex; er stahl oder fing junge Hunde, die er abrichtete und verkaufte).

  • Das Aussehen und die Kleidung: Topfennudeln und Leberknödel (Ein Brüderpaar);Baron von Maxglan (Er zog mit Vorliebe die höfische Kleidung des 18. Jh. an).

  • Stereotype Reaktionsweisen: Haha, Pfeifenweiberl (Sie begann laut zu schimpfen, wenn ihr auf der Straße jemand nachpfiff).[40]

Es handelte sich bei den Genannten zwar in der Regel um Geistesschwache,aber auch der nicht-schwachsinnige Hochmuth-Toni Sohneines Apothekers, der etwas verwahrlost und grimassenschneidendauftrat,galt als Fex.

Lorenz Hübner, der Land und Leute wandernd kennenlernte, gibt eine Definitionvon Fexen, die noch mehr deren Spaßhaftigkeit betont und den Schwachsinn ganz wegläßt: »Ein Narr von friedlicher Art, dergleichen man in der Hauptstadt und auf dem Lande viele umher gehen sieht und die gerne lustiger Dinge sind.«[41]

Die Unterteilung in Grade des Fexismus orientierte sich an den praktischen Möglichkeiten der selbstständigen Orientierung und Tätigkeit: weltläufig, revierig und unrevierig. Sie scheint vor allem auf dem Land üblich gewesen zu sein. Ein Weltläufiger konnte auch alleine in die Residenzstadt gehen oder fahren. Ein Revieriger bewegte sich nur Bereich des Dorfes, konnte aber einer Beschäftigung nachgehen. Unrevierige entsprachen wohl den 'vollkommenen Kretinen' der ärztlichen Terminologie. Sie waren nicht selten schon aufgrund körperlicher Mißbildungen und Schlaffheit gehunfähig und mußten gepflegt und gefüttert werde. Laut Wenzel legte man sie oft einfach in den Stall, nicht um sie zu verstecken, sondern weil man so mit ihren Exkrementen weniger Mühe hatte. Maffei dagegen betont, daß sich die vollkommenen Kretinen meist in der Stube aufhielten, wo sie von der Mutter oder einer Magd gepflegt und regelmäßig auf einen Topf gesetzt wurden.

Etymologisch kommt das Wort Fex aus dem Lateinischen und steckt laut Zillner[42] auch im Lehnwort 'vexieren' (vertauschen, verzerren). Insofern gäbe es eine Verbindung zwischen dem Fex und dem 'Wechselbalg'. Über letzteren existiert eine Volkssage, die Karl Hilscher für den Erklärungsansatz des einfachen Volkes hielt. Danach gab es einmal ein Kraftweib namens Hilde, die Gattin des Riesen Grimm, die nicht nur über unermeßliche Kräfte, sondern auch über männerverführende Reize verfügte. Von ihr stammten die 'Wilden Fräulein' ab, die in vielen alpenländischen Volkssagen vorkommen. Nicht nur, daß diese Weiber Felsblöcke von den Bergen rollten und Hagel, Seuchen und anders Unheil den Menschen schickten, sie verführten auch Senner und Bauern, spielten eine Zeit lang die tüchtige Wirtschafterin, um dann aber statt eines Kindes einen 'Wechselbalg', den sie mit dem Teufel gezeugt hatten, in die Wiege zu legen. Dann verschwanden sie, um ihr Unwesen andernorts zu wiederholen.[43]

Auch Luther sprach von »Wechselbälgen und Kilkröpfen« die Teufelswerk seien und am besten ertränkt würden.

Allerdings halte ich es für sehr unwahrscheinlich, daß diese Sage im Denken der Salzburger in bezug auf die Fexen eine wesentliche Rolle spielte. Die Brüder Wenzel haben sich bei den Leuten nach möglichen Ursachen erkundigt und berichteten, daß sie nur ganz vereinzelt abergläubische Versionen nannten. Vielmehr wurden durchwegs natürliche Ursachen aus dem unmittelbaren Lebensbereich angenommen: das Wasser, die Luft, die Nahrung.

Der Duden gibt eine Etymologie des Wortes Fex, die besser zum Bild der Salzburger Fexen paßt. Demnach ist es eine Kurzform des Ausdrucks'Narrifex' und diese eine scherzhafte Wortbildung als Gegenüberstellung zu 'Pontifex'.[44]

Die Fexen hatten für die Salzburger nichts Bedrohliches. Sie werden meist gutmütig und eben lustig beschrieben. Da es sehr viele waren, hatten nicht nur ihre Angehörigen, sondern praktisch jeder die Möglichkeit, einen oder mehrere vom Sehen und vom Umgang zu kennen,die Erfahrung ihrer Harmlosigkeit zu machen. Sie waren für jeden in ihren Handlungen und Reaktionen berechenbar. Fexismus war nicht ansteckend. Für die Angehörigen bestand in der Regel kein Grund, Fexen zu verstecken, da man wegen eines solchen in der Familie bei den Nachbarn nicht an Achtung verlor.

Folgende Schilderung eines (gehfähigen) Vollkretins zeigt, welche Möglichkeiten die ländliche Gesellschaft einem Fexen im Prinzip bot: »Nachdem er, schon ein starker Knabe, spät gehen lernte und man die Ueberzeugung seiner Unbrauchbarkeit zu häuslichen sowohl als feldwirthschaftlichen Arbeiten erhalten hatte und der Mangel an Sprache sich als bleibend auswiess, gestatteten seine Eltern ihm gerne, das Haus verlassen und bei den Nachbarn sich herumzutreiben, welche ihn häufig mit essbaren Geschenken versahen. - Der Kreis seiner Wanderungen wurde allgemach grösser und er gelangte auf die Landstrassen und auf selben zu Bettlern und zu Wirthshäusern, wo er vieles sah, viele und verschiedenes empfing und das Geld kennenlernte und das Bier und den Branntwein und verschiedene Speisen, die sämtlich besser waren als seine heimathliche Kost. ... Das empfangene Geld nahm er an, steckte es, wie andere, in seinen Sack und gab es, wie er es von andern sah, den Wirthe und empfing hiefür Nahrung und Getränke, die ihm mundeten. ... Er kennt aber den Werth des Geldes durchaus nicht, kann nicht zählen und weiß nie, wieviel er weggibt und wieviel er dafür erhalten soll. Wenn ihn, von Hause entfernt, die Nacht überrascht, so kommt er dadurch in keine Verlegenheit, - in jedem Hause wird er die Nacht durch behalten, denn er bedarf nur eine hölzerne Bank zum Schlafe und etwas Milch und Brot zum Abendmahle und friedlich scheidet er am Morgen.«[45]

Von links: Hundshansl, Kalender, Zezi-Sigerl, Kohlepabtist, Fürst von Maxglan, Leprosenhausfex, Moosthadädl, HahaStadtbekannte Fexen aus Salzburg, Ölbild von Johann Wurzer, 1800

Viele Kretinen waren schwerhörig bis taub, stumm oder nur des Lallens fähig. Auch gab es eine Menge nicht-kretinöser Sprachbehinderter.[46] Diese Merkmale führten zwar dazu, als Fex angesehen zu werden, beeinträchtigten aber die Kommunikation nicht grundsätzlich: »Wenn mehrere zusammenkommen, die sich schon länger kennen, was man im Gebirge alltäglich bemerken kann, so verständigen sie sich recht gut. Sie finden leicht etwas lächerlich, und geben es sich mit Geberden, die ziemlich lebhaft sind, wohl zu verstehen. Eltern, und überhaupt Menschen, die mit ihnen zusammen leben, wissen ziemlich genau, was sie mit dieser Geberdensprache sagen wollen.«[47]

So einfach war es freilich nicht immer. Das bisher Gesagte gibt nur eine Tendenz wieder. Wie wichtig allerdings die Möglichkeit des direkten Kontaktes zwischen Fexen und Nicht-Fexen für die Einstellung und Beziehung waren, ersieht man in negativer Form am Beispiel des Brüderpaares aus Moseck, die einzigen »unheimlichen Gestalten« welche die Brüder Wenzel auf ihrer Reise antrafen. Sie lebten völlig abgeschieden in einer Hütte, verwildert, mit wirrem schwarzen Haar und Bart, versorgt nur von einer ebenfalls blödsinnigen Schwester. Obwohl sich für die beiden Ärzte herausstellte, daß auch sie freundlich und glücklich über das mitgebrachte Brot und überhaupt über den Besuch waren, so beeindruckte doch ihr »tückisches, bösartiges und wildes Aussehen«, das sie im weiten Umkreis, ja bis in die Residenzstadt berühmt und gefürchtet machte.

Die Bevölkerung war keineswegs nur freundlich zu den Kretinen. Genauso gab es derbe Reaktionen und Beleidigungen. Laut Maffei waren das auch jene Situationen, in denen manche Kretinen wild und zornig wurden. In ganz seltenen Fällen seien stark gebaute Kretinen eine ständige Bedrohung für ihre Angehörigen gewesen. Schläge und Dressur hätten dann zum Erfolg geführt: » ... Derwilde Widerstand des starken Fexen, der sie nicht etwa einmal in Lebensgefahr brachte, wurde mit seltener Gewandheit und schneller Dexterität durch Hunger, Einsperrung und kräftige Züchtigungen gebändigt und gar bald fürchtete der zehnmal stärkere, aber langsame und unbehülfliche Kretin seine verständige Base und - gehorchte ihr.«[48]

Die Wörter Fex, Narr, Lapp usw. wurden manchmal als Schimpfwörter benutzt,zumindest von den oberen Gesellschaftsschichten. Überliefert ist jedenfalls ein Fluch Mozarts: »Narren, Dalken und Fexen!« und der Hinauswurf Mozarts aus Hieronymus' Diensten, der nicht nur von einem Fußtritt, sondern auch von dem Ausruf begleitet wesen sein soll: »Lump, Lausbub und er Fex!«[49]

Auch wenn Schimpfwörter eine eigene Geschichte und Dynamik haben, weist die Verwendung des Ausdrucks Fex als Schimpfwort auf eine Tendenz der Abgrenzung und Geringschätzung hin. Eine Abgrenzung in die andere Richtung -als Verehrung- wird aus dem Kanton Wallisin der Schweiz berichtet, ist aber hierzulande nicht bekannt. Eine Geringschätzung kommt auch in einigen Annahmen über die Ursachen des Fexismus zum Ausdruck, die gleichzeitig eine Projektion der sozialenGegensätze darstellen: So meinten manche Reiche, das Übel sei durch die Armut und die schlechte Nahrung des niederen Volkes

verursacht; Arme hingegen nannten manchmal den kretinösen SprößlingeinerreichenFamilie eine Strafe des Himmels.

Die allgemeine Beliebtheit von Fexen als Spaßmacher wurde bereits erwähnt. Besonders bei Prozessionen und Umzügen trugen sie durch zusätzliche Verkleidungen zur allgemeinen Erheiterung bei. Dem Hieronymus war das ein Dorn im Auge, v.a. die Gewohnheit von Bruderschaftsmitgliedern, sich von Fexen für ein paar Kreuzer vertreten zu lassen. »Diese sogenannten Lappen oder Halbfexen dann bei den Prozessionen in vielfärbigen Kutten auf offner Gasse durcheinanderlaufen ...«[50]Er ließ diesen Brauch verbieten.

Der Vorgänger von Hieronymus, Erzbischof Siegismund dagegen war dafürbekannt, daß er sich gerne mit Fexen umgab, um sich an ihren Späßen zu ergötzen.

Es ist nicht genau feststellbar, wie rasch das Wort Fex seine Funktion als Sammelbegriff für Blödsinnige, Kretinen, Taubstumme, Wahnsinnige und andere Auffällige verloren hat. Sicherlich wurde es in seiner Bedeutung eingeschränkt in Richtung Spaßhaftigkeit und Ausgefallenheit. So ist älteren Menschen heute noch der Fex als ein Mensch mit seltenen Vorlieben bekannt -Bergfex, Bartfex, Modefex- oder als ein lustiger, schalkhafter Mensch.[51] Mit Schwachsinn wird er allerdings nicht mehr assoziiert. Als Volksausdrücke dafür bürgerten sich vielmehr der Lapp, der Tepp und das Kretinl ein.

Die Unterschiede in den Beziehungen der verschiedenen Gesellschaftsklassen zu den Fexen können nur erschlossen werden, da direkt Hinweise in den Quellen selten sind.

In jenen Bereichen, wo Produktion und Reproduktion am gleichen Ort stattfanden (die Güter der Bauern und Grundbesitzer, zum Teil die Handwerksbetriebe), konnten nicht oder nur bedingt Arbeitsfähige relativ leicht miternährt und mitbetreut werden. In diesen Bereichen wurde fremde Arbeit nicht in erster Linie mit Geld vergütet (jährliche Lohn von einigen wenigen Gulden), sondern durch Verpflegung und Unterkunft. Der Dienstgeber bot nicht nur Existenzmittel, sondern auch Lebensraum und soziale Bindung, verfügte dafür aber nicht nur über die Arbeitskraft, sondern herrschte über viel weitere Bereiche der Menschen. Das Essen wurde gemeinsam eingenommen, die Hierarchie durch die Sitzordnung vermittelt. Auch geschlafen wurde in räumliche Nähe, besonders auf dem Land. Unter den genannten Bedingungen fanden sich leicht Nischen, in denen weniger Leistungsfähige, also auch Fexen, existieren konnten. Die ländliche Dorfgemeinschaft sorgte mit dem Einlegerwesen dafür, daß jenen, denen diese Nischen an ihrem ursprünglichen Lebensort verloren gingen, neue bei anderen Bauern geöffnet wurden. Dieses Mitexistieren von Fexen und anderen Hilfsbedürftigen war sowohl Gewohnheit als auch moralische Verpflichtung. Auf die ersten Ansinnen von Behörden, Fexen in eigenen Anstalten abzusondern, reagierten Angehörige negativ. Nicht nur, weil dadurch unnötige Kosten entstanden wären, sondern auch, weil man sich nicht trennen wollte. »Die nächsten Anverwandten (wollen) solche Unglücklichen nicht einmal von sich lassen.«[52]

Es ist hier nicht nur von bäuerlichen Großhaushalten die Rede. In Maffeis Beschreibungen kommen sogar vorwiegend arme Kleinbauern und sogenannte Häusler vor, wo die Mutter die kleine Landwirtschaft führte und der Vater auf Taglohn auswärts war. Vollkretinen dösten dann jahraus, jahrein, in der Stube oder vor dem Haus hockend, vor sich hin. Die Pflege war der Mutter neben der Wirtschaft möglich.

Auch bürgerliche Familien scheinen in Salzburg Fexen gegenüber tolerant eingestellt gewesen zu sein, jedenfalls mußten sie sie in der Regel nicht verstecken. Die oben genannten stadtbekannten Fexen stammten vorwiegend aus wohlhabenden Familien. Und doch müssen wir annehmen, daß in den bürgerlichen Familien am frühesten Tendenzen zu einer negativen Einstellung aufkamen, für die es allerdings erstJahrzehnte später gehäufte Hinweise gibt. Denn hier wurden die Standards jener 'Normalität' entwickelt, an der später die gesamte Gesellschaftgemessen wurde. Im Bürgertum entstanden neue Umgangs- und Lebensformen, Sitten, Moralvorstellungen, Eß- und Schlafgewohnheiten, ein familiärer und individueller Intimbereich. Die 'Peinlichkeitsschwelle' wurde vorverlegt.[53]

Von einer einzigen entsprechenden Situation erfahren wir auch beiMaffei;es handelte sich um eine wohlhabende Handwerkerfamilie aus Tamsweg.

»Die Nahrung dieser Familie besteht gewiss zur guten Hälfte aus Fleisch. Keines der Eltern ist krank; im Hause selbst herrscht genügende Reinlichkeit, und das Leben dieser Familie ist im Ganzen besser, bequemer und wohlhabender, als gewöhnlich. - Das Kind wurde mit vielerZärtlichkeit aufgezogen, und erhielt all jene Pflege und Nahrung, welche die Liebe der Mutter dem einzigen Sprößlinge zu reichen vermag. - Als man allgemach bemerkte, dass das Kind sich zur Kretine auswachse, vermied man, wo möglich, selbe den Augen der Leute auszusetzen, und hielt sie wie versteckt im Hause. Auch meine Fragen über des Mädchens frühere Gesundheits-Verhältnisse wurden mir äußerst ungerne und mehr im Allgemeinen beantwortet, und ich blieb daher beinahe bloss auf meine eigenen Beobachtungen beschränkt.«[54]

Es gibt keine Beschreibungen von Fexen aus städtischen Taglöhnerfamilien/-haushalten.[55] Zahlenmäßig waren aber letztere nach einer von Hoffmann angeführten Tabelle für die Stadt Salzburg 1815 nicht unbedeutend: 974 Taglöhner als Haushaltsvorstände mit 2113 Haushaltsangehörigen.[56] Wieviele Taglöhner verheiratet waren und Kinder hatten (also in diesem Sinne eine Familie bildeten), erfahren wir nicht. Die Problematik ist folgende: Wo die Familienangehörigen den Lebensunterhalt außer Haus verdienen mußten, wurde die Pflege Schwerstbehinderter zum Problem. Anstaltsunterbringung konnte in solchen Fällen zum Bedürfnis werden. Ob dieses Problem um 1800 in Salzburg bereits existierte, wissen wir nicht. Es wird aber im 19. Jahrhundert nach und nach auftreten.

Mit dem Leprosenhaus stand jedenfalls im Prinzip eine Anstalt zur Verfügung. Von einigen Fexen wird berichtet, daß sie ihren Lebensabend im Bruderhaus verbrachten.

Schwachsinn aus der Perspektive der Obrigkeit.

Die Brüder Wenzel hatten recht: Die einheimischen Ärzte und Beamten griffen das neue Wissen über den Kretinismus sogleich auf und suchten nach praktischen Schritten, »dem Uebel zu steuern«. Gar so einheimisch warensie freilich doch nicht. Die promovierten Ärzte, welche die Landschaftsphysikate inne hatten, sowie die hohen Beamten des Fürsterzbistumsund des Kurfürstentums kamen selbst durchwegs aus dem Ausland; auch Fürsterzbischof Hieronymus und der Kurfürst Ferdinand. Der Vorsitzende des Medizinalrates, Dr. Hartenkeil, war Landsmann der Brüder Wenzel. Hieronymus hatte sich aus den Zentren der Aufklärung im deutschsprachigen Raum einen Stab von Beamten kommen lassen, die der Motor seiner Reformprojekte sein sollten.

Die Untersuchungen und Schriften der Kretinismusforscher hatten weder in Salzburg noch im übrigen Europa unmittelbare praktische Veränderungen im Lebensbereich der Kretinen und anderer Schwachsinniger zur Folge. Dennoch blieben sie nicht ohne Wirkung, da sie einen amtlichen und ärztlichen Diskurs auslösten und damit einen Differenzierungsprozeß in der Wahrnehmung von Schwachsinn beförderten. Dabei tauchte auch schon früh die Idee von eigenen Anstalten auf: in Salzburg begünstigt durch die große Zahl von Kretinen; in anderen Regionen jedoch durch die relative Konzentration von (in der Gesamtbevölkerung nur wenigen) Schwachsinnigen in den Massenanstalten (Zucht und Arbeitshäuser, Hospitäler). Auf diesem Feld suchte man ja zu differenzieren. Im Wien Josephs II. entstand das allgemeine Krankenhaus, der Narrenturm, die Taubstummenanstalt . Es gab Pläne, auch Kinderkrippen für Schwachsinnige und Kretinen einzurichten, die allerdings nicht verwirklicht wurden. Ebenfalls Theorie blieben Ausbildung und Erziehung für Schwachsinnige, die Johann Peter Frank, nach 1795 Direktor des Krankenhauses, in seinem »System der vollständigen Polizey« vorgesehen hatte.[57]

In Frankreich dauerte es bis in die 20er-Jahre des 19. Jahrhunderts, bis innerhalb der neuen Irrenanstalten eine besondere Beschäftigung mit Schwachsinnigen einsetzte.

Im Frühjahr 1804 - zwei Jahre nach dem Erscheinen des Wenzel'schen Buches, ein Jahr nach der Säkularisation- entspann sich in Salzburg ein behördlicher Diskurs über Kretinismus und mögliche/notwendig Vorsorgemaßnahmen, den wir uns näher ansehen wollen, da er uns über die Haltung der Beteiligten einigen Aufschluß geben kann. Glücklicherweise ist ein Teil der Akten Original erhalten.[58]

Den Anlaß stellt die Inhaftierung eines Knechts im Lungau dar welcher der Brandstiftung und des Diebstahls beschuldigt wird. Er gibt an, zum Zeitpunkt der Tat nicht bei sich gewesen zu sein, da er an der hinfallenden Krankheit leide und nach einem Anfall erst allmählich wieder zu Bewußtsein und zu Kräften komme.

Zu diesem Fall wird nun der Landschaftsphysikus von Tamsweg um ein Gutachten ersucht, der nach seinen Recherchen angibt, daß die Aussage des Beschuldigten »keineswegs eine bloße, leere, außgedachte Entschuldigung (ist) ... obwohl gänzlicher Mangel an Besinnung darum nicht erwiesen ist. «[59]

Noch schließt sich an diese Bemerkungen keine Abhandlung über die Schuldfähigkeit Schwachsinniger, Epileptiker etc. an; das wird erst einige Jahrzehnte später aktuell. Aber der Arzt nimmt den Fall zum Anlaß, um über die übliche Vernachlässigung der »Fraißen und Fallenden Krankheit«[60]zu klagen. Zwar wüßten er und auch die Wundärzte Mittel dagegen anzubieten, aber so eine Kur koste viel Geld, dauere lang, weshalb die Leute davon bald wieder Abstand nähmen. Außerdem versprächen sie sich keinen Erfolg. Er bemerke der Krankheit gegenüber eine allgemeine Gleichgültigkeit, zumal sie die Betroffenen nicht hindere, einer Arbeit nachzugehen. Dabei werde einfach übersehen, wie groß der Schaden für die Nachkommenschaft sei, »wenn die convulsivischen und fallenden Krankheiten durch Schrecken, von welchem bey derer Anblick Kinder, junge Leute, Schwangere erschüttert werden, durch Anlage und Erbschaft immer mehr und mehr verbreitet werden.«[61]

Eben war noch von allgemeiner Gleichgültigkeit die Rede. Die Pfarrer wissen zu erzählen, daß Kinder die Töne und Grimassen »ihrer blöden Wärter« nachahmen. Ob das eine Folge des Schreckens ist? Erschreckend für den Arzt ist jedenfalls die Vorstellung, die Krankheit werde sich mehr und mehr verbreiten. Daher wäre es wünschenswert, zumindest für die schwersten Fälle »einen Ort, eine Versorgung (zu schaffen), wodurch sie von der allgemeinen Menschengesellschaft entfernt leben könnten. «[62] Schutz der Gesellschaft vor einer Gefahr also, die sie selbst noch nicht erkennt.

Der Medizinalrat verfaßt nach Kenntnisnahme dieses Berichts ein entsprechendes Gutachten für die Regierung.[63] Nachdem Dr. Hartenkeil gleich zu Beginn den Blick von den Epileptikern auf die »Kretinen, Halbkretinen und Blöden« erweitert, da im Lungau im wesentlichen nur diese mit der hinfallenden Krankheit behaftet seien, weist er den Gedanken an eine Absonderung in eigenen Anstalten mit der Begründung von sich, die dadurch entstehenden Kosten würden Angehörige und Gemeinden nicht zahlen wollen, und die Angehörigen würden auch aus menschlichen Gründen die Schwachsinnigen nicht von sich lassen. Zielführend sei nur der Weg, »die Entstehung solcher unglücklichen Menschen« zu verhindern. Zu diesem Zwecke sollten

  1. Die Seelsorger die Brautleute vor der Hochzeit ermahnen, »einander nicht im Rausche beyzuwohnen«;

  2. die Männer ermahnen, ihre Frauen während der Schwangerschaft nicht zu mißhandeln, v.a. nicht auf den Unterleib zu schlagen oder »ihr Gemüth in heftige Wallungen« zu bringen.

  3. Man dürfe den Kretinen und Blöden nicht die Kinderwartung überlassen, da das Gehirn der Kleinen durch die Erschütterungen beim Fallenlassenund Stoßen leide.

  4. Man sollte Schläge auf den Kopf des Kindes verbieten und bestrafen.

  5. Die Eltern sollten ihre Kinder nicht bis zum Ersticken vollschoppen und nicht bewegungsunfähig in Tücher und Binden einwickeln.

  6. Die Kinder sollten keine fette und grobe Nahrung bekommen.

  7. Ehen unter Kretinen und zwischen solchen und Gesunden sollten verboten werden.

  8. Bei neuen Bauten sollten die winzigen Fenster vergrößert werden.

In dieser Auflistung sind die Lebens- und Erziehungsgewohnheiten der kleinen Leute wiederzuerkennen oder besser: deren Gewohnheiten in den Augen des Medizinalrates. In einer Situation, wo man einem Volksübel eben erst auf der Spur ist, gleichzeitig aber die ganze Gesellschaft erst zu 'Sittlichkeit und Zivilisation' erziehen muß, werden die 'schlechten Eigenschaften' der Menschen und die zu bekämpfende Krankheit in Beziehung gesetzt.

Die Landesregierung befindet die Vorschläge des Medizinalrates für gut, für neuegesetzliche Regelungen aber zu »technischerNatur«; man solle eher im Verordnungswege an die Seelsorger und das Sanitätspersonal weiterleiten. Wegen des Eheverbots wolle man erst ein Gutachten des fürsterzbischöflichen Konsistoriums einholen.

Um die Ursachen des Kretinismus besser zu erforschen, sollten die einheimischen Gelehrten (in erster Linie Ärzte), aufgefordert werden Abhandlungen zu verfassen, für die jährlich ein Preis ausgesetzt sei. Die Landesregierung greift auch den Vorschlag einer Anstalt wieder auf und schlägt ein Institut vor, »welches jene Unglücklichen zum Theile absondert, zum Theile aber auf eine höhere Stufe der Humanität erheben könnte, ein Institut zur Verpflegung und Erziehung von Taubstummen.«[64]

Die Landesregierung ist über die Alternative: Anstalt zur Absonderung ja oder nein schon hinaus, sie hat bereits die feinere Differenzierung im Auge: Förderung jener, bei denen man schon andernorts Erfolg hatte, den Taubstummen. Hatte man nicht schon vor Jahren Initiativen in diese Richtung gesetzt? Sämtliche Registraturen werden beauftragt zu recherchieren; ohne Ergebnis. jemand erinnert sich, da es sich damals nicht um eine Anstalt handelte, sondern um die Schrift eines Priesters, der das Konzept einer Normalschule für Taubstumme entwickelt und in dieser Schrift auch eine Kritik an der französischer Methode des Taubstummenunterrichts ausgeführt hatte.[65]

Das Konsistorium nimmt das Ersuchen um Stellungnahme zum Eheverbot für Kretinen entgegen und leitet den Auftrag an die drei Stadtkapläne von Salzburg weiter.

Das Erzstift war eben erst säkularisiert, die Kirche in ihrem Einfluß wesentlich beschnitten worden. Man kann verstehen, daß die Beziehungen zur neuen weltlichen Macht etwas abgekühlt waren, und das Gutachten der Kapläne auch in diesem Licht sehen. Sie beteuern, daß sie »weder die Absicht noch den Beruf (hätten), der Meynung der hochlöblichen Ärzte zu widersprechen«, geben dann aber zu verstehen, daß sie die vom Medizinalrat angeführten Ursachen des Kretinismus für ziemlichen Unsinn halten, da diese im Flachland um nichts weniger wirksam seien als im Gebirge:

»Es giebt auf dem flachen Lande wie im Gebirge Trunkenbolde, und also auch Beyschlaf im Rausche, es geschehen Mißhandlungen der Weiber während der Schwangerschaft, sowie der Kinder durch Kopfschlagen. Überschoppung der Wiegenkinder durch ungesunden Brey ist ein bey dem Bauern-Volke allgemein herrschendes Gebrechen; und doch giebt es auf dem flachen Lande der Kretinen so wenig, daß deren Zahl gar keine Aufmerksamkeit erregt, und man beym Anblicke derselben kaum mehr denkt, als daß die Mutter Natur ihre Gesetze und Abweichungen habe, wie man denn auch nicht selten aus dem nämlichen gesunden Stamme schöne und häßliche, schwache und starke, witzige und dumme Sprößlinge hervorgehen sieht.« Die wirklichen Gründe und Ursachen des Kretinismus lägen vorzüglich in den »Einwirkungen der Natur, rauhes Clima, Wasser, Luft und Lebensart.« Daß gerade im Lungau so viele sind, sei nicht verwunderlich. »Die rauhe Luft alldort verursacht häufige Taub- und Blindheit; es giebt an mehr Orten sogenannte Krum-Wässer, weil davon die Glieder der Menschen krum und contract werden. Der zur edlen Getreid-Erziehlung größtentheils untaugliche Boden giebt nur Bohnen, Gerste und Hafer zur schwer verdaulichen Nahrung; eine so hitzige Nahrung mit dem Genuß des herben Brandweins, der aus Nothwendigkeit, oder Gewohnheit zum Bedürfniß wird, vertrocknet die Säfte, macht steif, träg, verdrossen und lähmet mit dem Körper auch den Geist.«[66] Selbst wenndie vom Medizinalrat angeführten Gründe zuträfen, würden die vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen keinen Erfolg haben. Denn die Seelsorgerwürden die Belehrung der Brautleute ohnedies vornehmen; allein - es nütze nichts! Man müßte schon »den Menschen ihre Leidenschaft nehmen, um alle die Übel zu verhüten.« Bliebe nur das Eheverbot über als wirksames Vorbeugungsmittel. Das erscheint den drei Priesternaber zu hart, da ja die verschiedenen Ursachen bisher allesamt nurVermutungen seien und erst richtig erforscht werden müßten. Mit der gleichen Begründung müßte man ja sonst auch »Dörr- und Lungensichtigen, Entnervten und Venerischen« die Ehe verbieten. Das heilige Sakrament der Ehe werde aber durch das kanonische Recht besondersgeschützt. Nach dieser Betonung des besonderen Schutzes der Ehe durch die katholische Kirche fügen sie hinzu, daß nach den bestehendenLandesgesetzen ohnedies die weltliche Behörde ihre Erlaubnis zu einer Eheschließung geben müsse und diese ja den Kretinen verweigern könne. Außerdem sei ohnedies weit und breit kein Fall einesverheirateten Kretinen bekannt ...

Somithaben alle Seiten ihre Argumente durchprobiert und die der anderensoweit relativiert, daß zumindestens keine praktischen Maßnahmenfolgen brauchen.

Was bleibt ist der Plan, sich über die Zahl der Kretinen, ihre Verteilung im Lande, ihren Schweregrad etc. einen Überblick zu verschaffen.Es sollten von den Landschaftsphysikern Verzeichnisse angelegt werden.

Bedauerlicherweise sind keine Ergebnisse dieser Zählung überliefert; nur die Rubriken, die in den Verzeichnissen angelegt werden sollten:

»a. Wie alt die dermahl lebenden Kretinen seyen?

b. Ob sie von gesunden oder kretinartigen Eltern erzeugt wurden?

c. Ob die Kinder dieses Übel schon mit sich auf die Welt gebracht, oder ob sich selbes in der Zeitfolge entwickelt habe?

d. Um welche Zeit sich die ersten Spuren des Kretinismus äußerten und ob irgend eine, und welche Veranlassung hiezu gegeben worden sey?

e. Welches von den beyden Geschlechtern dem Kretinismus am meisten unterworfen, und

f. in welchem Alter, und an welcher Krankheit die Kretinen gestorben seyen?« [67]

Einen bedeutenden Fortschritt verspricht man sich aber erst von einer medizinischen Topographie der einzelnen Gemeinden; die Kretinenverzeichnisse sollen ein Schritt dazu sein.

Wie lange und ob überhaupt in allen Gemeinden das Kretinenverzeichnis geführt wurde, ist nicht klar. Die politischen Veränderungen und die Kriegsereignisse dürften die Sache schon bald wieder unterbrochen haben.

Aber das Ergebnis der Zählung oder die Frage der Durchführung ist für unsere Überlegungen von gar nicht so großer Wichtigkeit. Die Bedeutung der Zählung, das Neue, liegt im Anspruch, eine Differenzierung und Bestandsaufnahme durchzuführen. Ordnung schaffen will der aufgeklärte Staat ja in allen Bereichen. Nur fehlen ihm für diese Ordnung noch die Kategorien. Selbst die Ärzte, die bereits in der Lage sind, einen prinzipiellen Unterschied zwischen Kretinismus der Taubstummheit und dem gewöhnlichen Blödsinn zu machen, tun sich bei der Zuordnung jedes konkreten Individuums schwer. Sie erhoffen sich Richtlinien von den Zentralbehörden, diese wiederum genauere Aufschlüsse von den Ärzten und Beamten vor Ort. Wir wissen, daß in den Zahlenangaben noch lange Zeit Kretinen, Taubstumme, Wahnsinnige und andere vermengt werden, der Fex mit seiner bunten Vielfalt an Merkmalen also noch fortlebt. Aber diese ungenaue Unterscheidung wird in Hinblick auf die Kretinenzählung bereits als Mangel empfunden.

Zu einer Anstaltsgründung kommt es noch nicht. Sie wird unter zwei Aspekten diskutiert: die Absonderung von der normalen Menschengesellschaft, da der Anblick der Kretinen unwürdig und sogar gefährlich sei; zweitens die bessere Förderung und mögliche Heilung. Dies aber in erster Linie für Taubstumme, in Abgrenzung von den reinen Kretinen.

Hier entsteht über die Differentialdiagnostik eine Hierarchie in der Bewertung. Im Jahre 1806, als Salzburg zum ersten Mal für ein paar zu Jahre zu Österreich kommt, schreibt Dr. Susann einen Zeitungsartikel: »Glücklicher Zeitpunkt für Taubstumme des Herzogthums Salzburg«.[68] Glücklich deshalb, weil jetzt die Chance bestehe, daß auch Salzburger am Taubstummeninstitut in Wien unterrichtet würden und damit »zu verständigen und sittlichen, das ist zu wahren Menschen« werden könnten. Eben das billigt er den Kretinen nicht zu; sie seien das »Muster des menschlichen Elends.«

Obwohl mit dem häufigen politischen Wechsel in Salzburg Anfang 19. Jahrhunderts die Kontinuität der Administration in bezug auf den Kretinismus verlorenging und begonnene Initiativen rasch wieder im Sande verliefen, garantierten die Schriften der Ärzte, die Ausbildung der Chirurgen an der Medizinisch-chirurgischen Lehranstalt, sowie das Erscheinen von Beiträgen in der Medizinisch-chirurgischen Zeitung eine Tradierung des neuen Wissens und der neuen Ansichten über den Kretinismus.

Schwachsinnige nahmen in der Gesellschaft Salzburgs bis etwa 1800 keinen besonderen Platz ein. Es gab sie als Individuen, auf Grund des endemischen Kretinismus sogar häufig. Als in irgendeiner Weise homogene Gruppe gab es sie nicht; nicht einmal begrifflich. Der gebräuchliche Ausdruck 'Fexen' umfaßte nicht nur und auch nicht alle Schwachsinnigen. Der Blödsinn der Kretinen war nur ein Bestimmungsmerkmal unter anderen; körperliche und sprachliche Auffälligkeiten standen im Vordergrund.

Wie gut oder wie schlecht es einem Fexen materiell ging, hing von der Lage der sozialen Schicht ab, aus der er stammte; für die Mehrzahl war es eine schlechte Lage. Ursachen für die Beschränkung der Möglichkeiten eines Fexen waren vorwiegend physischer Natur und lagen kaum in sozialen und moralischen Vorurteilen. Die Bevölkerung begegnete den Fexen in der Regel freundlich und tolerant, war im Umgang mit ihnen vertraut, fand ihren Anblick nicht sonderlich anstößig und hatte wenig Veranlassung, sich von ihnen räumlich abzugrenzen.

Andererseits gab es auch keine gesellschaftlichen Anstrengungen, Schwachsinnige medizinisch zu betreuen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln oder dem Schwachsinn überhaupt vorzubeugen.

Der Anstoß für eine besondere Wahrnehmung und Behandlung von Schwachsinnigen mußte von außen kommen. Er kam in Gestalt von Ärzten und Naturforschern, deren Ansichten von der Aufklärung geprägt waren, und die es wegen des Kretinismus nach Salzburg lockte. Sie brachten Theorien über dessen Ursachen mit und machten Vorschläge zu seiner Behandlung und Verhütung.

Diese Anregungen wurden von einer Beamtenschaft aufgegriffen, die ihrerseits von auswärts gekommen war und in den Jahrzehnten vor 1800 versucht hatte, die Institutionen, die Wirtschaft und die Gesellschaft entsprechend ihren -ebenfalls der Aufklärung verpflichteten- Ideen zu modernisieren und umzugestalten.

Die Ärzte und Beamten begegneten den Kretinen -ihnen, nicht den Schwachsinnigen insgesamt galt ihre Aufmerksamkeit- mit einer Mischung aus Wohlwollen, Mitleid, Faszination, Abscheu und Unverständnis.

Ein Charakteristikum des Absolutismus Josephinischer und Hieronymus'scher Prägung war das Bemühen, auf jedes soziale Problem eine spezifische institutionelle Antwort zu finden; entsprechend gab es auch Pläne einer speziellen Schwachsinnigenfürsorge.

Die weitere politische Entwicklung verhinderte aber, daß diese Pläne weiterverfolgt oder realisiert wurden.

Geblieben ist folgendes:

  • Eine differenziertere Betrachtungsweise über Kretinismus, Wahnsinn, Blödsinn, Taubstummheit etc.

  • Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Kretinismus, der nun als eine Form von Krankheit betrachtet wurde.

  • Die Ansicht, daß seine Ursachen nur erforscht werden können, wenn man die geographischen, klimatischen und Vegetationsverhältnisse sowie die Lebens- und Arbeitsweisen der Bevölkerung in den Kretinismusgebieten kennt.

  • Die Erinnerung, daß schon einmal eine Kretinenzählung in Salzburg durchgeführt worden war.



[4] Joseph und Karl Wenzel: Ueber den Cretinismus. Wien 1802. Im folgenden Abschnitt beziehen sich alle Seitenangaben hinter den Zitaten auf dieses Buch

[5] Francois Émanuel Fodéré: Essai sur le Goître & le Crétinage. Turin 1792;

deutsch: Über den Kropf und den Kretinismus. Berlin 1796.

[6] Vgl. Paul Hazard: Die Herrschaft der Vernunft. Hamburg 1949.

[7] Dorothea Meyer: Die Erforschung und Therapie der Oligophrenien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Berlin 1973, S.30 ff

[8] Vgl. Peter Gstettner: Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft. Reinbek 1981, S.20 ff

[9] Vgl. Eric Hobsbawm: Europäische Revolutionen. Zürich 1962, S.559

[10] Zitiert nach Nora Watteck: Lappen, Fexen und Sonderlinge in Salzburg. In: MGSL 118/1978, S.235

[11] Goethes Werke, Abth.III, Bd.4: Tagebücher 1809 - 1812. Weimar 1891, S.119

[12] Medizinisch-chirurgische Zeitung. Jg.1802, III, S.68

[13] »Glücklicber Zeitpunkt für Taubstumme des Herzogthums Salzburg«. In: Intelligenzblatt von Salzburg, Jg.1806, Nr.XXIV und XXV.

[14] Landshut, o.J. (1813)

[15] Vgl. Der Große Duden, 5 Fremdwörterbuch. Mannheim 1974, S.312

[16] Nachdem eine fundierte Salzburger Sozialgeschichte bisher noch nicht geschrieben wurde, mußte ich die diesbezüglichen Informationen aus zahlreichen Fragmenten zusammentragen. Die verwendeten Arbeiten werden wohl angeführt, die detaillierten Hinweise im Text habe ich jedoch einer flüssigen Lesbarkeit zuliebe meist weggelassen. Wer daran naher interessiert ist, möge in der Dissertation nachschlagen.

[17] 1815 betrug der Anteil der Haushaltsangehörigen aus den Bereichen Handwerk und Handel, Verkehr, Gastgewerbe 42,6 %. Vgl. Robert Hoffmann: Salzburg im Biedermeier. In; MGSL 1201121, 1980/81, S.240

[18] Ignaz von Kürsinger: Lungau. Salzburg 1853, S.751 und Joseph Felner: Die politische und amtliche Verfassung der Pfleggerichte Werfen, Mittersil und Saalfelden, 1793. In: MGSL 67/1907, S.72

[19] Franz Valentin Zillner: Historiae physico-medicae ducatus salisburgensis rhapsodias duas. Wien 1841, S.25

[20] Vgl. Hobsbawm, 1962.

[21] Felner, S.76

[22] Vgl. Karl Höller: Zehn Jahre städtisches Versorgungshaus. Salzburg 1908, S.14

[23] Vgl. Franz Hörburger: Salzburgs Schulwesen in Gegenwart und Vergangenheit.

Baden 1929, S.32 und Johannes Emmer: Erzherzog Ferdinand III., Großherzog von Toscana,

als Kurfürst von Salzburg 1803-1806. Salzburg 1878, S.90

[24] Schätzung nach Carl Ozlberger: Physisch-medizinische Beschreibung des Herzogthums

Salzburg. Wien 1844, S. 246

[25] Vgl. Peter Feldbauer: Kinderelend in Wien. Wien 1980, S. 79 ff

[26] Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt/Main 1976.

[27] Felner, S.87

[28] Sanitätsbericht von 1821. Salzburger Landesarchiv (SLA), Kreisamt 212/213.

[29] vgl. W. Streinz: Darstellung der Heilanstalten im Erzherzogthume Österreich ob der Enns und im Herzogthume Salzburg. Wien 1844, S.88

[30] Ignaz Harrer: Das Irrenwesen im Herzogthum Salzburg. In: MGSL 42/1902, S.11

[31] Ein Überblick über, die salzburger Stiftungen findet sich in Höller, S.7-24 und in

Johann Ernest Tettinek: Die Armenversorgungs- und Heilanstalten im Herzogthum Salzburg. Salzburg 1850

[32] Tettinek 1850, S.4 f

[33] Siehe dazu u.a. Hannes Stekl: Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser 1671-1920. Wien 1978

[34] Franz Michael Vierthaler: Meine Wanderungen durch Salzburg, Berchtesgaden und Österreich, 1. Theil. Wien 1816, S.196

[35] Felner, S.88

[36] Vgl. Johann Ernest Tettinek: Das Domizil- oder Heimathrecht hinsichtlich der Armenversorgung. Salzburg1844.

[37] Vgl. Hoffmann, S.241

[38] Karl Maffei: Der Kretinismus in den norischen Alpen. 2.Band von Maffei/ Rösch. Neue Untersuchungen über den Kretinismus. Erlangen 1844.

[39] Wenzel, S.24

[40] Weitere Nahmen siehe Watteck, S.232 f

[41] Lorenz Hübner: Beschreibung des Erzstifts und Reichsfürstenthumes Salzburg. Salzburg 1796, S.962

[42] Franz Valentin Zillner: Über Idiotie. Jena 1860, S.23

[43] Vgl. Hilscher, S.103

[44] Duden. Ausgabe 1983, S.407. 'Pontifex maximus' ist die kirchenamtliche Bezeichnung des Papstes.

[45] Maffei 1844, S.23

[46] Nach Rett 198 1, S.192 war der Hauptgrund für die häufige Taubstummheit in früherer Zeit die eitrige Mittelohrentzündung, die erst mit der Einführung der Antibiotika zurückgedrängt wurde.

[47] Sanitätsbericht 1821, SLA, Kreisamt 212/213.

[48] Maffei 1844, S.28

[49] Watteck, S.232

[50] Zitiert nach Watteck, S.231

[51] In dieser engeren Bedeutung wird das Wort Fex bereits 1860 in der Stadt verwendet. Vgl. Zillner 1860, S.23

[52] Bericht des Medizinalrats, 4.4.1804. SLA, Churfürstliche und k.k. österreichische Regierung

[53] Nobert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Frankfurt/Main 1977.

[54] Maffei 1844, S.54

[55] Ich kann mich hier begrifflich nicht festlegen. Zur Problematik des Familienbegriffs siehe Mitterauer/Sieder (Hg.): Historische Familienforschung. Frankfurt/Main 1982.

[56] Hoffmann, S.240

[57] Vgl. Hilscher, S.99

[58] SLA, Churfürstliche und k.k. österreichische Regierung, R XI/H 112.

[59] Pareremedicus über den Joseph Jäger, so zu Meggendorf Feuer angelegt hat. Tamsweg, den 9. Hornung 1804, Dr. Bacher, Landschaftsphysikus.

[60] Als Fraisen wurden in der Regel Krämpfe der Kinder bezeichnet, die sehr häufig auftraten, verbunden mit Fiebern und Darmerkrankungen. Für etwa die Hälfte aller gestorbenen Kinder nahm man die Fraisen als Todesursache an.

[61] Pareremedicus ...

[62] Pareremedicus ...

[63] Gutachten des Medizinal-Rathes an die Kurfürstliche Landes-Regierung vom 4. April 1804, Dr. Hartenkeil.

[64] Protokollauszüge.

[65] Bericht der kurfürstlichen Landes-Regierungs-Registratur vom 28. May 1804.

[66] Bericht der Stadtkapläne Kaspar Gmachl, Aloys Werndle und Joseph Harl vom 8. Juny 1804.

[67] Auszug aus dem kurfürstlichen Medizinal-Raths-Protokoll vom 7. November 1804.

[68] Intelligenzblatt von Salzburg. Nr.XXIV und XXV/1806.

STATIONEN DER BESONDERUNG

Die Kretinenschule des Gotthard Guggenmoos. Eine Weltpremiere mit Lehrstückcharakter.

Die weitere Herausbildung einer besonderen Wahrnehmung und Behandlung Schwachsinniger im 19. Jahrhundert war kein kontinuierlicher Prozeß. Er verlief im medizinischen, pädagogischen, administrativen und alltäglichen Lebensbereich jeweils unterschiedlich rasch und weist innerhalb jedes Bereichs zahlreiche Facetten auf.

Zunächst wird der Zeitraum von 1816-1848behandelt. Salzburg blieb in diesen drei Jahrzehnten von politischen und sozialen Konflikten, sowie von einer nennenswerten ökonomischen Entwicklung weitgehend unberührt. Es war in jeglicher Hinsicht tiefste Provinz.

Als erstes widmen wir uns einer Kuriosität; einer Privatschule, die als die erste Schwachsinnigenbildungsanstalt der Welt in die Geschichtsbücherder Heilpädagogik Eingang finden sollte. Sie hatte aber weniger mit einer pädagogischen Hellhörigkeit hierzulande zu tun, als vielmehr mit einer spezifischen Rückständigkeit Salzburgs.

Die vorhandenen Akten wurden erstmals 1918vom Lehrer Karl Wagnerbearbeitet.[69]

Seit 1812, Salzburg gehörte zu Bayern, war ein ehemaliger Kanzleigehilfe, GotthardGuggenmoos aus Schwaben, als Privatlehrer in Hallein tätig, wo er vorwiegend Kinder von Salinenbeamten unterrichtete. DurchwegsWohlhabende, versteht sich, die es sich leisten konnten, etwa 30 Gulden (Fl) pro Jahr auszugeben, um ihre Kinder nicht in die allgemeine Schule schicken zu brauchen. Zufällig waren darunter auch taubstumme, bzw. wie später betont wurde, nur fast taubstumme Kinder, (»harthörig und schwerzüngig«), denen Guggenmoos mit Geduld und großem Erfolg Sprechen, Lesen, Schreiben, sowie Grundkenntnisse des Elementarunterrichts beibrachte.

Im Jahre 1816 -Salzburg war eben Österreich angegliedert und als fünfter Kreis dem Kronland Ob der Enns unterstellt worden- machte der neue Kreishauptmann, Graf Welsperg, anläßlich einer Rundreise durch das Land Bekanntschaft mit Guggenmoos und seiner Arbeit. Welsperg war sofort der fixen Ansicht, daß hier Kretinen durch Unterricht geheilt würden und hielt die Sache für so wichtig, daß er Guggenmoos riet, an die Behörde in Salzburg ein Ansuchen zwecks Errichtung einer öffentlichen Lehranstalt zu stellen.

Da es sich um ein völlig neues Vorhaben handelte, versuchte Welsperg seinen Bericht, mit dem er das Ansuchen an die nächsthöhere Instanz, die Landesregierung in Linz, weiterleitete, möglichst gut zu untermauern. Er forderte Gutachten an: vom Stiftungsadministrator, der einen Finanzierungsplan ausarbeiten mußte; vom Pflegegericht Hallein, das die Unterrichtserfolge von Guggenmoos bestätigen und ärztliche Gutachten organisieren sollte; von den übrigen Pflegegerichten über die Zahl der Taubstummen (sie ergab 155) und eine Auswahl der Unterrichtsfähigen (36). Guggenmoos selbst mußte noch einen Bericht über seine Methode und seinen Lehrplan vorlegen. Als Schwierigkeit sollte sich erweisen, daß er weder eine Zulassungsprüfung für den öffentlichen Elementarunterricht noch für den Taubstummenunterricht vorweisen konnte.

In seinem Bericht nach Linz drohte Welsperg förmlich, daß aus den Taubstummen ohne Förderung unweigerlich Kretinen würden, »jene Menschen nur ähnliche Thiergattung«, und stellte eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf: Verpflegung und Wohnung der ärmeren Kinder sollte von den jeweiligen Pflegegerichten finanziert werden, »nachdem ohnehin jedes solche Geschöpf späterhin wenn es ganz zum vollständigen Kretin geworden, doch dem Allgemeinen lebenslang zur Last fällt.«[70]

Von Linz wurde das ganze Aktenpaket erst einmal postwendend nach Salzburg zurückgeschickt, diesmal an die kirchliche Behörde, das Konsistorium. Hatte Welsperg vergessen, daß seit der Übergabe Salzburgs an Österreich das Volksschulwesen wieder der Oberaufsicht der Kirche unterstellt war? Dieser Fehler unterlief ihm später noch mehrmals. Aber das Konsistorialgutachten für die Landesregierung fiel vorerst genauso positiv für die geplante Anstalt aus wie jenes des Kreishauptmanns.

Dann blieb der Akt fünf Jahre lang unbeantwortet in Linz liegen wurde ans Kreisamt zwecks neuerlicher Bearbeitung zurückgeschickt (wegen der »veränderten Zeitverhältnisse«), von diesem ans Landgericht Hallein weitergeleitet, wo er wieder bis 1824 ruhte. Der Pfleger bestrittdie Möglichkeit einer Teilfinanzierung der Anstalt aus Geldern der Armenstiftungen, kam aber der Aufforderung zur Vorlage eines anderen Finanzierungsplanes erst 1826 nach Androhung einer Geldstrafe nach.

Guggenmoos hatte in den vergangenen zehn Jahren als Privatlehrer weitergemacht und immer ein oder mehrere hör- und sprachbehinderte Kinder im Unterricht.

Der anfangs so große Elan des Kreishauptmanns hatte auch nachgelassen.

Aber 1826 wurde mit anderer Stoßrichtung ein neuer Anlauf genommen. Da eine Genehmigung der Anstalt auf der Basis öffentlicher Finanzierung unrealistisch schien, wandte sich Welsperg erfolgreich an den Bürgermeister der Stadt Salzburg, um die Möglichkeiten auszuloten, die Anstalt hier auf der Basis privater Spendentätigkeit zu gründen.

Jetzt suchte man in Linz nach neuen Hindernissen. Der Direktor der dortigen Taubstummenanstaltfürchtete Konkurrenz und zog Guggenmoos' Fähigkeiten in Zweifel. Das Konsistorium wurde erneut konsultiert, diesmal wegen der Frage des Religionsunterrichts.

Schließlich wanderte aber Mitte 1827 das ganze Aktenpaket nach Wien an die Studienhofkommission, welche die Erlaubnis zur Errichtung einer Privatanstalt erteilte. Man sei zwar von Guggenmoos' fachlicherQualifikation nicht sonderlich überzeugt, aber nachdem die Sache ohnedies nichts koste und die private Mildtätigkeit sich schnell aufhörenwürde, falls sich keine Erfolge zeigten, sei man nicht dagegen.

Nun versuchten Kreishauptmann und Bürgermeister, die damals üblichen Spendenquellen zu erschließen. Der Magistrat sicherte 400 Fl aus den 'Neujahrsbillets-Geschenken' sowie das Mobiliar und das Heizmaterial zu. Der Museumsverein wurde um den Erlös der 'Neujahrs-Anwünschungs-Auslösung' gebeten, der normalerweise dem Waisenhausfonds zufloß. Der Fürsterzbischof wurde ersucht, auch den Klerus zur Mithilfe aufzufordern. In dem Entwurf zum Spendenaufrufhatte aber Welsperg schon wieder auf die Oberaufsicht der Kircheüber die Volksschulen vergessen, sodaß der Aufruf entsprechend abgeändert werden mußte. Viel werde die Sammlung in Landgemeinden wegen der Armut der Bevölkerung ohnedies nicht bringen, meinte Erzbischof Augustin, und hielt seine eigenen Spenden mit 6 Fl im Jahr auch in bescheidenen Grenzen.

Mit der Eröffnung der Anstalt wollte man noch zwei Jahre warten, bis genug Geld zusammen sei, um ihren Bestand wenigstens für einige Jahre im vorauszu sichern.

Mit dem Schulenoberaufseher des Konsistoriums konnte der Folge ein gutes Einvernehmen hergestellt werden, sodaß Guggenmoos als Privatlehrer angestellt wurde und ihm vorerst auch die Nachholung einer Lehrbefähigungsprüfung erspart blieb.

Am 1. November 1829 begann endlich im 4.Stock des Hauses Judengasse 63,Wasserseite, (heute Haus der Firma Steiner) der Unterricht mit vier Schülern.

Nachdem auch im Amts- und Intelligenzblatt eine »Kundmachung und Aufforderung an alle Menschenfreunde« (Welsperg) ergangen war, folgte am 12. Februar 1830, anläßlich Kaiser Franzens Geburtstag, die offizielle Eröffnung der Schule in feierlichem Rahmen. Viel Prominenz des Staates, der Kirche, des Adels und des Bürgertums war anwesend und bestaunte eine kurze Darbietung von Guggenmoos mit seinen vier Schülern. In der kurzen Zeit seit November hatten sie, wenn auch undeutlich, zu sprechen gelernt.

Während bis dahin außer Guggenmoos selbst nur einige wenige Beamte mit der ganzen Angelegenheit befaßt waren, erlangte die Idee eines Unterrichts für Kretinen durch die Anstaltsgründung, die Zeitungsartikel und die öffentlichen Spendensammlungen eine gewisse Verbreitung. Nicht nur unter Wohlhabenden, die etwa bei Bällen u.ä. zur Spendenkasse gebeten wurden; manche Seelsorger sprachen von den Kanzeln über die neue Aufgabe.

Zum Zeitpunkt der Eröffnung der Anstalt betrug das gesammelte Guthaben 1000 Fl., was für etwa zwei Jahre gelangt hätte. Weite Spenden deckten den laufenden Betrieb und erhöhten das Vermögen auf 2000 Fl. An eine Deckung der Auslagen allein durch die Zinsen, wie dies bei größeren Fonds gehandhabt wurde, war freilich noch lang nicht zu denken. Welsperg versuchte, durch wiederholte Aufrufe an die Menschenfreunde das Stammkapital zu erhöhen, um einmal zu einer solchen dauerhaften Regelung kommen zu können. Aber das Interesse der Menschenfreunde ließ leider relativ rasch nach. Eine wichtige Einkommensquelle waren fixe freiwillige Beiträge der Pfleggerichte: Gastein hatte damit 1830begonnen, indem es sich verpflichtete, fünf Jahre lang jeweils 20 Fl. zu spenden. Das ist einerseits erstaunlich, da ja vorerst gar keine Kinder aus den Landgemeinden aufgenommen wurden. Da man aber selbst etliche auf der Warteliste hatte, baute man vor. Und tatsächlich versprach Welsperg, indem er alle Pflegegerichte zur Nachahmung aufforderte, »den unentgeltlichen Unterricht für ihre Taubstummen.«

Mitte 1830, zur Zeit der öffentlichen Hauptprüfung, war Guggenmoos' Klasse auf 8 Schüler angewachsen. Das Publikum war wieder sehr begeistert von den Fortschritten der Kinder. Das änderte sich später; denn was beeindruckte war, daß Kinder, die vorher lallten oder gar nicht sprachen, nun mehr oder weniger gut sprechen, lesen und schreiben konnten. Die weiteren Erfolge, die in einem vermehrten Schulwissen lagen, machten keinen sonderlichen Eindruck mehr, da wurde in den normalen Schulen viel mehr geboten. Außerdem blieben diese Erfolge zunehmend aus, was das Konsistorium als Erstes bemerkte. Das hing damit zusammen, daß nunmehr tatsächlich an Kretinismus leidende Kinder (in welchem Ausmaß auch immer) die Schule besuchten, während es mehrere Hinweise dafür gibt, daß die Privatschüler aus Guggenmoos' Halleiner Zeit alle nicht-kretinöse hör- und sprachbehinderte Kinder waren. So mußte erst die Praxis einen Unterschied zutage fördern, den es zuvor v.a. im Bewußtsein der engagierten Beamten nicht gegeben hat.

Im Jahre 1831 verlor Guggenmoos seine Hauptstützen. Der Bürgermeister ging in Pension, der Kreishauptmann wurde nach Laibach versetzt. Dessen Nachfolger stand zwar weiterhin hinter Guggenmoos, aber der neue Bürgermeister war von Anfang an auf eine Schließung der Anstalt aus und auf Verwendung des Restvermögens für die Errichtung einer Zwangsarbeitsanstalt für 'Müßiggänger'. Als die neu eingehenden Spenden die laufenden Ausgaben nicht mehr deckten, weigerte er sich, diese aus dem vorhandenen Vermögen zu begleichen.

Guggenmoos reagierte auf den Verlust seiner Förderer mit einem erneuten Gesuch an den Kaiser, doch einen Fonds aus öffentlichen Mittelneinzurichten und seine »Lehranstalt für Taubstumme und Kretins«als öffentliche anzuerkennen, da auf der Basis der Privat-mildtätigkeitweder ihr Bestand gesichert sei, noch Kinder aus den Landgemeinden aufgenommen werden könnten.

Aberdamit hatte er keine Chance mehr. Wie üblich setzte das Ansuchen um öffentliche Gelder erst einmal nur die Berichtsanforderungsmaschinerie in Gang. Das Konsistorium, die Landesregierung und die Taubstummenanstalt in Linz gaben vernichtende Gutachten ab. Nur das Kreisamtverteidigte Guggenmoos gegen die Vorwürfe.

Im Frühjahr 1833 wurde das Ansuchen hochoffiziell abgelehnt, die Fortführungdes Instituts als Privatanstalt aber gestattet. Nun mußte Guggenmoos doch noch eine Lehrbefähigungsprüfung ablegen, was auch weiterkeine Schwierigkeiten bereitete. Aber im Jahre 1835 wurde der Geldhahnfür die Schule endgültig zugedreht. Der Bürgermeister konnte sich gegenüber dem Kreishauptmann durchsetzen und das restliche Vermögen,immerhin 1200 Fl., für die geplante Zwangsarbeitsanstalt kassieren.

Guggenmoos bekam noch ein Ausgedinge von 250 Fl. für ein Jahr, übersiedelte resigniert und krank nach Hallein und starb bald darauf 1838 an Lungenschlag.

Die Geschichte dieses Versuchs, einen Schulunterricht für Kretinen zu etablieren, ist ein Lehrstück, das wir in einigen Details unter die Lupe nehmen müssen, weil es uns viel Typisches der damaligen Zeit aufzeigen kann.

Es gibt genügend Hinweise dafür, daß die Schüler, die Guggenmoos als Privatlehrer in Hallein unterrichtet, keine Kretinen sind. Über einen liegt sogar ein ärztliches Gutachten vor, in welchem dem Knaben außer Taubstummheit völlige Gesundheit bescheinigt wird: Er »trägt kein Symptom des im hiesigen Kreise epidemischen Kretinismus.« Dennoch assoziiert Welsperg bei seinem Besuch sofort: Kretins!

Er tut dies nicht aus mangelnder Erfahrung, hatte er doch in seiner bisherigen Dienstzeit besonders in der Obersteiermark genügend Gelegenheit, »diese unglücklichen Geschöpfe in noch größerer Zahl und verwilderter Gestalt« kennenzulernen. Gerade w e i l er sie vom Sehen her kennt, ist er von Guggenmoos und seiner Arbeit so begeistert, da er nun seine »schon immer gehegte Meinung« bestätigt sieht, daß es nicht so weit kommen müsse. Welsperg läßt sich vom Erscheinungsbild, dem äußerlich wahrnehmbaren Symptom 'fehlendes oder unartikuliertes Sprechen' irreführen. Die Vermengung ist naheliegend, da ein Großteil der Kretinen auch hör- und sprachbehindert ist. Umgekehrt ist den meisten nicht-kretinösen Taubstummen aufgrund fehlender Förderung die Entwicklung ihrer potentiellen Fähigkeiten verbaut, sodaß sie zunehmend verwahrlosen und daher erst recht als Kretinen angesehen werden. Auch für die Entwicklung der pädagogischen Praxis hat die Nähe von Taubstummheit und Kretinismus (und allgemein Schwachsinn) Bedeutung. So begann der Priester Michael Reitter, der 1812 die Taubstummenanstalt in Linz gründet, mit der Unterweisung schwachsinniger Kinder in Religion; darunter befand sich auch ein taubstummes.[71] Umgekehrt gibt es Taubstummenlehrer, die sich erst später ausschließlich Schwachsinnigen widmen, wie 1845 Carl Saegert, der Direktor der königlichen Taubstummenanstalt in Berlin.[72]

Ohnedies ist für die Beamten 'Kretinismus' kein medizinischer Begriff -obwohl er von Ärzten in die hiesigen Lande importiert worden ist- sondern ein Sammelname für jene Menschen, die entstellte Gesichtszüge, oft deformierte Statur, Kropf, verminderte Geisteskräfte sowie eben keine oder nur lallende Sprache aufweisen.

Seit man sich überhaupt mit Kretinismus befaßt hat, wurde natürlich immerwieder die Frage gestellt, wie er entsteht, wie er verhütet und ob er geheilt werden könne. Auch für Welsperg geht es nicht um eine Wertvorstellung 'Bildung von Kretinen', sondern er glaubt, durch Guggenmoos' Unterricht würden seine Schüler »vor dem Absinken in den Kretinismus« bewahrt; es geht um Vorbeugung.

Im Gegensatz zu den Beamten zieht zur gleichen Zeit Dr. Knolz, der Primararztdes St. Johanns Spitals, einen scharfen Trennungsstrich zwischen Taubstumme und Kretinen: »Der Taubstumme ist voll kommener Mensch, denn er trägt das Siegel Gottes, den inneren Sinn, in sich ... Der Fex ist Thier.« Die Halbfexen, mit Sprache, »sind nur Zwitter und können nicht in die Regel gezogen werden. «[73]

Erst die Praxis der »Taubstummen- und Kretinenanstalt« führt zu einer differenzierterenWahrnehmung der Unterschiede, aber gerade deshalb auch zu einer beschleunigten Auflösung der Schule. Das Konsistorium stellt 1832 in einem insgesamt sehr negativ gehaltenen Gutachten fest: »Zwei derselben (von den 6-9 Schülern, die Guggenmoos bis dahin unterrichtet hat) haben in allen Schulgegenständen befriedigende Fortschritte gemacht und es kann nicht geleugnet werden, daß sie nur durch die Bemühungen des Guggenmoos es soweit gebracht haben. Allein bei den übrigen, wenn sie gleichwohl auch zwei, auch im dritten Jahre den Unterricht besuchten, konnte man nicht nur keine Fortschritte, sondern auch beinahe keine Unterrichtsfähigkeit nach der von G. beobachteten Methode bemerken; und der Grund dafür dürfte in dem Umstande liegen, daß diese übrigen Zöglinge nicht schwerhörende und schwersprechende Kinder, sondern vollkommene Kretins sind, denen die Empfänglichkeit für einen Unterricht leider nur zu sehr gänzlich zu fehlen scheint.«[74]

Ist die Hoffnung, Kretinismus verhüten, lindern oder gar hellen zu können, einmal erschüttert und fehlt der Hauptprotektor, kann die Anstalt keinen längeren Bestand haben. Weiche weltliche oder geistliche Behörde sollte an einer Schulbildung für Kretinen an sich interessiert sein, zu einer Zeit wo das allgemeine Elementarschulwesen qualltativ noch sehr wenig entwickelt ist und etwa 10-20 % der Kinder gar nicht zur Schule gehen, der Unterricht auf dem Lande unregelmäßig und in der warmen Jahreszeit oft ganz eingestellt ist?

Betrachten wir nun diese Geschichte von der Warte der Hauptakteure.

Guggenmoos selbst hat anfangs mit Kretinen überhaupt nichts vor; das wird ihm erst vom Kreishauptmann nahegelegt. In seinem ersten Ansuchen von 1816 schlägt er sogar vor, die Anstalt in Verbindung mit einer Hauptschule einzurichten, die bekanntlich höhere Ansprüche stellte als die Trivialschulen. Selbst zur Unterrichtung der (fast) taubstummen Kinder in Hallein kommt er rein zufällig, weil einige wohlhabende Bürger solche Kinder zu ihm in den Privatunterricht geben. Aber einmal damit begonnen, entwickelt er ein großes praktisches Geschick darin, und die Erfolge spornen ihn zum Weitermachen an. Nicht zu vergessen ist die Reputation, die für einen Privatlehrer existenznotwendig ist; reich kann er ohnedies nicht werden. Die Existenzsicherung bleibt auch später, nachdem die Anstalt gegründet ist, ein zentrales Problem. Denn nachdem die staatliche Anerkennung und Finanzierung ausbleibt, ist er voll auf das Funktionieren der Privatwohltätigkeit angewiesen, auf die er nur insoweit Einfluß nehmen kann, als er bei den öffentlichen Prüfungen mit seinen Schülern glänzt. Das Eintreiben des Geldes organisiert die Administration, solange sie hinter ihm steht.

Er ist der einzige von allen Akteuren, der direkt mit den Kindern befaßt ist; sein Anliegen ist es, sie über das Artikulieren der Laute Schritt für Schritt zum Sprechen, Lesen und Schreiben zu bringen. Dabei verläßt er sich voll auf seine gesammelten Erfahrungen, mit der Theorie hat er nicht viel vor. Daher kann es ihm auch egal sein, ob seine Schüler nun taubstumm oder nur 'harthörig und schwerzüngig' sind. Da dieser Unterschied den entscheidungsmächtigen Stellen sehr wichtig ist, gibt er immer letzteres an, freilich mit der Betonung, daß sich die Zöglinge ohne seinen Unterricht der völligen Taubstummheit nähern würden.

Nach dem Verlust seines Protektors versucht er, mit einem neuerlichen Gesuch an den Kaiser eine selbständige Initiative für den Fortbestand der Schule und damit seiner eigenen Existenz zu starten. Als dies mißlingt, resigniert er. Er weiß gar nicht, daß noch an die 1500 Fl. vorhanden sind, mit denen er die Schule noch zwei bis drei Jahre weiterführen könnte, sondern bittet quasi ums Gnadenbrot:

Man möge das Institut noch ein Jahr bestehen lassen, »damit er doch in dieser Zeit auf eine andere Art sein ferneres Fortkommen suchen könne.« Er glaubt diese Rücksichtnahme umso gewisser verdient zu haben, als er, abgesehen von pekuniären Opfern, die er für das Institut gebracht, »doch sechs Jahre dieses äußerst mühevolle Geschäft so führte, daß sowohl die hoben Schulvorstände als andere Kenner bei den Jahresprüfungen die volle Zufriedenheit zeigten und ihm auch von Eltern und Verwandten der im Unterricht gehaltenen Kinder ein großes Lob zuteil wurde.«[75]

Die Idee des Kreishauptmannes Welsperg ist die Vorbeugung. Wie wichtig für ihn dabei wirtschaftliche Überlegungen wirklich sind, sei dahingestellt; jedenfalls versucht er wiederholt, öffentliche Gelder rnit dem Argument locker zu machen, daß sich die Öffentlichkeit damit die Versorgungskosten vollkommener Kretinen ersparen würde. Es ist dies die früheste Kosten-Nutzen-Rechnung, die mir untergekommen ist; später wird sie zur stehenden Phrase.

Bei der Anforderung der verschiedenen Gutachten im Jahre 1816 erweist er sich als umsichtiger Administrator und Kenner der bürokratischen Szene: Gutachten sieht die höhere Behörde am liebsten.

Sein ursprüngliches Engagement steht sicherlich mit dem Gefühl des allgemeinen Neuanfangs in Zusammenhang. Später ist es mit einer Portion Salzburg-Patriotismus gewürzt;zwangsläufig, da von oben keinerlei Unterstützung, nur Obstruktion zu erwarten ist: »Weit davon entfernt, mich davon abschrecken zu lassen, finde ich beinahe den Sporn hierin, die Sache kräftiger anzufassen, und umso wichtiger wird das Verdienst werden, je geringer die zu hoffende Unterstützung von anderen Orten sein mag, und wohl mag das Unternehmen auch nur durch und für das Land, für welches zunächst unser Bemühen gilt, gelingen. Für das Land, welches, gleichwohl nur Teil eines Landes, bereits lnstitute aus sich und für sich besitzt, reich dotiert und ausgestattet.«[76]

Auf die traditionsreiche private Spendentätigkeit richtet Welsperg zusammen mit dem Bürgermeister in der Folge seine Bemühungen und Hoffnungen.

Das ganze Unternehmen ist in hohem Ausmaß von seinem Engagement abhängig, oder umgekehrt ausgedrückt: Seine Aktivität richtet sich vor allem auf 'sein' Institut mit eben diesem von ihm entdeckten Lehrer Guggenmoos. Wäre die Kretinismusprophylaxe das alles bestimmende Motiv, müßte er z.B. anregen, daß sich mehrere Lehrer Guggenmoos' Lehrmethode, die er so schätzt, aneignen, um sie auch in den normalen Volksschulen anzuwenden. Oder er müßte im Beamtenapparat stärker aufklärend wirken, damit die Existenz der Schule nicht von der Dauer seiner Amtszeit abhänge; aber eben letzteres passiert.

Für die Kirche in Gestalt des Erzbischofs und des Konsistoriums zählt in erster Linie, daß sie das Recht hat, das gesamte Volksschulwesen zu beaufsichtigen. Sie läßt recherchieren, ob Guggenmoos wohl in der Lage sei, den Religionsunterricht richtig zu erteilen. Sie drängt auf die Einhaltung der Gesetze und erreicht schließlich auch, daß er die Lehrbefähigungsprüfung nachholen muß.

Es gibt aber auch wohlwollende Stimmen. Das erste Gutachten von 1816, verfaßt von Konsistorialrat Fingerlos, einem 'glühenden' Aufklärer, ist im Sinne Welspergs abgefaßt, und ein Schulenoberaufseher plädiert für die Erlassung der Prüfung, da Guggenmoos durch langjährige Praxis die Fähigkeit für seine Spezialaufgabe bewiesen habe.

Auch für die Kirche gilt, daß sie die Möglichkeit hätte, einer Kretinenausbildung die Basis zu verschaffen, wäre es ihr wichtig. Sie hält es offenbar sogar für einfach, daß sich andere Lehrer Guggenmoos' Methode aneignen: 1827 plädiert sie dafür, ein Geistlicher solle den Religionsunterricht halten, nachdem Guggenmoos ihm die Methode der Sprecherziehung gezeigt habe. Und im Bericht von 1832, der die Kritik an der Anstalt beinhaltet, wird behauptet: »Die sogenannten halben Kretins, die für einigen Unterricht empfänglich sind, seien auch von Trivialschullehrern, wenn sie sich's angelegen sein ließen, nicht ohne allen Erfolg unterrichtet worden.«[77]

Die unteren Behörden, die Pfleggerichte, erweisen sich in der Regel als kooperativ, der Pfleger von Hallein ausgenommen. Viele geben freiwillige Spenden für die Anstalt.

Zweimal, 1816 und 1824, werden sie aufgefordert, die Zahl der taubstummen Kinder zu erheben. Während die erste Zählung 155 ergibt, sind es acht Jahre später nur mehr 60; aus etlichen Pfleggerichten werden das zweite Mal keine Kinder gemeldet, obwohl sie für ihren Kretinenreichtum bekannt sind. Die Pfleger machen also offensichtlich bereits eine genauere Unterscheidung zwischen reiner Taubstummheit und taubstummen Kretinen als ihr Kreishauptmann.

Für die oberen Behörden in Linz und Wien ist 'Geld' das Stichwort, mit dem man über ein klares Entscheidungskriterium verfügt: Ansuchen, die öffentliche Kosten verursachen, werden entweder abgelehnt oder verschwinden jahrelang in der Schublade. Wenn es nichts kostet, »hat man nichts dagegen«. Es ist fast ein Ritual: Die erste Reaktion auf ein Ansuchen der ersten Kategorie ist das Anfordern von (weiteren) Gutachten oder -in den folgenden Jahren- die Veranlassung einer Zählung.

Welche Bedingungen wären nötig gewesen, damit die Guggenmoos'sche Lehranstalt Bestand gehabt hätte?

Erst einmal hätte sie eine reine Taubstummenschule sein müssen. Dafür war im Prinzip ein Bedarf vorhanden, und man hätte damit auch nur nachgeholt, was andernorts schon existierte. Der prinzipielle Bedarf hätte natürlich noch keine zahlungsfähige Nachfrage erzeugt; und einer öffentlichen Finanzierung stand die generelle staatliche Sparsamkeit, sowie die fehlende Fachausbildung Guggenmoos' entgegen. Hätte er aber Zertifikate als Taubstummenlehrer vorweisen können - er hätte sich wohl kaum nach Salzburg verirrt. Lukrativere Möglichkeiten wären ihm offen gestanden.

Nun hatten aber die besonderen und vielfach zufälligen Umstände ein Mittelding zwischen Taubstummen- und Kretinenschule entstehen lassen. Es hätte ein Experiment sein können; viele der Schwachsinnigenanstalten, die in den 40er- und 50er- Jahren insbesondere in den deutschen Ländern gegründet wurden und längeren Bestand hatten, begannen als solche Experimente. Deren Gründer brachten aber andere Voraussetzungen mit: Es waren meist Ärzte oder Pfarrer, einige Pädagogen, die sich bewußt den Kretinen und Schwachsinnigen zuwandten. Auch deren Anstalten bekamen in der Regel keine öffentliche finanzielle Unterstützung. Aber die Zöglinge hatten z.T. zahlungskräftige Angehörige, andererseits standen hinter den Pionieren die Kirche und/oder eine interessierte und spendenfreudige Philanthropie.[78] Hinter Guggenmoos standen einige Beamte. Vielleicht hätte das Experiment Bestand gehabt, wäre Salzburg damals ein eigenständiges Kronland gewesen; so war es aber nur Anhängsel eines anderen, und der Kreishauptmann ohne entscheidenden Einfluß.

Die Salzburger Philanthropie zeigte sich zwar freigebig, solange die Sache neu war und Guggenmoos mit spektakulären Erfolgen aufwarten konnte. Sie maß seine Arbeit an Fortschritten, wie man sie von Taubstummenanstalten vom Hörensagen kannte. Da sich aber diese Erfolge mit Kretinen nicht im gleichen Maß einstellen konnten, verloren die privaten Geldgeber das Interesse und die Schule in ihren Augen die Existenzberechtigung.

Da Kretinen in der Regel harmlos waren, konnte auch nicht eine Art Selbstschutzinteresse der Bürger der Anstalt das überleben sichern.

Bettler und Vagabunden waren da viel bedrohlicher. So ist es auch nicht erstaunlich, daß das übriggebliebene Fondsvermögen schließlich in die Errichtung eines Arbeitshauses floß.

Völlig zu Unrecht schreibt, Hilscher: »Guggenmoos kann mit vollem Recht als der Vater der Schwachsinngenbildungsanstalten in Österreich bezeichnet werden.«[79]

Niemand folgte ihm nach, keiner berief sich auf ihn oder seine Arbeit, sie wurden im Gegenteil auf schnellstem Wege vergessen. Zillner, der spätere Irrenarzt, erwähnte die Schule in seinen zahlreichen kulturgeschichtlichen und schwachsinnspezifischen Schriften nur in einem Nebensatz: »Von 1829 an bestand ein Paar Jahre auch eine Schule für Schwachsinnige«[80]Ein Indiz dafür, für wie wenig wichtig er die Sache hielt. Die Aufwertung von Guggenmoos zum 'Vater der Schwachsinnigenbildungsanstalten' tauchte erst bei den Geschichtsschreibern der Jahrhundertwende auf (v.a. Kirmße, 1907) und entsprach dem Bedürfnis der damaligen Schwachsinnigenpädagogen nach dem Aufbau eines professionellen Selbstverständnisses und Traditionsbewußtseins.

Der Fex wird zum Monster.

Dr. Joseph Johann von Knolz, geboren in der Steiermark, promoviert in Wien, kam 1821 nach Salzburg, wurde Professor der theoretischen und praktischen Medizin an der Medizinisch-chirurgischen Lehranstalt, Primararzt am St. Johanns Spital und ärztlicher Leiter des Irrenhauses.

Im Jahre 1829 erschien seine Abhandlung »Beytrag zur Kenntnis des Cretinismus im Salzburgerischen«[81], in der er zwar kritisch an die Arbeiten der früheren Kretinismusforscher anknüpft, aber wesentlich Neues verspricht, nämlich die Beantwortung der Frage: Was ist Kretinismus?Neu ist aber vor allem die Intensität, mit der er zuerst den Kretinen, dann den Blöden und Schwachsinnigen überhaupt das Menschsein abspricht, und die Art, wie er dahin kommt.

Wir wissen, daß auch die Kretinismusforscher der Aufklärungszeit, bestürzt über den ihnen ungewohnten Anblick der Kretinen, an deren Menschlichkeit zweifelten und sie eine Menschen-Abart nannten. Die Brüder Wenzel aber betonten des öfteren, daß nur wenige 'vollkommene' Kretinen im Zustand der Apathie und Bewegungslosigkeit dahindämmerten, die meisten jedoch nur in mittlerem oder geringem Maße von der Krankheit betroffen seien. Das weiß natürlich auch Knolz, da er aber »das Wesen des Cretinismus« darlegen will und dabei eine ganz bestimmte Beweisführung im Auge hat, nimmt er einen Fexen des höchsten Grades (es ist der uns schon bekannte Anton Steinwendner vom Leprosenhaus), erklärt ihn zum Prototyp und eliminiert die »unvollkommenen Fexen«; diese seien »nur Zwitter und können nicht in die Regel gezogen werden« (S.103)

Wir müssen noch einmal auf die Terminologie der Wenzel zurückkommen, nämlich auf ihren Vorschlag der Gradeinteilung: Vollkommener Cretin; Ha1bcretin; cretinartig. Auch Knolz bedient sich dieser Beiwörter 'vollkommen' und 'halb', sogar von 'vollendeten' Fexen ist die Rede. Diese Attribute bekommen aber auch die 'Menschen':Vollkommener Mensch und Ha1bmensch gleich Ha1bfex. Die Wertung, die in diesen Attributen steckt, ist genau entgegengesetzt, je nachdem ob sie den 'Menschen' oder den Fexen zugeordnet werden. Diese Terminologie wurde durch die damals übliche Betrachtungsweise der Krankheiten nahegelegt, die oben schon beschrieben wurde. Die Wenzel waren sich ja noch nicht so sicher, ob es sich tatsächlich beim Kretinismus um eine solche eigenständige Krankheit handelte, wo er im System einzuordnen sei, und enthielten sich daher auch noch der Frage- Was ist Kretinismus? Knolz hingegen weiß, daß er das Wesen erkannt hat. Der vollkommene Kretin ist also der Kretin schlechthin, das Muster, der Prototyp.

Ohne jetzt näher darauf einzugehen, erinnere ich an die landläufige Gradeinteilung: weltläufig, revierig und unrevierig. Sie entspricht einer völlig anderen Erfahrungswelt und anderen Bedürfnissen.

Knolz verfolgt wie gesagt eine ganz bestimmte Beweisführung. Er will nichts Geringeres, als die »Pflanzennatur der Cretinen« beweisen; und fehlen ihm die Beweise oder sprechen die auch von ihm anerkannten Tatsachen dagegen, so arbeitet er mit Bildern und Assoziationen. Da Fexen[82] nur im Gebirge vorkommen, könnte man meinen, daß sich die Natur hier »an dasselbe Gesetz hält, zu Folge dessen sie den mächtigen Holzstamm auf einer bestimmten Höhe der Berge zum Krummholze verkrüppelt.« Nur stehe das im Gegensatz zu dem kräftigen Menschenschlag der meisten Bergbewohner, während die Fexen gerade in den tiefsten Alpentälern mit der »größten Üppigkeit der Vegetation« vorkommen. (S.92)

Doch auf dem Weg zur Pflanze müssen einige Zwischenetappen zurückgelegt werden. Zuerst muß der Fex von den Menschen getrennt werden, und weil es ja ein Musterfex sein soll, wird er auch einem Mustermenschen gegenübergestellt, dem »Normaltypus« des »Caucasischen Menschenstammes«. (S.92)

Der Fex erreiche nicht nur nicht die Normalhöhe desselben, es mangle ihm auch an »Ebenmaß«. Eine genaue Vermessung ergibt, daß seine Körperteile disproportioniert sind, verglichen mit »wohlgestalteten Menschenracen, bey welchen sich nach mahlerischen Gesetzen der Kopf zur Länge des Körpers verhält wie 1:8, ...« (S.93)

»Die ganze Wellenlinie, durch die sie (die Natur) den großen Weltbau und sein Abbild (Microcosmos) in das Ovale gegossen hat, ist hier in einen eckigen, platten, unsymmetrischen Ballen, in eine gestreckte Ellipse verzerrt, und an allen Schädelknochen gewahrt man den Mangel der Schalenform, die an dem wahren menschlichen Haupte ewige Zeugenschaft gibt, daß es höhere Hände liebend gehalten, und gedrückt haben.« (S.95)

Ist der Fex aber nicht Mensch, so ist er Tier, was man schon an seinem Gesicht sehe, das »größtentheils zum Fraßwerkzeuge, zum Kiefer und zur Schnauze geworden« sei. (S.94) Die »Physische Anthropologie« Bernoullis Lehre: »Je thierischer das Thier ist, desto länger sind seine Freßwerkzeuge gestreckt.« (S.97) Damit stünden aber die Kiefer der Fexen denen der wiederkäuenden Tiere näher als denen der menschlichen Tiere. Die Fexen seien noch weiter »in die Classe tieferstehender Thiere hinabgestoßen« (S.96), ihreenorme Verdauungskraft deute darauf hin, daß sie »an die Thierclassen, in denen noch außer den Baucheingeweiden kaum ein anderes Eingeweide erwacht ist, an die sogenannten Pflanzenthiere« grenzten. (S.100)

Leise wird angedeutet, daß auch nicht alle 'Menschen' dem menschlichen Normaltypus gleichen, denn bei jenen, bei denen das Verdauungsvermögen hoch stehe, seien die geistigen Fähigkeiten zurückgedrängt und umgekehrt.

Forsche man weiter im Körper der Fexen, so treffe man auf eine riesige Leber und Galle, die sie mit den »niedrigsten Thieren, z.B. mit den Schnecken und allen Weichwürmern gemein« hätten. (S.101)

Ja, sind es überhaupt Tiere? Hätten die Fexen nicht Zähne und Magen, wäre ihnen überdies die willkürliche Bewegung versagt, d.h. »würden sie in der Erde wurzeln; man wäre in Versuchung, sie für warmblütige Pflanzen zu halten.« (S.100) »Der Glaube an die Pflanzennatur der Cretinen (wird) immer zudringlicher. Denn bey ihnen, wie bey den Pflanzen, ist die Entwicklung der Genitalien die höchste Entfaltung« (S.100) Die Fexen haben den Pflanzen nur voraus, »daß sie nicht wie diese unmittelbar darauf, wenn sie den Samen haben fallen lassen, sterben müssen.« (S.100)

Knolz ist zu sehr Arzt, als daß er seine Argumentation auf diesem Niveau belassen könnte. Im folgenden untermauert und begründet er seine bisherigen Ausführungen mit detaillierten hirnanatomischen und neurophysiologischen Beschreibungen. In der Konsequenz läuft diese Untersuchung auf eine antagonistische Gegenüberstellung der 'Vegetation' (vegetatives Nerven- und Gangliensystem) und der 'Sensibilität' und 'lrritabilität' (Cerebralsystem) hinaus. Ersteres herrsche vor, zweiteres sei kaum entwickelt, die Verbindung beider unterbrochen. Beim Normalmenschen stünden beide in Wechselwirkung.

Das Vorherrschen des vegetativen Systems hätten die Fexen im übrigen nicht nur mit niederen Tieren, sondern auch mit Föten und Kindern gemein. »Das wohlgestaltete Kind wird daher auch nur dadurch Cretin, daß das Fötusleben in ihm nie erlöscht, und das höhere Sensible nicht emportreibt, daher die ewige Puerilität der Halbcretinen.« (S.170)

Nur der Geschlechtstrieb sei aus der Kindheit herausgetreten, und »als ein Wahrzeichen der ewigen Herrschaft der Pflanzennatur« trügen die Fexen große Geschlechtsorgane.

Da Knolz weder Zoologe noch Botaniker, sondern Arzt und daran interessiert ist, als erster das Wesen des Kretinismus als Krankheit gefunden zu haben, muß er den Fexen wieder einen Teil der Menschlichkeit zurückgeben. Das gelingt ihm insofern leicht, als die meisten von ihnen immerhin von 'menschlichen' Eltern abstammen. Daher solle man ihnen »keinen besonderen Platz, als besonderer Gattung oder Art in der Reihe lebender thierischer Wesen, sondern mit Grund einen besonderen Ort in unserem pathologischen Systhem als besonderer Krankheit anweisen.« (S.147)

Und zwar in der Klasse der Nervenkrankheiten (diese äußerten sich »vorzüglich durch Abweichungen der äußern und innern Sinne wie auch der Muskelbewegungen«);

In der Ordnung der Seelenkrankheiten, »wo die Kräfte des inneren Sinnesverstandes, Gemüth und Wille vorwaltend leiden«;

Bei der Krankheitsform des B1ödsinns (der als Grundcharakter Geistes- und Verstandesschwäche, auch gänzlichen Mangel daran, habe);

Allerdings sei es ein Blödsinn besonderer Art, »welchem mangelhafte oder rückgebliebene Entwicklung des Cerebralsystems mit vorherrschender Ausbildung des Gangliensystems zum Grunde liegt.« (S.148 f)

Mit dieser Einteilung weist Knolz den Kretinismus (und auch den Blödsinn) dem Aufgabengebiet der Psychiatrie zu; eine Ansicht, die im Widerspruch zu jener der Psychiater insbesondere Deutschlands steht.

Knolz war nicht irgendein Arzt, sondern eine medizinische Kapazität. Seine Karriere endete nicht in Salzburg. 1831 wurde er als Professor der Allgemeinen Pathologie und Pharmakologie nach Wien berufen, wo er drei Jahre später Dekan der Medizinischen Fakultät wurde. Außerdem wurde er Protomedicus und Sanitätsreferent der niederösterreichischen Landesregierung.[83]

Es war Vormärz, und die politische Reaktion in allen gesellschaftlichen Bereichen an der Macht. Auf medizinischem Gebiet hatte man in Wien bereits 1803 von der Aufklärungszeit Abschied genommen und die Humoralpathologie restauriert. Die Ausbildung der Ärzte wurde formal und inhaltlich streng überwacht. Erst 1838 wurde mit der Gründung der 'Gesellschaft der Ärzte' durch Türkheim leise der Wandel eingeläutet, der darin zur berühmten Zweiten Wiener Medizinischen Schule mit Skoda, Rokitansky, Herba und anderen führte.[84]

Knolz' Ansichten war eine Verbreitung und gewisse Wirkung sicher, zumal er in Wien seine Studien, Artikel und Vorträge über den Kretinismus fortsetzte und dabei seine Salzburger Ansichten nur noch vertiefte. Nicht nur das; er dehnte den Begriff Kretinismus auf alle Formen des Schwachsinns aus und damit tendenziell auch die medizinisch begründete Ausschließung aus der Welt der normalen Menschen. Er widmete sich später der Gerichtsmedizin und sammelte mit Fleiß Beispiele von grausligen Mordtaten, um die Unzurechnungsfähigkeit von Kretinen und Schwachsinnigen nachzuweisen.

Setzen wir nun kurz den Ansichten von Knolz jene von Maffei entgegen. Die beiden waren Zeitgenossen; aber während Knolz eine Kapazität und Inhaber leitender Posten war, arbeitete Maffei Jahrzehntelang als praktischer Arzt in den Salzburger, Kärntner und Obersteirischen Alpenregionen. Sein Hauptvorwurf gegen Knolz und andere Kollegen war, daß sie den Weg der Empirie verlassen und durch »Denkgerüste« und »die Sucht, durch unverständliche Worte das Unbekannte aufzuklären, oder -richtiger gesagt- noch unverständlicher machen zu wollen« ersetzt hätten.[85]

Interessant ist seine Charakterisierung der bisherigen Kretinismusforschung:

»... Diese verschiedenen Ansichten sind die Geburten einer Zeitperiode von beiläufig 60 Jahren, nemlich vom Jahre 1780 bis zum Jahre 1840, und tragen mehr oder minder die Stigmata des Genius der herrschenden Geisteskrankheiten an sich. - Sie beginnen mit der Kultur der höheren und der vergleichenden Anatomie, - und berühren gläubig vorerst den Schädelbau, die Organisation des Gehirnes, und des Nervensystems überhaupt; - das Unerklärliche der Gegenwart will man in verschiedenen Stufen ererbt haben, und als man das Ungenügende dieser Erläuterungen erkannte, wendete man sich an die chronischen Krankheiten, und drang durch Knochenverkrümmungen und Bögen und Höhlungen in die Kretinenschädel hinein. Deren endlich satt, kam die Reihe an die Lebenskraft, deren Zuviel oder Zuwenig, und deren teilweisen Mangel. - Dann kamen der Bildungstrieb, die Bildungskraft, die Ausbildungsstufen an die Reihe, denn die sogenannte Naturphilosophie (als ob es eine andere überhaupt geben könne) sandte ihre poetischen Strahlen in das dunkle Reich des medicinischen Wissens. Sodann treten wir ein in die Periode, wo man der Seele Krankheiten aufladen will, von denen der Körper nur so gelegentlich Notiz zu nehmen, beauftragt scheint. - Der Franzose Botlen steht noch auf festem materiellen Boden - aber Neumann, der Deutsche, führt, der Erste, Schatten in das Reich des Lebendigen ein (1833 und 1837). Doch das 4. Decennium des 19. Jahrhunderts erklärt die Sünde als Ursache der Geisteskrankheiten jeder Art, im nördlichen Deutschland; und im Süden desselben beschuldigt ein Ableger des in Paris seitdem wieder verblichenen Vampyrismus das Blut der Greueltbat, den Kretinismus hervorzubringen; sonderbar genug gerade in jener Zeitperiode, in welcher die blutigste Theorie mit der wässrigsten Therapie in eheliche Verbindung getreten ist.«[86]

Die Kretinen würden sich in ihrem Erscheinungsbild so stark voneinander unterscheiden, daß jeder Versuch, den Untergruppen eindeutige Symptome zuzuordnen, scheitern müsse. Völlig abzulehnen sei aber Knolz' Methode, einen Prototyp zu postulieren, noch dazu jenen »Anton Steinwendner, der durch 20 Jahre, wie ein Schaupfennig durch die Hände aller hier durchreisenden Gelehrten ging und so wie abgegriffen in seinem ursprünglichen Gepräge am Ende sich darstellen mußte.«[87]

Hautpräparat des Anton Steinwendner, genannt Leprosenhausfex, im Salzburger Haus der Natur

Hier wird ein wichtiger Mechanismus des Forschungsprozesses und der Theoriebildung angesprochen: die Herstellung bzw. Benutzung eines spezifischen Beobachtungsrahmens. Anton Steinwendner lebte ja im Leprosenhaus. Damit eignete er sich in doppelter Weise zum Prototyp. Einerseits produzierte er aufgrund der sozialen Isolation und der immer gleichen räumlichen Umgebung, sowie aufgrund der häufigen Untersuchungen immer die gleichen Verhaltensweisen. Andererseits war er so bekannt, daß die Untersucher von vornherein erwarteten, einen Prototyp anzutreffen. Es handelt sich hier um eine frühe Form der Laborsituation mit relativ standardisierten Verhaltenbedingungen. Später wurden solche standardisierten Bedingungen in den psychiatrischen und Sonderanstalten im großen Maßstab hergestellt.

Maffei hielt solche Bedingungen für eine Quelle des Irrtums im Erkenntnisprozeß, aber auch für ein Hemmis der Entwicklungsmöglichkeiten der Kretinen selbst. Letzteres gelte auch für die überfürsorgliche Pflege und Behütung mancher Fexen durch ihre Mütter. Die größten Fortschritte würden jene Fexen machen, die sich viel in der Gegend herumtrieben, weil sie dadurch mit vielen sinnlichen Reizen konfrontiert und zur Benutzung ihrer bescheidenen Geisteskräfte veranlaßt würden.

In anderen Punkten waren sich Maffeis und Knolz' Ansichten aber durchaus ähnlich. So vor allem in der Betonung des mangelnden Verstandes, des Blödsinns der Fexen. Dieser Verstandesmangel sei, zusammen mit dem Mangel an artikulierter Sprache, überhaupt das einzige Merkmal, das allen Fexen gemeinsam sein. Bei Maffei zeigt sich eine starke Tendenz, Kretinismus und Blödsinn synonym zu verwenden, der Unterschied liegt bei ihm nur darin, daß ersterem endemische, zweiterem nur zufällige Ursachen unterlegt werden.

Maffei lehnte es aber ab, Kretinismus den Seelen- und Nervenkrankheiten zuzuordnen. Zum einen, weil die Seele des Menschen »nur als gesund gedacht werden darf und kann, wenn man keinen Unsinn denken will«, zum anderen weil »der abnorme Bestand der Nerven nicht die Ursache sondern das Product des Kretinismus« sei.[88]

Auch Maffei sprach gelegentlich wie Knolz davon, daß Kretinen des höchsten Grades den »Pflanzenthieren« ähnlich seien. Beide gelangten über eine Evolutionstheorie zu diesem Bild, nur war jene von Knolz besonders moralisch und mystisch gefärbt. Evolutionstheorien begannen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen Wissenschaften eine wichtige Rolle zu spielen.[89]

Maffeis Kennzeichnung des Blödsinns als das Hauptmerkmal des Kretinismus hatte einiges mit persönlicher Betroffenheit zu tun, wie er sie an einer Stelle schildert:

»Mir kam es vor, als schlafe der Geist, als schlafe das Gehirn einen tiefen Schlaf, und als sähe ich durch die offenen Augen und den offenen Mund mitten hinein in diese traurige, stumme, vegetationslose geistige Wüste und Oede. Dieser Anblick war mir der unerträglichste, und ich kann noch nicht bestimmen, was größer und fühlbarer mir im Inneren auftauchte, Bedauern, oder Eckel.« [90]

Der Kretinismus im Sanitätswesen vor 1848

Knolz verstand seine Abhandlung von 1829 über den Kretinismus als Anregung und Beitrag zu einer »Medizinischen Topographie« Salzburgs. Es sei ein schweres Versäumnis, daß es dieselbe noch nicht gebe, da es bereits eine »beynahe abgedroschene Idee« sei, daß jedes Land seine eigene »Naturphysiognomie« habe, »die nicht nur der Mensch, sondern auch das Thier, die Pflanze, der Berg zur Schau trägt. ... Ebenso anerkannt ist es, daß jeder Boden seine eigenthümlichen Erzeugnisse treibt«, also auch seine eigenen Krankheiten.[91]

Auf diese Tatsache stütze sich »eine stehende Rubrik in der pathologischen Sparte der Arzneywissenschaften«, die Lehre von den endemischen Krankheiten. Aber auch die epidemischen hätten in Jedem Gebiet ihr eigenes Gepräge. Diese »unwidersprechliche und heilige Wahrheit« führe unweigerlich zu dem Schluß, daß jede Krankheit in jedem Land eine »eigenthümliche Heilart« erfordere.

In der Tat handelte es sich hier um eine »beynahe abgedroschene Idee«, der die ganze Organisation des Sanitätswesens Rechnung zu tragen suchte. Die Idee stammte schon aus der Zeit der französischen Aufklärung und war Teil der neuen medizinischen Konzeption. Allerdings wurde nur ein Teil dieser Ideen in die Praxis umgesetzt, und auch dabei gab es in den verschiedenen Ländern große Unterschiede.

In Salzburg waren seit 1819 die österreichischen Sanitätsdirektiven gültig. An der Spitze des Sanitätswesens stand das Ministerium des Inneren, dem die Protomedici in den Kronländern unterstanden. Letzteren waren wiederum die Kreis- und Distriktsärzte verantwortlich, sowie einige vom Staat bezahlte Wundärzte und Hebammen.[92] Der Großteil der beiden letzten waren allerdings freie Gewerbetreibende.

In Salzburg waren 1840 der Kreisarzt, die 6 Distriktsärzte (Neumarkt, Zell am See, Mittersill, Hofgastein, Radstadt, Tamsweg), die 2 Stadtärzte von Salzburg, sowie 20 weitere Ärzte (inklusive Militärärzte und Professoren der Medizinisch-chirurgischen Lehranstalt) graduiert, also Ärzte I. Kategorie. Chirurgen oder Wundärzte gab es insgesamt 82, und etwa 150 Hebammen. Chirurgen bekamen klinischen Unterricht im St. Johanns Spital.[93]

Die Distriktsärzte verkörperten in den ländlichen Bezirken die Sanitätsbehörde, über sie liefen alle amtlichen Maßnahmen, während die tatsächliche medizinische Versorgung der Bevölkerung in den Händen der Chirurgen aber auch immer noch der sogenannten Volksärzte oder Kurpfuscher lag.

Ein wesentliches Anliegen der Medizinalverfassung war die Gewinnung von Daten über viele Jahre hinweg, welche Aufschluß über die oben genannte »Naturphysiognomie« eben und schließlich über die Erstellung von medizinischen Topographien die geeigneten Mittel zutage fördern sollten, um die Volkskrankheiten in den Griff zu bekommen.

Dieser Datengewinnung dienten die Sanitätsberichte: Viermal jährlich mußten diese Berichte von den Distriktsärzten an den Kreisarzt, einmal pro Jahr von diesem zusammengefaßt an die Landesbehörde geschickt werden. Da die Kategorien der Fragen stets und in der ganzen Monarchie gleich waren, sollten sich daraus vergleichbare Daten ergeben. Sie umfaßten folgende Punkte:[94]

  1. Witterungsbeobachtungen

  2. Gesundheitszustand der Menschen und Tiere (u.a. häufigste Krankheiten und Epidemien, mit Details).

  3. Stand der Kranken- und Versorgungsanstalten.

  4. Stand der Bevölkerung (mit Geburten, Sterbefällen etc.).

  5. Fortschritte der Kuhpockenimpfung.

  6. Stand des Sanitätspersonals.

  7. Angaben der zum Wohle des öffentlichen Gesundheitszustandes getroffenen Verfügungen.

  8. Beiträge und Abhandlungen über alle Gebiete der Medizin und anderer Naturwissenschaften.

  9. Notizen über Mineral-Quellen und Heilbäder.

  10. Beiträge zur physisch-medizinischen Topographie.

Daß der Pockenimpfung ein eigener Punkt gewidmet war, weist darauf hin, welch große Bedeutung ihr beigemessen wurde. Sie wurde auch fast lückenlos und mit Erfolg durchgeführt, Salzburg, wo die Impfung schon im Jahre 1800, zwei Jahre vor Osterreich, eingeführt worden war, meldete kaum Weigerungsfälle.

Die Pocken waren die einzige Krankheit, der man durch Impfung vorzubeugen wußte. Die Malaria wiederum, so lehrte die Erfahrung, ging zurück, wenn sumpfiges Gelände trockengelegt wurde. Bei einigen anderen Krankheiten konnte man nur durch rasche, behördlich überwachte Absonderungsmaßnahmen ihre Verbreitung verhindern, sobald sie einmal aufgetreten waren, wie bei Typhus, Ruhr und Tollwut. Solche Maßnahmen sollten unter Punkt VII dokumentiert werden.

Die Ursachenforschung war insgesamt sehr wenig fortgeschritten; ihr sollten die gewissenhaft abgefaßten Sanitätsberichte dienen. Punkt VIII der Direktiven betont, daß alle Sanitätsindividuen dazu ermuntert werden sollten, entsprechende Beobachtungen anzustellen und Abhandlungen zu verfassen. Veröffentlichung und Belohnung in Form von Beförderungsbevorzugung wurden zugesichert. In diesem Licht sollte man auch Knolz' Abhandlung über den Kretinismus sehen und vielleicht auch seine krassen Thesen und Formulierungen; damit konnte eher Eindruck erweckt werden, als durch eine schlichte Aufzählung von Beobachtungen. Es war weder ein Bericht a u s der Praxis, noch f ü r die Praxis, denn eine medizinische Praxis mit Kretinen gab es nicht. Kretinismus fand noch nicht einmal Eingang in die regelmäßigen Sanitätsberichte. Nur ganz am Anfang, im Jahre 1821, als es sozusagen um eine erste Bestandsaufnahme ging, widmete sich der Kreisarzt diesem Thema: »Dieser Zustand, in dem sich Geistesarmuth mit einem eigenthümlichen wegen seiner vielartigen Modifikationen schwer zu bestimmenden Knochenbau vereinigt, schließt keineswegs die oft sogar derbe Gesundheit aus, allein da sich diese beim Menschen doch eigentlich durch die freien, harmonischen Funktionen des Körpers und der Seele bedingt, so mögen die Kretinen hier wohl aufgeführt werden.«[95]

Der Kreisarzt ist in einer gedanklichen Zwickmühle. Nach dem landesüblichen Begriff von Krankheit sind Kretinen nicht krank; Ärzte und Chirurgen nehmen in der Regel keine ärztlichen Handlungen an ihnen vor. Aber als gebildeter Mann kann sich der Kreisarzt auf einen viel weiteren, mehr philosophisch geprägten Begriff besinnen, indem er umgekehrt fragt: Was ist Gesundheit? Erst nach dieser Gedankenkonstruktion scheint es ihm gerechtfertigt, den Kretinismus in den Sanitätsbericht aufzunehmen.

In den folgenden Jahren hatten die Ärzte aber andere Probleme, und der Kretinismus wurde in den Berichten nicht mehr thematisiert. Auch von höherer Stelle kam keine entsprechende Anregung. Die vorgesetzte Behörde hatte vielmehr jahrelang das Problem, die ordnungsgemäße und rechtzeitige Abfassung der Berichte überhaupt durchzusetzen, da die örtlichen Ärzte einerseits überlastet waren, andererseits wenig eigenes Interesse an den Berichten zeigten. Verzögerungen bis zu einem Jahr und länger waren keine Ausnahme, und 1830 mußte gar ein Ultimatum »bey Vermeidung der Gehaltssperre des Schuldtragenden« ausgesprochen werden.

Wenn der Kretinismus auch kein Thema der regelmäßigen Sanitätsberichte und Statistiken war, heißt das nicht, daß das Sanitätspersonal nie damit beschäftigt war. Erinnern wir uns an die Anweisung des Kreishauptmanns im Zusammenhang mit der Guggenmoos'schen Lehranstalt. Außerdem wurde 1831 eine Bestandsaufnahme der Kretinen von der Linzer Landesregierung angeordnet.[96] Leider geht aus den vorhandenen Akten weder hervor, durch wessen Interesse oder durch welche Umstände diese Zählungsaufforderung zustande kam, noch zu welchem Ergebnis sie führte. Nur die Kategorien, nach denen das Verzeichnis angelegt werden sollte, sind bekannt. Das war neben Namen, Adresse und Alter der Kretinen, der »Zeitpunkt, wann der Cretinismus seinen Anfang genommen hat, kurze Andeutungen in der Art und des Grades der Tölpelhaftigkeit mit Hinsicht auf die zurückgebliebene Entwicklung des Körpers und des Geistes; Namen und Alter der ganz gesunden Geschwister; kurze Angabe der Gesundheitsbeschaffenheit und des Alters der leiblichen Eltern.«

Schließlich sollten noch Angaben über die nachgewiesenen oder vermuteten Ursachen gemacht werden, sowie über die Zu- oder Abnahme des Kretinismus.

Es ist wahrscheinlich, daß diese angeordnete Bestandsaufnahme zu keinem oder zumindest keinem vollständigen Ergebnis führte, da ein solches in späteren Schriften erwähnt wäre, insbesondere in der »Physisch-Medizinischen Beschreibung des Herzogthums Salzburg« des Dr. Ozlberger (1844), der als Kreisarzt als erster der mittlerweile 20 Jahre alten Aufforderung nachkam, eine medizinische Topographie Salzburgs zu erstellen. In dieser Schrift gibt es kaum ein Thema, dem keine Beachtung geschenkt wäre, von den Pflanzen bis zur Wirtschaft. Aber in der langen Reihe von Krankheiten sind dem Kretinismus und dem Blödsinn nur zwei Sätze gewidmet und die lapidare Bemerkung, daß sie »häufig« aufträten.

Außerhalb der Alpenländer hat der Kretinismus noch nicht einmal sprachliche Spuren in der Statistik hinterlassen. In einem statistischen Buch der Jahrhundertmitte wurden »Blöde« und »Taubstumme« angeführt. Die Zahl der Blöden sei wegen Abgrenzungsproblemen nicht exakt zu bestimmen. Unter den »Taubstummen« dürfen wir aufgrund folgender Ausführungen auch die Kretinen vermuten: »Die Zahl der Taubstummen in den Alpenländern und Gebirgsgegenden (ist) größer als in den übrigen Theilen der Monarchie. Nahezu ein Vierthel der Taubstummen erweist sich als bildungsfähig.«[97]

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Schwachsinnige in Salzburg nach wie vor weit davon entfernt, als einheitliche Gruppe mit spezifischen Eigenschaften betrachtet zu werden. Soweit sie Aufmerksamkeit erregten, taten sie es als Kretinen, deren wichtigstes Kennzeichen für einige Ärzte nun allerdings ihr Blödsinn war.

Zwei Ansätze einer besonderen Behandlung bzw. Betrachtungsweise ragen heraus; ein auf Förderung gerichteter und ein ausgrenzender.

Der erste, die Gründung einer Kretinenlehranstalt, verdankte sich zwar vielen Zufälligkeiten, man kann aber zusammenfassend sagen, daß er der Hoffnung entsprang, die Erfolge der Taubstummenbildung auf Kretinen übertragen und Kretinismus dadurch verhüten zu können. Die Schule scheiterte am Fehlschlag dieses Versuchs, sowie an der Weigerung der staatlichen Instanzen, das Projekt zu unterstützen.

Der zweite stammte von einem einflußreichen Arzt, der an frühere Kretinismusforschungen anknüpfte und sie radikal in der Weise weiterentwickelte, daß er den Kretinen das Menschsein absprach. Er stellte einem abstrakten Kretin einen abstrakten (Ideal-) Menschen gegenüber. Kretinismus charakterisierte er als Mißverhältnis zwischen vegetativem und Cerebralsystem und wies ihn dem Aufgabengebiet der Psychiatrie zu. Entsprechend seiner Theorie vom Nicht-Mensch-Sein der Kretinen wollte er sie von der menschlichen Gesellschaft isoliert wissen.



[69] Karl Wagner: Gotthard Guggenmoos und seine Lehranstalt in Hallein und Salzburg. In: MGSL 58/1918, S.103-130 und 59/1919, S.43-64. Die Akten befinden sich vorwiegend im SLA, Kreisamt D.8. und Linzer Akten neu 238.

[70] Zitiert nach Wagner 1918, S.115

[71] Vgl. Hilscher, S.102

[72] Vgl. Gerhardt, S.26 f

[73] Johann Joseph von Knolz; Beytrag zur Kenntnis des Cretinismus im Salzburgischen. In: Medizinische Jahrbücher des k.k. österreichischen Staates, I. Band, 1829.

[74] Zitiert nach Wagner 1919, S.51

[75] Zitiert nach Wagner 1919, S.60

[76] Aus einem Brief an den Bürgermeister 1828. Zitiert nach Wagner 1918, S.125

[77] Zitiert nach Wagner 1919, S.52

Das Kreisamt hingegen betont, daß sich's die Lehrer eben gerade nicht angelegen sein ließen; nur aus Gastein werde berichtet, daß zwei sprachbehinderte Knaben mit einigem Erfolg im Unterricht seien.

An dieser Stelle sei auch ein Pfarrer Helminger aus Bramberg erwähnt, nach dem angeblich die 'Helmingsche Lautiermethode' benannt ist. Greinz (1898) schreibt: »Es gelang ihm sogar, Cretins, Blödsinnige und schwerhörige Kinder im Lesen gut zu unterrichten, sodaß seine Schule die beste in ganz Pinzgau war.« (S.100) Ob dies richtig berichtet ist, scheint mir insofern fragwürdig, als in Greinz' Buch noch andere zweifelhafte Angaben zu finden sind und eine 'Helmingsche Lautiermethode' in keiner anderen Schrift erwähnt wird.

Für einen Taubstummenunterricht (nicht für Kretinen) durch örtliche Lehrer und Geistliche wurden in den folgenden Jahren tatsächlich einige Initiativen gesetzt, offenbar aber weitgehend erfolglos, da keine finanziellen Mittel zur Abgeltung des Mehraufwands der Lehrer zur Verfügung standen. Siehe dazu Erwin Wegmayr: Aus den Akten des Landesarchivs. In: Stätte der Habilitation und Rehabilitation. Salzburg Dokumentation Nr.73, 1983, S.108 ff

[78] Siehe dazu Exkurs im nächsten Kapitel.

[79] Hilscher, S.105 f

[80] Zillner 1866, S.242

[81] Im folgenden Abschnitt beziehen sich alle Seitenangaben hinter den Zitaten auf diese Schrift.

[82] Knolz übernimmt den Volksausdruck Fexen, weil dieser eine wirkliche, speziell Salzburger Version des Kretinismus benenne. Seiner Meinung nach drückt der unterschiedliche Sprachgebrauch in den verschiedenen Regionen lauter verschiedene Arten aus. Darin drücke sich eine Volksweisheit aus.

[83] In dieser Funktion trat er mit einer eigenen Broschüre als Verteidiger der Kinderarbeit in den Textilfabriken auf. Diese war seitens einiger Mediziner heftig unter Beschuß geraten, u.a. durch Mauthner, dem Begründer des ersten Kinderspitals. Bis zu 16 Stunden Arbeit, auch nachts, waren keine Seltenheit. Knolz schilderte die sanitären Verhältnisse rosig. 13 Stunden Arbeit seien sehr wenig und förderlich für die körperliche Entwicklung. Kinder unter 12 Jahren würden nur aus Mitleid gegenüber völlig Verwahrlosten eingestellt. Die hohe Sterblichkeit erklärte er damit, daß die Kinder den Keim der Krankheiten bereits mitbrachten. »Vergebens wird man in NÖ diese unglückliche und verkrüppelte Fabriksjugend suchen (wiein England), die zu den philantbropischen Tiraden so mancher Schriftsteller Veranlassung gab.« (Vgl. Elisabeth Wiesbauer: Das Kind als Objekt der Wissenschaft. Wien-München 1982, S.46 f

[84] Vgl. Roswitha Steininger: Gesellschaftsbild und politische Einstellung der Ärzteschaft im Liberalismus. Hausarbeit, Salzburg 1980, S.14 f und

Erna Lesky: Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Graz-Köln 1965.

[85] Maffei 1844, S.1

[86] Maffei 1844, S.136 f

[87] Maffei 1844, S.11

[88] Vgl. Hobsbawm 1962, S.565 ff

[89] Maffei 1844, S.137

[90] Maffei 1844, S.100

[91] Knolz, S.86

[92] Vgl. Schmitt: Statistik des österreichischen Kaiserstaates. Wien 1854, S.261

[93] Vgl. Ozlberger, S.230

[94] Circulare Nr.34/1830, SLA, Kreisamt 212.

[95] Sanitätsbericht 1821, SLA, Kreisamt 212.

[96] Circulare Nr.49/1831, KAS, Akten 22/84.

[97] Schmitt, S.71

EXKURS: ARME, IRRE UND SCHWACHSINNIGE

Armut und Armenpolltik im 19. Jahrhundert.

Die Geschichte der Guggenmoos'schen Lehranstalt hat gezeigt, daß zu dieser Zeit kein öffentliches Geld für die Zwecke einer besonderen Anstalt für Schwachsinnige zu bekommen war. Die Landgerichte wären zwar bereit gewesen, für ihre Kinder zu zahlen, aber die zentralstaatliche Instanz erlaubte es nicht. Nach diesem gescheiterten Versuch verstrichen in Salzburg etwa 70 Jahre, bis eine Schwachsinnigenanstalt gegründet wurde. Dagegen setzte etwa in den benachbarten deutschen Ländern schon um die Jahrhundertmitte eine rege Anstaltsgründung ein.

Wir müssen nach Bedingungen suchen, die solche Unterschiede verständlich machen; die das Klima bestimmten, in welchem die Anstaltsgründer überhaupt aktiv wurden; die die Lebensverhältnisse Schwachsinniger in einer Weise beeinflußten, daß man sie aus ihrer ursprünglichen Umgebung entfernen mußte bzw. wollte.

Einige solche Bedingungen finden wir, wenn wir die Entwicklung von Armut und Armenpolitik im 19. Jahrhundert verfolgen. Arm war der Großteil der Schwachsinnigen schon von der sozialen Herkunft, manche durch sozialen Abstieg.

Nachdem es für Salzburg keine fundierte Analyse der Armenpolitik im 19. Jahrhundert gibt, kann ich nur versuchen, zeitgenössische Informationen in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen. Für den Vergleich zur europäischen Entwicklung stütze ich mich vorwiegend auf Thesen von Ernst Köhler (1979)und Peter Feldbauer (1980).

Wenn hier von einer Rückständigkeit bzw. verzögerten Entwicklung Salzburgs auf ökonomischem und gesellschaftlichem Gebiet die Rede ist, so sind als Vergleichsmaßstab nicht benachbarte Regionen oder Österreich als Ganzes gemeint. 'Fortgeschritten' waren außerhalb Englands immer nur die Hauptstädte und einige wenige industrialisierte Regionen in den europäischen Ländern.

Im Umkreis dieser Zentren war bereits im 18. Jahrhundert Landbevölkerung in großer Zahl entwurzelt worden, und verloren Kleinproduzenten ihre Existenzgrundlage. Bevölkerungsverschiebungen und ein sogenannter Pauperismusstau waren die Folge. Die Staaten reagierten auf diese Entwicklung unter anderem mit zunächst undifferenzierten Zucht- und Arbeitshäusern, dann mit spezifischen Disziplinierungs- und Wohlfahrtsanstalten.

Die Funktion dieser Anstalten bestand einerseits in der Kontrolle und Disziplinierung der Pauperisierten im Dienste der Manufakturen und jungen Industrien, andererseits in ihrer Bewahrung vor vollständiger Verwahrlosung und in diesem Zusammenhang in der Unterbindung einer potentiellen Gefährdung der Stabilität des Sozialgefüges.[98]

Im 19. Jahrhundert verlor die alte staatliche Armenpolitik dort, wo der Kapitalismus halbwegs entwickelt war, Ihre Funktion; es kam erst zu einer Stagnation, dann zu einem Rückzug des Staates aus der Armenfürsorge, zu einem armen- und sozialpolitischen Laissez-faire, zu dessen radikalster Form in der liberalen Ära. (Etwa 60er- und 70er-Jahre, in England schon früher). In manchen Ländern fanden Stagnation und Rückzug unter bürgerlicher Vorherrschaft statt (z.B. England, Frankreich) in anderen noch unter feudaler (z.B. Preußen, Österreich).

Man darf die Politik bzw. die Forderung des Liberalismus nach Laissez-faire nicht in der Richtung mißverstehen, daß der Staat sich aus allen gesellschaftlichen Bereichen zurückziehen sollte, bekämpft wurde nur, was die »freie Entfaltung der Wirtschaftskräfte« hemmte. Das Schlagwort vom Nachtwächterstaat spiegelt auch nur indirekt wider, daß es in Wirklichkeit in allen Ländern zu einer gewaltigen Ausdehnung der Tätigkeit des Staatsapparates gekommen war.[99]

Mit dem armenpolitischen Rückzug des Staates war natürlich die Armut nicht beseitigt und auch nicht die Versorgungskosten, insbesondere für die lokalen Armenverwaltungen. Diese Kosten versuchte man einerseits auf Familien und Angehörige der Bedürftigen und auf die private Philanthropie abzuwälzen, andererseits durch neue Armengesetze zu begrenzen.

Ein Modell dazu, das später auch in Salzburg Anwendung fand, entstand in den 50er-Jahren in Elberfeld und wurde in vielen jungen industriellen Zentren Deutschlands nachgeahmt.[100]

Man teilte die Stadt in Sektoren ein und bediente sich angesehener Bürger als ehrenamtlicher Armenräte, von denen jeder nur eine kleine, überschaubare Anzahl von Armen zu betreuen hatte. Diese Betreuung bestand vorwiegend in einer kleinlichsten Kontrolle und Bespitzelung, mit dem Ziel, die Unterstützung jedem zu verwehren, den man irgendwie für arbeitsfähig hielt, oder dessen Familie ihn noch unterstützen konnte. Alle 14 Tage mußte die Bewilligung für die Unterstützung erneuert werden. Um ein Ausweichen auf den wilden Bettel zu unterbinden, wurde den Bürgern das freie Austeilen von Spenden verboten, sie vielmehr zu regelmäßigen Spenden in die Stadtarmenkasse aufgefordert.

Verbunden war dieses System mit einer neuen Form des Arbeitshauses, das weniger der Arbeitsbeschaffung, als mehr der Abschreckung diente: Arbeitsfähige bekamen nur Unterstützung, wenn sie sich dem Terrorregime im Inneren dieses Arbeitshauses unterwarfen.

Neu an dem System war nicht der Versuch, die offene Armenunterstützung einzuschränken und den wilden Bettel abzuschaffen, solche Versuche waren schon Jahrhunderte alt, neu war die Methode: die bewußte Ausnützung des Klassenhasses, und der Erfolg: Die Ausgaben sanken beträchtlich und anhaltend.[101]

Die Familien und Verwandten, denen der Staat die Verarmten überantworten wollte, waren selbstverständlich nicht in der Lage, die Lasten zu tragen. In das entstandene armenpolitische Vakuum stießen nun eine private Philanthropie und kirchliche Organisationen, ohne es freilich ausfüllen zu können. Mit dem Anspruch, die 'Soziale Frage' oder das 'Pauperismusproblem' zu lösen, trat diese Philanthropie aber auf , insbesondere in den deutschen Ländern; dafür seien die Rettungshausbewegung und die Innere Mission genannt.[102] Die Aktivisten dieser Philanthropie kamen vielfach aus dem Kleinbürgertum und verbanden eine konservative Kritik an den Auswirkungen des kapitalistischen Systems mit viel Angst vor und Unverständnis für die pauperisierten Massen. Die Schriften von Johann Hinrich Wichern, dem Pionier der Rettungshausbewegung, drücken das sehr beredt aus.[103] Im Inneren der Rettungshäuser wurde eine ungemein gehässige Sozialpädagogik und Asozialenpsychologie entwickelt, alles freilich unter der Flagge der Nächstenliebe.

Die konkreten Formen der philanthropischen Wohlfahrtspflege und Propagandatätigkeit in den verschiedenen Ländern und Zeitabschnitten hing stark von der jeweiligen politischen Situation ab. Aber auch wenn sie weniger unterdrückerisch und moralisierend war als in den Rettungshäusern, war Hilfe stets mit der Forderung nach Einhaltung christlicher Tugenden verbunden.

Die Philanthropen mußten den Anspruch, die Soziale Frage zu lösen, bald fallenlassen. Dennoch erfüllte sie meist ein großes Sendungsbewußtsein; dafür stehen Begriffe wie 'Innere Mission' und 'Pioniere'. Kürzlich hat man sie als »Abenteurer des Altruismus« bezeichnet.[104]

Wo nicht mehr die ganze Welt programmatisches Objekt der Hilfe war, wurden es »die Verlorenen, Ausgestoßenen, die Enterbten der Welt, das sind die Obdachlosen, die Arbeitslosen, die am Rande des Abgrunds Stehenden, die mehr oder weniger durch eigene Schuld Verarmten und mit der Verzweiflung Kämpfenden, die Lasterhaften und die wirklichen und halben Verbrecher.«[105]

Zeitweise, besonders um die Jahrhundertmitte, fanden sich unter den Philanthropen auch Ärzte und Pädagogen, die in der Ideentradition der Aufklärung standen,[106] und die 1848 große Hoffnungen auf gesellschaftliche Veränderungen gesetzt hatten, wenn nicht radikal, so zumindest im Bereich des Gesundheits- und Erziehungswesens. Sie kritisierten, daß der Staat sich aus der Verantwortung stahl. Die oben genannten Philanthropen dagegen verstanden ihre Tätigkeit positiv als Alternative zur Staatsfürsorge (und natürlich zum Sozialismus!)

Nicht zu vergessen sind wohlhabende Unternehmer und Adelige unter den Philanthropen, die entweder eigene oder Projekte von Wohltätigkeitsvereinen finanzierten.

Gegen Ende des Jahrhunderts ist ein Übergang zu bzw. eine Verschmelzung der privaten Philanthropie mit einer professionalisierten Jugendfürsorge und Asozialenpädagogik festzustellen. Es kam zum Ausbau eines differenzierten Anstaltensystems, das aber nun öffentlich getragen oder zumindest mitfinanziert war.[107]

Die herrschenden Ansichten über die Armut haben sich im 19. Jahrhundert radikal gewandelt. Früher (regional noch weit ins 19. Jahrhundert hinein) waren Arbeit und Armut verwandte Begriffe. Es gab so etwas wie einen 'Stand der Armut', der ein moralisches Recht hatte, im Bedarfsfalle von der Caritas der Reichen zu leben.[108]

Von der liberalistischen Ideologie wurde das nicht mehr akzeptiert. »Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied!« Wer arm war, arbeitete entweder zu wenig oder konsumierte zu viel. Abschwächend wurde eingeräumt, daß die alten Verhältnisse auch unschuldige Arme erzeugt hätten. Diese Entschuldigung fiel weg, wo die 'Kräfte des Marktes' frei zur Entfaltung kamen.[109]

Die sozialdarwinistischen Theorien rechtfertigten die bestehenden Sozialstrukturen. Wo jede ökonomische Ursache für Armut bestritten wurde, verschwand der Arme tendenziell hinter dem Asozialen, wurde Ausdruck und Mitursache einer (biologisch bedingten) Dekadenz und Minderwertigkeit.[110]

Verfolgen wir nun die Entwicklung in Salzburg. Entwurzelte Bevölkerungsgruppen in größerer Anzahl hat es hier im 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht gegeben. Arme gab es genug, die aber im Rahmen des traditionellen, auf dem Stiftungswesen beruhenden Armenversorgungsystems versorgt werden konnten. Da es nicht viele staatliche Initiativen in der Armenpolitik gegeben hat, kann auch nicht groß von einem staatlichen Rückzug gesprochen werden; es scheint nur, daß staatliche und öffentlich-kommunale Instanzen in die neu entstehenden Probleme kaum eingriffen, als auch hier die 'neue' Armut in Erscheinung trat, die nicht in das alte Versorgungssystem paßte.

Eine Übergangssituation finden wir um das Jahr 1848 in der Stadt Salzburg vor. Die damalige europaweite Agrarkrise (deren Folgen mit ein Anlaß für die März-Aufstände waren) hatte zu Getreidespekulationen und hohen Preisen auf der Schranne geführt. Die Bäcker wälzten die gestiegenen Kosten über den Brotpreis ab, sodaß der tägliche Brotbedarf fast den gesamten Verdienst eines Taglöhners auffraß.[111] Aber nicht nur besitzlose Bevölkerungsteile, auch Handwerker und Kleingewerbetreibende kamen in akute Existenznöte. Die Stadtverwaltung sah sich, wohl aus politischen Gründen, zum Eingreifen veranlaßt. Sie kaufte eine große Menge Getreide an, um einen Vorrat anzulegen und damit spekulative Wucherpreise zu unterbinden. Dann setzte sie einige Bäcker unter Druck, mit diesem billigeren Getreide auch ein billigeres Brot zu erzeugen, das allerdings auch schlechter war. Auf diese Weise sparte man sich eine umständliche und kaum effektive Kontrolle, die eine direkte Subventionierung des Brotpreises für Arme erfordert hätte. Nur wen die Armut dazu zwang, der griff zum schlechten billigen Brot.

Eine ähnliche Initiative scheint es später nicht mehr gegeben zu haben. Der Beamte, auf dessen Vorschläge die genannte Regelung teilweise zurückging, schildert die Zeitverhältnisse sehr plastisch vom Standpunkt des verängstigten (Klein-)Bürgers, wobei ich nicht so sicher bin, ob sich in seine Zustandsbeschreibung nicht auch Fakten mischen, die er zwar kommen sieht, die aber hier noch nicht Realität sind:

»In diesem Moment, wo so viel Zündstoff aufgehäuft und die Entfesselung der untersten Schichten der Staatsgesellschaft zu befürchten ist, kommt der tüchtigste Bundesgenosse in der Wohlfeilheit des Brodes uns zur sicheren Hilfe.« Ihm graut vor der ökonomischen Entwicklung, und er spart nicht mit Kritik an den »Kapitalisten«, die »den Gewinn bloß zusammenhäufen«. Ihm graut vor den neuen Maschinen, »welche vieletausend Hände überflüssig machen, also der arbeitenden Klasse den Erwerb entziehen«, vor »unbeschränktem Handel« und »unbeschränkter Gewerbsfreihei«; vor einer Politik, die die Vermehrung der Stadtbevölkerung durch Zuzug vom Land anstrebt und jedermann das Heiraten gestattet, »ohne irgendeine Garantie für den Unterhalt einer Familie zu verlangen.« Langfristig gilt seine größte Sorge dem Mittelstand, der Stütze der städtischen Gesellschaft. »Es handelt sich darum, mit thätiger Umsicht entsprechende Vorkehrungen zur Sicherung und Erleichterung der Subsistenz der Mittelklassen zu treffen.«[112]

In der Tat nahm die Stadtbevölkerung nach jahrzehntelanger Stagnation seit den 30er-Jahren wieder zu. Ein großes Ausmaß nahmen diese Bevölkerungsverschiebungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts an, wie aus den Statistiken ersichtlich ist: 1860 hatte die Stadt knapp 18.000 Einwohner, etwa 50 %. mehr als in den 30er-Jahren. In den folgenden 50 Jahren bis 1910 verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf 36.000; ebenso jene der Umgebung (Gerichtsbezirk Salzburg) von 16.000 auf 32.000. Im restlichen Teil des Landes hingegen stieg die Einwohnerzahl im gleichen Zeitraum nur um 11 %.[113]

Das Bevölkerungswachstum in der Stadt und ihrer Umgebung verdankte sich fast ausschließlich dem Zuzug vom Land. 1880 waren 70% der Stadtbewohner nicht hier geboren. Einerseits wurden die Menschen durch den wirtschaftlichen Aufschwung der 60er- und frühen 70er-Jahre in die Stadt gelockt. Der Zuzug hielt aber auch an, als es mit der Krise von 1873 mit dem Florieren der Wirtschaft für lange Zeit aus war; allein die Hoffnung auf bessere Arbeit und das allgemein höhere Kulturniveau ließ viele Landbewohner in die Stadt strömen.[114]

In Österreich kam es auf dem Land als Folge der 'Bauernbefreiung' (nach 1848) und der Kommerzialisierung der Landwirtschaft zu einer Differenzierung in reiche Bauernwirtschaften und (oft hochverschuldete) Kleinbauern und sogenannte Häusler. Auch in Salzburg wurde von vielen Zwangsversteigerungen berichtet.[115]

Ob insgesamt die Armut im Land tatsächlich absolut zunahm, ist schwer zu entscheiden, da mit einer veränderten Sensibilität der Zeitgenossen für das Problem der Armut, des Pauperismus zu rechnen ist. In den Schriften ist aber wiederholt von »fortschreitender Verarmung« die Rede.[116] Es entstand jedenfalls eine Armut, die nicht mehr leicht durch das bestehende Stiftungssystem aufgefangen werden konnte. Die rasche Vermehrung der Stadtbevölkerung brachte Wohnungsnot, Mietzinswucher mit sich, Kinder blieben unbeaufsichtigt, die Wirtschaftsflaute nach 1873 erzeugte Arbeitslosigkeit.

Die Probleme zeigten sich vorwiegend im Bereich der offenen Armenversorgung, da sich die Kosten stark erhöhten. Die Administration klagte, daß die Kirche und Privatleute zu großzügig und undifferenziert Almosen verteilten, Arme es daher vorziehen würden, von der Unterstützung und vom Bettel zu leben, anstatt sich eine Arbeit zu suchen. Dem sollte das Armengesetz von 1874 entgegenwirken, indem es einige bisher kirchliche Armenstiftungen unter öffentliche Verwaltung stellte. Der Kirche wurde mancherorts verboten, gesammelte Gelder selbst zu verteilen.

Im Jahre 1893 wurde in der Stadt Salzburg das oben beschriebene Elberfelder System der Armenunterstützung eingeführt.[117] Es hat sich nach Aussagen eines erfahrenen Armenrates »trefflich bewährt«, obwohl es die Kosten nicht senken, sondern nur ein »bedeutenderes Anwachsen der Armenlasten verhindern « konnte. Ohne dieses System wäre es aufgrund einer Novelle des Heimatgesetzes 1901, das die Zuständigkeit der Stadt erweiterte, zu einer Kostenexplosion gekommen.[118]

Im Bereich der geschlossenen Armenversorgung fand man offensichtlich mit den bestehenden Anstalten das Auslangen, trotz der starken Bevölkerungsvermehrung der Stadt. Das dürfte damit zusammenhängen, daß nur wenige der Eingewanderten auch das Heimatrecht erhielten, sodaß sie im Versorgungsfall abgeschoben werden konnten. 1880 waren nur 35% der Einwohner in Salzburg heimatberechtigt.[119]

Insgesamt entstand auch in Salzburg im Laufe der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein armen- und sozialpolitisches Vakuum. Dieses wurde hier weniger von privaten Philanthropen, sondern mehr von der Kirche und insbesondere von kirchlichen Schwesternkongregationen ausgefüllt.

Die größte und aktivste Kongregation waren die Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz von Paul.[120] Erst in den 40er-Jahren in die Diözese Salzburg eingeführt, begannen sie ihre Arbeit in Schwarzach mit der Krankenpflege. Das Jahr 1848 brachte ihnen angesichts großer Ablehnung und Feindschaft in der Bevölkerung fast die Selbstauflösung. In die Stadt durften sie sich überhaupt nicht wagen. »Es ist unglaublich, wie verhaßt die Barmherzigen Schwestern hier sind« schrieb der Superior warnend nach Schwarzach.[121] Neoabsolutismus und Konkordadtszeit brachten ihnen jedoch einen großen Aufschwung. Sie übernahmen den Inneren Dienst im St. Johanns Spital, im Irrenhaus und Leprosenhaus, arbeiteten in oder gründeten selber Versorgungshäuser, Armenasyle, Kinderbewahranstalten und Mädchenschulen. 1881 waren in 47 Anstalten 314 Schwestern tätig.

Andere Kongregationen und kirchliche Vereine gründeten Erziehungsanstalten, Kinderasyle und einen Kindergarten.[122]

Den Liberalen war der große Einfluß der geistlichen Schwestern und ihre Allgegenwart in den Landesanstalten stets ein Dorn im Auge.[123] Aber es gab keine realistische Alternative, weltliche Arbeitskräfte wären bedeutend teurer gekommen. Die Administrationen waren ganz froh, die Schwesternkongregationen zu haben, da sie ihnen de facto viel soziale Verantwortung abnahmen.

Welche Verbindungslinien gibt es von der skizzierten Entwicklung von Armut und Armenpolitik zur Lage der Schwachsinnigen und zur Schwachsinnigenfürsorge?

1. Eine direkte: Dort, wo bäuerliche Strukturen zerbröckeln und in den Städten Familien von Armen von Auflösung bedroht sind, verliert ein Teil der Schwachsinnigen traditionelle Existenzmöglichkeiten. Zusätzlich gehen durch die Intensivierung der Arbeit und den Konkurrenzdruck am Arbeitsmarkt früher vorhandene eigene Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten verloren. Reine Armenunterstützung ist da vielfach zu wenig; die Schwachsinnigen bräuchten familiäre Stütze, oft Pflege.

Da Staat und Kommunalverwaltungen keine Initiativen setzen, auf diese Entwicklung mit spezifischen Fürsorgemaßnahmen zu antworten, kommen viele Schwachsinnige in Armen- und Versorgungshäuser. Jene, die Unruhe schaffen, erregen auch die öffentliche Aufmerksamkeit und werden in Irrenanstalten gesteckt.

Da sich die skizzierten Umstrukturierungen in Salzburg vergleichsweise langsamer vollzogen, haben wir hier auch eine mögliche Erklärung dafür, daß sich der Bedarf an Anstaltsunterbringung in Salzburg erst relativ spät zeigt. Während um 1900 in Deutschland bereits Massenanstalten mit 1000 Insassen und mehr existieren, leben die meisten schwachsinnigen Salzburger noch zu Hause. Selbst von den sogenannten Idioten, den Schwerstbehinderten, sind nur 12 % in Anstalten, 16 % sind in der Einlage und 72 % zu Hause.

2. Eine indirekte: Initiativen von privater Seite für eine spezifische Behandlung und Förderung Schwachsinniger, die oft weniger fürsorgerisch, sondern pädagogisch und medizinisch motiviert sind, finden keine öffentliche finanzielle Unterstützung. Die Initiatoren sind daher entweder auf das eigene Vermögen und private Spenden angewiesen oder müssen ihre Anstalten auf Angehörige Wohlhabender beschränken. Nur vereinzelt zeigen sich in Europa staatliche Stellen am medizinischen Aspekt einer besonderen Behandlung interessiert, etwa in Sachsen und Württemberg, und in den 50er-Jahren die neoabsolutistische Regierung in Wien. Ausgehend von der berühmten Kretinenanstalt des Schweizer Arztes Guggenbühl auf dem Abendberg bei Interlaaken (1841-1863) wird in ganz Europa der Gedanke einer Heilung des Schwachsinns, im speziellen des Kretinismus, aktuell. Auch viele österreichische Ärzte setzen sich dafür ein und finden bei Innenminister Bach Gehör. Beinahe kommt es zur Gründung einer staatlichen Kretinenanstalt; die Pläne liegen bereits auf dem Tisch.

Allerdings müssen die Hoffnungen auf Heilung des Kretinismus bald aufgegeben werden. Und an einer Anstalt, die nur pflegerische und fürsorgerische Aufgaben erfüllt, ist der Staat nicht interessiert.[124]

3. Die Gründung und Führung von Schwachsinnigenanstalten wird daher genauso wie die Armenwohlfahrt zu einer Domäne der privaten Philanthropie, mit ähnlichem Personenkreis als Aktivisten und ähnlichen ideologischen Positionen. Auch hier finden wir das Sendungsbewußtsein, Guggenbühl mag als Prototyp dafür stehen. In Deutschland sind z.T. unmittelbare institutionelle Verbindungslinien festzustellen: Etliche Schwachsinnigenanstalten entstehen direkt aus Rettungshäusern.

Das Milieu von Armut, Verwahrlosung und Schwachsinn geht eine enge Verbindung ein. Für viele Anstalten besteht die Hauptaufgabe darin, die Kinder aus diesem Milieu der Unterschichtsfamilien herauszuholen, um sie so zu retten. Daß in den deutschen Ländern eine überaus aktive private Philanthropie tätig ist, die schon früh eine Verwahrlostenpädagogik entwickelt, mag mit ein Grund dafür sein, daß Deutschland jenes europäische Land wird, das im 19. Jahrhundert die meisten Schwachsinnigenanstalten hervorbringt.[125]

In Salzburg sind in den späteren Schwachsinnigenanstalten wieder vorwiegend die geistlichen Schwestern tätig, die ja auch einen großen Teil der privaten Wohlwahrtspflege tragen. Dies gilt auch für einen Teil der Anstalten im übrigen Österreich. Ein sehr praktischer Unterschied zu deutschen Anstalten ergibt sich damit. Dort war das Pflegepersonal meist männlich.

4. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die öffentlichen Verwaltungen bereit sind, entweder selbst Anstalten zu gründen oder private mitzufinanzieren, ist die Masse der armen Schwachsinnigen teils durch die herrschenden sozialdarwinistischen Ideologien in das Milieu von Asozialität, Verwahrlosung und Dekadenz herabgedrückt. Nicht Fürsorge (unter christlichen Vorzeichen), sondern 'Reinigung der Gesellschaft' bestimmt nun die massenhafte Anstaltsinternierung von Schwachsinnigen.

Die Internierung der Irren

Dr. Ignaz Harrer, Altbürgermeister von Salzburg und als liberaler Abgeordneter des Landtags mitverantwortlich für die Errichtung der neuen »Landesheilanstalt für Geisteskranke« 1898, beginnt einen Rückblick auf die Geschichte der Psychiatrie mit einem Zitat des Leiters jener Anstalt in Deutschland, die für Salzburg als Vorbild diente:[126]

»Die Geschichte der Psychiatrie bildet bis zum Anfang dieses Jahrhunderts leider ein dunkles Blatt in der Geschichte der ärztlichen Wissenschaft, wie in der menschlichen Kulturgeschichte überhaupt. «[127]

Harrer fährt fort: »Der trostlose Zustand der Irrenverwahrung dauerte trotz vereinzelter Ausnahmen im allgemeinen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, und wurde von einer neuen, für die Geisteskranken segensreichen Aera ... abgelöst, als die Humanität in die 'Tollhäuser' eindrang und der Ruf nach Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten und ihrer Gemeinschaft mit Zuchthäuslern, zur Errichtung besonderer Asyle unter der Leitung sachverständiger Ärzte führte, die sich nunmehr v.a. die Heilung der Heilbaren zur vornehmsten Aufgabe machten.«[128]

Laut Köhler wird diese Auffassung in fast allen zusammenfassenden Darstellungen des Irrenwesens reproduziert. Sie sei aber ein Mythos. Daß ihm selbst kritische Autoren, die die Entstehung des Krankenhauses für Irre als einen schwierigen, durch vielfältige Hindernisse und Widersprüche verzögerten Prozeß darstellen[129], teilweise erliegen und eine tiefgreifende Reform des öffentlichen Irrenwesens im 19. Jahrhundert annehmen, liege daran, daß diese Autoren verschiedenen psychiatrischen Modellen und Reformforderungen, sowie dem Interesse einer »geschwätzigen Philanthropie« zu große Bedeutung beimäßen, die wirkliche Lage der Irren inner- und außerhalb der Anstalten aber vernachlässigten.

Michel Foucault zieht den Schleier der 'Befreiung' von den Modellasylen: »Das Asyl des positivistischen Zeitalters, für dessen Gründung man Pinel rühmt, ist kein freies Feld der Beobachtung, der Diagnose und der Therapie, sondern ein juristischer Raum, in dem man angeklagt, beurteilt und verurteilt wird, und aus dem man nur durch die Wendung dieses Prozesses in psychologische Tiefe, das heißt in die Reue, befreit wird. Der Wahnsinn wird im Asyl bestraft, selbst wenn er außerhalb freigesprochen wird. Für lange Zeit und mindestens bis zu unserer Epoche wird er in einer moralischen Welt eingekerkert.«[130]

Köhler geht noch weiter: daß überhaupt Ärzte auf medizinische Art sich den Irren widmeten, blieb im wesentlichen ein Privileg Wohlhabender, wie etwa im berühmten englischen 'Retreat' und einigen psychiatrischen Privatrefugien, oder durch klassenmäßige Differenzierung im Inneren, wie etwa in Hanwell, der Musteranstalt für das 'No-Restraint'.[131]

Daß die großen Verwahrungszentren für die armen Irren keine Krankenhäuser, sondern »vielmehr Zwangsinstitutionen eines besonderen Typs oder für Arme einer besonderen Kategorie sind, wird unmittelbar an der subalternen Bedeutung der Ärzte in ihnen erkennbar. ... Sie dringen in die Anstalten ein (und zwar in einem langwierigen und mühsamen Prozeß professionellen Bodengewinns), aber sie beherrschen sie nicht - jedenfalls nicht als Ärzte und nach therapeutischen Gesichtspunkten. «[132]

Die These (oder der Mythos) von der Befreiung der Irren Anfang des 19. Jahrhunderts setzt diese in Gegensatz zur vorhergehenden wahllosen Internierung der Irren, zusammen mit Sträflingen, Siechen, Armen etc. Selbst Foucault, der die Befreiungsthese bekanntlich nicht teilt, spricht von der 'Großen Gefangenschaft' im 17. und 18. Jahrhundert. Diese Internierung hat es gegeben. Aber Köhler kommt zu der Ansicht, daß jene in den Zucht- und Arbeitshäusern eingesperrten Irren im Verhältnis zur Gesamtzahl der Irren nur eine verschwindende Minderheit waren, und daß erst im 19. Jahrhundert die massenhafte Einsperrung der Irren erfolgte.[133]

Für Deutschland konstatiert er eine frühe Phase bis 1860, in der das Anstaltensystem nur zögernd ausgebaut wurde und die staatlichen und politischen Instanzen größere finanzielle Auslagen zu vermeiden suchten.

» Wenn in dieser Zeit überhaupt eine Anstalt eingerichtet und die Sache nicht zum Teil über Jahrzehnte hinweg verschleppt wird, dann meist in einem alten, verlassenen Bau«, der den Vorstellungen der zeitgenössischen Psychiater in den meisten Fällen nicht entsprach. Die Mehrzahl der Anstalten sei aber erst nach 1860 (bis etwa 1910) errichtet worden. »Seit den 60er-Jahren ... werden großen Neubauten typisch - auch jetzt nicht nach den Anweisungen der Wissenschaft, sondern für die Funktion, möglichst viele Irre möglichst billig unterzubringen, konstruiert.«[134]

Das überfüllte Irrenhaus, das alle therapeutischen Fortschritte zunichte machte, war auch die Hauptproblematik, die der zeitgenössischen Diskussion über Irrenreform zugrunde lag.

Den Ausbau des Anstaltensystems in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts kann man auch anhand der österreichischen Statistik erkennen.[135] In der Österreichischen Reichshälfte wurden allein in den letzten drei Jahrzehnten 24 Irrenanstalten neu gegründet.

1910 war der Ausbau im wesentlichen abgeschlossen. Es gab 45 Anstalten mit 40.000 Insassen; das waren über 60% der registrierten Irren.

Als Motor für den sukzessiven Ausbau des staatlichen Anstaltensystems läßt Köhler weder das oft postulierte soziale Gewissen, noch irgendwelche Fernwirkungen der Aufklärung gelten. Vielmehr sieht er in diesem Ausbau das nicht gewollte aber notgedrungene Reagieren der staatlichen Instanzen auf eine Folge ihrer eigenen A r m e n politik: Einerseits weigern sie sich, in den Prozeß der Verarmung wirkungsvoll einzugreifen und entziehen einem Großteil der schon Pauperisierten vermittels eines abschreckenden Versorgungssystems die materielle Hilfe; die Familien, die Verwandten oder die private Philanthropie sollen zahlen. Andererseits sind in den Armenvierteln der Städte und Industriezentren die Familien in Auflösung begriffen, alle Teile in die Produktion oder in den Bettel eingespannt. In dieser Situation »wird es für die arbeitenden Klassen immer schwieriger, ihre Schwerkranken selbst zu versorgen, zu pflegen und zu beaufsichtigen. Die Schwelle der Überlastung und des Unerträglichen ist schnell erreicht.«[136]

Am frühesten und für die Öffentlichkeit am problematischsten war diese Schwelle bei den unruhigen, 'gefährlichen' Irren erreicht. Selbst leichtere Störungen, die früher sozial bewältigt werden konnten, machten einen Kranken dann asozial.

Die Tendenz ist unverkennbar, die beschränkten Aufnahmekapazitäten eben diesen 'gefährlichen' Irren und den akuten Zusammenbrüchen vorzubehalten, die ruhigen und chronischen Fälle aber, sowie die 'harmlosen Idioten' entweder doch den Familien oder aber den Armen- und Versorgungshäusern zu überantworten.

Im allgemeinen ergab sich in den ökonomisch entwickelteren Gebieten und städtischen Ballungszentren früher die Notwendigkeit des Ausbaus der Irrenanstalten. So ist es auch verständlich, daß gerade England, das Land mit der stärksten Lokalverwaltungstradition und dem rigorosesten armenpolitischen Laissez-faire, als erstes an den Aufbau eines gesetzlich geregelten und bürokratisch zentralisierten Irrenwesens ging.[137]

Zum Verhältnis von Irrenverwahrung und akademischer Psychiatrie stellt Köhler fest: »Nicht die Psychiatrie bestimmt die Anstalten, sondern die Anstalten bestimmen die Psychiatrie. «[138]

Das erste Irrenhaus in Salzburg hatte Hieronymus im Hintertrakt des Bruderhauses errichten lassen. Dem Stadtphysikus zufolge befanden sich dort 1804 nicht nur »Wahnsinnige allein, sondern auch Lappen, Stumme und auch verdächtige oder auch bestättigte Polizeyverbrecher«. Die Nahrung sei so karg, daß die »Reconvaleszenten größtentheils bis zu ihrem Tode abgenährt werden. Wird der Arzt mehr Macht und Kraft zu wirken in diesem Spitale erlangen, so sind mehrere Auslagen nothwendig, aber auch mehrere zweckmäßige Ordnungen zu erhoffen. « Als Behandlung eines ausgebrochenen Wahnsinns schlug er »Zwang, Isolierung der Person, angemessene Diät, und angemessene psychologische Benützung der helleren Zwischenzeiten« vor.[139]

Mit der Übersiedlung der Anstalt 1818 in den Kammerlohrhof in Mülln wurde zwar die Zahl der verfügbaren Plätze auf 17-19 erweitert, aber die inneren Zustände hatten sich für die Insassen nicht gebessert, was auch im Sanitätsbericht 1819 kritisiert wurde. Die Lage des Hauses sei zwar gut, aber »in seiner inneren Einrichtung nicht sehr lobenswerth, es sieht allzu sehr einem Gefängniß ähnlich, und wenn es auch immerhin nothwendig ist, daß Menschen, die durch ihren Wahnsinn anderen gefährlich werden können, abgesondert und gut verwahrt werden müssen, so ist es keineswegs darum erwiesen, daß dies in kleinen kerkerähnlichen Stübchen geschehen müsse; ... Ein anderer Übelstand besteht darin, daß die Irren, als solche, eigentlich keiner ärztlichen Behandlung sich erfreuen, und diese nur dann genießen, wenn sie körperlich erkranken.«[140]

Diese Klagen der Kreisärzte über das Irrenhaus finden sich noch in mehreren Sanitätsberichten bis 1849. Im Grunde änderte sich trotz einiger Verbesserungen nichts. Obwohl in diesen Berichten das Irrenhaus immer unter der Rubrik 'Heilanstalten' behandelt wird, sagen die Berichterstatter selbst, daß von einer Heilanstalt eigentlich keine Rede sein könne. Die meisten Insassen starben, nur wenige wurden als 'geheilt' entlassen.

Bis 1859 war das Irrenhaus offiziell nur für Bewohner der Stadt Salzburg zuständig; Arme wurden auf Kosten des Irrenfonds verpflegt. Da aber offensichtlich auf dem Land das Problem tobender Irrer zunehmend dringlicher wurde, nahm man ab etwa 1840 auch Auswärtige auf, soweit Platz vorhanden.[141]

In den zehn Jahren nach 1848 kam es zu wichtigen Veränderungen, wohl als Folge der jahrelangen Forderungen liberal gesinnter Ärzte.

Die Kapazität des Salzburger Irrenhauses wurde durch Erweiterungsbauten und Adaptierung angrenzender Gebäude (Knabenwaisenhaus) auf 45 Plätze erhöht.

Weiters wurde der junge Dr. Valentin Zillner als provisorischer Irrenarzt angestellt. Leiter der Anstalt blieb allerdings der Direktor der Landesfürstlichen Stiftungen. Zillner unternahm 1853 eine Studienreise zu mehreren deutschen Irrenanstalten, sowie nach Prag und Wien.

Nach der Niederlage der revolutionären Kräfte erfuhr die Kirche in den 50er-Jahren eine allgemeine Stärkung und mit ihr die jungen Schwesternkongregationen. 1856 übernahmen die Barmherzigen Schwestern den Inneren Betrieb des Irrenhauses, und zwar »Beaufsichtigung, Beköstigung und Pflege der Irren, die Aufrechterhaltung der Ordnung und Disziplin im Hause«, wie im Statut von 1859 festgehalten wurde.

Nunmehr war das Irrenhaus endgültig eine Landesanstalt. Für einige Jahre scheint sie den Ansprüchen Zillners und dem Ausmaß des gesellschaftlich artikulierten Bedürfnisses nach Absonderung von Irren entsprochen zu haben. Per Statut war man abgesichert. Die Anstalt war ausdrücklich nur für solche bestimmt, die »noch eine Heilung erwarten" ließen oder die für die »öffentliche Sicherheit gefährlich« waren. »Unheilbare aber ruhige und ungefährliche Irrsinnige« konnten auch gegen den Willen der Gemeinden an diese zurückgegeben werden.[142]

Die unruhigen Kranken blieben das Hauptproblem der Anstalt, deren Ruhigstellung die Hauptaufgabe des Irrenarztes. In seinem Bericht von 1856 betonte er besonders die lauen und kalten Bäder, die er viel häufiger anordne als dies andernorts bisher üblich, und die viel zur Beruhigung in der ganzen Anstalt beigetragen hätten. An zweiter Stelle nannte er Opiate »zur Beruhigung und Heilung von Melancholien und Tobsüchtigen«; schließlich auch »mechanische Mittel«. Die durchschnittliche Verweildauer jedes Patienten betrug 211 Tage.[143]

Die folgenden Jahrzehnte bis zur Eröffnung der neuen Landesheilanstalt (1898) waren einerseits von der rapiden Zunahme des Bedarfs an Anstaltsunterbringung Irrsinniger gekennzeichnet, andererseits von der improvisierten Verwaltung dieses Zustandes durch die verantwortliche Instanz (Landtag und Landesausschuß) und dem Hinauszögern einer tragbaren Lösung.

Von 1860-1890 war die Landesvertretung stets bemüht, die billigste aller Notlösungen zu praktizieren. Wohl legte Zillner nach Aufforderung 1866 einen detaillierten Bericht mit drei alternativen Lösungsvorschlägen vor, die der Landtag jedoch ablehnte und stattdessen versuchte, Irre im Leprosenhaus und in der Privatpflegeanstalt Schernberg unterzubringen. Außerdem nahm man Verhandlungen mit Wien, Graz, Linz und Innsbruck auf und erreichte für einige Jahre die Abgabe von bis zu 60 Irren nach Niedernhart bei Linz. Als dort kein Platz mehr zur Verfügung stand, wich man vorübergehend nach Graz-Feldhof aus.

Eine Zwischenbilanz 1880 ergab: 45 Salzburger Irre im Salzburger Irrenhaus; 10 im Leprosenhaus; 19 in Schernberg und 13 in Feldhof.[144]

Da auch Feldhof auf die Dauer keine Plätze zur Verfügung stellen konnte, wurde Schernberg zur vorrangigen Abschiebestation: 1890 befanden sich dort nicht weniger als 76 Irre, davon drei Viertel als 'unruhig' klassifiziert. Die ganze ärztliche Versorgung bestand in einer wöchentlichen Visite des St. Veiter Wundarztes.

Zunächst hatte der Landtag die Sache noch in jeder Session behandelt - und verschoben. Von 1881-1888 ruhte sie aber völlig. Die Größenordnung des Problems und die Unmöglichkeit einer weiteren lokalen 'Selbsthilfe', dies drückte sich 1892 in 70 Petitionen der Gemeinden an den Landtag aus, ließ den Landtag wieder aktiv werden. Als weitere Beschleunigungsgründe wurden genannt: die skandalisierte öffentliche Meinung über die Zustände in Schernberg und in der familiären Irrenpflege; aber auch die Tatsache, daß »Kranke aus besseren sozialen Ständen« in Salzburg überhaupt nicht versorgt werden konnten.[145]

Mit Beginn der 90er-Jahre wurde an die konkrete Planung der neuen Irrenanstalt geschritten, die dann rechtzeitig zum kaiserlichen Regierungsjubiläum 1898 fertiggestellt war.

An diese Anstalt knüpften sich große Hoffnungen, gerade auch seitens des neuen Irrenarztes Dr. Schweighofer. Es sollte nun endlich eine H e i l anstalt werden, mit ärztlicher Leitung, konstruiert nach dem Pavillion- und landwirtschaftlichen Kolonialsystem neuerer deutscher Anstalten. Angesichts der bisherigen Zustände hätte eine Verwirklichung der Konzepte für die Betroffenen tatsächlich eine -wenn auch 100 Jahre verspätete- 'Befreiung' bedeutet. Aber die Wirklichkeit sah anders aus, wie wir den Klagen des Direktors entnehmen können.[146]

Zum ersten umfaßte die landwirtschaftliche Kolonie nur einen kleinen Teil der Anstalt. Zum anderen blieb das Problem der unruhigen Kranken, die zwei Drittel aller Patienten ausmachten. Schuld daran war laut Schweighofer die Armentaxe, die die Gemeindevorstehungen dazu bewegte, die Irren erst bei fortgeschrittenem Stadium der Krankheit, wo aber nur noch geringe Heilungsaussichten bestünden, einzuweisen und sie viel zu früh wieder abzuholen. Damit im Zusammenhang sei das Problem der kriminellen Kranken ein drückendes; diese seien gar nicht wirklich krank, die Gemeinden würden sie aber gerne los, und im Inneren der Anstalt machten sie alle Bemühungen zunichte, manche Stationen offen oder halboffen zu führen. Die Anstalt werde das Odium des Irrengefängnisses nicht los.

Bedenkt man, daß außerdem etwa 170 chronische Kranke in den reinen Pflegeanstalten Leprosenhaus, altes Irrenhaus und Schernberg untergebracht waren, muß man feststellen, daß sich für die Mehrzahl der Salzburger Irren die Lage wohl verändert, nicht aber grundlegend gebessert hatte.

Schwachsinnige wurden im 19. Jahrhundert nur gelegentlich in Irrenanstalten gesteckt, wenn sie nämlich ein öffentliches Ärgernis darstellen. Die Sanitätsberichte von 1856 und 1857 nennen erstmals Zahlen für das Salzburger Irrenhaus. Dort waren zwischen 8 und 11 Schwachsinnige, durchwegs Dauerpatienten.

Das systematisierte Wissen, das die Psychiater über Schwachsinn zusammentrugen, wurde meist aus Beobachtungen, an solchen psychiatrisierten Idioten gewonnen. In Salzburg waren die Irrenärzte Zillner und Schweighofer die einzigen, die sich in der 2. Jahrhunderthälfte wissenschaftlich zum Thema Schwachsinn zu Wort meldeten.

Laut Sanitätsstatistiken betrug die Zahl der »Blödsinnigen« im Salzburger Irrenhaus bis 1899 nie mehr als 13, nahm dann aber rasch zu (43 im Jahre 1910). Nach der diagnostischen Unterteilung in 'Idiotie' und 'Imbezillität' für schwerst- und mittelstark Behinderte (seit 1895) waren es vorwiegend letztere, deren Zahl stark anstieg.



[98] Vgl. Ernst Köhler: Arme und Irre. Berlin 19791 S. 16 ff

[99] Vgl. Hobsbawm 1962, S.384 f

[100] Vgl. Köhler, S.35 ff und Christoph Sachße/Florian Tennstedt: Jahrbuch der Sozialarbeit 4. Reinbek 1981, S.229-232

[101] Vgl. Kühler, S.37

[102] Vgl. Kühler, S.108 und 140

[103] Vgl. Kühler, S. 110

[104] Hartmut Dießenbacher: Altruismus als Abenteuer. In: Sachße/Tennstedt, S.272-298

[105] William Booth, zitiert nach Dießenbacher, S.273

[106] Vgl. Wiesbauer, S.147

[107] Vgl. Feldbauer, S.13

[108] Vgl. Feldbauer, S.17

[109] Vgl. Köhler, S.79

[110] Vgl. Köhler, S.74 ff

[111] Vgl. Tettinek: Zur Zeit der Noth ein wohlfeiles Brod. Salzburg 1848.

[112] Tettinek 1848, S.7

[113] Vgl. Zillner 1881 b, S.137und 50 Jahre Landtag. Festschrift. Salzburg 1911, S.10

[114] Vgl. Zillner 1881 b, S.141

[115] Vgl. Hans Hautmann/ Rudolf Kropf: Dieösterreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945. Wien 1976, S.36 und Beiträge zur Kenntnis von Stadt und Land Salzburg, S. 312

[116] Vgl. 50 Jahre Landtag, S.447; Greinz, S.215; Gnilsen, S.147 f

[117] Siehe Josef Pollack: Das erste Jahr der neuen Armenpflege in Salzburg. Salzburg 1894 und Armenordnung für die Landeshauptstadt Salzburg 1892.

[118] Vgl. Alois Lackner: Die öffentliche offeneArmenpflege der Stadt Salzburg 1897-1903. Salzburg 1904, S.20

[119] Zillner 1881 b, S.139 f

[120] Siehe Festschrift: Die Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul in der Erzdiözese Salzburg. Salzburg 1982.

[121] Festschrift, S.7

[122] Vgl. Christian Greinz: Das sociale Wirken der Katholischen Kirche in der Erzdiözese Salzburg. Wien 1898.

[123] Vgl. Harald Gnilsen: Ecclesia Militans Salisburgensis. Kulturkampf in Salzburg 1848-1914. Wien-Salzburg 1972, S.208 ff

[124] Vgl. Hilscher 1930 und Meyer 1973.

[125] Ein Überblick über alle Anstalten findet sich in: Bösbauer/Miklas/Schiner: Handbuch der Schwachsinnigenfürsorge. Wien 1909.

[126] Preußische Provinzial-Irrenanstalt 'Rittergut Alt-Scherbitz'.

[127] Ignaz Harrer: Das Irrenwesen im Herzogthum Salzburg. In: MGSL 42/1902, S.3 f

[128] Ignaz Harrer: Das Irrenwesen im Herzogthum Salzburg. In: MGSL 42/1902, S.3 f

[129] Z.B. Klaus Dörner: Bürger und Irre. Frankfurt/Main 1969.

[130] Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt/Main 1969, S.527

[131] Vgl. Köhler, S.154 und S.182, Anmerkung 33.

[132] Köhler, S.161

[133] Vgl. Köhler, S.153

[134] Köhler, S.155

[135] Siehe Birgit Bolognese-Leuchtenmüller: Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur. Gesundheits- und Fürsorgewesen in Österreich 1750-1918. Wien 1978, S.266-268

[136] Köhler, S.156

[137] Vgl. Köhler, S.157 ff

[138] Köhler, S.162

[139] Harrer, S.14 f

[140] Sanitätsbericht 1819. SLA, Kreisamt 212, 213.

[141] Vgl. Harrer, S.18

[142] Statut für die Irrenanstalt in Salzburg 1859. KAS, Akten 22/84.

[143] Sanitätsbericht 1856.

[144] Vgl. Harrer, S.29

[145] 50 Jahre Landtag, S.337 ff

[146] Josef Schweighofer: Landesheilanstalt für Geistes- und Gemütskranke 1898-1908. Salzburg 1909.

DIE BESONDERUNG WIRD ZUR AUSSONDERUNG

Zählungen und andere administrative Maßnahmen.

Nachdem die Bemühungen vieler österreichischer Ärzte um die Errichtung von staatlichen Kretinenanstalten Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl an der Erschütterung des Glaubens an die Heilbarkeit des Kretinismus als auch an der sozialpolitischen Verweigerung des Staates gescheitert waren, wurde es in Österreich wieder relativ still um die Kretinen und Schwachsinnigen. Ganz still konnte es nicht werden, weil sie einfach da waren und zunehmend Probleme schufen.

Als Folge der Forderung nach Kretinenanstalten und vorbeugenden Maßnahmen wurde 1857 die erste gesamtösterreichische Kretinenzählung durchgeführt.[147] Erfaßt sollten nur die Kretinen im eigentlichen Sinn werden, also nicht alle Schwachsinnigen. Das Ministerium des Inneren hielt sich dabei an die Anweisungen der Ärzte. Organisatorisch wurde die Zählung per Erlaß an die Landesregierungen eingeleitet, die den Auftrag an die Bezirksämter, die Stadtgemeindevorstehungen und das öffentliche Sanitätspersonal weiterleiteten und die Kirche um Mitarbeit ersuchten. Drei Kategorien von Kretinen sollten erfaßt werden. Um den Zählern die Aufgabe zu erleichtern, wurden folgende Merkmale angegeben:

»1. Vollkretinen, meistens mit ausgeprägter kretinöser Entartung der Körperkonstitution, ohne Sprache und Fähigkeit der Verständigung und mit fast vollständigem Mangel aller psychischen Funktionen, also Blödsinn in der Form des Automatismus.

2. Halbkretinen, meistens mit ausgeprägtem, zuweilen mit nur angedeutetem kretinösen Charakter des Körperbaus, mit Iallender Sprache oder Sprachlosigkeit, aber mit Fähigkeit, sich den Angehörigen durch Gestikulationen verständlich zu machen, mit stumpfer Intelligenz, aber mit FortbiIdungsfähigkeit zu mechanischen Arbeiten und selbst bis zu einer wenngleich immerhin beschränkten Entwicklung der psychischen Funktionen.

3. Geistig Gesunde mit kretinöser Färbung, theils mit einzelnen, an die Kretinen erinnernden Schwächen der psychischen Vorgänge: Trägheit, verlegenem, blöden Benehmen, undeutlicher Sprache, schwachem, willenlosen Charakter; theils mit einer Andeutung kretinenartiger Körperkonstitution und selbst mit vereinzelten ausgeprägten Symptomen derselben: alte Gesichtszüge mit vielen Runzeln, bei grinsender Freundlichkeit; breiter, dicker Mund, platte Nase, Kropf, dicker unförmlicher Kopf, borstige häßliche Haare, schmutzige Hautfarbe usw.«[148]

Von den Ärzten war diese Zählung als erster notwendiger Schritt für vorbeugende und medizinische Maßnahmen gedacht gewesen. Daraus wurde aber bekanntlich nichts, wofür auch das Urteil der Akademie der Wissenschaften, v.a. Skodas, mitverantwortlich war. Letzterer hatte immerhin noch eingeräumt, daß an Kretinismus erkrankte K i n d e r zu retten seien und für diese deshalb öffentliche Einrichtungen analog den Kinderbewahranstalten zu schaffen seien. Aber auch dazu kam es nicht.

So blieb die Zählung weitgehend ohne praktische Wirkung. Allerdings wurde von da an der Brauch, die Kretinen zu zählen, beibehalten. Dies geschah im Rahmen der jährlichen Sanitätsberichte und fand seinen ordnungsgemäßen Niederschlag in den Sanitätsstatistiken.[149]

Zum Teil waren diese Statistiken mit Details versehen, die einen dahinterstehenden Maßnahmenplan erwarten ließen. So wurde nach der Zahl der privat, in Versorgungshäusern und Irrenanstalten verpflegten Kretinen gefragt; nach der Zahl der zur Arbeit verwendbaren und arbeitsunfähigen; nach jenen, in deren Familien noch mehr Kretinen vorkamen; nach der Häufigkeitsverteilung in den Altersklassen.

Aber so ein Plan existierte nicht. Die Zählungen blieben daher ein rein bürokratischer Akt. Entsprechend ungenau wurden sie auch vom örtlichen Sanitätspersonal durchgeführt.

Das geht aus dem Bericht des Prager Arztes Dr. Klebs hervor, der 1876 Salzburg zwecks Untersuchungen über den Kretinismus besuchte.[150] Die angegebenen Zahlen seien in der Regel zu hoch. Die Schuld an diesen -für wissenschaftliche Auswertungen völlig unbrauchbaren- fehlerhaften statistischen Angaben wollte er nicht den örtlichen Ärzten geben, die sich im Gegenteil sehr kooperativ und engagiert gezeigt hätten, sondern dem Staat, der schlechte Voraussetzungen biete: Die sachkundigen Bezirksärzte seien überarbeitet, das mitwirkende Sanitätspersonal, die Verwaltungsbeamten und die Pfarrer jedoch diagnostisch ungeübt. Durch die Reorganisation des Sanitätswesens seien die Probleme noch gestiegen, da überall Ärztemangel herrsche und die Bezahlung schlecht sei. »Gebet dem Arzte eine selbständige Stellung und den ihm gebührenden Einfluß in den Gemeinden und k.k. Behörden, so werdet ihr Organe haben, welche gerne in ihrem Kreise für das öffentliche Sanitätswesen mitwirken werden.«[151]

Um dem Zählungsdurcheinander abzuhelfen, schlug Klebs die regelrechte Registrierung und Evidenzhaltung jedes einzelnen Kretinen vor, nämlich mit Hilfe von Zählblättchen, wie sie in der Schweiz, neuerdings auch in Deutschland bereits eingeführt seien. Diese Blättchen sollten vom Namen und Wohnsitz, über Körpermerkmale, bis zur Sprach- und Hörfähigkeit alle individuellen Daten enthalten.

Es hat den Anschein, als sei sein Vorschlag nie oder erst spät aufgegriffen worden. Ein Landes-Sanitäts-Gesetz, das u.a. auch die »Evidenzhaltung der nicht in öffentlichen Anstalten untergebrachten Findlinge, Taubstummen, Irren und Kretins, sowie die Überwachung der Pflege der Personen« vorsah, wurde vom Landtag ab 1874 bis mindestens 1910 blockiert und verschleppt, weil man sich mit dem Reichsministerium nicht über die Finanzierung einigen konnte.[152]

Für die Behörden gab es kein dringendes Bedürfnis nach einer solchen Registrierung. Sie hätte 'nur' wissenschaftlichen Interessen gedient. Bei den Irren, nämlich den unruhigen und problematischen Irren, lag die Sache anders, vor allem dann, wenn sie ins Irrenhaus eingeliefert wurden bzw. dies nur wegen Platzmangels oder aus Kostengründen nicht geschah. Zum Irren wurde man amtlich, nämlich per gerichtlicher Irrsinnigkeitserklärung, und eine Anstalteinweisung war mit einer Fülle von rechtlich-bürokratischen Schritten verbunden.

Auch bei Taubstummen und Blinden war eine Registrierung von Bedeutung, zumindest die der Kinder, weil hier die Fragen des Schulunterrichts bzw. die Einweisung in Taubstummen- und Blindeninstitute viel dringlicher waren als bei den Kretinen. Unterrichtsfähige Taubstumme wurden in Salzburg zumindest seit den 50er-Jahren namentlich verzeichnet.[153]

Nur in einem Zusammenhang wurde die Registrierung von »blödsinnigen Personen« auch für die Behörden interessant. Es handelte sich um das Problem der Landstreicher, vor dem Hintergrund des Heimatrechts. Der diesbezüglich erhaltene Schriftverkehr zwischen Landesregierung und Konsistorium stammt aus dem Jahre 1855.

»Der Umstand, daß die Ausforschung der außerhalb ihrer Heimath herumvagirenden taubstummen und blödsinnigen Personen nicht blos mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist, sondern auch in vielen Fällen zum Nachtheile der ergreifenden Gemeinden erfolglos bleibt, hat einen Antrag wegen Einführung einer besonderen Evidenzhaltung der vorhandenen taubstummen und blödsinnigen Individuen hervorgerufen. ...« [154]

In der Antwort gibt das Konsistorium der Landesregierung völlig recht und noch folgendes zu bedenken: »Da es leider eigennützige Gemeinden geben dürfte, welchen es nicht zu thun ist, daß sie die daselber zuständigen aber außer ihrer Heimath herumvagirenden Taubstummen und Blödsinnigen zurückerhalten und deshalb das Abhandenkommen derselben vorsätzlich verschweigen; so wäre mit Fleiß und vielleicht auch unter Androhung von Strafen darauf zu sehen, daß die betreffenden Gemeinden zur ungesäumten Bekanntgebung ihrer herumvagirenden taubstummen und blödsinnigen Individuen angehalten würden.«[155]

Registriert wurde aber doch nicht. Die Heimatgesetzgebung war in Österreich nie ein effektives Instrument zur Eindämmung von Landstreicherei und Bettelei.[156] Dagegen war sie ein tragendes Standbein der Armen- und Sozialpolitik allgemein, wie bereits im Exkurs über die Armenpolitik ausgeführt wurde.

Bezogen auf die Fürsorge für Schwachsinnige hatte die Heimatgesetzgebung eine konservative, die Probleme verschleiernde Funktion. Da die kleinen ländlichen Gemeinden meist außerstande waren, jemanden in einer Anstalt verpflegen zu lassen, blieb der gesellschaftlich artikulierte Bedarf an Fürsorgeeinrichtungen weit hinter dem 'wirklichen' Bedarf zurück. Erst sehr spät, um die Jahrhundertwende, fand sich die Landesvertretung Salzburgs bereit, subventionierend einzugreifen.

Schwachsinn aus der Sicht eines liberalen Irrenarztes

Ende der 50er-Jahre widmete wieder ein Arzt aus Salzburg eine theoretische Abhandlung dem Schwachsinn; der Irren- und Leprosenhausarzt Dr. Franz Valentin Zillner. Zillner, der neben seiner ärztlichen Tätigkeit v.a. kultur- und sozialgeschichtlich interessiert war und sich diesbezüglich schriftstellerisch und organisatorisch stark engagierte[157], kann als hundertprozentiger Liberaler bezeichnet werden. Medizin studierte er bei Skoda, Rokitansky und Herba in Wien, an den Aufmärschen von 1848 in Salzburg nahm er 'friedlich' mit weißer Armbinde als Oberleutnant des Akademischen Korps teil.[158] In seinen kulturgeschichtlichen Arbeiten erscheinen die 20er- und 30er-Jahre des 19. Jahrhunderts als eine Art modernes Mittelalter. Er war gründlich antiklerikal eingestellt und sparte nicht mit deftigen Seitenhieben auf die Kirche. Die Zukunft dagegen schien licht, die wirtschaftliche Entwicklung verlockte zu Optimismus. In der Tat gab es auch in Salzburg in den 60er- und frühen 70er-Jahren eine rege Bau- und Wirtschaftstätigkeit, alte Stadtmauern wurden abgetragen, die Salzach reguliert, Brücken erneuert, der Bahnhof eröffnet. Salzburg fand Anschluß an die moderne Welt.

Der Zukunftsoptimismus findet sich in Zillners Ansichten über den Schwachsinn wieder, den er auf streng naturwissenschaftlicher und statistischer Ebene behandelte und sich dabei jeder moralischen Bewertung enthielt.

In seiner Hauptschrift: »Ueber Idiotie. Mit besonderer Rücksicht auf das Stadtgebiet Salzburg.«[159] unterzieht Zillner zuerst -wie wir das auch bei allen früheren Schriftstellern kennengelernt haben- die veralteten Ansichten seiner Kollegen einer Kritik. Eine Trennung von Kretinismus und Idiotie, worunter Zillner alle Grade der Beeinträchtigung subsumiert, als grundsätzlicher Unterscheidung sei nicht zielführend; desgleichen eine solche nach Schädigungen während des »Ei- oder des Luftlebens«, nach dem Grad der Ausdehnung der psychischen Schwäche, sowie nach dem Auftreten (endemisch oder sporadisch). Unsinnig seien solche Unterscheidungen, sofern damit nicht nur »klinisch wahrnehmbare, sondern auch ursächliche Unterschiede« gemeint seien. (S.13) Lächerlich und »construiert« auch die Annahme »eines kretinischen Habitus ganzer Bevölkerungen« und die Vorstellung einer »entarteten Menschenrace in den Alpen.« (S.20)

Seine Aufgabe sieht er so: »Der Forscher, dem es um wahre Wissenschaft zu thun ist, hat sich vor allem um die genaueste Kenntniss aller Einzelheiten des gesunden und kranken Lebens dieser Bevölkerungen zu bewerben, denn die menschliche Einbildungskraft erzeugt keine Naturerscheinungen, und kindisch ist das Bemühen, selbe durch willkürlich erfundene Schilderungen oder durch geistreiche Combinationen ersetzen zu wollen.« (S.21)

Daß Zillner als Überbegriff 'Idiotie' wählte, mag damit zusammenhängen, daß dieser Begriffim Vergleich zu den anderen Termini noch relativ jung und daher noch nicht mit allen möglichen Bedeutungen beladen war.

Idiotie ist für Zillner eine »Volkskrankheit«, die mit der Lebensform und der Beschaffenheit eines gegebenen 'Volkskörpers' in Beziehung steht, und deren Häufigkeit sich mit dieser verändert. Zwar lasse sich diese Beziehung nicht im einzelnen als Kausalbeziehung nachweisen, insgesamt aber mit statistischen Methoden (der »Lehre von der großen Zahl«) belegen.

In Zillners Konzeption der Idiotie als Volkskrankheit finden wir jene Krankheitskonzeption wieder, die den Sanitätsberichten der Vormärzzeit zugrundegelegen hat. Schon damals wurde den Ärzten aufgetragen, zur besseren Kenntnis der Volkskrankheiten, v.a. der Epidemien, alle sozialen örtlichen und klimatischen Gegebenheiten zu beschreiben. Knolz und Maffei, aber auch die Brüder Wenzel vertraten diese Konzeption.

Zillner kommt in seiner konkreten ätiologischen Bestimmung nicht wesentlich über die Vermutungen der früheren Kretinismusforscher hinaus. Indem er allerdings den Zustand des 'Volkskörpers' als ätiologischen Gesamtrahmen bestimmt und eine Verbesserung dieses Zustandes konstatiert, versucht er in Verbindung mit statistischen Zahlenangaben über Idiotie den Nachweis einer spontanen Heilung des Idiotismus zu erbringen. Natürlich nicht des Einzelfalls, sondern der 'Volkskrankheit'. Das ist neu. Viele seiner (europäischen) Kollegen um die Jahrhundertmitte hatten gerade die Heilung des Einzelfalls angestrebt und die Möglichkeit dazu postuliert, und waren damit gescheitert. Zillner wirft diese Frage erst gar nicht auf.

Aus seinen Beschreibungen des Zustandes des 'Volkskörpers' greife ich im folgenden einige besonders interessante heraus.

Der Gesundheitszustand der Bevölkerung sei recht betrüblich. So hätten bei der Ergänzung des Heeres 82,6% der Jünglinge wegen körperlicher Mängel zurückgewiesen werden müssen, vorwiegend wegen Anomalien des Knochen- und des Muskelsystems.

Die Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr betrage immer noch rund 30%; Kinderpflege und Kindererziehung würden sich aber langsam bessern.

Die Arbeitsleistung der Salzburger sei im Vergleich zu Ausländern gering. Es gebe zu viel Armenunterstützung: »Je geringer die Arbeitslust, desto größer die Armut; je zahlreicher die Unterstützung, desto mehr (freiwillige) Arme. « (S.32)

Unter dem Stichwort 'Volkscharakter' läßt Zillner die vergangenen 60-80 Jahre revue passieren. Nirgends wird deutlicher als hier, wie sehr sich seine Geschichts- und Gesellschaftsauffassung mit seinem Bild von der Idiotie als Volkskrankheit deckt:

Die alte Gesellschaft des Fürsterzbistums führte ein »eigenthümliches, von außen wenig angefochtenes Kleinleben.« Schon vor den napoleonischen Kriegen begann sich das »Siechthum zu offenbaren. ... Die Bevölkerung nahm ab, die Sterblichkeit zu, die Familien verkamen, der endemische Blödsinn erregte die Aufmerksamkeit der Beobachter.« Dann die große Reinigung, die »gewaltsame Abtragung des Krankhaften« durch die französischen Revolutionskriege, die häufigen Regierungswechsel, 40 Millionen Franken Kriegslasten, den Verlust des Hofes und der Universität, die Berührung mit einer großen Menge der verschiedensten Volkselemente in den Truppenkörpern, die Schmälerung des gemächlichen Erwerbs. Aber wie ein chirurgischer Eingriff hinterläßt dies alles einen »hohen Grad von Erschöpfung«. Diese dauert mindestens bis 1830, dann regen sich wieder die ersten Anzeichen eines geistigen und kulturellen Aufschwungs. »Diese kurze Um- und Rückschau auf das Kulturleben eines kleinen städtischen Volkskörpers soll die Perioden seiner geistigen Rück- und Fortschritte andeuten, mit welchen das Allgemeinerwerden der Idiotie, die Zunahme der Verblödung, aber auch die Wiederbefreiung aus geistiger Verdumpfung der Zeit nach zusammenfallen. Es ist die Anamnese und die Schilderung des Allgemeinbefindens jenes städtischen Individuums, dessen specielle Erkrankung und Wiedergenesung der Gegenstand dieser Schrift ist. « (S.33 f)

Das Zahlenmaterial über Idiotie, auf das Zillner zurückgreift, enttäuscht ihn nicht. Er hält sich an das städtische Armenverzeichnis, da dieses aufgrund ärztlicher Untersuchungen viel genauere Angaben mache als die offiziellen Statistiken. Bei letzteren sei der geringste Grad der Idiotie, die 'minder Weitläufigkeit', meist nicht berücksichtigt. So kommt er auf eine Zahl von 108 Idioten aller Grade, was einem Bevölkerungsanteil von 0,62% entspricht. Die offizielle Zählung von 1857 nennt für die Stadt jedoch nur einen Anteil von 0,25%.(S.133) Den mittleren Grad der Idiotie nennt Zillner 'Schwachsinn', den schwersten 'Blödsinn' (S.25).

Er gruppiert alle Fälle nach Altersstufen und vergleicht sie mit der Stärke der jeweiligen Altersklasse in der Gesamtbevölkerung. Da nun die Häufigkeit bei den jüngeren Altersklassen deutlich niedriger ist als jene bei den älteren, schließt Zillner mit einer gewissen Großzügigkeit auf eine kontinuierliche Abnahme des Idiotismus in den vergangenen 60 Jahren. Dabei nimmt die Häufigkeit der 'minder Weltläufigkeit' bereits ab dem Jahrgang 1800 deutlich ab, jene des 'Schwachsinns' auch ab Jahrgang 1820. Dagegen bleibt die 'Blödsinns'-Häufigkeit konstant bzw. verändert sich so wenig, daß man diese Unterschiede nach den Gesetzen der Statistik nicht berücksichtigen dürfe.

»Es dürfte darin wohl der triftige Beweis liegen, daß die den Idiotismus verhütenden Umstände mit jedem Jahrzwanzig an Stärke und Zahl zugenommen haben.« Und »daß bereits (in 60 Jahren) zwei Drittheile des Siechthums verschwunden sind«, sei Beleg für die Möglichkeit der »spontanen Heilung des Idiotismus oder Kretinismus in einer großen Volksmenge.« (S.113)

Die Hoffnung, daß in der sich anbahnenden Fortschrittszeit auch noch das letzte Drittel verschwinden wird, spricht er zwar nicht direkt aus, sie klingt aber deutlich an: »In vorstehender, wenn auch noch sehr lückenhaften Ätiologie der Idiotie sind selbstredend die Fingerzeige für eine erfolgreiche Bekämpfung oder Verhütung dieser Volkskrankheit enthalten.« (S.134)

Zillner beschränkt sich nicht auf die Beschreibung des allgemeinen ätiologischen Rahmens der Idiotie, sondern versucht auch, direkte Ursachen zu erfassen. Dabei unterscheidet er sechs Gruppen: Idiotie durch Malariazustände und Luftverderbnis (Miasma), toxische, traumatische, congestive und Erschöpfungs-Idiotie, sowie eine »constitutionelle Idiotie«, auch »familiärer oder erblicher Blödsinn« genannt.

Letztere wollen wir uns genauer ansehen. Es sei eine Tatsache, meint Zillner, daß in vielen Familien ein gehäuftes und gleichzeitiges Auftreten der Idiotie zu beobachten sei. »Doch beweisen solche Fälle für die Erblichkeit nichts, ... weil man solche Fälle viel einfacher und natürlicher erklären kann, wenn man die Zeugung nicht zu Hülfe nimmt« (S.27), nämlich besonders mit mangelnder Kinderpflege in solchen meist armen und verwahrlosten Familien. Vererbung sei nicht auszuschließen, doch das Wissen darüber noch viel zu beschränkt. Daher sollte der Ausdruck 'familiärer Blödsinn' nicht mehr bedeuten als eine zu erwartende Häufigkeit, nicht aber die Erklärung eines Sachverhaltes.

Zillner geht auch auf die These von den Rauschkindern ein: »Saumselige, ... dem Trunke ergebene Eltern und Ammen, schwachsinnige Mütter gewähren nur wenig Aussicht auf verständige Kinderpflege, und darum finden sich unter solchen Verhältnissen so viele Idioten, nicht aber, weil durch Zeugung im Rausche die Idiotie fortgepflanzt wird.« (S.117)

Zillner definiert Idiotie als »jeden Fall von Beeinträchtigung, Mangelhaftigkeit, Hemmung, Unterbrechung, Rückgang oder gänzlicher Verhinderung der Entwicklung des kindlichen Geistes.« (S.11) Der Ausdruck 'kindlicher Schwach- und Blödsinn' sei damit vollkommen gleichbedeutend. Abgrenzen müsse man diese Begriffe nur vom Blödsinn späterer Altersstufen, den Demenzen. Die obige Definition habe Ähnlichkeit mit dem pädagogischen Begriff, der Idiotie als Bildungshemmung auffasse. Jedoch seien für den Arzt »die geistigen Verrichtungen durch das Nervensystem vermittelt« und die Idiotie daher mit anderen Worten jener »krankhafte Z u s t a n d des Cerebrospinalsystems, der nothwendig mit einer Verhinderung oder Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung verbunden ist.« (S.12)

Man ist bei dieser Definition an Griesingers Definition der Geisteskrankheiten erinnert: Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten. Sie entspricht den zeitgenössisch-modernen, wieder streng naturwissenschaftlichen Ansichten der Medizin im allgemeinen, der Psychiatrie im besonderen. Zillner bezieht sich auch öfters auf die fortschrittlich-liberal gesinnten Ärzte Deutschlands und Wiens.

Seit damals wurde die Konzeption des Schwachsinns als krankhafter Zustand des Cerebrospinalsystems im Grunde beibehalten, durch klinische Forschung nur das Wissen vermehrt. Aber während diese Auffassung zu Zillners Zeiten eigentlich eine befreiende war -nämlich den Schwachsinn von der moralischen Verurteilung befreiend- hatte dieselbe naturwissenschaftlich-medizinische Konzeption später, als sie verstärkt mit Vererbungstheorien verbunden und ihr Geltungsbereich stark ausgedehnt wurde, eine hemmende und diskriminierende Wirkung.

Vergleichen wir Zillners Konzeption des Schwachsinns mit der seiner Vorgänger, so fällt auf, daß nun zum ersten Mal der Verstandesmangel zum allein wichtigen Gegenstand der Untersuchung und der Begriffsbestimmung gemacht wurde. Alle körperlichen und sprachlichen Auffälligkeiten wurden als zufällig, nicht wesensbestimmend betrachtet. Der Kretinismus als eigene Krankheit war passé.

Zillners Gesamtschau des Problems der Idiotie kam den Ansichten einer Schicht von liberal gesinnten Bildungsbürgern sehr entgegen. Unübersehbar ist auch die Parallele zu den liberalen Ansichten über die Armut, die 'Soziale Frage'. Armut und Schwachsinn als Erben der alten Zeit würden verschwinden, wenn nur die Kräfte der modernen Wirtschaft und Kultur gestärkt würden.

Das Problem der Verwahrlosung.

Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts widersprach Zillners optimistischer Prognose. Dem Boom der 60er- und frühen 70er-Jahre folgte ab 1873 eine schwere Krise und eine langanhaltende Depression.

Ebensowenig bestätigte sich Zillners Annahme einer kontinuierlichen Verringerung der Zahl der Schwachsinnigen. Zwar nahm jene der gezählten Kretinen ab, die der Blödsinnigen aber zu, und gegen Ende des Jahrhunderts registrierten die Beobachter sogar eine starke Ausbreitung gerade der leichten Schwachsinnsfälle, die Zillner als besonders rückläufig beurteilt hatte.

Wenn wir im folgenden von der akademisch-wissenschaftlichen Betrachtungsebene wieder auf jene der alltäglichen Existenz Schwachsinniger wechseln, so müssen wir mit dem Oberbegriff, der Einheitlichkeit vortäuscht, wieder sparsamer umgehen. Der arbeitsfähige Leichtbehinderte hatte mit dem pflegebedürftigen Vollkretin immer noch sehr wenig gemeinsam, obwohl der Wissenschafter beide als 'Idioten' eingestuft hatte.

Aus dem Reisebericht des Dr. Klebs von 1877 geht hervor, daß die ländliche Salzburger Gesellschaft relativ vielfältige Existenzmöglichkeiten für mittel und leicht Schwachsinnige erlaubte. Klebs fand sie bei den verschiedensten Arbeiten und Tätigkeiten, mit und ohne Schulbildung, mit und ohne Aufsicht oder Begleitung. Selbst folgende Situation, die er bei Wagrain antraf, war offensichtlich sozial bewältigbar: Der Weiler lag wie verlassen, die Männer waren alle als Taglöhner auswärts, die Frauen auf den Feldern. In den Häusern traf der Besucher einige Kinder alleine mit mehreren Kretinen an.[160] Mit pflegebedürftigen Schwerstbehinderten hätte man bei der gleichen Konstellation schon große Schwierigkeiten gehabt. Von deren Verwahrlosung soll vorerst die Rede sein.

Diese Schwerstbehinderten bezeichne ich im folgenden als 'Idioten'; eine Spezifizierung des Begriffs, die gegen Ende des Jahrhunderts allgemein üblich wurde.

In diesen Jahrzehnten häuften sich in Österreich die Berichte über skandalöse Lebensbedingungen von Idioten. Soweit Angehörige oder ein heimatlicher Hof vorhanden, wurden sie wenigstens verpflegt, aber sehr schlecht.

»Die Arbeitsunfähigen bleiben sich selbst ganz überlassen, versinken immer mehr in Stumpfsinn, werden vielfach verhöhnt, oft mißhandelt, liegen in Schmutz, besäet mit Ungeziefer, vor den Häusern oder auf den Ofenbänken, sind nur zu oft die Zielscheibe rohesten Spottes. ... Wieder andere werden in einem abgelegenen Winkel des Hauses oder in einem Stalle eingesperrt, bekommen oft geradezu ekelhafte Nahrung, die sie gierig verschlingen; überall erregen sie Abscheu und Ekel.« [161]

Es gab auf dem Land noch die Institution der Einlage, aber die Behandlung der Einleger soll noch schlimmer gewesen sein. Gewiß muß man bedenken, daß Schilderungen wie diese von Leuten stammen, welche die Öffentlichkeit und die Behörden aufrütteln wollten, endlich Anstalten zu gründen, und daher vielleicht zu sehr verallgemeinerten.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob solche Beschreibungen als Beleg dafür genommen werden können, daß es Idioten nun schlechter ging als etwa um 1800. In einem Bericht von 1900 heißt es, daß die Einleger zunehmend als »lästige lebende Steuer« betrachtet würden.[162] Ein kirchlicher Zeitgenosse dagegen sah die Sache in rosigem Licht: »Arme, zur Arbeit unfähige Menschen wurden als sogenannte Einleger zu wohlhabenden Bauern gegeben, wo sie gleichsam in die Familie aufgenommen waren und ein gutes Unterkommen, eine christliche Pflege fanden. An manchen Orten ist diese schöne Sitte bis heute noch geblieben.«[163]

Wahrscheinlich ist diese letzte Schilderung sowohl für 1800 als auch für 1900 beschönigend. Sie macht aber das Problem deutlich, daß es eben sehr auf den Standpunkt des Berichterstatters ankommt, wie die Lage beurteilt wurde. Es wird auch gleichzeitig positive und negative Einstellungen Einlegern und im speziellen Idioten gegenüber gegeben haben, was von den Beobachtern je nach Interesse verschieden beachtet wurde. Das macht Vergleiche schwierig. Gewiß, die Berichte von 1800 betonten die allgemeine Freundlichkeit der Bevölkerung gegenüber Fexen und das Gewohnheitsrecht der Einleger. Aber war nicht auch damals davon die Rede, daß manche Kretinen im Stall schliefen, und daß reiche Bauern sich der Pflicht, Einleger aufzunehmen, zu entziehen suchten?

Will man Vergleiche anstellen, muß man das allgemeine Lebensniveau und die

-gewohnheiten in Rechnung stellen. Sie waren auch einer der Maßstäbe der jeweiligen Berichterstatter. Demnach hat sich die Lage der Idioten enorm verschlechtert: Den Beobachtern von 1900 erschien sie skandalös, während sie sich 100 Jahre zuvor nicht wesentlich von der des 'einfachen Volkes' unterschied. Ein weiterer Beurteilungsmaßstab waren die potentiellen Alternativen. Wenn die Brüder Wenzel Ortsveränderungen für Kretinen ins Auge faßten, so nur Verlegungen in gesündere Bergluft. Ende des Jahrhunderts jedoch gab es außerhalb Salzburgs bereits zahlreiche Anstalten, von denen man zumindest erwartete, daß sie den Idioten eine menschenwürdige Existenz sowie durch ärztliche und pädagogische Behandlung eine Besserung ihres Zustandes bringen würden. (Was nicht heißt, daß diese Erwartungen der Realität in den Anstalten entsprach!)

Was das Einlegerwesen betrifft, so läßt sich auch aus den spärlichen Informationen ein deutlicher Funktionswandel erkennen. Wenn Greinz schrieb: »An manchen Orten ist diese schöne Sitte bis heute noch geblieben«, so heißt das, daß sie eben im großen und ganzen bereits unüblich geworden war. Um 1800 war sie noch selbstverständlicher Bestandteil eines traditionellen Versorgungssystems und ohne Alternativen. Weder konnten die Gemeinden erwarten, daß ihnen die Einleger abgenommen würden, noch daß von oben finanzielle Unterstützung käme. Streit konnte es nur um die Verteilung der Lasten innerhalb der Gemeinde geben.

Ende des Jahrhunderts blieben für die Armenversorgung zwar immer noch die Gemeinden zuständig, aber es gab Subventionen vom Land, speziell bei der Abgabe in Anstalten. Diese Abgabe selbst -Irre in die Psychiatrie, Alleinstehende in Versorgungshäuser- wurde zunehmend Praxis. Lieber zahlte man die Gemeindeumlage und Steuern, als selbst Einleger zu versorgen. Das stand hinter der Klage von den Einlegern als »lästiger lebender Steuer«. Das Einlegerwesen um 1900 war eine nicht mehr akzeptierte, überholte, aber noch vorhandene Institution.

Eine Erhebung 1905 ergab, daß 56 Idioten in der Einlage lebten; es ist anzunehmen, daß sie einen relativ hohen Prozentsatz der insgesamt nur mehr wenigen Einleger ausmachten. Die gleiche Erhebung ergab, daß nur 46 Idioten in Anstalten lebten, 271 aber zu Hause. Das zeigt, daß erst ein ziemlich kleiner Anteil in den Versorgungshäusern lebte (eine Spezialanstalt gab es ja noch nicht). Da die Anstaltsunterbringung für die Angehörigen meist unerschwinglich war, hing es von der Bereitschaft der Gemeinde (und dann auch des Landes), die Kosten zu übernehmen, ab, ob jemand in eine Anstalt gegeben wurde.

Aber auch von der Bereitschaft der Anstalten, wie folgende Geschichte zeigt. Es war ja mittlerweile zu einer Besonderheit der Idioten geworden, daß für sie keine Spezialanstalt zur Verfügung stand, während ansonstendas soziale Versorgungssystem zwar unzulänglich, aber ziemlich differenziert war. Zumindest war behördlich jeweils jemand für eine Gruppe Hilfsbedürftiger zuständig; nicht oder nur bedingt jedoch für Idioten.

»Der verwitwete Holzknecht Sylby hatte einen taubstummen und verkrüppelten Kretin und vier normale Kinder. Der Holzknecht verdiente täglich 50 bis 70 Kreuzer. Für seine Kinder nahm er sich sehr an, doch reichten seine Mittel nicht für deren Ernährung aus. Sylby versuchte mehrmals, den geistesschwachen Krüppel in irgendeine Wohltätigkeitsanstalt unterzubringen, aber immer ohne Erfolg. Krank war der Knabe nicht, deshalb nahm man ihn im Krankenhaus nicht auf. Als irrsinnig wurde er von den Ärzten nicht anerkannt, daher auch nicht in das Irrenhaus aufgenommen. Siech genug für ein Siechenhaus war er nach Ansicht der maßgebenden Leute auch nicht. Von einer Taubstummenanstalt konnte keine Rede sein, da diese nur bildungsfähige Taubstumme, aber keine Idioten aufnehmen. ... Als der unglückliche Vater noch einen letzten Versuch machte und mit dem Gemeindevorsteher nach Graz ins Allgemeine Krankenhaus fuhr, da wies man ihn an den städtischen Polizeiarzt. Der aber schickte ihn wieder an den Bezirksarzt in Deutschlandsberg. Der aber hatte für ihn überhaupt keine Zeit ...« [164]

Diese konkrete Geschichte ging für Vater und Sohn tödlich aus -der Vater erstickte das Kind und wurde selbst hingerichtet- aber weniger dramatisch kann sie sich öfters zugetragen haben. Sie macht deutlich, daß in armen Familien leicht Situationen eintreten konnten (in diesem Fall der Tod der Mutter), die die Versorgung von Idioten verunmöglichten.

Eine andere Form von Verwahrlosung erregte ebenfalls die Aufmerksamkeit und Kritik der Beobachter. Sie betraf schwachsinnige Angehörige von wohlhabenden Leuten und war nicht auf Idioten beschränkt. Dazu wieder Dr. Knapp:

»So werden zwar vielfache Versuche unternommen, aus selben etwas zu machen, sie werden, wenn es halbwegs angeht, in die Schule geschickt, oder durch Bonnen und Hauslehrer zu bilden versucht, da aber gewöhnlich die nötige Geduld und namentlich die nötige Methode zum Unterrichte dieser Kinder fehlt, so quälen sich Kinder und Lehrer umsonst ab. ... Selbst ein im Unterrichte Schwachsinniger geübter Lehrer wird nicht genügen, da der Erfolg nicht nach den Wünschen der Eltern rasch genug erfolgt, da bald die Ungeduld der Eltern, bald die übergroße Zärtlichkeit, andererseits der Übereifer derselben die etwa schon erreichten Anhaltspunkt« der Fortbildung wieder zerstört. Grobe Ungeschicklichkeit, Unreinlichkeit etc. schließen sie von aller Geselligkeit aus; endlich ermüdet der Eifer, die Geduld, die Kinder werden entweder irgendwo in einem Zimmer eingeschlossen, von jeder Gesellschaft abgesperrt gehalten; ihr Anblick, der Mißerfolg zerstört für immer das Familienglück; oder sie werden vom Hause entfernt, gegen gutes Pflegegeld ärmeren Familien übergeben. ... Zum Glücke sehen viele Eltern die Unmöglichkeit einer gedeihlichen Erziehung solcher Kinder in den gewöhnlichen Schulen oder durch häuslichen Unterricht ein, und geben selbe in dazu eigens errichtete Institute, wie ich so viele Österreicher in den deutschen Privatinstituten sah.« [165]

Von einer Art geistigen Verwahrlosung ist hier die Rede, die aber nicht in mangelndem, sondern in falschem, unangemessenem Einsatz erzieherischer Mittel ihren Grund haben soll. Schwachsinnige erscheinen hier als eine ganz besondere Spezies, der man nur durch Spezialbehandlung in Spezialinstituten gerecht werden könne.

Diese Beschreibung regt wieder zum Vergleich mit den Fexen von 1800 an. Jene stadtbekannten, barock gekleideten Figuren der Jahrhundertwende stammten auch vielfach von wohlhabenden Eltern ab. Sie mußten nicht »in einem Zimmer eingeschlossen, von jeder Gesellschaft abgesperrt« werden, im Gegenteil bewegten sie sich in aller Öffentlichkeit. Man hat auch damals versucht, ihnen einige Kenntnisse und Fertigkeiten beizubringen, die bescheidenen Erfolge brauchten aber keine Schande zu sein und das »Famlienglück zerstören«.

Hinter der von Knapp beschriebenen Situation verbirgt sich die allgemein zunehmende negative öffentliche Einstellung gegenüber Schwachsinnigen im Zusammenhang mit der Betonung ihrer Minderwertigkeit.

Die zeitgenössischen Berichterstatter sprechen meist nur von der negativen Einstellung in der Bevölkerung, indem sie von den Verspottungen und Mißhandlungen Schwachsinniger erzählen; ihre eigene negative Einstellung tritt meist hinter ein aufwendiges Mitleidsvokabular zurück.

Leo Kanner[166] stellt in seiner Arbeit über die europäische und amerikanische Schwachsinnigenfürsorge fest, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts der allgemeine Ruf nach Isolierung aller Schwachsinnigen zwecks »Reinigung der Gesellschaft« immer lauter wurde und nennt »Sechs Punkte der Anklage«:1. Schwachsinnige sind fruchtbar; 2. Ihre gesetzlichen und ungesetzlichen Nachkommen sind schwachsinnig, neuropathisch und erbgeschädigt; 3. Schwachsinnige haben kriminelle Neigungen; 4. sie sind eine Quelle für Promiskuität, Prostitution und Perversion; 5. es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Schwachsinn und Alkoholismus; 6. Schwachsinnige sind häufig arbeitsunfähig, arm und vagabundierend.

Die Punkte 3-5 verweisen auf eine weitere Form der Verwahrlosung, der sogenannten 'sittlichen'. Ein Thema, das in den Jahrzehnten um 1900 ganz allgemein sehr breitgetreten wurde.

Die Berichte über Vergehen und Verbrechen Schwachsinniger, vorwiegend Imbeziller, sind zahlreich. Es bedurfte aber nicht unbedingt der Gesetzesübertretung für das Urteil der Asozialität. Ein französischer Psychiater schlug 1891 zur differenzierenden Charakteristik von Idioten und Imbezillen vor, erstere als »Extrasoziale« zu bezeichnen, da sie praktisch außerhalb der menschlichen Gesellschaft stünden. Anders die Imbezillen; diese griffen zwar in das soziale Leben ein, aber nicht fördernd und produktiv, sondern vernichtend und schädigend, weshalb man sie als »Antisoziale«, Gegner der menschlichen Gesellschaft bezeichnen könnte.[167]

Asozialität, sittliche und moralische Verwahrlosung wurde nicht nur als Problem schwachsinniger Individuen betrachtet, sondern des ganzen familiären und sozialen Umfeldes, in dem sie lebten bzw. mit dem sie identifiziert wurden: Degeneration, Alkoholismus., Kriminalität usw.

Man darf annehmen, daß diese Seite der Verwahrlosung in Salzburg eine vergleichsweise geringe Rolle spielte und eher in großen Städten und Ballungszentren akut war. Der Referent aus Salzburg beim 1. Österreichischen Kinderschutzkongreß 1907 äußerte sich zufrieden in diese Richtung.[168] Konkrete Fälle von sittlich verwahrlosten Schwachsinnigen aus Salzburg sind nicht überliefert. Verstreut finden sich Hinweise, daß es unter den Insassen von Erziehungs- und Besserungsanstalten auch Schwachsinnige gab, so im St. Josefsasyl für verwahrloste Frauen und im Knabenerziehungsheim Edmundsburg.

Die Privatpflegeanstalt Schloß Schernberg.

Über diese Anstalt bei Schwarzach im Pongau ist wenig bekannt, da sie immer eine Privatinstitution im Besitz der Kongregation der Barmherzigen Schwestern war und deshalb kaum amtliche Aufzeichnungen über sie gemacht wurden.

Der Salzburger Erzbischof Kardinal Schwarzenberg, der die Kongregation nach Salzburg gebracht und das Schloß gekauft hatte, schenkte es den Schwestern, zusammen mit dem Krankenhaus in Schwarzach.

1846 wurden die ersten Pfleglinge aufgenommen.[169]

Sicher ist, daß Schernberg nie eine Anstalt speziell für Idioten oder Kretinen war, sondern alle möglichen D a u e r patienten aufnahm: »Geistessieche, körperlich Sieche, Cretinen, Epileptiker usw. «[170]Eine Zeit lang war von ihr als »Privatirrenanstalt« und sogar als »Filiale der Landesirrenanstalt« die Rede.[171] Denn in den 70er-Jahren begann die Landesverwaltung, wegen Überfüllung der Irrenanstalt Patienten nach Schernberg zu überweisen. Zwischen 1880 und 1898 nahmen diese Überweisungen ein enormes Ausmaß an: 70 bis 100 Irre, und nur in den wenigsten Fällen 'ruhige', wie anfangs geplant, befanden sich in Schernberg. Insgesamt waren 1898 115 Pfleglinge untergebracht.[172]

Wie es im Inneren der Anstalt aussah, darüber wurde nur anläßlich verschiedener Verbesserungen berichtet, welche die Sanitätsbehörden 1904 anordneten.[173] Deren Unmut wurde Ende des Jahrhunderts vor allem durch die Überfüllung mit Irren hervorgerufen, die entweder noch als heilbar oder als gemeingefährlich eingestuft wurden. Da Schernberg in keiner Weise den amtlichen Anforderungen an eine Irrenheilanstalt entsprach, war dies ein unhaltbarer Zustand. 60 vom Land dort abgegebene Irre wurden 1898 in die neu eröffnete Landesheilanstalt überstellt, sowie in die alte, die nun als Irrensiechenanstalt fungierte. Aber als Privatpatienten gab es immer noch akute Irrsinnsfälle in Schernberg; 1904 wurde die Aufnahme solcher Patienten verboten. Von da an mußte bei jeder Aufnahme das Zeugnis eines Amtsarztes oder des Leiters einer öffentlichen Irrenanstalt beigestellt werden, das bestätigte, daß es sich um einen siechen, unheilbaren und nicht gemeingefährlichen Patienten handelte, und jede Aufnahme mußte an die Bezirkshauptmannschaft St. Johann gemeldet werden. Die neuen Vorschriften wurden in einem Statut festgelegt.

Bis 1904 hatte die Anstalt noch keine Bäder. Die Pfleglinge mußten sich Tag und Nacht in denselben Räumen aufhalten. Um Tagräume zu schaffen, wurden die hofseitig gelegenen offenen Korridore geschlossen und damit heizbar gemacht. Während vor 1904 nur gelegentlicher Besuch des St. Veiter Wundarztes oder des Gemeinde- und Spitalsarztes von Schwarzach kam, mußte letzterer in Hinkunft zweimal die Woche eine Visite abhalten.

Die Lebensbedingungen waren nicht für alle Patienten gleich; für Reiche gab es Einzelzimmer.

Die Schwestern sollen den neuen Vorschriften nur widerwillig gefolgt sein, sie aber dennoch zur behördlichen Zufriedenheit erfüllt haben: »Der Betrieb der Anstalt, welcher alljährlich vom Landessanitätsreferenten unvermutet revidiert wurde, hat nach seiner Regelung zu keinen Klagen Anlaß gegeben.«[174]

Nach dieser Reform wurde damit begonnen, ein Krankenregister zu führen. Demnach gab es 1906 95 Insassen, davon etwas mehr als ein Drittel Idioten und Kretinen. (Ein weiteres Drittel Geistessieche, der Rest körperlich Sieche, Epileptiker u.ä.).

Klar ist, daß die Anstalt nie den Anforderungen entsprach, die ärztliche und pädagogische Schwachsinnsfachleute damals an eine Anstaltsunterbringung stellten. Schernberg wird in den einschlägigen Schriften auch nie genannt. Pflege war das einzige, was dort angeboten werden konnte. Das war aber unter Umständen schon sehr viel, wenn die Alternative dazu jene Verwahrlosung war, von der im vorigen Abschnitt die Rede war.

Keineswegs handelte es sich bei den Insassen nur um alte Menschen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war die Hälfte der Idioten und Kretinen erst zwischen 2 und 14 Jahre alt. Die meisten blieben allerdings bis zu ihrem Tode dort.

Nach 1904 wurden auch wieder mehr Dauerpatienten aus der Landesheilanstalt überwiesen: 27 während des 1. Weltkrieges (sie kehrten 1918 wieder zurück); von 1928-1937 nicht weniger als 172,nach der Annexion Österreichs noch einmal 62.[175]

Von den etwa 170 Insassen, welche die Anstalt 1941 beherbergte, überlebten nur 46 die nationalsozialistische Herrschaft.[176]

Die Funktion der Anstalt Schernberg im Bereich der sozialen Fürsorge läßt sich trotz spärlicher Informationen erkennen. Vor der Jahrhundertwende bot sie die Möglichkeit, einen Teil jener schwerstbehinderten Menschen unterzubringen, die zu Hause bzw. in der Heimatgemeinde nicht versorgt werden konnte oder die zu versorgen man nicht bereit war. Vor allem glich sie die mangelnde Kapazität des Salzburger Irrenhauses aus. Später, als die Behörden genauere Maßstäbe an die Irrenversorgung legten, waren es neben den Idioten, Kretinen und körperlich Siechen vorwiegend die 'hoffnungslosen' Irren, die die neue Anstalt in Salzburg überfüllten, welche in Schernberg landeten. (Diese Funktion hat die Anstalt im Grunde bis heute beibehalten.)

Nichts wissen wir darüber, welche Meinungen es in der Bevölkerung über die Anstalt Schernberg gab. Sie war doch in mehrerer Hinsicht etwas Besonderes. Sie wurde von den Barmherzigen Schwestern geführt, die damals neu nach Salzburg gekommen und anfangs sogar sehr verhaßt gewesen waren. Das wird sich freilich mit ihrem ausgedehnten sozialen Engagement gelegt haben, obwohl es eben auch ein Engagement war, das Hilfe mit der Forderung nach christlicher Demut und Moral verband.

Eine weitere Besonderheit lag darin, daß die Anstalt ein großes Einzugsgebiet hatte, die Pfleglinge also weit entfernt von der Heimatgemeinde lebten, während sie als Einleger oder Insassen von örtlichen Armenhäusern doch 'im Gesichtsfeld' der Bevölkerung blieben. Auch Menschen, die in die Salzburger Irrenanstalt oder ins St. Johanns-Spital kamen, wurden weit weg gebracht; aber sie kehrten in der Regel wieder zurück. Nicht jene von Schernberg. Sie wurden im wörtlichen Sinn zu »Extrasozialen«, höchstens noch durch die Tatsache, daß man für sie zahlen mußte, mit der ursprünglichen Umgebung verbunden. Man konnte sie vergessen.

Wie kamen die geistlichen Schwestern dazu, sich den Idioten und Kretinen zu widmen? In den Schriften des 19. Jahrhunderts wurde die Schwachsinnigenfürsorge gerne als internationales, interkonfessionelles, friedliches Werk der reinen Liebe charakterisiert, das die »Ärmsten aus ihren dunklen Winkeln hervorgezogen hat. «[177]Dieses Bild harmonisiert. Aber es beinhaltet indirekt auch die Gegensätze, welche die 'moderne Welt' beherrschen: Kampf der Nationen, Hader der Konfessionen, der höchst unfriedliche Gegensatz zwischen den Gesellschaftsklassen, die Konkurrenz jeder gegen jeden. Den Opfern dieser Schlachten, zu denen auch die Schwachsinnigen zählen, zu helfen, erfordere ein Engagement, das auf persönliche Vorteile verzichte und die »reine christliche Liebe« zum Maßstab des Handelns mache. Dienst an den Armen als Dienst an Gott und Vorbild für die verdorbene Welt.

Wenn auch dieses Bild recht wenig zu der tatsächlichen Entwicklung der Schwachsinnigenfürsorge paßt, so hat es sicher für das Selbstverständnis der Pioniere eine wichtige Rolle gespielt, gerade der geistlichen Schwestern.

Was für die einzelne Schwester vielleicht Aufopferungsbereitschaft war, stellte im ganzen gesehen Teil eines heftigen ideologischen und politischen Kampfes dar, den Harald Gnilsen in seinem Buch über den Salzburger Kulturkampf ausführlich untersucht.[178] Die Schwestern waren sozusagen Aktivistinnen im Kampf der Kirche gegen Liberalismus, Materialismus, Sozialismus und Sittenlosigkeit.

Die Schwestern verband ein starkes Gruppenleben und Gruppengefühl, wofür das Bild von der »Biene im großen Bienenstock« stand;[179] gleichzeitig ein Bild für die Emsigkeit, mit der sie ihre Tätigkeit in der ganzen Erzdiözese ausdehnten wie Missionare im eigenen Land. Die Barmherzigen Schwestern betrieben nicht nur eigene Privatinstitute, sondern führten auch den Inneren Dienst in öffentlichen Anstalten, wie dem St. Johanns Spital, dem Irrenhaus, dem Leprosenhaus und später der Taubstummenanstalt und des Konradinums. Ihre Tätigkeit in diesen Anstalten war vorwiegend eine pflegerische, mit Behandlung oder Unterricht hatten sie nichts zu tun.

Es gab kein spezielles Interesse, das die einzelne Schwester oder die Kongregation als Ganzes zur Beschäftigung mit Schwachsinnigen führte, sondern sie kamen dazu im Rahmen ihrer Gesamttätigkeit.

Es war also die Dominanz der geistlichen Schwestern in der Wohlfahrtspflege insgesamt, die -vor dem Hintergrund der politischen Gegensätze- dazu führte, daß der gesamte Bereich der Schwachsinnigenfürsorge in Form von Anstaltsunterbringung zu ihrer Domäne wurde und es bis in die 60er-Jahre unseres Jahrhunderts blieb. Der Beginn dieser Entwicklung lag in Schernberg.

'Landes-Idioten- und Kretinenanstalt Conradinum' in Eugendorf.

»Die Frage der Regelung der öffentlichen Fürsorge für die Idioten und Kretinen bildete schon seit langem den Gegenstand der Beratungen der Landesverwaltung.«[180]Es ist ganz aufschlußreich, den Weg dieser Frage in die Debatten des Salzburger Landtages zu verfolgen[181]:

1898-1901: Diskussion um eine Landeserziehungsanstalt für sittlich verwahrloste Kinder und Jugendliche.

1901: Aufgrund einer Petition des Landesschulrates wird diese Diskussion mit der Frage einer Erziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder verquickt. Ein Bericht über entsprechende Anstalten in Österreich wird vorgelegt. Von der Anstalt für sittlich Verwahrloste wird aus Kostengründen wieder Abstand genommen.

1902: Die Schwachsinnigenfürsorge muß nach Ansicht des Landesschulinspektors unter zwei Aspekten behandelt werden: a) Unterrichtsanstalten mit pädagogischer Leitung; b) Pflegeanstalten unter ärztlicher Aufsicht, was am billigsten durch Anschluß an die Irrenanstalt zu bewerkstelligen wäre.

1903: Die Unterrichtsfrage hat mit der Einrichtung einer Hilfsklasse in Salzburg konkrete Gestalt angenommen. Zwecks Unterbringung kretinöser Kinder wird eine Kontaktaufnahme mit der n.ö. Idiotenanstalt 'Stephaniestiftung' angeregt.

1904: Der Landesausschuß berichtet, daß nur im reichen Niederösterreich eineeigene Landesanstalt für schwachsinnige Kinder bestehe. In der Steiermark und in Oberösterreich würden Subventionen zur Unterbringung in Privatanstalten gewährt. Diese Regelung faßt auch der Salzburger Landesausschuß ins Auge, da aus Kostengründen an keine eigene Landesanstalt gedacht werden könne. Angehörige und Gemeinden sollten sich an den Kosten beteiligen: »Es wäre nämlich nicht einzusehen, warum diese Faktoren, welche an der Versorgung schwach- und blödsinniger Kinder wohl zunächst interessiert sind, jeglicher Unterhaltspflicht enthoben sein sollen.«[182]Der Landtag genehmigt 1000 K für das folgende Jahr.

1905: Die Verwaltung der Privatpflegeanstalt Schernberg wäre bereit, Idioten jeden Alters für 1 K 40h[183] pro Tag aufzunehmen, was dem Landesausschuß aber zu teuer ist. Für zwei Kinder in Schernberg gibt es monatlich 22K 46h Subvention.

Daß Salzburg schließlich doch zu einer eigenen Idiotenanstalt kam, war einem pensionierten Pfarrer aus Eugendorf, Konrad Seyde, zu verdanken, der dem Land sein Haus und seinen Garten schenkte und dazu noch 28.600 K in Wertpapieren für eine Stiftung.

Zwei seiner Bedingungen waren, daß die Anstalt »auf immerwährende Zeiten« den Namen »Conradinum« tragen und dem Zwecke dienen sollte, »Geistesschwachen, Blödsinnigen und Idioten des Landes aller Grade ... Unterkunft, Unterhalt, Erziehung, Fortbildung, Pflege und Beschäftigung zu bieten und sie nach Möglichkeit zu nützlichen und brauchbaren Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft heranzubilden.«[184]

Pfarrer Seyde, der sich auch noch das Wohnrecht ausbedungen hatte, starb bereits wenige Monate nach der Schenkung. Nach einigen Adaptierungsarbeiten war Platz für 14 Kinder, je zur Hälfte Knaben und Mädchen. Den Inneren Dienst übernahmen die Barmherzigen Schwestern.

Es ist festzuhalten, daß nun aufgrund des besonderen Zustandekommens keine reine Idiotenanstalt eingerichtet wurde, wie der Name eigentlich vermuten ließe, sondern eine Schwachsinnigenerziehungsanstalt im umfassenden Sinn, wie sie ursprünglich vom Landesschulrat gefordert, dann aber aus Kostengründen auf eine versuchsweise Hilfsklasse reduziert worden war. Da aber die Räumlichkeiten in Eugendorf für diesen umfassenden Zweck viel zu begrenzt waren, hielt man schon im Statut fest, daß die Anstalt erweitert und in eine Erziehungs-, Beschäftigungs- und Pflegeabteilung gegliedert werden sollte.

Bei der Eröffnung am 15.1.1907 waren erst sieben Kinder angemeldet worden, obwohl die Ausschreibung lange zuvor veröffentlicht worden war. Das hatte finanzielle Gründe: Da es sich um eine Landesanstalt handelte, erwarteten Private und Gemeinden eine kostenlose Aufnahme der Kinder, was jedoch keineswegs in der Absicht der Landesverwaltung lag. Diese wollte die Gebühr zunächst mit mindestens 240 K pro Jahr festsetzen (für Reiche und Nicht-Salzburger 400 K), mußte aber einsehen, daß es unter diesen Umständen »die meisten Gesuchsteller vorgezogen hätten, die blödsinnigen Kinder anderwärts zu versorgen.«[185] Daher wurde die Untergrenze mit 144 K festgelegt.

Nach diesen Anfangsschwierigkeiten stieg die Zahl der Anmeldungen rasch, und es mußten bald wegen Platzmangels Ansuchen abgewiesen werden.

Die Landesvertretung zeigte sich mit Gestaltung und Führung der Anstalt sehr zufrieden. Knaben und Mädchen waren nach Stockwerken getrennt und hatten jeweils Schlaf- und Wohnräume. Der Lehrer war für seine Aufgabe gut vorbereitet. Er hatte in der Salzburger Hilfsklasse, im Taubstummeninstitut, in einer bayrischen und in der n.ö. Idiotenanstalt hospitiert. Der Unterricht bestand in Sprechen, Zeichnen , Schreiben, Bauen, Flechten, Ballspiel, Turnen, Garten- und Holzarbeiten.[186] Die Kinder waren nach Grad der Behinderung bunt gemischt. Nur vier galten als total bildungsunfähig, die meisten aber zu Arbeiten fähig, sogar zu so schweren wie die Aufarbeitung des gesamten Winterholzes. Ein Knabe wurde später gelernter Wagner. Geplant waren eine Bürstenbinderei und ein Ökonomiebetrieb zur vielfältigeren Beschäftigung.

Nur der Religionsunterricht gestaltete sich schwierig, »da das Begriffsvermögen der Kinder die Lehre von Gott und der Moral kaum zu erfassen vermöge.«[187]

In den folgenden Jahren kamen mehr Schwerstbehinderte in die Anstalt, und der schulmäßige Unterricht wurde wieder abgeschafft. Letzteres hing aber auch mit dem Gutachten eines Psychiaters zusammen, auf das wir noch zurückkommen.

Die geplante Erweiterung des Conradinums stieß auf Hindernisse; ein benachbartes Bauerngut, aber auch andere Liegenschaften in Eugendorf, deren Erwerb in Aussicht stand, wurden dem Land schließlich doch nicht verkauft. Unter Umständen hing das auch mit Vorbehalten der Bevölkerung zusammen. Zwar wurde berichtet, daß die Eugendorfer nur anfangs »scheeläugig« die Anstalt betrachtet hätten, dann aber entgegenkommend gewesen seien.[188] Dagegen weist ein anderer Umstand auf eine offensichtlich nötige Abgrenzung hin: »Um die Zöglinge von der Außenwelt, wie es im allgemeinen Interesse liegt, abzuscheiden, ist der ziemlich große Anstaltsgarten mit einer 1,6 Meter hohen Holzplanke umgrenzt.«[189] Es dürfte keinerlei Anlässe gegeben haben, bei denen sich Zöglinge außerhalb des Zaunes aufhielten; selbst religiöse Übungen konnten in der kleinen Hauskapelle verrichtet werden.

Eine Vergrößerung in Eugendorf selbst schien also nicht möglich. Mehrere Landtagsabgeordnete drängten darauf, angesichts einer immer größer werdenden Zahl von abgewiesenen Anmeldungen die Verantwortung wahrzunehmen und in Verbindung mit einer anderen Wohltätigkeitsanstalt eine ausreichend große Institution zu schaffen. Insbesondere die Landesheilanstalt für Geisteskranke wurde ins Auge gefaßt, ihr Leiter Dr. Schweighofer um ein Gutachten gebeten.

Schweighofer besuchte die Anstalt und untersuchte die 13 Kinder und eine Erwachsene, was laut seinem Gutachten wegen der fehlenden Familienanamnesen schwierig gewesen sei. Der Unterricht in Schulgegenständen könne erfahrungsgemäß keine großen, anhaltenden Erfolge bringen. Dagegen sei Sprach- und Handfertigkeitsunterricht einzusetzen, um die Kinder auf Garten-, Feld- oder weibliche Handarbeit vorzubereiten. »Der arbeitstherapeutische Unterricht setzt aber ärztliche Untersuchung, Anleitung und Mithilfe in einer sehr eingehenden Form voraus und verlangt ein Eingreifen des Arztes in die für jedes Kind oft besonders auszuwählende Methode.«[190]

Bei einer Erweiterung des Konradinums werde die ärztliche Leitung immer unentbehrlicher. Diese Erweiterung selbst sei eine Frage des »Bedürfnisses«, das sich in zwei Teile gliedere: Die soziale Seite bestehe in der Notwendigkeit, schwachsinnige Kinder von zu Hause zu entfernen, da die Eltern genötigt seien, »ihre ganze Kraft den gesunden Kindern zuzuwenden und sie nicht den immer minderwertig bleibenden Existenzen der Schwachsinnigen opfern (können). Die soziale Ursache des vermehrten Drangs zu den Anstalten für kranksinnige Wesen wird immer zunehmen. «[191]

Die humanitäre Seite liege in den zunehmenden Erfolgen der letzten Jahre bei der medizinischen Behandlung und Beeinflussung des kindlichen Schwachsinns, was sich herumspreche und die Forderung der Bevölkerung nach Hilfe für ihre Kinder hervorrufe.

Die therapeutischen und pflegerischen Erfordernisse setzten jedoch einen Behelfsapparat voraus, der zur Zeit nur in den Irrenanstalten vorhanden sei. Als selbständige Anstalt könne das Konradinum nie den modernen Ansprüchen genügen. Der Anschluß an die Landesheilanstalt biete noch weitere Vorteile: Der Betrieb könnte rationeller und daher billiger geführt werden; Lernfähige könnten die Salzburger Hilfsklasse besuchen. Schließlich die nötige Nachfürsorge, wie sie sich auch für entlassene Irre stelle. »Man kann nicht alles in Anstalten stecken, was geistig abnorm ist, und dauernd darin verpflegen. Man muß auch versuchen, die gebesserten Kranken wieder zu entlassen und die Geheilten vor Rückfall zu bewahren. ... Das satzungsmäßige Postulat, die Pfleglinge des Konradinums zu nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen, ist ohne Fürsorgeeinrichtungen für die Entlassenen kaum zu erreichen. «[192]

Dieses Gutachten thematisiert alle zentralen Probleme der damaligen Schwachsinnigenfürsorge, von einem nüchtern-professionellen aber weitschauenden Standpunkt. Es war die Unmöglichkeit, schwachsinnigen Kindern in ihrer ursprünglichen sozialen Umgebung eine einigermaßen menschenwürdige und den potentiellen Möglichkeiten entsprechende Existenz zu bieten, die eine Anstaltsunterbringung als einzig akzeptable Alternative erscheinen ließ. Kehrten schwachsinnige Jugendliche oder Erwachsene jedoch an ihren Heimatort zurück, fanden sie sich nicht zurecht bzw. wurden nicht mehr akzeptiert.

Dieses Problem hatte man bei Taubstummen bereits kennengelernt, die nach der Ausbildung am Institut häufig in Armenhäusern landeten. Der Landtag entschloß sich daher 1905, Subventionen für Handwerksmeister bereitzustellen, die entlassene Taubstumme in eine Lehre übernahmen. Aus Niederösterreich wurde berichtet, daß entlassene Zöglinge der Stephaniestiftung sehr unselbständig waren, »wenn sie der Führung des Instituts entbehren müssen.«[193] Der frühere Lehrer des Konradinums wies auf den Unmut der Gemeinden hin, wenn sie die Schwachsinnigen mit 18 Jahren wieder zurückgeschickt bekamen.

Trotz alledem wurde aus Erweiterung und Verlegung des Konradinums nichts. Der Kriegsausbruch 1914 dürfte einer der Gründe dafür gewesen sein.

Nach 1912 werden die Informationen über die Anstalt spärlich, da sie kaum noch Gegenstand von Landtagsdebatten war. Geplant wurde, das Konradinum nach dem Krieg nach Schwarzach zu verlegen, wofür bereits eine Villa aufgekauft wurde, die 50 Zöglingen und einer angeschlossenen Schule hätte Platz bieten können.[194] Auch daraus wurde nichts.

In den folgenden Jahrzehnten wurden in Eugendorf praktisch nur noch idiotische Kinder aufgenommen. Ihre Zahl erhöhte sich noch etwas, was jedoch nicht mit baulichen Erweiterungen verbunden war.

1938 wurde die Anstalt vom NS-Regime aufgelöst, ein Teil der Kinder nach Schernberg überwiesen. Über ihr weiteres Schicksal wird im letzten Kapitel berichtet.

Im Jahre 1918 verfaßte der frühere Lehrer Franz Bruckbauer einen Artikel für »Die Heimat«, Sonntagsbeilage der »Salzburger Chronik«. Darin beschreibt er das Konradinum in Form eines fiktiven Besuchsberichts. Er spricht die Sprache eines Experten, nicht eines wissenschaftlichen, sondern eines Insiders, der sich an ein Publikum wendet, von dem er annimmt, daß ihm die Welt einer Idiotenanstalt völlig fremd ist, dessen Mitgefühl er aber wecken möchte. Schaurig-fasziniert beschreibt er die Insassen. Da gibt es einen »vollendeten Wasserkopf«; ein »Musterexemplar eines Turmschädeligen« der zusammen mit einer »Vollkretine mit Krötengesicht« das »Liebespaar des Hauses« abgibt; »ein Knabe schreitet, scheinbar tiefsinnig einem Problem nachsinnend, hastig längs des Hauses«; zwei Mädchen in Zwangsjacken »sind vegetierender Stumpfsinn«. »Der Besuch in der Landes-Idioten- und Kretinen-Anstalt Konradinum in Eugendorf ist ein lehrreicher Ausflug. Ein Stück Natur erblickt man. Aber keines über dem Sonne flutet. Nein, ein trauriges, das traurigste Stück Natur erspäht man: Menschen ohne Gedanken, Menschen, unvernünftig wie das Tier und schlimmer als dieses, und doch Menschen.«[195]

Mitleid konnte man damit unter Umständen hervorrufen, Verständnis nicht. Das ohnehin Fremde wurde noch fremder.

'Anormale'. Die wissenschaftliche Schwachsinnskonzeption um 1900.

Nach Zillners Abhandlung über die Idiotie meldete sich bis zur Jahrhundertwende kein Wissenschafter oder Arzt aus Salzburg mehr mit einer größeren Arbeit über den Schwachsinn zu Wort. Wenn es in den Jahren um 1900 in Salzburg so etwas wie einen medizinischen Experten für Schwachsinn gab, so war es sicher der Direktor der Landesheilanstalt Schweighofer, von dem wir einige Ansichten soeben aus seinem Gutachten über das Konradinum kennengelernt haben.

Aber wir benötigen für unsere Darstellung nicht mehr unbedingt solche lokalen Experten. Denn um diese Zeit hatten sich längst ein -sagen wir europäisches-Standardwissen, Standardansichten und wissenschaftlich formulierte Standardideologien über den Schwachsinn herausgebildet, und es gab genug Hebel für ihre Verbreitung, nämlich eine Flut von Büchern und eine große Zahl Fachzeitschriften. Die Bibliographie eines österreichischen Handbuchs der Schwachsinnskunde aus dem Jahre 1909, das von drei wiener Hilfsschulpädagogen verfaßt und auch in Salzburg verbreitet war, umfaßt auf 50 Seiten über 1000 Titel.[196] Gab es also schon für den interessierten Laien genug Möglichkeiten der Information, so standen den Professionisten noch mehr Wege offen: der Austausch in Fachverbänden und auf Kongressen, sowie Fortbildungskurse. Die Hauptproduzenten der Fachliteratur waren Mediziner -vorwiegend Psychiater- und Pädagogen, aber auch Juristen, Biologen und Anthropologen veröffentlichten einschlägige Schriften.

Wohl waren die Ansichten der einzelnen Wissenschafter im konkreten oft sehr konträr, was u.a. in einer großen Verwirrung in der Terminologie seinen Ausdruck fand; 14 verschiedene Begriffe für den Schwachsinn und seine Unterformen kursierten.[197] Dennoch gab es im bunten Konglomerat von Meinungen einige fast allgemeingültige Grundtheorien, an denen keiner vorbeikonnte, selbst wenn er nicht jedem Detail zustimmte. Diese Theorien waren durchwegs nicht in der konkreten Auseinandersetzung mit Schwachsinnigen entwickelt, sondern eben auch auf sie übertragen worden.

Insbesondere handelt es sich um die Anormalentheorie, verschiedene Facetten des Sozialdarwinismus, die Degenerationshypothese, die Vererbungstheorie und die Theorie von den Gehirnkrankheiten. Sie waren untereinander eng verquickt, und nur der Übersichtlichkeit wegen stelle ich sie einzeln in ihrer Bedeutung für das Bild vom Schwachsinn dar.

Die Anormalen theorie war ein Produkt der verstärkten Auseinandersetzung mit Kindern und deren Entwicklung. Zu den anormalen -auch abnormalen oder anomalen- Kindern wurden gezählt: Nervöse, Hysterische, Epileptische, alle Gruppen von Schachsinnigen, Kinder mit Veitstanz, 14 Formen von Psychopathen, Pubertätsgestörte und Selbstmörder.[198]

Wieso diese neue begriffliche Vereinheitlichung? Die Bemühungen waren doch im 19. Jahrhundert dahin gegangen, in dem Sammelsurium von Krankheiten und Auffälligkeiten Formen und Unterformen zu suchen, jede möglichst deutlich von den anderen abzugrenzen und ihnen Namen zu geben, die Studenten der Psychiatrie dürfen sie heute noch auswendig lernen. Hatte man nun etwa Gemeinsamkeiten in den Symptomen, einen Generalfaktor bei den Ursachen oder eine Via Regia der Therapie entdeckt, daß man einen neuen Sammelbegriff brauchte? Im Gegenteil, das galt nicht einmal für die einzelnen Formen:

»Bei den Anormalen ist das Zusammenfassen der Einzelfälle und die Abstraktion der Erscheinungen sehr schwer möglich. ... Bei den Anormalen wird es immer sehr schwer bleiben, im Allgemeinen ihre Symptome zu schildern, da sich fast alle Individuen in so hohem Grade voneinander unterschieden, und man daher speziell auf dem Gebiete der praktischen Schwachsinnigenfürsorge stets die größte Individualisierung betreiben muß. ... Die Ursachen der Anomalien sind in der Tat zahlreich und mannigfaltig. ... Deshalb wird die Wirklichkeit selten in den Rahmen passen, in den wir sie zu bringen suchen. « [199]

Die Gemeinsamkeit der Anormalen waren keine positiv bestimmbaren Merkmale, sondern daß sie in verschiedenster Hinsicht nicht den Kriterien der sogenannten Normalität entsprachen.

Diese Kriterien lieferten außer der Medizin vor allem die noch junge Entwicklungspsychologie, die experimentelle Psychologie und die experimentelle Pädagogik. Die Vorgabe der Normalitätskriterien aus der gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionssphäre wurde meist nicht mitreflektiert.

Es war der hohe Stellenwert der Normalität, der als Komplementär- und Ausgrenzungsbegriff die 'Abnormalität' hervorbrachte. Ausgrenzung deshalb, weil theoretisch eine scharfe, qualitativ unterscheidende Grenze postuliert wurde: normal gleich gesund gleich vollwertig; anormal gleich krank gleich minderwertig.

In der Praxis machte die exakte Zuordnung Schwierigkeiten. »Mitunter ist es recht schwer, einen debilen Menschen, der also die leichtesten Grade krankhaften Schwachsinns aufweist, von einem dummen, aber geistig gesunden Menschen zu unterscheiden.«[200]

Man fand pragmatische Lösungen: Ein Kind, das zwei Jahre hinter den Altersgenossen zurückbleibe, könne man als geistig minderwertig betrachten.

Die Hierarchie der Wertigkeiten fand sich auch in anderen Bereichen. Kinder waren gegenüber Erwachsenen minderwertig, Frauen gegenüber Männern, Farbige gegenüber Weißen, Arme gegenüber Reichen usw. Hinter diesen Ansichten stand eine soziale und politische Realität, auf die sie sich bezogen und die sie zu legitimieren suchten. Ihre eigene Legitimation suchten sie vielfach bei Darwins Evolutions- und Selektionstheorie. Im Begriff des Sozialdarwinismus wird ein Ideenkonglomerat zusammengefaßt, das die darwinistischen Grundprinzipien des biologischen Daseins umdeutet und sie zum Modell des sozialen und politischen Denkens macht. Einer der prominentesten Sozialdarwinisten war Sir Francis Galton, der als Vater der Intelligenzforschung und der Eugenik gilt.[201]

In gewisser Hinsicht war Darwin selbst der erste Sozialdarwinist. In der Darstellung seiner Evolutionstheorie bediente er sich oft Bilder der gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit, seine Terminologie war der liberalen Wirtschaftstheorie entlehnt.[202]

Darwin widmete sich auch dem Schwachsinn, den er als Atavismus, als Rückfall auf eine phylogenetisch ältere, niedrigere Stufe der biologischen Entwicklung betrachtete. Bewiesen sollte das anhand von kleinköpfigen Idioten werden, deren Schädelknochenbau jenem niederer menschlicher Typen gleiche. »Ihre Intelligenz und besonders ihre geistigen Fähigkeiten sind äußerst schwach, ... jedoch ahmen sie leicht nach. Sie sind kräftig und merkwürdig beweglich, hüpfen und springen beständig und ziehen Grimassen. Oft ersteigen sie Treppen auf allen Vieren und haben eine besondere Neigung auf Möbel oder Bäume zu klettern. Wir werden hierdurch an die Freude erinnert, mit der die meisten Knaben Bäume erklettern; und dieses wieder erinnert uns an die Lust, mit der Lämmer und Junge Ziegen -ursprünglich Gebirgstiere- selbst auf die geringste Anhöhe hüpfen.«[203]

Diese Ansichten waren um 1900 überholt. Aber eine andere, rassistisch gefärbte Spielart der Atavismusthese hat sich ein Denkmal gesetzt, das bis heute steht: der Begriff des Mongolismus.

Lassen wir zunächst die Anthropologen zu Wort kommen, deren eine Lieblingsbeschäftigung es war, die Rassen auf einer Entwicklungsrangskala einzuordnen: »Ist der Typus des Negers fetal, so der des Mongolen infantil. Und in genauester Übereinstimmung damit steht der Befund, daß auch Regierungsform, Literatur und Kunst bei ihnen infantilen Charakter haben. Sie sind bartlose Kinder, deren Leben eine Pflichtarbeit und deren Haupttugend bedingungsloser Gehorsam ist. «[204]

Der englische Arzt John Down versuchte 1866, die Schwachsinnigen nach rassischen Merkmalen einzuteilen. Eine Gruppe bezeichnete er wegen der vermeintlichen Ähnlichkeit als mongolischen Typ. Diese Ähnlichkeit war ihm Indiz für eine durch Tuberkulose der Eltern hervorgerufene Regression auf einen niedrigeren Rassentypus.[205] Das von ihm beschriebene Syndrom wird heute auch als Down-Syndrom bezeichnet.

Die sogenannte Degenerationshypothese kam aus Frankreich und erfreute sich nicht nur unter Psychiatern, sondern in allen Bevölkerungsschichten großer Popularität. Sie suchte nicht nach Atavismen, sondern faßte ähnlich wie die Anormalentheorie die psychiatrischen Zustandsbilder als krankhafte Abweichung vom menschlichen Normaltypus auf, erkennbar an diversen körperlichen Merkmalen, sogenannten Stigmata. Die Degenerationshypothese wurde mit der Diskussion über die Verwandtschaft von Genie, Irrsinn und Verbrechen verknüpft. Die Kriminalanthropologie Lombrosos betrachtete die »geborenen Verbrecher« als Überlebende einer Urrasse, erkennbar u.a. an der charakteristischen Ohrläppchenform.[206]

Manche Autoren postulierten eine Wesensverwandtschaft zwischen Imbezillen und Lombrosos Verbrechern, die insbesondere in ihrer antisozialen, feindseligen Stellung gegenüber der Gesellschaft bestehe.[207]

Ende des Jahrhunderts wurde die Degenerations- und Stigmatahypothese in wissenschaftlichen Kreisen als übertrieben, falsch und veraltet abgelehnt. In populären Schriften dagegen hielten sie sich hartnäckig. Auch in Bösbauers Handbuch sind »Degeneration« und »Entartung« stehende Begriffe. Schwachsinnige galten sowohl als Produkt als auch als Quelle der Degeneration:

»Niemand wird leugnen, daß gerade in den letzten Jahrzehnten in allen Ständen der Bevölkerung eine geradezu entsetzliche Degeneration in geistiger wie in körperlicher Beziehung zu konstatieren ist.« Bei der Fürsorge für Schwachsinnige gehe es nicht nur um Einzelschicksale, »sondern um die Bewahrung weiter Volksschichten vor der Degeneration in geistiger, sittlicher und körperlicher Beziehung. «[208]

Die pessimistische Einschätzung des gegenwärtigen Zustandes teilten so ziemlich alle Autoren. Während aber die einen ihre Hoffnungen in eine verstärkte Sozialpolitik und -fürsorge legten, welche Schwachsinnige und andere Abnorme zu »nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft« machen könnten, begannen Verfechter der Eugenik, gerade in diesen sozialen Maßnahmen die Ursache für die Verschlechterung des Menschengeschlechts zu suchen, da sie den Gesetzen der Natur widersprächen und eine »Gegenauslese« bewirkten.

Was die Ätiologie der Abnormitäten, Atavismen, Entartungen etc. betrifft, so wurde der V e r e r b u n g ein hervorragender Stellenwert beigemessen. Sie verstärkte natürlich noch den fatalistischen Zug aller dieser Theorien. Manche Autoren führten 50-70% aller Fälle von Schwachsinn ab der Geburt auf Heredität zurück.

Die Vererbungstheoretiker gaben sich zwar sehr wissenschaftlich, auf Ergebnisse der Naturwissenschaft konnten sie sich aber erst ab etwa 1900 berufen, als Mendels Genetik, obwohl schon 1865 publiziert, eine größere Verbreitung fand.[209] Als Beleg für wirksam gewordene Vererbungsmechanismen galt das vermehrte Auftreten verschiedener Krankheiten in Familien: »Kommen bei Eltern oder Verwandten eines Kindes in der aufsteigenden Verwandtenlinie gehäufte Geistes- und Nervenkrankheiten vor, so ist auf eine dem Keime nach von den Erzeugern anhaftende Anlage zu schließen. «[210]Großer Beliebtheit erfreuten sich Familienstudien, welche die Vererbung krankhafter Abnormitäten über Generationen hinweg nachweisen sollten.

Der Alkoholismus wurde als Hauptursache des Schwachsinns und anderer Abnormitäten angesehen, und er galt als progredient vererbbar: »Meist pflanzt sich die alkoholische Entartung von Generation zu Generation verstärkt fort.« Ein bißchen Hoffnung durfte man allerdings haben: »Ein Glück nur ist es, daß in der vierten Generation der Nachkommen eines Trinkers Sterilität eintritt.«[211]

Pädagogen waren in der Regel vorsichtiger als Psychiater, was die Vererbung anlangte; bei einer rigorosen Auslegung wäre ja ihre eigene Tätigkeit überflüssig geworden. Nur die Krankheits a n l a g e oder die »Schwäche des Zentralnervensystems« sei vererbt, ob es zum Ausbruch der Krankheit käme und in welchem Ausmaß, hänge von Schädigungen in der frühen Jugend und von der Intensität der Förderung ab.

Nicht jede Krankheit und nicht jede Abweichung von der Norm machten einen Menschen zum Anormalen und Minderwertigen, sondern vorzüglich solche des G e h i r n s, des 'Geistes', der 'Seele'. Umgekehrt aber wurde dadurch jede wahrgenommene Minderwertigkeit zur Gehirnkrankheit. Beweisen ließ sich das nicht schlüssiger als schon 100 Jahre zuvor beim Kretinismus. Denn die Gehirnforschung hatte zwar im Bereich der Morphologie und Physiologie große Fortschritte gemacht, über die Funktionalität wußte man aber wenig. »Über das nähere Verhältnis der Hirnkrankheiten zu den Seelenstörungen herrscht noch vollständiges Dunkel.«[212] Da man aber bei der Sezierung Schwachsinniger »stets krankhafte Veränderungen der Großhirnrinde« gefunden hatte, war man überzeugt, »daß ein Schwachsinn rein funktioneller Natur, d.h. bei anatomischer Intaktheit der Großhirnrinde nicht existiert. «[213]

Die genannten Theorien waren nicht grundsätzlich neu. Von Vererbung sprachen auch die Brüder Wenzel, die moralische Verurteilung der Schwachsinnigen (und Wahnsinnigen) war ein Bestandteil der deutschen Psychiatrie der Romantik und Knolz' Beschreibung der pflanzlichen Kretinennatur stellt selbst die Atavismustheoretiker in den Schatten.

Neu war die Universalität des Geltungsbereichs dieser Theorien, ihr Eingang in das Alltagsbewußtsein, sowie die Tatsache, daß nunmehr praktische Konsequenzen, die diese Theorien nahelegten, eine reelle Chance auf Verwirklichung hatten: Mit noch etwas gemischten Gefühlen berichten die Autoren des Handbuchs von gesetzgeberischen Vorbereitungen eines Eheverbots für Schwachsinnige in England, sowie von einem 1907 im amerikanischen Bundesstaat Illinois beschlossenen Gesetz, das die Kastration von »unverbesserlichen Verbrechern, Blödsinnigen, Notzüchtern und Schwachsinnigen« nicht nur erlaubte, sondern sogar zur Vorschrift machte, wenn eine Sachverständigenkommission dies für ratsam hielt.[214]

Als Beispiel dafür, mit welcher Selbstverständlichkeit die genannten Ansichten -oder Teile davon- auch hierzulande vertreten wurden, abschließend einige Auszüge aus einem »Therapeutischen Lexikon für praktische Ärzte«, verfaßt von einem salzburger Arzt, der aber keineswegs speziell mit Schwachsinnigen beschäftigt war. Unter dem Stichwort 'Idiotie' ist unter anderem zu lesen:

»a) intellectuelle, d.i. primäre geistige Schwäche, ist angeboren, im Uterus entstanden (bei Kindern von Epileptikern, Alkoholikern, nahen Blutsverwandten) oder bis zur Zeit der Pubertät entstanden. ... Idiotisch werden im Rausche erzeugte Kinder, solche die früh Opium oder Alkohol erhalten. ... Schwachsinn, langsame Auffassung, enger Ideenkreis mit Egoismus, excessiver Erregbarkeit, förmlichen Wutanfällen in ihre Person betreffende Angelegenheiten und dadurch bedingte Gefährlichkeit bildet den leichteren Grad. ...

b) moralische. Moral Insanity tritt auf bei erblich Belasteten, bei von geisteskranken, epileptischen oder trunksüchtigen Eltern Geborenen, oder infolge schwerer Neurosen, schwerer Kopfverletzungen, Alkoholismus. Bei ersteren ist jede Besserung ausgeschlossen, bei letzteren kann sie nur in einer Anstalt erreicht werden. ... Es ist ein Leben nur auf den Augenblick, ohne Rücksicht auf die Folgen (perverser Geschlechtstrieb, Päderastie) ... Charakteristisch ist, daß die Kranken die Empfindung für Recht und Unrecht verlieren, in dieser Beziehung minderwertig werden. ... Die Moral Insanity kommt häufiger vor als man glaubt, sie ist ein Zeichen der fortschreitenden Degeneration der Menschheit. Es bangt einem und thut einem das Herz weh, wenn man an die Zukunft ehrlicher, sittenreiner, für den Ehrbegriff empfindlicher junger Leute in dieser verlotterten, degenerierten Gesellschaft denkt.« [215]

In der zweiten Hälfte des 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert vollzogen sich weitreichende gesellschaftliche Veränderungen. Salzburg wurde Teil der 'modernen Welt' und ihrer Widersprüche.

Schwachsinnige (und viele andere) konnten im 'Kampf ums Dasein' -ein zentrales Schlagwort der Epoche- nicht mithalten. Im ländlichen Raum verlor ein Teil der Schwerstbehinderten die Nischen des Mitexistierens, die traditionelle Ausweichmöglichkeit in die Einlage wurde ihnen streitig gemacht oder wurde für sie zur Hölle. Im städtischen Raum konnten viele Schwachsinnige dem Leistungs- und Konkurrenzdruck der Arbeitswelt nicht standhalten; sie zu versorgen und Kinder zu beaufsichtigen wurde für arme Familien immer schwieriger. Für gutbürgerliche Familien wurden Schwachsinnige zur Schande.

Aus den genannten Faktoren ergab sich ein wachsendes Bedürfnis nach Spezialanstalten.

Im wissenschaftlichen Bereich wurde Schwachsinn zur Domäne der Psychiater, die sich, den sozialdarwinistischen Ideologien folgend und sie stützend, zu Spezialisten für 'minderwertige Köpfe' mauserten. Geisteskrankheiten wurden, aller sozialer Komponenten entkleidet, Gehirnkrankheiten; so auch der Schwachsinn.

In ihrer Kategorisierungswut schufen die Psychiater nun erstmals eine wirklich einheitliche Gruppe 'Schwachsinnige' (mit Unterkategorien), deren allesbestimmendes Hauptmerkmal der leistungsschwache Kopf war. Gemeinsam mit anderen 'Anormalen' wurden sie in einem konzeptionellen Käfig von Dekadenz und Vererbung gefangen.

Im Gegensatz zu früher blieben die neuen wissenschaftlichen Ansichten über Schwachsinn keine Angelegenheit für Spezialisten, sondern fanden in direkter oder gebrochener Form Eingang in das Denken der meisten Menschen. Das verdankte sich einerseits dem Umstand, daß sozialdarwinistische Ideologien fester Bestandteil der herrschenden Weltanschauung waren, und andererseits der Tatsache, daß sie in der realen Lebenssituation Schwachsinniger durchaus eine Entsprechung fanden und deshalb als Erklärungsmodell in das Alltagsbewußtsein aufgenommen wurden.

Diesem Denken konnte sich kaum jemand entziehen. Aber es wurden aus den gemeinsamen Grundannahmen verschiedene Konsequenzen gezogen. Während vor allem Ärzte die Isolierung Schwachsinniger zum 'Schutz der Gesellschaft' forderten, setzten Pädagogen auf die Möglichkeit, sie aus der Sackgasse der Anormalität so weit herausführen zu können, daß sie eine 'menschenwürdige Existenz' führen könnten. Zwangsläufig kam es dabei zu einer Unterscheidung in 'Brauchbare' und 'Unbrauchbare'. Anstaltsunterbringung war für Pädagogen nicht Endzweck, sondern Mittel zur Brauchbarmachung, einzig mögliches Mittel, um schwachsinnige Kinder und Jugendliche vor Verwahrlosung und Diskriminierung zu schützen. Da aber die Pädagogen und ihre Anstalten dem Primat der herrschenden Normalitäts-Anormalitätskriterien unterworfen waren, konnten sie ihrem sozialen Anspruch vielfach nicht gerecht werden, sie wurden stattdessen zu Spezialisten für Abnormenverhaltenskunde, ihre Anstalten zu pädagogischen Labors.

Salzburg blieb bis Anfang des 20. Jahrhunderts von pädagogischen Initiativen weitgehend unberührt, wurde jedoch mit deren Ergebnissen konfrontiert.

Die Landesverwaltung wußte sich lange Zeit der Forderung nach besonderen Anstalten zu entziehen. Das schließlich 1907 eröffnete Konradinum, als kombinierte Pflege- und Erziehungsanstalt geplant, mußte sich bald auf die 'unbrauchbaren' Idioten beschränken.

Um solche hatten sich bereits im 19. Jahrhundert geistliche Schwestern in Schernberg gekümmert, die der Ideologie vom 'Recht des Stärkeren' jene vom 'Existenzrecht der armen Kreatur' entgegensetzten.



[147] Vgl. Hilscher, S.125

[148] Dekret der Landesregierung in Salzburg an sämtliche k.k. Bezirksämter, die Vorstehung der Stadtgemeinde Salzburg und an das öffentliche Sanitätspersonal. Nr.9244, KAS, Akten 22/84.

[149] Statistik des Sanitätswesens der im österreichischen Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder. 1873-1879; 1880-1913 in: Österreichische Statistik.

[150] Edwin Klebs: Studien über die Verbreitung des Cretinismus in Österreich. Prag 1877.

[151] Klebs, S.40

[152] Vgl. 50 Jahre Landtag, S.329 ff

[153] Akt Nr.3833 in KAS, Akte 22/84.

[154] Akt Nr.5460.

[155] Akt Nr.3833.

[156] Vgl. Feldbauer, S.128

[157] U.a.: Salzburg in den letzten 50 Jahren. 1866; Geschichte der Stadt Salzburg. 1890; weitere Schriften siehe Literaturverzeichnis. Im Jahre 1860 war er Hauptinitiator für die Gründung der 'Gesellschaft für Salzburger Landeskunde'.

[158] Vgl. Widman 1897, S.IX

[159] Jena 1860. Im folgenden Abschnitt beziehen sich alle Seitenangaben hinter den Zitaten auf dieses Buch.

[160] Klebs, S.25 f

[161] Knapp 1879, zitiert nach Bösbauer, S.141

[162] 50 Jahre Landtag, S.447

[163] Greinz, S.181

[164] Der barmherzige Samaritan. III. Jg., 1903, S.24 f. Diese Geschichte hat sich zwar in der Steiermark zugetragen, hätte sich aber vom Versorgungsproblern her genauso gut in Salzburg abspielen können.

[165] Zitiert nach Bösbauer, S.140

[166] Leo Kanner: A History of the Care and Study of the Mentally Retarded. Springfield 1964, S.85 f

[167] Vgl. Bösbauer, S.18

[168] Stölzel 1906.

[169] Vgl. Festschrift, Salzburg 1982, S.6

[170] Diagnosen im Krankenregister der Anstalt.

[171] Franz Stadler: Bericht über die sanitären Verhältnisse und Einrichtungen des Herzogthums Salzburg für die Jahre 1904-1908. Salzburg 1908, S.170

[172] Vgl. Harrer, S.30; Sanitätsstatistiken und Greinz, S.64

[173] Vgl. Stadler, S. 170 ff

[174] Stadler, S. 173

[175] Krankenregister.

[176] Näheres im letzten Kapitel.

[177] Otto Willmann: Pädagogische Vorträge. Leipzig 1886, zitiert nach Bösbauer, S.107

[178] Gnilsen 1972.

[179] Festschrift, S.18

[180] Stadler, S.183

[181] Landtag 1898-1905. Detaillierte Seitenangaben finden sich in der Dissertation, S.141 ff

[182] Landtag 1904, S.371

[183] Währungsänderung 1893: 1 Gulden alter Währung gleich 2 Kronen, gleich 100 Heller. Ab 1900 sind Kronen und Heller ausschließliche Landeswährung. Vgl. 50 Jahre Landtag, S.545

[184] § 4 des Stiftsbriefes. Landtag 1907, S.691

[185] Landtag 1907, S.688

[186] Vgl. Franz Bruckbauer: In der Landes-Idiotenpflegeanstalt 'Konradinum' in Eugendorf. In: Die Heimat. Sonntagsbeilage der Salzburger Chronik. Jg. 1918, Nr.21, S.114

[187] Landtag 1909, S.95

[188] Vgl. Bruckbauer, S. 114

[189] Landtag 1907, S.688

[190] Landtag 1910, S.884 ff

[191] Landtag 1910, S.884 ff

[192] Landtag 1910, S.884 ff

[193] Landtag 1902, S.1010

[194] Vgl. Bruckbauer, S.115

[195] Bruckbauer, S.115

[196] Bösbauer/Miklas/Schiner: Handbuch der Schwachsinnigenfürsorge. Wien 1909.

[197] Vgl. Bösbauer, S.11

[198] Vgl. L. Scholz: Anomale Kinder. Berlin 1912.

[199] Bösbauer, S.27

[200] Bösbauer, S.21

[201] Der Intelligenzforschung und den eugenischen Theorien sind eigene Abschnitte gewidmet.

[202] Vgl. Hobsbawm 1977, S.314

[203] Zitiert nach Bösbauer, S.16

[204] Anthropological Review 411866, S.20; zitiert nach Hobsbawm 1977, S.332

[205] Vgl. Kanner, S.98 f

[206] Vgl. Erwin Ackerknecht: Kurze Geschichte der Psythiatrie. Stuttgart 1967, S.53 ff

[207] Vgl. Bösbauer, S. 18

[208] Bösbauer, S.95 f

[209] Vgl. Eric Hobsbawm: Die Blütezeit des Kapitals. München 1977, S.332

[210] Bösbauer, S.75

[211] Bösbauer, S.78

[212] Hagemann 1897, zitiert nach Bösbauer, S.5

[213] Bösbauer, S.7

[214] Bösbauer, S.106

[215] Josef Pollak: Dreißig Jahre ärztliche Praxis. Ein therapeutisches Lexikon für praktische Ärzte. Greifswald 1902, S.369. Pollak war übrigens einer der Protagonisten für die Einführung des Elberfelder Systems der Armenunterstützung in Salzburg.

DIE 'NEUEN' SCHWACHSINNIGEN UND DIE HILFSSCHULE

Die Einführung der neuen Volksschule. Schwachsinnige und Verwahrloste als Störfaktoren

Wir werden uns im folgenden Kapitel mit einer gesellschaftlichen Entwicklung befassen, die zu einer beträchtlichen Vergrößerung der Gruppe der Schwachsinnigen führte. Es ist dies die Reformierung des Volksschulwesens um 1870 und in deren Folge die Gründung der Hilfsschule. Eine Entwicklung, die sich in Österreich und besonders Salzburg zwar wie gewohnt langsamer vollzog als etwa im benachbarten Deutschland, in ihren Charakteristika jedoch als europäische bezeichnet werden kann.

Wir nähern uns der Gründung der Hilfsschule von zwei Seiten. Einmal von der 'ausschließenden', welche die Hilfsschule als Entlastungsinstitution für die Regelschule erforderte. Einmal von der 'emanzipativen', welche die Bemühungen um verbesserte Entwicklungsmöglichkeiten Schwachsinniger hervorhebt. Zwei Seiten derselben Medaille.

Mit dem Reichsvolksschulgesetz von 1869 wurde in Österreich die 8-jährige Schulpflicht der 6-14-Jährigen eingeführt, das Volksschulwesen der kirchlichen Aufsicht entzogen, der staatlichen unterstellt, und die Interkonfessionalität festgeschrieben. Zur Erzielung der angestrebten Niveauhebung des Unterrichts wurde die Lehrerausbildung auf vier Jahre erweitert und stark verwissenschaftlicht. Damals entstand die Lehrerbildungsanstalt.[216]

Als hauptsächliche Triebkräfte für diese Reform nennt Peter Feldbauer den Bedarf der modernen Industrie sowie des Heeres an Menschen mit bestimmten Mindestqualifikationen und des Staates an bewußten 'Staatsbürgern'; als Hauptvoraussetzung für ihre Realisierung die staatliche Regelung und Einschränkung der Kinderarbeit.[217] Was im Bereich der Industrie vergleichsweise leicht erreichbar war, da die technische Entwicklung eine Übernahme der bisherigen Kinderarbeit durch Frauen und Maschinen ermöglichte[218], stieß im ländlichen Bereich auf großen Widerstand. 'Unnützes' Wissen gegen notwendige Feldarbeit - das war kein Tausch!

Im Salzburger Landtag machten sich zunächst die Konservativen zum Sprachrohr der bäuerlichen Interessen: »Der Bauer braucht die Kinder mit 12 Jahren zur Feldarbeit, noch dazu bei dem Dienstbotenmangel. Die Kinder sollen sich früh an die Arbeit gewöhnen und vor Müßiggang bewahrt werden. «[219]

Als sich 1878 die Mehrheitsverhältnisse im Landtag und im Schulausschuß änderten, war es die liberale Minderheit, welche die Anträge auf Reduzierung der Schulpflicht auf 7 Jahre stellte, und die Konservativen lehnten alle Petitionen ab, weil am Reichsvolksschulgesetz ohnehin nichts zu verändern war.

Außer der vermehrten Wissensvermittlung sollte die reformierte Volksschule auch eine verbesserte Einübung der Kinder in Ordnung und Disziplin bringen. Wir sind diesem Anspruch bereits bei der aufgeklärten Schulreform begegnet. Zum Teil konnte man auf die damaligen Erfahrungen zurückgreifen, etwa was die 'optimale' Konstruktion von Schulbänken betraf, die alle Spielereien und Ablenkungen durch den Nachbarn verhindern sollte.[220]

Viele Sparten der Wissenschaften, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt auf Kinder und Jugendliche stürzten und das 'normale' Kind mit seiner 'normalen' Entwicklung erfanden, widmeten sich mit Fleiß den Fragen der Disziplinierung, als Beiträge zur Erzielung dieser Normalität. Praktische Erfahrungen mit Disziplinarräumen hatte man besonders in Fabriken, Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten und Kasernen machen können, die nun auch für die Schule nutzbar gemacht werden sollten. 1890 empfahl ein Herr Kahle den Volksschullehrern ausdrücklich: »Lerne vom Militär! « und führte im einzelnen alle Ordnungs-, Revisions-, Unterrichts- und Hinausgeh-Kommandos an. »Die Ausführung der Kommandos muß eingeübt werden, damit dem Lehrer das Kommandieren, dem Schüler die pünktliche Befolgung zur zweiten Natur werde.«[221]

Die Wissenschaft erklärte die konstruierte und erzwungene Normalität zur menschlichen Natur und forderte einen entsprechenden Aufbau des schulischen Unterrichts. »Die Kindesnatur (der 8-Jährigen) weist sehr deutlich darauf hin, daß diese Periode hauptsächlich dem Drill, der Gewöhnung und dem Mechanischen gewidmet werden sollte. Das Alter der Vernunft beginnt erst, und diese wird noch wenig gebraucht; deshalb sollte jetzt die Zucht das Schlagwort sein. «[222]

Die Schule als durchorganisierter Disziplinarraum muß mehr als Anspruch denn als gängige Praxis betrachtet werden. Zunächst hatten sich die Schulbehörden und Lehrer mit noch grundlegenderen Problemen herumzuschlagen. Da war die mangelnde Infrastruktur, insbesondere die fehlenden Räumlichkeiten in den Landgemeinden, sowie der Mangel an qualifizierten Lehrern. In Salzburg waren 1886 über 80% der öffentlichen Volksschulen nur 1- oder 2-klassig, meist mit 70-90 Kindern pro Klasse, einige gar mit 120-130.[223]

Die Bauern wehrten sich gegen die 8-jährige Schulpflicht. Ihnen wurde mit der Novellierung der Schulgesetze 1883 teilweise nachgegeben, durch die Einführung von Schulbesuchserleichterungen sowohl für einzelne Schüler, als auch für ganze Klassen der beiden letzten Jahrgänge. 1886 betraf dies in Salzburg 11 % der schulpflichtigen Kinder, 1905 lag ihr Anteil noch etwas höher.

Die Regelmäßigkeit des Schulbesuchs ließ dennoch sehr zu wünschen übrig. Sie mußte erst mit scharfen Strafandrohungen und tatsächlichen Geld- und Arreststrafen durchgesetzt werden. Im Jahre 1886 wurden in Salzburg 487 solcher Strafen aktenkundig.[224]

Zusammenfassend charakterisiert Feldbauer die neue Volksschule als »Zwangsanstalt zur Sicherung von gesellschaftlich und ökonomisch notwendigen Qualifikationen. «[225]

Die angeführten Aspekte der neuen Volksschule werden verständlich machen, warum schwachsinnige und andere von der Norm abweichende Kinder in ihr zu Störfaktoren wurden, die man zu eliminieren suchte.

Zunächst mußte in einem Gesetz, das die Schulpflicht aller 6-14-Jährigen vorsah, ein Passus über die Befreiung Schwerstbehinderter von dieser Pflicht enthalten sein: Taubstumme, Blinde, Schwachsinnige und Krüppelhafte wurden »wegen schweren körperlichen oder geistigen Gebrechen vom Schulbesuch befreit. «[226]Aus der immer geringer werdenden Zahl derselben läßt sich schließen, daß es sich dabei tatsächlich zunehmend um Schwerstbehinderte handelte, und daß die Schulbehörden daran interessiert waren, den möglichst vollständigen Schulbesuch zu erreichen.

Das Problem war aber, daß in den Schulklassen selbst eine große Zahl Schwachsinniger saß, so jedenfalls die Klage zahlreicher Lehrer, die den Unterrichtsfortgang hemmten und daher in besonderen Klassen oder eigenen Institutionen zusammengefaßt werden sollten. In einem Bericht des Landesausschusses werden die wichtigsten Argumente der Schulleiter und Bezirksschulräte für und gegen eine Aussonderung »der als schwachsinnig bezeichneten« Schüler referiert:

»Es ist gewiß richtig, daß schon der Umgang mit gut gezogenen gesunden Kindern äußerst vorteilhaft auf schwachbegabte Kinder einzuwirken vermag. Durch das Beispiel der Altersgenossen, das nicht selten weit eindringlicher wirkt als die Belehrung Erwachsener, unter dem Miteinflusse des in früher Jugend mächtig wirkenden Nachahmungstriebes kann in bezug auf Ordnungsliebe, Gesittung, Haltung ein wertvoller Erziehungserfolg erreicht werden, dem sich unter dem belebenden Einflusse des Verkehrs mit den normal Befähigten und der aus demselben sich ergebenden Anregung allmählich die Erlernung der willkürlichen Aufmerksamkeit und das Erwachen der Verstandestätigkeit anreiht, durch welche solchenKindern wenigstens einfache mechanische Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Handarbeit) beigebracht werden können, wenn auch das verständige Rechnen schon oft unübersteigliche Schwierigkeiten bereitet.

Die hohe Bedeutung dieses Einflusses, wie auch die großen Schwierigkeiten, welche die Unterscheidung zwischen der in den Schranken der Naturanlage wurzelnden, unbesiegbaren geringen Leistungsfähigkeit der Kinder und zwischen der durch mangelhafte Pflege, Ernährung und Anregung verursachte Zurückgebliebenheit der Kinder bereitet, die dann durch eine konsequente, verständige und liebevolle Beeinflussung allmählich beseitigt werden kann, läßt es keinesfalls ratsam erscheinen, die als schwachsinnig bezeichneten Kinder schon zu früh eigenen Kursen zu überweisen.« [227]

In dieser Phase der Diskussion wird das Argument von den Vorteilen eines gemeinsamen Unterrichts von schwachsinnigen und normalen Kindern noch gebraucht, später taucht es nicht mehr auf. Auch jetzt ist es eingeschränkt und wird mit der Schwierigkeit einer korrekten Klassifikation der zurückgebliebenen Schüler begründet. Im Prinzip sollen die Schwachsinnigen in eigene Kurse, aber eben nicht zu früh. Gemessen werden die Zurückgebliebenen an den »gut gezogenen, gesunden« Kindern; daß das eigentliche Kriterium die wissensmäßigen und disziplinären Anforderungen der Schule sind, wird nicht bewußt. Wohl aber, daß vielfach das Urteil 'schwachsinnig' zu früh und unberechtigt erfolgt, weswegen die vorsichtige Formulierung »als schwachsinnig bezeichnete Kinder« gewählt wird.

Der Berichterstatter fährt fort: »Wenn diese jungen Schwachsinnigen nicht selten eine so große Plage für den unterrichtenden Lehrer bilden, daß sie nicht ungern von den Lehrern baldigst als 'schulbesuchsunfähig' erklärt werden, so muß dem Einflusse der Bezirksschulinspektoren alle Anerkennung gezollt werden, wenn sie sich bemühen, auch die schwachsinnigen Kinder möglichst vollzählig zum Schulbesuche heranzuziehen, und wenn sie die Lehrer anregen, sie mögen den Sprachbegabten wenigstens einen kleinen Teil jedes Schulhalbtages zuwenden.«

Daß die Bemühungen der Behörden formal erfolgreich waren, sieht man am Rückgang der Zahl der vom Schulbesuch Befreiten. Im Grunde erfüllten die Bezirksschulräte damit nur einen gesetzlichen Anspruch; bei gleichbleibender Zielsetzung der Schule und überfüllten Klassen konnte kein wirklicher Unterricht für Schwachsinnige erfolgen, denn:

»Andererseits kann aber nicht verlangt werden, daß der Klassenerfolg mit den vollbegabten Schülern der möglichen Hoffnung auf einen Erfolg der aufmerksamen Beschäftigung mit den schwachsinnigen Kindern geopfert werde, weshalb, sobald die Anzahl der schwachsinnigen Kinder wächst, deren jedes einen anderen Bildungsgrad aufweist und jedes eine andere Behandlung verlangt, leicht Verhältnisse eintreten können, welche den gewissenhaftesten und wohlwollendsten Lehrer zwingen, zum Behufe der Erreichung des lehrplanmäßigen Lehrzieles seiner Schüler, die schwachsinnigen einfach unbeachtet zu lassen.«

Vom Anspruch zur Realität. Unbeachtet in den Eselsbänken zu sitzen war das Los der 'Dummen'. Damit war ihre weitere Karriere auch schon vorgezeichnet: »Wenn durch den mehrjährigen Einfluß aller Faktoren, welche Beispiel und lehrplanmäßiger Unterricht der ersten Jahresstufe zu bieten vermag, es nicht gelungen ist, das schwachbegabte Kind zur Beherrschung des Lehrpensums dieser Jahresstufe zu führen, so vermag wohl die weitere geisttötende Wiederholung des Jahrkurses keinen Fortschritt mehr zu erzielen.«

Von welchen Kindern ist in diesem Diskurs eigentlich die Rede? Sind es jene Fexen, Kretinen, Idioten, Deppen, Blöden und Schwachsinnigen, von denen in den bisherigen Kapiteln gesprochen wurde?

Offensichtlich a u c h, aber nicht nur. Diese als von der allgemeinen Norm abweichend und minderwertig zu identifizieren hat sich die Gesellschaft mittlerweile angewöhnt. Wir haben die Kriterien kennengelernt: Alltagsverstand, körperliche Merkmale, Sprache, Arbeitsfähigkeit, lebenspraktische Möglichkeiten, Heerestauglichkeit.

In der Volksschule werden hingegen zusätzliche Kriterien angelegt: die Fähigkeit, ein in einem Lehrstoff kodifiziertes Wissen zu erwerben, in Lehrzielen definierte Fertigkeiten zu produzieren und sich an eine mit einer Fülle von Vorschriften und Verboten abgesicherte Ordnung anzupassen. Neu nicht in dem Sinn, daß es in der alten Volksschule keine wissensmäßigen und disziplinären Anforderungen gegeben hätte, sondern neu in der Intensität und in der Konsequenz der Durchsetzung.

Unter diesen Umständen ist zu erwarten, daß von der großen Zahl jener Kinder, die in ihren Leistungen zwischen den 'Klugen', Angepaßten und den altbekannten Schwachsinnigen lagen, nämlich der 'Dummen' und 'Faulen', etliche den Schwachsinnigen zugerechnet wurden. Die Ausführungen unseres Berichterstatters weisen in die selbe Richtung. Er spricht von körperlich schwachen, unterernährten und verwahrlosten Kindern, die im Unterricht nicht mitkommen, warnt vor frühzeitiger Aussonderung und spricht relativierend von 'als schwachsinnig bezeichneten' Kindern.

Die statistischen Zahlenangaben bestätigen unsere Vermutung der Vergrößerung der Gruppe der Schwachsinnigen.[228] Eine Erhebung unter Lehrern und Bezirksschulräten ergab 1902 eine Zahl von 739 schwachsinnigen Kindern im schulpflichtigen Alter, was einem Anteil von 2,66% entsprach. 2,2% wurden als bildungsfähig eingestuft, 0,46% als bildungsunfähig.[229]

Im 19. Jahrhundert hatten die Angaben über die Zahl der Kretinen, Idioten und Blödsinnigen meist einen Anteil an der Gesamtbevölkerung von 0,5% ergeben. Selbst Zillner, der sehr strenge Maßstäbe anlegte und sogar eine Dunkelziffer mitberücksichtigte, kam nur auf 0,8%. Diese Unterschiede sind so groß, daß kein Zweifel bestehen kann, daß sich die neuen Zahlen grundlegend ausgeweiteten Beurteilungskriterien verdanken und nicht etwa einer 'wirklichen' Vermehrung Schwachsinniger, wie dies die zeitgenössischen Beobachter angenommen haben.

Selbst die Vermutung, daß es sich bei den 0,46% Bildungsunfähigen (nach pädagogischer Terminologie) nur um die schwerstbehinderten Idioten (nach ärztlicher Terminologie) handeln würde, ist falsch, da letztere nur einen Bevölkerungsanteil von 0,18 % ausmachten.[230]

Damit liegt der Schluß nahe, daß die Mehrzahl jener 610 als bildungsfähige Schwachsinnige bezeichneten Kinder zu den 'neuen' Schwachsinnigen zu rechnen sind, die es nach den früher üblichen Kategorien noch gar nicht gab.

Diese Kinder stellten also einen »hemmenden Ballast« dar, von dem die Volksschule befreit werden sollte. Das aktivste Interesse daran zeigte ein Teil der Lehrerschaft und bekundete es durch Petitionen an den Landesschulrat, sowie in Debatten auf mehreren Lehrerkonferenzen.

Selbst in der Schulchronik der späteren Hilfsschule findet man als Hauptbedingung ihrer Gründung: »Auch die Behörden waren von der Erkenntnis durchdrungen, daß solche Kinder ein bedeutendes Hemmnis für den Unterricht bilden und standen daher dem Wunsche der Lehrerschaft nach Abhilfe sympathisch gegenüber. «[231]

Die Problematik scheint in den meisten europäischen Staaten ähnlich gelagert gewesen zu sein. Industrielle und gesellschaftliche Entwicklung, sowie die wirtschaftliche und politische Konkurrenz zwischen den Staaten erfordern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine grundlegende Reform des Volksschulwesens. Die Behörden sind weder willens noch dazu in der Lage, die Volksschule dem unterschiedlichen Leistungsniveau der Kinder anzupassen, sondern setzen so hohe Standards, daß eine Auslese nach unten unumgänglich wird. Der Bodensatz der leistungsschwachen Kinder wird wissenschaftlich (Anormalentheorie), begrifflich (Debilität) und institutionell (Hilfsschule) von den übrigen Kindern abgetrennt.

Neben den schwachsinnigen waren es die 'sittlich verwahrlosten' Kinder, die den Unterricht störten und daher aus der Schule entfernt werden sollten.

Feldbauer schreibt: »Alle Bestimmungen (der Unterrichtsordnung) zielten auf die Säuberung der Schule von 'auffälligen Kindern', die mit den üblichen Druckmitteln nicht angepaßt werden konnten. Diese sollten den Eltern übergeben werden, denen man völlig subjektivistisch alle Verantwortung an der mißlungenen Disziplinierung und Anpassung ihrer Kinder an die herrschenden Gesellschaftsnormen anlastete.«[232]

Eine weitere Verwahrlosung der Kinder war unter diesen Umständen absehbar.

Es läßt sich nicht erkennen, wie zahlreich diese Bestimmungen auch praktisch zum Tragen kamen; als Drohung erfüllten sie immerhin einen Zweck. Soweit die Gesetzeslage ausreichte und die Eltern bzw. Gemeinden sich dazu bereit erklärten, die Kosten zu übernehmen, wurden verwahrloste Kinder in Besserungsanstalten interniert. Aus Salzburg waren es im Jahre 1905 226 Knaben und 5 Mädchen.[233] Salzburg verfügte aber über keine Landeserziehungsanstalt für sittlich verwahrloste Kinder und Jugendliche. Diese Frage beschäftigte den Landtag jahrelang, da die Lehrerschaft und die Schulbehörde vehement auf die Errichtung einer solchen Anstalt drängten. Bald wurde diese Debatte organisatorisch und argumentativ mit jener über die schwachsinnigen Kinder eng verknüpft, was von anderer Seite jedoch als pädagogisch falsch zurückgewiesen wurde.

Schließlich wurde aus Kostengründen der Plan einer eigenen Besserungsanstalt fallengelassen; stattdessen zahlte das Land kleine Unterstützungsbeiträge an die Gemeinden zur Unterbringung dieser Kinder in auswärtigen Anstalten. Die Debatten konzentrierten sich im folgenden auf die schwachsinnigen Kinder.

Die Schicksale schwachsinniger und sittlich verwahrloster Kinder berührten sich in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur, wie eben dargelegt, in den behördlichen Plänen und Diskussionen, sondern auch im Alltag und in der moralischen Bewertung.

Den konkreten Individuen konnten alle Kombinationen der Merkmale: körperlich verwahrlost, sittlich verwahrlost, schwachsinnig und schulleistungsschwach zugeordnet werden, wobei das alle umfassende Merkmal meistens noch die Armut war.

Die gesellschaftliche Beurteilung und Behandlung Verwahrloster war durchwegs eine negative und aggressive. Dagegen war man Schwachsinnigen traditionellerweise immer auch mit einem Schuß Nachsicht und Mitleid begegnet (Schlagwort: »Die Ärmsten der Armen«). Dieser Milde gingen die 'neuen' Schwachsinnigen jedoch zunehmend verlustig.

Die Nähe von Schwachsinn und Verwahrlosung war auch eine Hypothek für die Hilfsschule und einer der Gründe, warum sie in der Bevölkerung von Anfang an schlecht angeschrieben war.

'Bildungsfähigkeit'. Pädagogen als Fürsprecher schwachsinniger Kinder.

In diesem Abschnitt können keine Pädagogen aus Salzburg zu Wort kommen. Denn hier gab es nach Guggenmoos bis zur Jahrhundertwende keinerlei Initiativen für eine Erziehung und Unterrichtung schwachsinniger Kinder mehr. Dennoch hatte die im folgenden aufgezeigte Entwicklung auch für die hiesigen Verhältnisse große Bedeutung, da man sich ab etwa 1900 verstärkt auf die Erfahrungen aus Deutschland und (was Österreich betrifft v.a.) Wien orientierte, die Argumentationen übernahm, die Fachzeitschriften studierte, sowie Konferenzen und Verbandstage besuchte.

Die Frage der Bildungsfähigkeit Schwachsinniger ist an sich so alt wie die professionelle Beschäftigung mit Schwachsinn überhaupt. In der Aufklärungszeit war sie geprägt vom Gesamtanspruch nach Erziehung und Bildung des ganzen Volkes, wie wir ihn am Beispiel der Brüder Wenzel kennengelernt haben.

Der klassische Fall, die Erziehungsversuche Itards am 'Wilden von Aveyron' von 1801-1805, diente gerade dem Nachweis der Bildungsfähigkeit Blödsinniger.[234]

Später wurde die Frage der Bildungsfähigkeit verbunden, wenn nicht von ihr überlagert, mit jener der Heilbarkeit, was in der hauptsächlichen Beschäftigung mit Kretinismus seinen Grund haben dürfte. Wenn auch Ärzte dabei den Ton angaben, gab es auch Pädagogen, welche die Heilungsmöglichkeiten in den Vordergrund ihrer Theorie und Praxis stellten. Wir haben gehört, daß sich einerseits die Heilungshoffnungen zerschlugen, was zum Rückzug der Ärzte aus der praktischen Schwachsinnigenfürsorge führte, daß vor allem aber die gesamte Beschäftigung mit Schwachsinnigen gesellschaftlich am Rande blieb, da sich die staatlichen Behörden fast gänzlich weigerten, Geld zur Verfügung, zu stellen oder gar selbst initiativ zu werden.

Die dennoch von Privaten gegründeten Anstalten boten nur einem Bruchteil der Betroffenen -vorwiegend Angehörigen reicher Leute- Platz und hatten meist Pflegecharakter. Aber in diesen Anstalten, wo man es nicht mit einer anonymen Gruppe 'Schwachsinnige' zu tun hatte, sondern mit konkreten Individuen, die ganz unterschiedlich von der Behinderung betroffen waren, mußte die Frage der Bildungsfähigkeit aktuell bleiben bzw. sogar an Bedeutung gewinnen. Nicht in der allgemeinen Form: Sind Schwachsinnige überhaupt bildbar?, sondern in Abgrenzung der 'hoffnungslosen Fälle', den Bildungsunfähigen, von jenen, bei denen die Beschäftigung und Förderung alle Abstufungen von Erfolg zeitigten, also den Bildungsfähigen.

Diese praktische Differenzierung ging mit organisatorischen Unterteilungen einher, z.T. innerhalb ein- und derselben Anstalt mit Pflege- und Unterrichtsabteilung, z.T. in Form getrennter Anstalten. Weiters förderte sie eine Zweiteilung der Gesamtorientierung in einen Verwahrungs- und Fürsorgebereich einerseits, einen Bereich zur 'Arbeitsfähigmachung' andererseits.

Durch die konkreten Erfahrungen in den Anstalten entwickelten die Pädagogen eine Erziehungs- und Unterrichtsmethodik, veröffentlichten sie in zahlreichen Publikationen und diskutierten sie. Oft stand die publizistische Tätigkeit im Vordergrund, wie bei Georgens und Deinhardt, die 1853 die Anstalt 'Levana' in Baden bei Wien gründeten. Während die Anstalt nach wenigen Jahren schon wieder aufgelöst wurde, waren die beiden Gründer noch viele Jahre als Verfasser pädagogischer Schriften tätig. Gemeinsam gaben sie 1861 das zweibändige Werk »Heilpädagogik. Mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten« heraus.[235] In gewissem Sinne waren die Anstalten auch pädagogische Labors zur Gewinnung von Wissen und Methoden, vergleichbar mit der Funktion der Klinik für die Medizin.

Der Begriff Bildungsfähigkeit war aber weit davon entfernt, nur ein pädagogischer zu sein. Vor allem war er auch ein propagandistischer und damit im Zusammenhang ein moralischer. Denn mit dem ständigen Hinweis auf die Bildungsfähigkeit Schwachsinniger suchten die Anstaltsleiter die Öffentlichkeit und Regierungen aufzurütteln, endlich etwas zu unternehmen und die Masse der Schwachsinnigen vor Verwahrlosung, Kriminalität, Armut und völligem geistigen Verfall zu bewahren.

Angesichts der allgemeinen sozialpolitischen Inaktivität des Staates mußte ihr Ruf jedoch verhallen, und der gesamte Bereich der Schwachsinnigenfürsorge und -bildung blieb im wesentlichen ein privater, etwas exotischer Randbereich. In Deutschland konnten sich die Regierungen sogar der Schützenhilfe aus den Reihen der Psychiater, die in heftige Konkurrenz zu den pädagogisch und priesterlich geleiteten Schwachsinnigenanstalten geraten waren, erfreuen: »Die Staatsregierungen sind nicht verpflichtet, für Erziehung und Unterricht der Blödsinnigen zu sorgen. «[236]Begründet wurde das mit den Kosten, die den Familien und der privaten Mildtätigkeit zu überlassen seien.

Ein Wandel in der öffentlichen Beachtung Schwachsinniger trat erst mit der Einführung der neuen Volksschule und mit der 'Vermehrung' Schwachsinniger ein. Wo der Staat den Schulbesuch zur Pflicht machte und die Leistungsanforderungen erhöhte, konnte er jene Kinder, die diesen Anforderungen nicht entsprachen, auf Dauer nicht ignorieren. Er konnte sie zum Teil ausschließen, von der Pflicht 'befreien', aber auch das mußte gesetzlich geregelt werden, was zwangsläufig das Suchen von Grenzen zwischen Bildungsfähigkeit und -unfähigkeit mit sich bringen mußte. Für die große Zahl jener Kinder, die zwar nicht bildungsunfähig waren, den Leistungsanforderungen aber dennoch nicht entsprachen, blieben die staatlichen und Landesbehörden gesetzlich verantwortlich, und sie konnten sich der Forderung der Pädagogen nach einem besonderen Unterricht nicht schlichtweg entziehen. Das heißt nicht, daß sie ihr umfassend nachkommen mußten; sie konnten die Kinder bei verbaler Anerkennung der Notwendigkeit eines Sonderunterrichtes trotzdem in den Volksschulen sitzen lassen, was sie de facto auch weitgehend taten, obwohl dagegen wiederum die Normalschullehrer Sturm liefen. Im Abschnitt über die Hilfsschulentwicklung werden wir sehen, wie zögernd und unkonsequent die Sonderinstitutionen eingerichtet wurden.

Nicht gewandelt hatte sich die Konzeption von Schwachsinn im Bewußtsein der Pädagogen, welche die de facto Ausweitung des Anwendungsbereichs dieses Begriffs theoretisch nicht nachvollzogen, sondern ihren medizinisch geprägten Begriff nahtlos auch auf die ‚neuen' Schwachsinnigen ausdehnten. Es blieb ihnen freilich nicht verborgen, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts viel mehr Menschen als früher in die Schwachsinnskategorien fielen. Sie erklärten das aber einerseits damit, daß viele Schwachsinnige erst jetzt, unter den neuen Schulverhältnissen und mit dem vermehrten medizinischen Wissen, als solche 'erkannt' würden. Vor allem aber glaubten sie an eine tatsächliche Ausbreitung des Schwachsinns im Zuge einer allgemeinen Degeneration des Menschengeschlechts.

Mit der Ausdehnung des Betroffenenkreises konzentrierte sich die Forderung der Schwachsinnigenpädagogen nach verstärkter Förderung auf jene neuen Schwachsinnigen im Grenzbereich zur Normalität, für die sich die Bezeichnung 'Debile' einbürgerte. Obwohl für sie auch Erziehungsanstalten gefordert wurden -wegen der Verwahrlosungsgefahr-, so konzentrierte sich die Diskussion doch auf Unterrichtsanstalten. In der Praxis wurden alle Übergänge, von der Förderstunde, über an Volksschulen angeschlossene Hilfskurse und Hilfsklassen, bis zur selbständigen Hilfsschule ausprobiert.

Meine Einschätzung des (auch) emanzipatorischen Charakters der Forderung nach Hilfsschulen ergibt sich aus der historischen Situation. Bisher waren schwachsinnige, aber auch andere Kinder aus den armen Volksklassen weitgehend von einer nennenswerten Schulbildung ausgeschlossen: durch das niedrige Niveau des Elementarschulwesens und die verbreitete Kinderarbeit, sowie durch die beschränkte Kapazität und den privaten Charakter der Schwachsinnigenanstalten. Mit der Volksschulreform sollte zwar allen Kindern eine bessere Schulbildung eröffnet werden, aber tatsächlich waren die schwachen Schüler -und sie stammten durchwegs aus den ärmsten Familien- erst recht wieder die unbeachtet Linksliegengelassenen, ohne Bildungschance im bestehenden Schulbetrieb. Diese sollte ihnen durch Herausnahme aus den überfüllten Klassen und die Anwendung einer besonderen, individuelleren Methode geboten werden.

Die in vielen Variationen vorgetragene 'reine' Argumentation lautete

z.B. folgendermaßen: »Die Erste Österreichische Konferenz, Fürsorge für Schwachsinnige, konstatiert, daß mangels an entsprechenden Schulen und Anstalten in Österreich für Tausende und Tausende schwachsinnige Kinder weder für Erziehung noch für Unterricht gesorgt ist. Durch diesen Mangel an Anstalten aber ist es unmöglich, die oft bei entsprechender Erziehung bildungsfähigen Schwachsinnigen der Gesellschaft wieder zuzuführen, und sie anzuleiten, ihr tägliches Brot mitverdienen zu können und dadurch zu verhüten, daß die Schwachsinnigen als Bettler, Arbeitsscheue, Dirnen und Verbrecher, Feinde der gesellschaftlichen Ordnung werden. Es darf dieses derzeit fast gänzlich unbebaute Arbeitsgebiet aus sozialen-charitativen und pädagogischen Gründen nicht länger mehr vernachlässigt werden.«[237]

Aber es wäre falsch, die damaligen Schwachsinnigenpädagogen ausschließlich als Fürsprecher ihrer 'Schützlinge' zu sehen, oder ihre Fürsprache nur durch die oben angeklungene Angst vor der Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung eingeschränkt zu glauben. Vielmehr übernahmensie zum Teil massiv den Standpunkt der 'Ausschließer', d.h. sie begründeten wie diese die Notwendigkeit von Sonderinstitutionenmitder Befreiung der Normalschule von hemmendem Ballast. Die Struktur der Volksschule blieb dabei unangetastet.

Weiters führte ihr theoretischer Standpunkt, die medizinisch geprägte Schwachsinns- und Anormalentheorie, zu einer Zweischneidigkeit ihrer Fürsprache. Einerseits benutzten sie diese Theorie, um die entscheidungsmächtigen Behörden von der Notwendigkeit einer besonderen, einer besonders intensiven Behandlung und Förderung der Betroffenen zu überzeugen. Gleichzeitig förderten sie damit aber die Ghettoisierung der Hilfsschule und die Diskriminierung ihrer Insassen, die als individuelle Träger einer abnormen Naturhaftigkeit als minderwertig angesehen wurden. Unter Legitimierungsdruck gegenüber vielen Eltern, die der Überstellung ihrer Kinder in die Hilfsschule Widerstand entgegensetzten, suchten die Hilfsschulpädagogen erst recht die Schützenhilfe der Medizin und zunehmend auch der (Intelligenz-) Psychologie.

Schließlich vermischte sich in den Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Berufsvereinigungen und auf deren Verbandstagen die Anwaltschaft für die Schwachsinnigen mit Professionalisierungs- und Standesinteressen.

Schon 1874 hatte in Deutschland die 'Erste Konferenz der Idiotenheilpflege' stattgefunden, deren Träger v.a. die Anstaltserzieher waren. Ihnen erwuchsen aus den Reihen der jungen Hilfsschullehrerschaft nicht nur Mitstreiter, sondern auch Konkurrenten, sodaß es 1898 zu einer organisatorischen Spaltung kam, indem die Hilfsschullehrer einen eigenen Verband gründeten. Den Anstalten wurde u.a. schlechte Qualität des Unterrichts vorgeworfen, was diese mit Finanznöten begründeten.

Als in Österreich die Hilfsschulfrage aktuell wurde, konnte man sich nur auf eine viel schwächere Tradition der Anstaltserziehung Schwachsinniger stützen als im benachbarten Deutschland.[238]

Auch die Gründung von Hilfsschuleinrichtungen ging viel zögernder vor sich: Während es im Jahre 1908 in Deutschland davon bereits 304 gab, mit 921 Klassen und über 20.000 Schülern, waren es in Österreich nur 19, mit 38 Klassen und 652 Kindern.[239] Zu einem stärkeren Ausbau des Hilfsschulwesens kam es erst nach dem 1.Weltkrieg in der Republik Deutsch-Österreich.

Der erste Zusammenschluß der österreichischen Schwachsinnigenpädagogen erfolgte 1902 im Verein 'Fürsorge für Schwachsinnige', der ab 1904 alle zwei Jahre die 'Österreichischen Konferenzen der Schwachsinnigenfürsorge' abhielt. Diese Konferenzen behandelten alle Fragen des Unterrichts, der Fürsorge, der Lehrerausbildung, der gesetzlichen Regelungen etc., erarbeiteten Konzepte und stellten entsprechende Forderungen an die Behörden.

Was den Sonderunterricht betrifft, war die Orientierung ausschließlich auf selbständige Hilfsschulen gerichtet, sodaß Stimmen wie die folgende nie mehr aufkommen konnte: 1876 waren auf einer wiener Bezirkslehrerkonferenz Leitsätze für den »Unterricht schwachbefähigter Kinder« aufgestellt worden:

1. Für schwachbefähigte, schwachsinnige, jedenfalls aber bildungsfähige Kinder reicht der gewöhnliche Schulunterricht nicht aus, da es dem Lehrer bei den meist überfüllten Klassen nicht möglich ist, dieselben ihrer Individualität nach besonders und eingehend genug zu berücksichtigen.

2. Es empfiehlt sich aber nicht, solche schwachsinnigen Kinder ganz und gar von den geistig Befähigten zu trennen, ... da sie dem bildenden Einflüsse ihrer Mitschüler entzogen werden, welcher durch nichts zu ersetzen ist.

3. Solche Schüler sollen daher ... in einer hiezu bestimmten V o r b e r e i t u n g s klasse ... entsprechenden Unterricht erhalten.« [240]

Verwirklicht wurden diese Vorschläge, die bewußt einer Absonderung vorbauen wollten, nie. Vorübergehend gab es in einigen österreichischen Städten und Märkten unterrichtsbegleitende Förderklassen.

Exkurs: Intelligenz und Intelligenztests.

Schwachsinnige haben die zweifelhafte Ehre, Anlaß für eine der »bedeutendsten Leistungen in der Geschichte der neueren Psychologie« gewesen zu sein, nämlich für die Entwicklung des ersten Intelligenztests.[241]

Im Jahre 1904 setzte das französische Ministerium für öffentlichen Unterricht eine Kommission zur Ausscheidung anomaler und zurückgebliebener Kinder aus den überfüllten Volksschulen und zur Erstellung eines Unterrichtsplans ein. Als Sprecher dieser Kommission ging der Naturwissenschafter und Arzt Alfred Binet zusammen mit seinem Kollegen Théodore Simon an die Ausarbeitung von Methoden zur Messung der Intelligenzstufe der Kinder. An sich bedurfte es dieser Methoden nicht, um die auszusondernden Kinder zu identifizieren, denn sie waren es bereits durch den Lehrer, dessen Unterricht sie nicht folgen konnten. Vielmehr ging es um den wissenschaftlich formulierten Beweis, daß diese Kinder nicht mehr leisten k o n n t e n, als es ihrem angeblich biologisch vererbten Intelligenzgrad entsprach.[242]

Bevor wir uns aber der Vermessung der Intelligenz widmen, müssen wir den Inhalt dieses Begriffs beleuchten und kommen dabei wieder auf den Sozialdarwinisten Francis Galton. Obwohl auch er seine Forschungen u.a. mit Schwachsinnigen betrieb, ging es ihm vorerst mehr um Seinesgleichen, nämlich um 'Genies'.[243] Seinem Vetter Charles Darwin nacheifernd, machte er Stammbaumuntersuchungen von 977 berühmten Männern (keine Frauen). Seine Absicht war zu beweisen, daß die Genialität innerhalb der menschlichen Art auf die gleiche Weise ausschließlich erblich bedingt sei, wie es die Unterschiede in den Eigenschaften zwischen verschiedenen Arten sind. Der Beweis schien ihm darin zu liegen, daß fast alle berühmten Männer auch berühmte Verwandte hatten. Die Berühmtheit war ihm Maß für eine natürliche Begabung, für eine hohe Intelligenz.

»Unter Begabung verstehe ich die Qualitäten des lntellekts und die Neigung, die einen Mann dazu treiben, Handlungen auszuführen, die seine Berühmtheit begründen.« [244]

Es versteht sich von selbst, daß nach Galton nicht nur die hohe, sondern auch die mittlere und niedrige Intelligenz erblich bedingt und in den gesellschaftlichen Erfolgen bzw. Mißerfolgen der Individuen sichtbar war. Sein apologetisches Erkenntnisinteresse enthüllte er selbst: »Die Frage, die gelöst werden soll, bezieht sich auf die erbliche Permanenz der verschiedenen Klassen.«[245]

Die Verknüpfung der schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Erfolge eines Menschen mit einer postulierten natürlichen, erblich tradierten Eigenschaft -der Intelligenz- war zwar in dieser dezitierten Form originell, aber nicht unbedingt genial. Sie bewegte sich durchaus im sozialdarwinistischen Ideenrahmen. Die Hervorhebung des individuellen Leistungsaspekts im Intelligenzbegriff verkörpert die Ersetzung standesbedingter durch leistungsbedingte Privilegien in der bürgerlichen Gesellschaft.

Zum Geniestreich verhalf Galton sein unaufhaltsamer Drang, alles zu messen und zu ordnen. Um nämlich seine biologisch vererbte Intelligenz in ihrer unterschiedlichen Ausprägung den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft zuordnen zu können, machte er eine konzeptionelle Anleihe bei dem belgischen Astronomen und Statistiker Quetelet, der herausgefunden hatte, daß die Verteilung einiger biologischer Größen, wie etwa die Körperlänge, in der Bevölkerung der Gauß'schen Normalkurve folgte. Da Galton nun die Intelligenz zu diesen biologischen Größen rechnete, konnte er auch ihre Normalverteilung in der Bevölkerung postulieren: »Sokommen wir denn zu der unausweichlichen, wenn auch unerwarteten Schlußfolgerung, daß hervorragend begabte Menschen sich so weit über die Mittelmäßigkeit erheben, wie die Idioten daruntergedrückt sind.«[246]

Als Beleg für die Normalverteilung der Intelligenz als natürlicher Eigenschaft führte Galton die Verteilung der Zensuren der Absolventen des Royal Military College an.

In Galtons Konzeption der normalverteilten Intelligenz erschien die Normalität von allen gesellschaftlichen Bezügen befreit und gerann zu einem statistisch berechenbaren Mittelwert.

Galton hat selbst keine Intelligenztests entwickelt, aber außer den genannten noch weitere wichtige Vorarbeiten geleistet. So stammt nicht nur der Begriff 'Test' für eine relativ kurze Untersuchung von ihm, sondern auch jener der 'Korrelation'. Sein Schüler und Mitarbeiter Pearson, der den Korrelationsbegriff weiterentwickelte, gründete 1901 ein biometrisches Institut in London, gemeinsam gaben sie die Zeitschrift »Biometrika« heraus. Ein anderer Schüler, Cyril Burt, knüpfte an Galtons Zwillingsforschungen an, welche dieser zur Stützung seiner Vererbungstheorien begonnen hatte.

Die Psychometrie verstand Galton als Fortsetzung bzw. Sonderfall der Anthropometrie. Die Anthropologen griffen seinen Intelligenzbegriff bereitwillig auf und versuchten, via Schädelmessungen einen Zugang zum Ausmaß der individuellen Intelligenzausstattung zu finden. In dieser Tradition stand auch Binet. Das klägliche Scheitern der Schädelmessungen im Bereich der Intelligenzforschung war um die Jahrhundertwende mit Ansporn für die Suche nach neuen Meßkriterien.[247]

Einen anderen Zugang zur Intelligenz und ihrer Messung als Galton fand die Psychiatrie, insbesondere die deutsche. Sie war ganz allgemein auf der Suche nach neuen Prüfmethoden für geistige Leistungsfähigkeit, Übungsfähigkeit, Ermüdbarkeit, Ablenkbarkeit und Gewöhnungsfähigkeit. Intelligenz war hier eine komplexe Fähigkeit, der man durch die Prüfung aller elementaren Voraussetzungen auf die Spur kommen wollte: Perzeption, Apperzeption, Gedächtnis, Nachahmung, Assoziation, Erkennen, Sprache. Die Normalität, zu der eine Intelligenzstörung in Beziehung gesetzt wurde, war für die Psychiater eine Erfahrungs- und keine statistische Größe.

Ein wesentlicher Anstoß zur Entwicklung psychometrischer Tests kam aus dem Bereich der Industrie und deren Bemühungen, den Prozeß der Arbeit zu intensivieren. Die 'Psychotechnik' stützte sich auf Ergebnisse der Experimentellen Psychologie.[248]

Unter diesen Voraussetzungen und Einflüssen wurde nun 1905 von Binet und Simon die erste »Stufenleiter zur Prüfung der Intelligenz« entwickelt. Für jede kindliche Altersgruppe (ab 3 Jahren) wurde eine Reihe von Fragen und Aufgaben zusammengestellt, wie Benennen von Gegenständen, Ergänzen unvollständiger Sätze, Verstehen von Sätzen. Die Aufgaben hatten alle stark verbalen Charakter. Um der Norm zu entsprechen, mußte ein Kind v.a. über Urteilsvermögen verfügen, das Gedächtnis spielte eine untergeordnete Rolle.

Die Aufgaben wurden an etwa 50 normalen und einigen schwachsinnigen Kindern ausprobiert und in eine Rangordnung der Schwierigkeiten gebracht. Da es darum ging, jedem Individuum einen Platz im Kontinuum von 'klug' bis 'dumm' zuzuweisen, wurden nur jene Aufgaben beibehalten, die stark zwischen guten und schlechten Schülern differenzierten, solche aber, die von allen oder keinem gelöst wurden, ausgeschieden.[249]

Als diagnostische Aussage des Testverfahrens von Binet und Simon stand das aufgrund der gelösten Aufgaben errechnete Intelligenzalter, sowie die Differenz desselben zum Lebensalter. William Stern setzte später beide Größen ins Verhältnis und gelangte so zum Intelligenzquotienten.

In Deutschland und Österreich fand die Binet'sche Methode in einer durch Bobertag weiterentwickelten Form eine verbreitete Anwendung im Aussonderungsverfahren der Hilfsschüler. Mit ihrer Hilfe wurde der häufige Vorwurf der Eltern, die Lehrer seien am schlechten Lernerfolg ihrer Kinder schuld, abgewehrt. Und die Ärzte -sie führten die Untersuchungen meist durch, den Psychologen als Praktiker gab es noch kaum- konnten mit Hilfe der Intelligenztests eine diagnostische Lücke füllen und jene schwachen Schüler, denen mit Hilfe der üblichen ärztlichen Methoden keine Krankhaftigkeit nachzuweisen war, zu Debilen und damit Anormalen machen.

Auf die weitere Entwicklung der Intelligenzmessung, die vor allem in Amerika vorangetrieben wurde, braucht an dieser Stelle nicht näher eingegangen zu werden. Festzuhalten ist, daß sich die Grundkonzeption inhaltlich und formal bis heute nur wenig verändert hat. Wohl wurde Intelligenz als angeborene und allgemeine kognitive Fähigkeit oder Kapazität angezweifelt und mehrere unabhängige Fähigkeiten postuliert; aber bis heute will man auf den fixen Gesamtwert -den IQ-nicht verzichten.[250]

Auch der hervorragende Stellenwert der Vererbung wurde eingeschränkt, zumindest in den Beteuerungen. Doch hat Galtons inhaltliche Bestimmung der vererbten Intelligenz unter der Hand über die Normalverteilung Eingang in alle späteren Tests gefunden, denn Galton hat sie als Verteilungsform vererbter biologischer Größen in die Intelligenzmessung eingeführt.[251]

Binet und Simon eichten ihren Test an den Schulleistungen von Kindern. Auch dieses Kriterium wurde beibehalten und ist erst in jüngerer Zeit umstritten. Ein Intelligenztest war dann gut und gültig (valide), wenn er möglichst hohe positive Korrelationen zwischen Punktwert des Tests und Notenwert der Zeugnisse aufwies.

Zusammenfassend stellt Liungman fest: »Die Intelligenz wurde nicht entdeckt, sondern erfunden. (Sie ist) eine postulierte Gegebenheit, die nicht direkt beobachtet werden kann. Alle Aussagen über Intelligenz basieren auf der Beobachtung des Verhaltens vieler Menschen in verschiedenen Situationen.

Um sicherzugehen, daß verschiedene Beobachter ungefähr dieselbe Sache meinen, wenn sie von intelligentem Verhalten reden, muß man eine gemeinsame Vorstellung davon haben, was Intelligenz ist. Binet und Simon schufen die Methoden oder den Typ von Methoden, um das Verhaltensgebiet zu bestimmen, das die neue Eigenschaft definieren sollte. Galton gab ihm den Inhalt, indem er an die Entdeckungen seines Vetters Charles Darwin anknüpfte und intelligentes Verhalten mit Aktivität für das Überleben umschrieb.« [252]

Von der Hilfsklasse zur Hilfsschule

Wir haben den widersprüchlichen Entstehungszusammenhang der Hilfsschule von der ausschließenden und der emanzipativen Seite her beleuchtet. Wenn wir nun die Gründung und Entwicklung der Salzburger Hilfsschule konkret anschauen, wird sich zeigen, daß die ausschließenden Interessen die stärkeren, effektiveren waren; nur sie konnten das Haupthindernis für den Aufbau eines Hilfsschulsystems, nämlich die Geldfrage, überwinden.

Nachdem der Landtag sich einen Überblick über die Unterrichtsverhältnisse in den anderen Kronländern verschafft hatte, wurde der Landesschulrat beauftragt, ein Gutachten zu erstellen, »wie sich im Lande Salzburg die Unterrichtserteilung an schwachsinnigen Schulkindern mit den geringsten Kosten durchführen ließe. «[253]

Die Forderung nach Unterricht lag auf dem Tisch und konnte so leicht auch nicht beiseite geschoben werden, die Marschrichtung wurde aber gleich festgelegt. es darf (fast) nichts kosten!

Der Landesschulrat kam zu alarmierenden Ergebnissen. Nicht weniger als 739 schwachsinnige Kinder im schulpflichtigen Alter gebe es, davon 610 bildungsfähige, die auch größtenteils die Volksschule besuchten, dort aber in keiner Weise angemessen gefördert werden könnten. Manche Schulleitungen gaben an, daß der Hauptgrund für die Zurückgebliebenheit vieler Kinder »in der durch mangelhafte Pflege und selbst durch eine unzureichende Ernährung hervorgerufenen Körperschwäche zu suchen ist. « Aus diesem Grund und weil »die geistige Kultur bei Schwachsinnigen die Anwendung ganz eigener Mittel erfordert, so findet sich in den Berichten sämtlicher Bezirksschulräte mit ausnahmsloser Übereinstimmung die Errichtung eigener Anstalten zur Pflege und Erziehung schwachsinniger Kinder als das einzige Mittel angegeben, das einen vollen Erfolg verspricht.«[254]

Der Landesschulrat war zwar der gleichen Meinung, hatte aber für die Kostenargumente der Landesverwaltung Verständnis und schwenkte um auf die billigere Separatkursvariante, die an verschiedenen Orten Österreichs bereits praktiziert wurde und entweder in einer Art Nachhilfe, zusätzlich zum Volksschulunterricht, oder in Extrakursen bestand.

Aber auch dagegen richteten sich verschiedene Argumente. Die Lehrer hätten kaum übrige Zeit, da sie bereits vielfach mit den Separatkursen für die Kinder mit Schulbesuchserleichterungen belastet seien. Die schwachsinnigen Kinder müßten den oft weiten Schulweg alleine machen und könnten von ihren Geschwistern nicht mehr begleitet werden. Sobald in einer Schule mehrere Kinder zu betreuen wären, fehlte dem Lehrer die Qualifikation für den Spezialunterricht.

Der Landesausschuß anerkannte zwar verbal die Notwendigkeit eines Spezialunterrichts, an eine eigene Anstalt sei aber jetzt und auf absehbare Zeit aus finanziellen Gründen nicht zu denken; für ein breites Spezialkurssystem müßten dagegen erst Erfahrungen gesammelt werden. Was blieb, war die Bewilligung eines Versuchsunterrichts in der Stadt Salzburg, sowie 1000 K für diesen Zweck.

Das war sie, die Lösung mit den »geringsten Kosten«; denn dabei blieb es auch für längere Zeit. Die versuchsweise »Hilfsklasse für schwachsinnige Kinder«, die 1903 im Schulgebäude Franz-Josefs-Kai mit 12 Kindern eröffnet wurde, bekam zwar ab 1907 einen definitiven Status, aber vom Separatunterricht in den vielen Landgemeinden war keine Rede mehr.

Vom emanzipatorischen Standpunkt aus wäre eine Lösung der Probleme auf dem Land viel dringender gewesen. Dort waren die Volksschulklassen hoffnungslos überfüllt, schwache oder schwachsinnige Kinder hatten kaum eine Bildungschance. Aber gerade w e g e n der Rückständigkeit der schulischen Infrastruktur auf dem Land war die Frage der Differenzierung und Aussonderung aufschiebbar, und konnte die Administration die schwachsinnigen Kinder übergehen. Nur in der Stadt Salzburg gab es ein ausgebautes Schulsystem mit den wichtigsten weiterführenden Schultypen. Die Volksschule war für viel mehr Kinder als auf dem Land Vorbereitung für weitere Bildung. Das erhöhte die Ansprüche und den Druck zur Differenzierung in 'gescheite' und 'dumme' Schüler.

Daß der erste Schritt zur Hilfsschule in der Stadt gemacht wurde, ist insofern klar, als nur hier genügend Kinder an einem Ort vorhanden waren, um aus dem Versuchsunterricht verallgemeinerbare Schlüsse ziehen zu können. Daß es aber später fast gar nicht zu einer solchen Verallgemeinerung kam, hing zwar auch mit der Anzahl der Schwachsinnigen am jeweiligen Ort zusammen, vor allem aber mit Geld und mit dem Hilfsschulkonzept. Klassen mit nur wenigen Kindern einzurichten, hätte unverhältnismäßig hohe Kosten pro Schüler verursacht. Selbst in Deutschland, wo ja das Hilfsschulsystem viel weiter ausgebaut war als in Österreich, war es auf die Städte konzentriert. Als Faustregel galt, daß in einer Stadt mit 15.000 Einwohnern genügend Schwachsinnige wären, um eine einklassige Hilfsschule einzurichten.[255] Solche Städte gab es aber in Salzburg außer der Landeshauptstadt nicht.

Eine gewisse Entlastung trat ein, als 1923 die Caritasanstalt in St. Anton gegründet wurde, die eine Hilfsschule mit Internat und Arbeitsschule verband. Die Kinder aus den problematischsten Familienverhältnissen, für die sich um diese Zeit bereits Jugendämter verantwortlich fühlten, wurden dort untergebracht.

Ansonsten gab es außerhalb der Hauptstadt nur noch von 1928 bis 1938 eine einklassige Hilfsschule mit 14 Knaben in Hallein.

Im Gegensatz zur Vernachlässigung der Hilfsschulfrage für die Landgemeinden erfuhr die Hilfsschule der Stadt Salzburg nach dem 1. Weltkrieg einen rapiden Ausbau. Der angemeldete Bedarf richtete sich eben auch nach dem schon vorhandenen Angebot. Dazu kam die Eigendynamik der Institution, sowie die geänderte Schulpolitik nach Auflösung der Habsburgermonarchie.

Die Erhebung von 1902 wies für die Stadt 32 bildungsfähige schwachsinnige Kinder im schulpflichtigen Alter aus; die Hilfsklasse begann mit 12 Schülern, ihre Zahl erhöhte sich bis zum 1. Weltkrieg auf 26. In den ersten Nachkriegsjahren glich sich die Zahl der Hilfsschüler an jene der erhobenen bildungsfähigen Schwachsinnigen an und stieg auf etwa siebzig. Bis zum Jahre 1930 war die Hilfsschule voll ausgebaut, umfaßte fünf Klassen und 111 Schüler, 2% der Schulpflichtigen. Der Hilfsschüleranteil lag demnach doppelt so hoch wie z.B. in Wien.[256]

Die Hilfsschulpädagogen wußten theoretisch ganz genau, welche Kinder zu ihnen gehörten und welche nicht: »Für idiotische Kinder haben wir die Pflegeanstalt Konradinum in Eugendorf. « Imbezille seien für St. Anton vorgesehen. »Diese Kinder weisen nebst der Intelligenzschwäche eine Gefühlsentartung auf (moralischer Schwachsinn, abnorme Gefühlsstumpfheit).« DieDebilen sind »die richtigen Hilfsschulkinder«.[257]

Nicht in die Hilfsschule gehörten außer den Idioten und Imbezillen »blinde, taubstumme, epileptische und sittlich verkommene Kinder, (sowie) geistig normale Kinder, die infolge äußerer Verhältnisse, wie Krankheit, ungünstiger häuslicher oder Schulverhältnisse, in ihrer Ausbildung zurückgeblieben sind«.[258]

In Wirklichkeit war die Zuordnung zu den einzelnen Gruppen nicht so eindeutig, sodaß man als Faustregel einführte, den Rückstand eines Kindes von zwei Jahren gegenüber dem Leistungsvermögen der Altersgenossen als Indiz für seine geistige Minderwertigkeit und Hilfsschulbedürftigkeit zu nehmen.

Damit war dem Ermessen, oder der Willkür, der Volksschullehrer natürlich ein breiter Spielraum gegeben. In Salzburg war man durch die Erfahrungen aus Deutschland schon gewitzt. Dort ließen sich Lehrer an Orten mit Hilfsschulen zu einer so massiven Abschiebepraxis hinreißen, daß 1894 die Beiziehung eines Arztes zum Überweisungsverfahren eingeführt wurde.[259] In Österreich folgte ein entsprechender Erlaß im Schuljahr 1907/08.

Auch die Ärzte waren im Grunde überfordert, standen aber unter Entscheidungszwang und Legitimierungsdruck. Die These von der krankhaften Anormalität der Schwachsinnigen zwang sie, entsprechende Merkmale an den untersuchten Individuen festzustellen, was aber bei den Debilen gar nicht so leicht war. Soweit man bei der Familienanamnese auf Alkoholismus, Syphilis, Verwahrlosung oder Tuberkulose stieß, hatte man wenigstens die 'erbliche Belastung' als Anhaltspunkt, und weitere Fragen förderten vielleicht Scharlach, Masern, eine überstandene Meningitis oder auch eine schwere Geburt zutage. Alle diese Faktoren konnten, mußten aber nicht Schwachsinn hervorrufen. Ob das konkrete Kind, das z. B. gerade das zweite Mal sitzengeblieben war, also noch ein»dummes, aber geistig normales« oder bereits ein »geistig minderwertiges« war, ließ sich damit medizinisch nicht eindeutig diagnostizieren.

Aus diesem Dilemma boten die Intelligenztheorie und die Intelligenztests einen Ausweg. Da die Intelligenz als natürliche Eigenschaft des Menschen und ihre geringe Ausprägung als Ausdruck eines defekten Hirns betrachtet wurde, meinte man mit entsprechenden Tests eine klare Diagnose treffen zu können.

In Salzburg begann man 1920 mit den Tests, nach einer kombinierten Methode von Binet-Simon und Bobertag. Der Landesschularzt, der die Untersuchungen durchführte, betonte: »Das Hauptgewicht bei der Beurteilung geistig zurückgebliebener Kinder ist unbedingt auf die Untersuchung der Intelligenz zu legen.«[260]

Sehr aufschlußreich sind die Ergebnisse von zwei angeführten Aufnahmejahrgängen; demnach war nämlich genau die Hälfte der Kinder nach dem eigenen Kriterium (zwei Jahre Rückstand) gar nicht debil.

Von 12 Knaben waren: 1 altersentsprechend; 6 ein Jahr, 2 zwei und 3 mehr als zwei Jahre zurück.

Von 8 Mädchen waren: 3 ein Jahr, 1 zwei Jahre und 4 mehr als zwei Jahre zurück.[261]

Andererseits waren fast alle Kinder körperlich zurückgeblieben, 60% waren rachitisch, viele hatten Mandelwucherungen, Rückgratverkrümmungen und andere Auffälligkeiten. Bemerkenswert ist auch der Vergleich zwischen Knaben und Mädchen. Ihre Anzahl verhielt sich wie 60 zu 40, was dem langjährigen Durchschnitt des Geschlechterverhältnisses bis heute entspricht. Auch aus Deutschland und aus Wien war bekannt, daß stets mehr Knaben als Mädchen in den Hilfsschulen waren, nämlich im Verhältnis 4:3 bis 3:2.[262] Über die möglichen Ursachen dieses Mißverhältnisses fand ich in den zeitgenössischen Schriften keine Überlegungen. Heutige Hilfsschulpädagogen sind sich darüber einig, daß die Gründe nicht 'objektiver' Natur sind, sondern in der Beurteilung liegen, die 'schlimmen' Buben also eher als debil diagnostiziert werden als die 'angepaßten' Mädchen.

In die gleiche Richtung weist das Ergebnis der Intelligenzmessung von 1920/21: Die Anzahl der Knaben und Mädchen mit zwei- und mehrjährigem Rückstand betrug jeweils 5; unter den streng genommen nicht Debilen waren dagegen 3 Mädchen und 7 Knaben. Die Überzahl von 4 Knaben insgesamt fiel also in diese Gruppe.

Die Zahlen sind insgesamt zu klein, als daß man aus ihnen sichere Schlüsse ziehen könnte. Da es sich jedoch um zwei komplette Aufnahmejahrgänge handelt und die Zahlenverhältnisse dem üblichen Durchschnitt entsprechen, erscheint es berechtigt, sie als typisch anzusehen.[263]

Zurück zu den mit der Hilfsschule befaßten Ärzten. Sie untersuchten die Kinder nicht nur anläßlich der Überweisung, sondern jedes Jahr zum Zwecke entsprechender Verlaufsstudien. Besonders interessiert in diese Richtung zeigte sich der Primarius der Landesheilanstalt, Leo Wolfer. Er begnügte sich nicht mit den schon erwähnten körperlichen und Intelligenz- Untersuchungen, sondern studierte auch die Form der Nagelfalzkapillaren, das sind die Endschleifen der Blutgefäße in den Fingerspitzen. Daran glaubte er, Schwachsinn diagnostizieren zu können.[264]

Die Ärzte kümmerten sich auch im herkömmlichen Sinne 'ärztlich' um die Hilfsschüler. Bei vielen Kindern wurden die körperlichen Gebrechen zum ersten Mal einer Behandlung unterzogen. Außerdem wurde auf eine bessere Ernährung hingewirkt.

Viele Eltern versuchten, der Überweisung ihrer Kinder Widerstand entgegenzusetzen. In den Augen der Pädagogen war dieses Bestreben töricht. »Eltern haben oft eine Abneigung gegen die Hilfsschule, die ja menschlich ganz begreiflich ist. Kein Vater und keine Mutter will zugeben, daß ihr Kind schwachbegabt oder gar schwachsinnig ist. - Das ist falsche Scham, nur zum Schaden des Kindes.«[265]

Insofern die betroffenen Kinder bei den gegebenen Volksschulverhältnissen in der Hilfsschule wahrscheinlich viel besser lernen konnten, hatten sie damit recht. Aber so einfach war es nicht; denn die Schwachsinnsdiagnose und die Hilfsschulüberweisung waren ein Stigma, sie bedeuteten den Wechsel in die Welt der Abnormalen. Dieses Stigma lastete nicht nur auf den Kindern, sondern aufgrund der allgemein verbreiteten Ansichten über Vererbung, Degeneration und Asozialität auch auf den Eltern.

Die Schulbehörden, die sich dieses Umstands wohl bewußt waren, versuchten das Problem mit Etikettenkosmetik zu lösen, nicht nur in Salzburg. In Wien hieß die Schule bis 1921 'Hilfsschule für schwachbefähigte schulpflichtige Kinder'. »Durch diese Bezeichnung waren die Besucher dieser Schulen als geistig minderwertig gekennzeichnet und es war daher nicht zu verwundern, daß dieser Schultitel den Beifall der Eltern ... nicht fand und sich jene anfangs scheuten, ihre Sorgenkinder der Hilfsschule zuzuführen.«[266]

Daraufhin wurde der Name auf 'Hilfsschule' verkürzt. In Deutschland hatte derselbe Vorgang schon vor dem I. Weltkrieg stattgefunden. »Es wird damit der Tatbestand des Schwachsinns den Eltern und der großen Öffentlichkeit gegenüber in schonendster Form zum Ausdruck gebracht.[267]

Was half's? Auch in Salzburg wurde aus der »Hilfsklasse für Schwachsinnige« nur mehr eine »Hilfsschule«; im Volksmund hieß sie aber immer nur die »Deppenschule«.

Manche Eltern mochten sich mit der Stigmatisierung abgefunden haben, weil sie ohnedies schon auf ihnen lastete. Andere konnten dem 'wissenschaftlichen' Nachweis der Minderwertigkeit ihrer Kinder durch ärztliche Gutachten und Intelligenztests keinen Widerstand entgegensetzen. Gewiß gab es auch viele, die in der Hilfsschule einen Ausweg für ihre Kinder aus der bedrückenden Situation des ständigen Repetierens sahen. In welchem Ausmaß sich Ablehnung und Zustimmung gegenüberstanden, läßt sich nicht abschätzen. Zur Zeit der Schulgründungen scheuten die Behörden jedenfalls allerorts vor Zwang zurück, da man ein gutes Einvernehmen mit den Eltern für unabdingbar für eine gedeihliche Erziehung hielt. Aber z.B. in Preußen schritt man schon vor 1900 zur Zwangsgesetzgebung. In Wien kam ein ähnlicher Erlaß 1924.

In Salzburg hatte man damit zumindest in den Jahren der Hilfsklasse (bis 1919) weniger Probleme, da die Klasse in der Anfangsphase ohnedies nicht zu viele Kinder haben sollte und ab etwa 1910 aus Platzgründen nicht mehr als 20-25 aufnehmen konnte. Im Falle der Weigerung der Eltern oder deren Stellvertreter mußte man also nicht unbedingt Zwang ausüben.

Später verschärften sich die Aussonderungsmaßstäbe, wie sich in der steigenden Zahl der Debilen ausdrückt; gleichzeitig bot der Ausbau der Hilfsschule die prinzipielle Möglichkeit, sie alle aus der Volksschule zu entfernen. Auf Zwangsbestimmungen konnte man dennoch nicht zurückgreifen, da ein Hilfsschulgesetz für ganz Österreich, das u.a. solche Bestimmungen vorsah und seit 1920 immer wieder gefordert wurde, 1930 noch nicht in Kraft war. Bei Widerstand der Eltern dürfte man also hierzulande mit Überzeugungsarbeit und Einschüchterung seitens der Diagnoseexperten versucht haben, ihre Zustimmung zur Überweisung zu erhalten.

Gewiß hatten die Pädagogen recht, wenn sie darauf bauten, daß das Mißtrauen vieler Eltern schwinden würde, wenn sich erst einmal die Lernerfolge der Kinder einstellten. Deren soziale Diskriminierung blieb jedoch eine Realität; die Hilfsschullaufbahn lastete als Hypothek auf den Schulentlassenen und erschwerte ihnen das Finden einer Lehr- oder Arbeitsstelle.

In Wien hat man vor den Vorurteilen der Lehrherren auf eine bezeichnende Weise kapituliert. Man hatte festgestellt, daß jeder Volksschüler, selbst wenn er nur ein Abgangszeugnis der vierten oder fünften Schulstufe vorweisen konnte, einem Hilfsschüler bei der Lehrstellenvergabe vorgezogen wurde. »Um nun diesen Schülern das Finden einer Lehrstelle zu erleichtern, hat der Stadtschulrat .. 1924 .. angeordnet, daß die schulmündigen Hilfsschüler V o l k s s c h u l zeugnisse erhalten. ... Auch Abgangszeugnisse wurden mit dem Volksschulstempel versehen. «[268]

Man mußte die Absolventen einer Schule, die ihrem Selbstverständnis nach ihren Schülern den 'Weg ins normale Leben' ebnete, vor Diskriminierung schützen, indem man ihnen die Möglichkeit gab, eben diese Schule zu verleugnen.

Aus Salzburg ist ein ähnliches Vorgehen nicht bekannt; nach dem Krieg wird von verstärkten Nachfürsorgebemühungen berichtet, indem die Lehrer mit den Eltern Berufsberatungen durchführten und Jugendfürsorgeämter bei der Arbeitssuche behilflich waren.[269]

Verschiedene Aspekte der Rolle und des Selbstverständnisses der Hilfsschullehrer wurden bereits angeführt. Da es in Salzburg zur Zeit der Gründung der Hilfsklasse keine Schwachsinnigenanstalt gab, wo man sich um den Unterricht gekümmert hätte, gab es auch keine Lehrer mit entsprechender Erfahrung. Ein älterer Lehrer, Julius Festraetes van Tienen, übernahm die neue Aufgabe und verschaffte sich die nötigen Kenntnisse mittels Studienreisen und Fachliteratur. Die Art, in der er die Schulchronik führte, weist ihn nicht als Mann großer Worte aus, man spürt nicht das Sendungsbewußtsein der Pioniere des 19. Jahrhunderts. Mit Fleiß und Umsicht baute er einen möglichst vielfältigen Unterricht auf, sorgte für die verschiedensten Lehrmittel und erstellte einen Lehrplan. Für die Zukunft wurde vorgesorgt; nach und nach hospitierten alle späteren Hilfsschullehrer in der Klasse. Auch ganze Jahrgänge der Lehrerbildungsanstalt kamen auf Besuch.

Mit dem Ausbau der Hilfsklasse zur Hilfsschule entstand eine Lehrerschaft, die sich zunehmend als Teil der Hilfsschullehrerschaft insgesamt fühlte, mit besonderen Aufgaben und besonderen Fähigkeiten. Nun tauchte auch der Pioniergeist auf, insbesondere beim langjährigen Leiter während der Aufbauphase, Karl Dumler. Er ließ keine Gelegenheit für Vorträge und Zeitungsartikel verstreichen, besuchte viele Kongresse und war für Schüler und Kollegen eine starke Vaterfigur.

Seit 1919 wurden geprüfte Hilfsschullehrer wie jene der Bürgerschule bezahlt, also besser als Volksschullehrer. Das änderte aber nichts daran, daß ihr öffentliches Image eher schlecht war. Jenes der Schüler hatte auf sie abgefärbt, und so waren auch sie nur die »Deppenlehrer«. Selbst unter den Kollegen der Volksschule war eine geringschätzige Meinung über sie verbreitet:

»Bedauerlich ist es, wenn Lehrer anderer Schulkategorien nichts Besseres zu tun wissen, als über den 'Lehrer der Dummen' zu witzeln und zu spötteln und dabei in versteckter Weise dem Gedanken Ausdruck geben, daß bei 'den Dummen' nur solche Lehrkräfte, die sonst nicht zu gebrauchen seien, arbeiten. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß des Meisters Hand umso geschickter sein muß, je spröder und unvollkommener das zu bearbeitende Material ist. Und was für ein Material steht dem Hilfsschullehrer zur Verfügung! Die schwache, unvollkommene Psyche des schwachsinnigen Kindes nötigt den Lehrer, tief, sehr tief hinabzusteigen. Der Abstieg von der Arbeit des Volksschullehrers zu der des Hilfsschullehrers ist so steil, daß sich mancher von denen, die sich für besonders klug halten, dabei das Genick brechen würde.« [270]

Das Bewußtsein, es mit Kindern zu tun zu haben, die sich nicht nur im quantitativen Leistungsvermögen von Volksschülern unterschieden, sondern qualitativ andere Wesen waren, förderte die Überzeugung der Hilfsschullehrer, daß deren Unterricht in organisatorisch eigenständigen Schulen erfolgen müsse. Die Tatsache, daß anfangs die Hilfsklassen immer an Volksschulen angeschlossen waren, wurde als Mangel empfunden, ja selbst die räumliche Nähe.

Der Umstand, daß immer wieder einige Schüler an die Volksschule zurücküberstellt wurden, diente zwar manchmal als Beleg für die erfolgreiche Arbeit, widersprach aber eigentlich dem Selbstverständnis der Pädagogen: »Die Hilfsschule ist ein notwendiges Glied zwischen der gewöhnlichen Volksschule und der Idiotenanstalt, sie ist aber keine Nachhilfeschule und verfolgt nicht das Bestreben, die ihr anvertrauten Kinder nach einiger Zeit in die Volksschule zurückzubringen.«[271]

Durch die beständige Betonung der Besonderheit von Schule und Schülern trugen die Hilfsschullehrer selbst viel zur Ghettoisierung ihrer Institution bei, obwohl sie genau das Gegenteil anstrebten. Sie waren bei voller Anerkennung und sogar Propagierung der Anormalentheorie pädagogische Optimisten. (Dagegen hatten die populären Ansichten einen sehr fatalistischen Zug: Depp blieb Depp, und der Hilfsschulbesuch wies ein Kind oder einen Jugendlichen als solchen aus.) Das Bild der Lehrer von einem typischen Hilfsschulabsolventen sah etwa so aus:

»Der Hilfsschüler, der aus der Oberstufe austritt, ist so weit, daß er sich in seiner Vaterstadt zurechtfindet, daß er einfache Aufträge selbständig ausführen kann, daß er den Tagesbericht einer Zeitung verständig lesen kann, daß er einen Brief schreiben, daß er mit Geld umgehen, seinen Lohn und Einkauf überprüfen kann, daß er messen, einfach zeichnen und Werkzeug gebrauchen kann; er ist tauglich für das Leben und die Gesellschaft. Er ist arbeitsfähig und arbeitswillig.«[272]Ein solcher Mensch wäre aber von seiner Umgebung niemals als anormal identifiziert worden - hätte er nicht eine Vergangenheit gehabt!

Unter Legitimierungsdruck gegenüber den Eltern und Teilen der Öffentlichkeit riefen die Hilfsschullehrer die Autorität der Ärzte zu Hilfe; offensichtlich war sogar der Vorwurf der klassenspezifischen Aussonderung erhoben worden: »Herr Medizinalrat Dr. Wolfer untersuchte bei allen Kindern die Nagelfalzkapillaren und stellte den Kopfindex fest. Die Befunde sind in einem Heft zusammengestellt, und bilden ein äußerst wertvolles Material, aus welchem zu ersehen ist, daß alle Kinder der Hilfsschule infolge irgendeines physischen Defektes auch tatsächlich h i e r h e r gehören und daher von einer Klassenzüchterei keine Rede sein kann.«[273]

Anderseits mußten sie ihre Schüler vor zahlreichen Angriffen in Schutz nehmen. Die Eugeniker, auch jene, die offen die 'Ausmerze' forderten, wurden in den 20er-Jahren immer selbstsicherer. Gegenüber dem häufigen Vorwurf, daß das Geld für die Hilfsschule (und für andere soziale Einrichtungen für Anormale) beim Fenster hinausgeworfen sei und viel besser für die Förderung der Gesunden und Tüchtigen verwendet werden sollte, antworteten die Lehrer mit zwei Standardargumenten: mit der Brauchbarkeit ihrer Schüler und damit im Zusammenhang mit der Verzinsung der aufgewendeten Mittel, weil arbeitsfähige Schwachsinnige nicht nur selbst Steuern zahlten, sondern entsprechende Fürsorge- und Gefängniskosten erspart blieben.

Obwohl offensiv vorgetragen, waren beide Argumentationslinien bereits Rückzugsgefechte, weil sie die Kriterien der Gegner akzeptierten. Entlang der Grenze zwischen brauchbar und unbrauchbar verlief später die Scheidung von Lebensrecht und 'unwertem Leben'.

Die Caritas-Anstalt St. Anton

Diese Anstalt entsprang weder einem lange gehegten Plan der Caritas, noch kann man von einem 'zufälligen' Entstehen sprechen; der gesellschaftliche Bedarf nach einer solchen Institution läßt es vielmehr als Notwendigkeit erscheinen.

Was waren nun die konkreten Gründungsbedingungen? Der erste Weltkrieg hinterließ große wirtschaftliche Probleme, Armut und Hunger. Die Unterernährung und die Verwahrlosungsgefahr von Kindern und Jugendlichen wurden wieder besonders akut. Neben anderen Organisationen antwortete auch der Caritasverband darauf mit verstärkten Aktivitäten. Dessen Leiter, Dr. Fiala, wurde 1920 mit der Gründung eines Landesverbandes »Barmherzigkeit« betraut, dessen Zweck die Förderung und Koordinierung der caritativen Einrichtungen in der Salzburger Diözese war. Ein besonderes Anliegen war die Organisation von Kindererholungsaktionen im In- und Ausland. Der Ankauf eines ehemaligen Gasthofs samt Nebenbauten in Hundsdorf bei Bruck im Pinzgau war ursprünglich für ein Kindererholungsheim gedacht.[274]

Das Problem der schwachsinnigen Kinder aus Landgemeinden, deren Familienverhältnisse eine Anstaltsunterbringung unbedingt nötig erscheinen ließen, war noch immer nicht gelöst, sondern durch den Krieg erst recht verschärft worden. Schwerstbehinderte konnten in Eugendorf untergebracht werden, aber aus dem geplanten Ausbau des Konradinums ist ja bekanntlich nichts geworden.

Offenbar fanden Beratungen zwischen dem Caritasverband, der Schulbehörde und der Landesvertretung statt. Denn der Aufbau der dann gegründeten Schwachsinnigenanstalt der Caritas entsprach ziemlich genau dem, was für ein ausgebautes Konradinum in Schwarzach vorgesehen war: Hilfsschule mit Arbeitsschule und Pflegeabteilung. Das heißt nicht, daß der Caritasverband der Landesverwaltung die Aufgabe direkt abnahm, denn das Haus in Schwarzach war bereits während des Krieges gekauft worden, die Änderung der Pläne für Hundsdorf fand aber erst 1922 statt.

Ohne die Initiative der Caritas wäre die Landesverwaltung jedenfalls früher oder später gezwungen gewesen, die Frage wieder aufzugreifen.

Eine Konkurrenz zwischen den öffentlichen Behörden und der Caritas ist nicht feststellbar; der Landesschulrat beeilte sich vielmehr, die Privatschule zu genehmigen und verschaffte ihr 1926 das Öffentlichkeitsrecht.

Dennoch ging die Gründung der Anstalt in Hundsdorf sehr mühsam vor sich, was einerseits mit der großen Not und Inflation zusammenhing, andererseits mit der Schwierigkeit, Personal zu finden. Von vornherein dachte man an geistliche Schwestern, an denen jedoch nach dem Krieg Mangel herrschte. Sowohl die Barmherzigen Schwestern, die bereits das Konradinum führten und in Bruck eine Niederlassung hatten, als auch die Halleiner Schulschwestern und die Linzer Kreuzschwestern sowie einige andere Kongregationen sagten ab. Schließlich übernahmen die Vöcklabrucker Schulschwestern trotz eigenen Engpasses die Aufgabe der Erziehung, der Pflege und des Unterrichts der Kinder.

Die Lehrerinnen kamen einigermaßen zurecht, ihre ersten Erfahrungen sammelten sie durch Hospitation in der Salzburger Hilfsschule. Aber die Heimschwestern hatten große Probleme, da sie mit der Pflege und Erziehung schwachsinniger Kinder nicht vertraut waren und die einzelnen Schwestern auch nicht freiwillig in die Anstalt kamen. Frei war natürlich ihr Entschluß, sich dem Gehorsamsgebot innerhalb der Kongregation zu unterwerfen, das Einsatzgebiet konnten sie sich jedoch nicht aussuchen. Sie konnten nur nach einem Jahr um Versetzung bitten. Die Chronik weist auf diese Schwierigkeiten hin, die dazu führten, daß nach den jährlichen Exerzitien im Mutterhaus viele Schwestern nicht wiederkamen und durch neue ersetzt werden mußten.

Die Nachfrage nach Heimplätzen war gleich nach der Eröffnung der Anstalt im Jahre 1923 sehr groß; viele Ansuchen mußten wegen Personalmangels verschoben werden. Als dieser überwunden war, erwiesen sich die Räumlichkeiten dem Andrang als nicht gewachsen. Die Schlafzimmer waren überfüllt; nicht nur mit 45 Zöglingen und 10 Schwestern (Herbst 1923),auch 7 Gemeindearme mußten aufgrund eines Vertrages mit der Gemeinde Bruck versorgt werden, und die 18 Dienstboten des angeschlossenen Ökonomiebetriebes brauchten ebenfalls eine Unterkunft. Dieser landwirtschaftliche Betrieb trug wesentlich zur Nahrungsversorgung bei und bot später die Möglichkeit, die schulmündigen Jugendlichen entsprechend anzulernen.

Mit Ausnahme von schwer körperbehinderten Idioten dürften Schwachsinnige aller Grade aufgenommen worden sein. Die einweisende Instanz war meist die Gemeinde, fallweise die Eltern, die nicht in der Lage oder nicht willens waren, die Kinder zu Hause zu behalten. Es waren nicht nur Salzburger Kinder; sicher ist, daß einige aus Oberösterreich kamen.

Zur ärztlichen Untersuchung und Intelligenzmessung kam auch hier den Primarius Wolfer von der Landesheilanstalt. Auf sein Anraten wurden einige Kinder als bildungsunfähig aus der Hilfsschule entfernt.

Durch Ankauf weiterer Häuser des Weilers Hundsdorf wurde dieser bald mit der Anstalt identisch und eine Welt für sich. Das unmittelbar angrenzende Franziskanerkloster erübrigte den Besuch der Gottesdienste in Bruck. 1931 wurde der Weiler und damit auch die Anstalt von »Hundsdorf« in »St. Anton« umbenannt.

Mit dem Ausbau nahm die Zahl der Schüler, Arbeitszöglinge und Pfleglinge rasch zu; 1936 waren es fast 100 Kinder und Jugendliche, davon 57 Schüler in 5 Klassen.

Über das Schicksal der Entlassenen macht die Chronik kaum Angaben, außer daß viele in der Landwirtschaft unterkamen. Das ist auch naheliegend, weil sie sich im anstaltseigenen Ökonomiebetrieb entsprechende Fertigkeiten aneignen konnten und die meisten ja aus Landgemeinden kamen. Wahrscheinlich waren sie als Knechte und Mägde bei Bauern beschäftigt.

Man sieht, daß die Anstalt St. Anton eine wichtige Funktion im Rahmen der Schwachsinnigenfürsorge in Salzburg hatte. Sie bot die einzige Möglichkeit, Kinder außerhalb der Landeshauptstadt in eine Hilfsschule zu überweisen. In gewisser Weise erinnert sie an die Privatinstitute des 19. Jahrhunderts, in denen Internat, Pflege und Unterricht verbunden waren. Allerdings entstand sie erst in einer Zeit, als die öffentliche Verwaltung im Grunde für die Schwachsinnigen die Verantwortung trug. Eine Verantwortung freilich, der diese nur beschränkt nachkam; am ehesten noch in schulischer Hinsicht, weshalb sie sich auch für das Öffentlichkeitsrecht der Hilfsschule in St. Anton einsetzte.[275] Die pflegerische Seite und das Internat überließ sie nur zu gerne der privaten kirchlichen Initiative. So konnte sie sich auf die einzige kleine Landesanstalt, das Konradinum, beschränken.

Freilich blieben trotz St. Anton die meisten als debil bezeichneten Kinder außerhalb der Landeshauptstadt ohne entsprechenden Spezialunterricht. Nach St. Anton kamen eben nur die Problematischen, etwa aus unvollständigen oder verwahrlosten Familien, oder solche Kinder, welche die ihnen übertragene Rolle als unbeachtete und halbwegs ruhige Eselsbänkler nicht mitspielten, sondern als Unruhige oder Aufmüpfige die Diagnose »moralisch degenerierte Imbezille« verpaßt bekamen.

Im Verlauf des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts kam es zu einer bedeutenden zahlenmäßigen Ausdehnung des Kreises jener Menschen, die als schwachsinnig betrachtet wurden. Unmittelbar war dies eine Folge der Reform und des Ausbaus des Volksschulwesens und der steigenden Leistungsanforderungen an die Schüler. Aber diese verdankten sich selbst u.a. den verschärften Normen in Leistung, Anpassung und Disziplin der Erwachsenen im Produktions- und Reproduktionsbereich, sowie dem Ziel, die geforderten Qualitäten schon bei den Kindern heranzuzüchten.

Kinder, die diesen Anforderungen nicht gewachsen waren, bzw. sie verweigerten, wurden tendenziell zu Schwachsinnigen.

Die tatsächliche Ausdehnung der Beurteilungskriterien wurde von den Beurteilern gedanklich nicht nachvollzogen, diese glaubten vielmehr an eine bedrohliche Zunahme des (biologisch definierten) Schwachsinns.

Im Wechselspiel von Ausgrenzungswünschen (Befreiung der Volksschule von hemmendem Ballast) und emanzipatorischen Absichten (Erziehung auch der Schwachsinnigen zu 'brauchbaren Menschen') entstanden die Hilfsschulen.

Diese wurden bald vorwiegend von den 'neuen' Schwachsinnigen bevölkert, während die meisten 'alten' als bildungsunfähig ausgeschult wurden.

Mit der Verschärfung der Normalitätskriterien war das Problem des Schwachsinns aus einem Randbezirk in einen zentralen gesellschaftlichen Bereich, die Schule, gerückt und konnte von den Behörden nicht mehr ignoriert werden. Hin- und hergerissen zwischen dem Bestreben, durch Entfernen der störenden Elemente das Leistungsniveau der Volksschule zu stärken, und der Scheu vor den Kosten von Spezialeinrichtungen, gingen sie zögernd aber doch an die Errichtung von Hilfsschulen, vorerst aber nur in großen und mittleren Städten.

Die Pädagogen forderten vehement den Ausbau eines selbständigen Hilfsschulsystems, gegen vereinzelte Stimmen, die eine besondere Förderung schwacher Schüler im Rahmen der Normalschule befürworteten. Dabei hatten sie das Argument auf ihrer Seite, daß beim gegebenen Zustand des Volksschulwesens die Schwachen keine Chance hatten, etwas Sinnvolles zu lernen. Darüberhinaus spielten aber eigene Professionalisierungs- und Standesinteressen eine große Rolle.

Die Hilfsschulpädagogen standen fest auf dem Boden der medizinischen Schwachsinnstheorie; angesichts der Widersetzlichkei vieler Eltern, die nicht bereit waren, den Makel der Abnormalität auf sich und ihre Kinder zu nehmen, stützten sie sich auf die scheinobjektive, eben entwickelte Methode der Intelligenzmessung.

Wie üblich verzögert wurde 1903 in Salzburg eine Hilfsklasse gegründet. Mit deren Ausbau zur Hilfsschule in den 20er-Jahren und mit der Gründung einer kirchlichen Internats-Hilfsschule in St. Anton gab es nun auch in Salzburg alle Kategorien von Sonderanstalten für Schwachsinnige.

Diese Anstalten hier noch einmal im Überblick, Stand 1930:

Konradinum: Landesanstalt in Eugendorf, Innerer Dienst durch Barmherzige Schwestern. Für geistig und meist auch körperlich schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche, sogenannte Idioten, bis höchstens 18 Jahre (20-25 Pfleglinge).

Schloß Schernberg: Privatpflegeanstalt der Barmherzigen Schwestern. U.a. für Jugendliche und erwachsene Idioten und Kretinen, meist bis zu ihrem Lebensende (ca. 50 von insgesamt 150 Pfleglingen).

St. Anton: Hilfsschule mit Internat und Arbeitsschule der Caritas, Innerer Dienst und Unterricht durch Vöcklabrucker Schulschwestern. Für meist sozial auffällige, leicht und mittelschwer behinderte Schüler und Jugendliche, sogenannte Imbezille und Debile, aus den Landgemeinden. Bis etwa 20 Jahre (ca. 40 Schüler in 3 Klassen, ca. 30 Arbeitszöglinge, und einige Pflegefälle).

Hilfsklasse in Hallein: Angeschlossen an die Knabenvolksschule. 14 debile Knaben, mit einem geprüften Hilfsschullehrer.



[216] Vgl. Franz Hörburger: Salzburgs Schulwesen in Gegenwart und Vergangenheit. Baden 1929, S.34

[217] Vgl. Feldbauer, S.122

[218] Vgl. Jantzen, S.53

[219] Landtag 1869, zitiert nach Gnilsen, S.177

[220] Vgl. Gstettner, S.54

[221] Zitiert nach Gstettner, S.53

[222] Stanley Hall: Ausgewählte Beiträge zur Kinderpsychologie und Pädagogik. Altenburg 1902, S.232

[223] Bericht des Landesausschusses, S.58-68. Sonderdruck aus Landtag 1886.

[224] Vgl. Bericht, S.3

[225] Feldbauer, S. 123 f

[226] Bericht, S.70

[227] Landtag 1902, S.549 f

[228] Detaillierte Zahlenangaben und -vergleiche in der Dissertation, S.167 ff

[229] Vgl. Landtag 1902, S.544-548

[230] Vgl. Landtag 1905, S.805

[231] Schulchronik 1903.

[232] Feldbauer, S.124

[233] Österreichische Statistik 1905.

[234] Vgl. S. Krenberger: Itards Berichte über den Wilden von Aveyron. In: EOS, 4. Jg., Wien 1908.

[235] Vgl. Hilscher, S.135; der Begriff 'Heilpädagogik' stammte aus der Medizin, wurde aber zunehmend theologisch und metaphorisch überhöht im Sinne von 'Seelenheil' oder punktuellem 'Heilsein'. Vgl. Jantzen, S.4

[236] Antrag auf der Versammlung der deutschen Irrenärzte 1860, zitiert nach Köhler, S.150

[237] Konferenzbericht in: Der barmherzige Samaritan, 4. Jg., 1904, S.84

[238] Unterricht für schwachsinnige Kinder gab es nur in folgenden Anstalten: seit 1864 in der n.ö. Landesirrenanstalt in Ybbs; seit 1896 in der Landespflege- und Beschäftigungsanstalt Kierling-Gugging; seit 1871 in der Amerlingstiftung in Prag; seit 1873 in der n.ö. Landesirrenanstalt in Wien; seit 1879 im Piusinstitut in Bruck an der Mur; seit 1882 in der Landessiechenanstalt in Knittelfeld; seit 1883 in der Stephaniestiftung in Biedermannsdorf/ NÖ; seit 1898 in der Idioten- und Kretinen-Anstalt Hartheim/ OÖ und im St. Josefsinstitut in Mils/Tirol; seit 1900 in der Anstalt Maria Josefinum in St. Martin bei Klagenfurt. Vgl. Bösbauer, S.136-144

[239] Vgl. Bösbauer, S.133 und 145

[240] Vgl. Hilscher, S.143 f

[241] K.J. Groffmann: Die Entwicklung der Intelligenzmessung. In: Handbuch der Psychologie, Band 6, Göttingen 1964, S.147

[242] Vgl. Brigitte Kreuder: DerIntelligenztest-Kult. In: Der Widerspruch 4, Berlin 1975, S.91

[243] Sir Francis Galton: Hereditary Genius. London 1969, Deutsch: Genie und Vererbung. Leipzig 1910.

[244] Zitiert nach Carl Liungman: Der Intelligenzkult. Reinbek 1973, S.16

[245] Galton 1910, S.XXII

[246] Zitiert nach Groffmann, S.155

[247] Vgl. Kreuder, S.90

[248] Vgl. Handbuch psychologischer Grundbegriffe. Reinbek 1981, S.1094 f

[249] Vgl. Mussen/Conger/Kagan: Lehrbuch der Kinderpsychologie. Stuttgart 1976, S.342

[250] Vgl. Karl-Hermann Wewetzer: Intelligenz und Intelligenzmessung. Darmstadt 1972, S.17

[251] Vgl. Werner Kienreich: Dasstatistische Elend der Intelligenzforschung. In: Roter Psychologenkurs 1, Salzburg 1978, S.4

[252] Liungman, S.22

[253] Landtag 1902, S.544

[254] Landtag 1902, S.549

[255] Vgl. Bösbauer, S.2 15

[256] Vgl. R. Ortner: Der Hilfsschüler und der öffentlicbe Hausbalt.In: EOS 3/1932, S.3 und Schulchronik.

[257] Referat des Leiters der Hilfsschule beim Caritasverband. Schulchronik 1922/23.

[258] J.Bruns: Hilfsschulkunde. Leipzig 1912, S.5

[259] Vgl. Ingeborg Altstaedt: Lernbehinderte. Reinbek 1977, S.71

[260] Schulchronik 1922/23.

[261] Richard Heller: Über die Ausgestaltung der Hilfsschulen in Salzburg. Eingelegter Zeitungsartikel in der Schulchronik 1922/23.

[262] Vgl. Bösbauer, S.206

[263] An dieser Stelle sei ein interessantes Phänomen erwähnt. Während die Knaben in der Hilfsschule normalerweise stets in der Überzahl waren, drehte sich das Verhältnis in beiden Weltkriegen um. Im I. Weltkrieg bis zu 33:67, im II. Weltkrieg bis zu 45:55 (vgl. Schulchronik). Wenn es auch naheliegt, daß dies mit geänderten Beurteilungsmaßstäben der Volksschullehrer und anderer Überweisungsinstanzen zusammenhängen muß, ist mir nicht klar, worin diese Änderungen in Kriegszeiten bestanden. Auch Hilfsschullehrer, die noch während des letzten Krieges unterrichteten, konnten mir keine näheren Aufschlüsse geben.

[264] Vgl. Schulchronik 1928/29.

[265] Schulleiter Karl Dumler in einem Zeitungsartikel. Schulchronik 1918/19.

[266] Hilscher, S.158

[267] Bösbauer, S.203

[268] Hilscher, S.161

[269] Schulchronik 1918/19.

[270] Bösbauer, S.277

[271] Bösbauer, S.206

[272] Raimund Ortner, S.6

[273] Schulchronik 1928 29.

[274] Vgl. Hauschronik des Kinderdorfs St. Anton.

[275] Nach dem II. Weltkrieg wurde die Hilfsschule überhaupt eine öffentliche.

VON DER EUGENIK ZUR EUTHANASIE

Eugenische Theorien und Maßnahmen vor 1939.

Der Begriff der Eugenik ('eugenics') und ihre Aufgabenbestimmung stammen von Sir Francis Galton: Eugenik ist »die Wissenschaft von allen Einflüssen, die die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern«.[276]

Die vage Formulierung »alle Einflüsse« weist schon darauf hin, daß das Neue dieser Wissenschaft in der Z u s a m m e n f a s s u n g bestehender Ideologien bestand. Diese haben wir bereits kennengelernt: Sozialdarwinismus, Erbbiologismus, Rassismus.

Während diese Ideologien in der liberalen Ära vorwiegend zur Legitimierung des sozialen Status quo herangezogen wurden, dienten sie gegen Ende des 19. und dann v.a. im 20. Jahrhundert zunehmend einer reaktionären Sozialkritik. Die Degeneration und Entartung der Gesellschaft, als quasi-biologischer Organismus vorgestellt, wurde beschworen. Das natürliche Selektionsprinzip, durch Sozialpolitik und 'Humanitätsduselei' außer Kraft gesetzt, müsse wieder in seine Rechte gehoben werden. Dazu bedürfe es nicht nur des allgemeinen Umdenkens, sondern aktiver staatlicher Maßnahmen.

Das Liebkind der Eugenik -dann in gleicher Bedeutung der Rassenhygiene und der (deutschen) Rassenpflege[277]- waren eigentlich die positiven eugenischen Maßnahmen: die Förderung 'wertvoller Erbmasse', die 'Aufartung', in Deutschland die 'Aufnordung'. Der Erfolg solcher Vorschläge ließ sich allerdings schwer abschätzen, entsprechende Maßnahmen waren selbst im nazistischen Deutschland kaum von Bedeutung.

Umso größeres Gewicht bekamen die negativen eugenischen Maßnahmen, die 'Ausmerze minderwertiger Erbmasse'. Die Forderungen zielten auf die große Gruppe der sogenannten Anormalen, also Schwachsinnige, Geisteskranke, Epileptiker, etc., dann Gewohnheitsverbrecher, Asoziale, Psychopathen usw. Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Forderungen immer radikaler: von der Asylierung in Anstalten und Eheverbot, über freiwillige und Zwangssterilisierung, bis zur 'Vernichtung lebensunwerten Lebens'.

Ob letzteres auch außerhalb Deutschlands gefordert wurde, ist mir nicht bekannt. Allgemein ist aber festzuhalten, daß rassenhygienisches Gedankengut in Europa und Nordamerika insgesamt an Boden gewann, wie ja auch seine Grundlagen -Sozialdarwinismus und Erbbiologismus- allgemein verbreitet waren. Der Rassismus hatte natürlich nationale und verschieden starke Ausprägungen.

In den USA erzielten die Rassenhygieniker am frühesten Erfolge auf gesetzgeberischer Ebene. Kanner gibt einen Oberblick über die Einführung von Sterilisierungsgesetzen: Die erste Gesetzesvorlage, 1897 in Michigan, bekam noch keine Stimmenmehrheit. Aber ab 1907 (Illinois) traten in vielen Bundesstaaten Gesetze über freiwillige und zwangsweise Sterilisation in Kraft. Manche wurden von den Obergerichten wieder aufgehoben. 1926 waren sie in 23 Bundesstaaten beschlossen. Alberta in Kanada folgte 1928. In Europa wurde das erste Gesetz zur freiwilligen Sterilisierung von Sexualverbrechern und Geistesgestörten 1929 in Dänemark erlassen, ähnliche im selben Jahr in der Schweiz (Kanton Vaud) und in Finnland.[278]

Im folgenden ist nur mehr von Deutschland und Österreich die Rede. Ab der Jahrhundertwende riß die Diskussion nicht mehr ab. 1904 wurde die Zeitschrift »Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie« gegründet. Insbesondere in der medizinisch-psychiatrischen Literatur erschien eine Flut von Beiträgen, die Sterilisierungsgesetze forderten, aber bis zum I. Weltkrieg fanden die Rassenhygieniker nur relativ geringes Echo in der Öffentlichkeit.

Die Opfer der Krieges und die Notlage der Bevölkerung nutzten sie zu einem propagandistischen Vorstoß, indem sie in unablässigen Wiederholungen die Kosten für Hilfsschüler, Krüppel, Geisteskranke, Wohlfahrtsempfänger, Rentner und Verbrecher dem niedrigen Lebensniveau der Arbeiter und Angestellten entgegenhielten.[279]

1920 veröffentlichten der Jurist Binding und der Psychiater Hoche die Schrift: »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form.« Zwar war der Gedanke der Euthanasie von unheilbar Todkranken über das Mitleidsmotiv schon vor dem I. Weltkrieg salonfähig gemacht worden, unter dem Motto »Recht auf den Tod« und »Erlösung«. Aber Hoche und Binding dehnten den Kreis der zu Vernichtenden ausdrücklich auf Geisteskranke, Schwachsinnige, Idioten und mißgebildete Kinder aus. Diese wurden als »Ballastexistenzen«, »leere Menschenhülsen«, »geistig Tote« und »das Gegenbild eines Menschen« bezeichnet. »Wir haben es von fremden Gesichtspunkten aus verlernt, in dieser Beziehung den staatlichen Organismus im selben Sinne wie ein Ganzes mit eigenen Gesetzen und Rechten zu betrachten, wie ihn etwa ein insich geschlossener menschlicher Organismus darstellt, der, wie wir Ärzte wissen, im Interesse der Wohlfahrt des Ganzen auch einzelne wertlos gewordene oder schädliche Teile oder Teilchen preisgibt oder abstößt.«[280]

Die Reaktionen in der medizinischen Fachpresse auf diese Schrift waren äußerst schwach. Scharfe Kritik blieb vereinzelt, es gab mehr Verständnis und Zustimmung. Auf Ärztekongressen hingegen wurde eine gesetzliche Freigabe der Sterbehilfe mehrheitlich abgelehnt.

Zum Zwecke der besseren Durchsetzung ihrer Ideologie organisierten sich die Rassenhygieniker in Verbänden, so auch 1925 in der »Wiener Gesellschaft für Rassenpflege«.[281] In seiner Eröffnungsrede »Die Bedeutung der Rassenpflege für die Zukunft unseres Volkes« nahm ihr erster Vorsitzender, Otto Reche, Professor für Anthropologie und Ethnographie an der Universität Wien, programmatisch den NS-Staat vorweg. Den Vereinigten Staaten zollte er ob der scharfen Sterilisierungs-, Rassen- und Einwanderungsgesetze Anerkennung. Gleichzeitig erkannte er den imperialistischen Rivalen und forderte, das Versäumte so rasch wie möglich nachzuholen. »Die Rassenpflege muß die Grundlage der gesamten Innenpolitik und auch mindestens eines Teiles der Außenpolitik werden.«[282]

Die Rassenpfleger wußten, daß zwar Erbtheorien und die Minderwertigkeit Anormaler von der Gesellschaft allgemein bejaht wurden, daß sich jedoch ihre menschenverachtenden Schlußfolgerungen und Forderungen im Rahmen bürgerlich-demokratischer Rechtsverhältnisse nicht durchsetzen lassen würden. Daher erklärte Reche die politischen Parteien und den Parteienstaat gleich selbst zum Ausdruck der Dekadenz als Folge der Rassenmischung.

Die demokratischen Schranken fielen in Deutschland 1933. Kurz nach der Machtübernahme setzten die Nationalsozialisten eine Reihe einschlägiger Gesetze in Kraft: 'Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses', 'Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung', ‚Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des Deutschen Volkes', welche u.a. die Ehe zwischen psychisch Kranken verbot, und die antisemitischen Nürnberger Gesetze.

Erbkrankheiten im Sinne des Gesetzes waren: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, Manisch-depressives Irresein, erbliche Blindheit, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Taubheit und schwere erbliche körperliche Mißbildungen. Sterilisiert konnte auch werden, wer an schwerem Alkoholismus litt.[283]

Das Gesetz sah sowohl freiwillige, als auch Zwangssterilisierungen vor; die Entscheidung über gestellte Anträge traf das Erbgesundheitsgericht. Ärzte und andere Professionisten hatten die Pflicht, erbkranke Personen dem Amtsarzt anzuzeigen.

Nach Schätzungen wurden nach diesem Gesetz 200.000 bis 350.000 Personen sterilisiert, fast ausschließlich zwangsweise.[284]

Güse und Schmacke stellten nach Durchsicht der umfangreichen psychiatrischen Literatur fest, daß die Mehrzahl der deutschen Psychiater das Gesetz begrüßte, ihre Diagnosepraxis danach ausrichtete und massiv zur Ausweitung der Diagnosen tendierte; letzteres traf v.a. leichtere Formen von Schwachsinn und sozial Auffällige, Störende. Grundlegende Bedenken gegen die Sterilisierung fanden die beiden Autoren in den Reihen der Psychiater nur bei Karl Bonhoeffer, der vor Ökononismus und Menschenverachtung warnte und gegenüber den Erbtheoretikern v.a. die exogenen Formen der Psychosen herausstellte; gleichzeitig ein Versuch, mit naturwissenschaftlicher Methodik und Denkweise gegen den Irrationalismus der Rassenfanatiker und Erbmystiker anzugehen.

Die Reaktionen anderer Berufsgruppen, besonders von Heilpädagogen und Hilfsschullehrern, waren heterogener, trotz der massiven Versuche der Gleichschaltung. Höck fand alle Abstufungen, von der Kritik der Vererbungsdogmen bis zur Versöhnung der Heilpädagogik mit der Eugenik.[285]

Viele Pädagogen lieferten am laufenden Band Rückzugsgefechte, schon seit den 20er-Jahren: Die Betonung der 'Brauchbarkeit' der Hilfsschüler lieferte die 'Unbrauchbaren' aus; um Schlimmeres -die Euthanasie- zu vermeiden, stimmten viele der Sterilisierung zu.

Die Euthanasie im großen Maßstab war seit dem Reichsparteitag 1935 der NSDAP für den Fall eines Krieges vorgeplant. Im allgemeinen Kriegsgeschehen, glaubte das Regime, könnten Widerstände, die von kirchlicher Seite erwartet wurden, leichter abgebogen werden.[286]

Die 'Vernichtung lebensunwerten Lebens'.[287]

Nachdem die Nationalsozialisten mit dem großangelegten Vernichtungsfeldzug gegen die sogenannten Erbkranken bis Kriegsausbruch gewartet hatten, gingen sie nun rasch an den Aufbau eines schlagkräftigen Apparates. Vorausgegangen war bereits im Juli 1939 eine erste Unterrichtung von einigen Professoren, Psychiatern und anderen Fachleuten, die den Plänen im wesentlichen zustimmten. Nur einer, Professor Ewald aus Göttingen, weigerte sich.[288] Die ursprünglich geplante legale Absicherung der Euthanasie erwies sich als undurchführbar, zu groß waren Vorbehalte bzw. Ablehnung in Teilen des Staatsapparates selbst; sogar der Reichsjustizminister war dagegen. Offiziell blieb Euthanasie daher immer strafbar, worauf sich später mehrere Proteste und nach dem Krieg Anklagen stützten.

Im geheimen wurde im Rahmen der 'Kanzlei des Führers' eine Organisation aufgebaut, unter der Leitung des Kanzlei-Chefs Phillip Bouhler. Im Oktober erschien folgender mit 1.9.1939 datierte Erlaß Hitlers, der nur wenigen eingeweihten Personen zugestellt wurde:

»Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbaren Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.« [289]

Die Aktion erhielt die Tarnbezeichnung 'T-4', nach der Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4. In aller Eile wurden drei Vereine gegründet. Die 'Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten' verschickte Meldebögen an alle Anstalten, in die deren Leiter die Namen und Diagnosen der Patienten eintragen mußten. Die 'Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege' sollte für die finanzielle Basis sorgen und die 'Gemeinnützige Krankentransport Ges.m.b.H.' für den Transport der Opfer; erst in andere Anstalten, was ebenfalls der Tarnung und Erschwerung von Nachforschungen diente, und dann in die Vernichtungsanstalten.

Davon wurden im Reich sechs installiert, eine davon im Schloß Hartheim bei Alkoven/ Eferding, die später gar das Prädikat 'Musteranstalt' bekam.

Nach einer Schätzung Dörners fielen 80.000 - 100.000 Menschen der Aktion T-4 zum Opfer.[290]

Bevor die Menschen jedoch aus den Anstalten abtransportiert wurden, waren die nach Berlin eingesandten Meldebögen einigen ausgewählten Ärzten zur Begutachtung übergeben und mit deren Kommentar den Obergutachtern Heyde und Nietsche weitergeleitet worden, die per Kreuzchen das Urteil fällten. Daraufhin wurde den Anstaltsleitern angekündigt, daß aus Gründen »planwirtschaftlicher Maßnahmen des Reichsverteidigungskommissars eine Reihe von Verlegungen notwendig seien.«

Nachdem die Opfer vergast und verbrannt worden waren, erhielten die Angehörigen, manchmal die Anstalten, einen gleichlautenden Brief über den plötzlichen und unerwarteten Tod des Opfers; nur die Todesursache variierte. Wegen Seuchengefahr habe der Leichnam sofort verbrannt werden müssen; Urne und Kleider könnten zugesandt werden.

Verfolgen wir nun, soweit das möglich ist, das Schicksal der Insassen der Salzburger Anstalten.

Generell ist festzuhalten, daß nach der Annexion Österreichs auch in der 'Ostmark' die reichsdeutschen Gesetze und Fürsorgebestimmungen in Kraft traten, insbesondere auch das 'Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses', und daß in der Folge auch in Salzburg ein Erbgesundheitsgericht eingerichtet wurde.

Landes-Idioten-Anstalt Konradinum in Eugendorf

Die Anstalt wurde nach dem Anschluß aufgelöst. Aufzeichnungen darüber und über die genaue Zahl der zuletzt untergebrachten Kinder liegen nicht vor. Die Barmherzigen Schwestern brachten etwa 20 Kinder nach Maria-Tal bei Kramsach in Tirol in ein ehemaliges, leerstehendes Waisenhaus.

14 Kinder aus Eugendorf wurden am 17.11.1938 von der Bezirkshauptmannschaft Salzburg nach Schernberg überwiesen; die meisten davon kamen am 17.4.1939 ebenfalls nach Maria-Tal.[291]Dorthin wurden von den Schwestern auch zahlreiche Kinder aus Tiroler Anstalten in Fügen und Mils gebracht; 1941 beherbergte das Haus etwa 70 Kinder. Eine Schwester erinnert sich:

»1941 kam der Befehl, sämtliche Kinder reisefertig zu machen: 'Überstellung in eine Anstalt, wo es ihnen besser geht'! Auf schnellstem Weg mußte das ganze Eigentums-Gepäck der Kinder gewaschen, ohne Löcher, eingemerkt und einzeln gebündelt sein. Diese Riesenarbeit füllte Tage und Nächte aus. In einer Nacht wurde allen Kindern die hl. Krankenölung gegeben, ausgenommen die Kleinkinder und die total Schwachsinnigen.

Nach zwei Tagen kamen SS-Männer und NSV-Frauen, die Kinder abzuholen. Diese Personen hatten sich mit langen Handschuhen vor Verunreinigung gesichert.

Es waren 70 Kinder, darunter solche, die gut und fleißig Feld- und Hausarbeiten verrichteten.« [292]

Wahrscheinlich wurden die Kinder vorerst nach Niedernhart bei Linz in die Psychiatrische Anstalt gebracht.

Privatpflegeanstalt Schloß Schernberg

Die Anstalt beherbergte1941 etwa 170 Personen, der Großteil 'Geistessieche', dann 'körperlich Sieche', 'Cretinen' und 'Idioten'.[293] Seit dem Anschluß waren 71 Patienten aus der Salzburger Landesheilanstalt hierher überwiesen worden, einweisende Behörde war der Landesfürsorgeverband.

Am 17.8.1940 erhielt die Anstaltsleitung ein Schreiben des Reichsstatthalters, Gauleiter Rainer, »daß laut einem Erlaß des Reichsverteidigungskommissars im Wehrkreis VIII in Innsbruck die gegenwärtige Lage die Verlegung einer größeren Anzahl von in Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten Kranken notwendig macht, um für andere Zwecke Betten jederzeit verfügbar zu haben. Die Kranken werden nebst ihren Krankenpersonalakten und Krankengeschichten in Sammeltransporten verlegt....«

Auf das Antwortschreiben der Sr. Visitatorin der Kongregation und seine Folgen kommen wir noch zu sprechen. Jedenfalls bot sie an, die Pflegekosten für die Patienten während des Krieges zu übernehmen, falls die Behörden auf die 'Verlegungen' verzichten wollten.

Die Schwestern in Schernberg bekamen von ihr den Auftrag, keine Mithilfe bei einem eventuellen Abtransport der Patienten zu leisten.

Nach dem Kriege verfaßte Sr. Rosaria Brunnauer einen Bericht über die Ereignisse 1941. Am 19.4.1941 kamen zwei Gestapobeamte und der Direktor von Niedernhart und verlangten die Dokumente und Krankengeschichten der Patienten. (Offensichtlich waren die Schernberger Patienten also nicht wie jene der anderen Anstalten durch die von Berlin ausgesandten Meldebögen erfaßt worden. Daher wahrscheinlich auch die Anwesenheit des Psychiaters, der aufgrund der Diagnosen im Krankenregister die Patienten aussuchen sollte.)

Da sich die Schwestern weigerten, die Patienten zu identifizieren, wandten sich die Beamten an einige 'hellere' Patienten, die diese Auskünfte gaben.

In den frühen Morgenstunden des 21.4.1941 kam die Gestapo mit vielen Helfern und Helferinnen. Beim Ankleiden und Abtransport der Patienten spielten sich erschütternde Szenen ab, Widerspenstige wurden niedergespritzt. Nach einer Liste wurden 74 Frauen und 41 Männer ausgesucht. Die Gehfähigen trieb man den Berg hinunter, die anderen wurden in kleine Autos gesteckt; denn die großen, schwarz verhängten Autobusse waren den steilen Weg zum Schloß nicht hinaufgekommen und warteten in Schwarzach. Beim Umladen wurden wieder viele Patienten niedergespritzt; es wurde vermutet, daß viele die Fahrt nach Niedernhart bereits tot antraten.

Am 20.5.1941 erschien die Gestapo zum zweiten Mal und nahm 3 Männer und 5 Frauen mit. Mehrere Patienten, die auf der Liste standen, waren nicht auffindbar, da die Schwestern sie rechtzeitig zum 'Pilzesuchen' in den Wald geschickt hatten. Schon beim ersten Transport war es den Schwestern gelungen, einen geistesverwirrten Priester hinauszuschmuggeln, sowie einige senile Schwestern, die eigentlich als Patienten da waren, aber nicht im Krankenregister standen, vor der Abholung zu bewahren. Insgesamt sollen 17 Patienten auf diese Art entkommen sein.

Die acht Patienten, die am 20.5.1941 abgeholt wurden, brachte man nach Salzburg in die Landesheilanstalt. Es ist aber anzunehmen, daß sie sich unter jenen Patienten befanden, die tags darauf nach Niedernhart gebracht wurden.

Mit einem dritten Transport am 4.8.1941 wurden 17 Männer und 19 Frauen in die Salzburger Landesheilanstalt gebracht. Sie dürften der Euthanasie entgangen sein; die Aktion T-4 wurde am 24.8.1941 abgebrochen. (29 Patienten kehrten später wieder zurück nach Schernberg.)

Die Anstalt war nun fast leer und diente während des Krieges als Refugium für die Barmherzigen Schwestern. Die Behörden beschlagnahmten diverses Inventar, die geplante Enteignung des Schlosses zum Zweck der Errichtung einer Jugendburg fand aber nicht statt.

Landesheilanstalt für Geisteskranke in Salzburg

In einem Zeitungsartikel vom 11.3.1947 ist u.a. zu lesen: »Die Landesheilanstalt in Salzburg hatte im April 1941 einen Belag von etwa 500 Kranken. 262 von ihnen wurden in vier Transporten weggeführt. Der erste ging am 16. April mit 68 Frauen ab, ihnen folgten mit dem zweiten Transport am folgenden Tag 83 Männer und am 18. April abermals 29 Frauen. Die meisten stammten aus dem Lande Salzburg. Bei den ersten Transporten verlief alles ziemlich ruhig. Erst beim letzten, am 21. Mai 1941, mit dem wieder 85 Pfleglinge ihrem Tod entgegenfuhren, spielten sich erschütternde Szenen ab. In der Zwischenzeit waren nämlich bereits zahlreiche 'Todesanzeigen' über das plötzliche Hinscheiden von früher abtransportierten Pfleglingen eingetroffen. Angst und Verwirrung waren entstanden. Wild erregt, weigerten sich die für den Abtransport bestimmten Pfleglinge, die Autobusse zu besteigen. Mit Gewalt wurden sie verladen. Obwohl die Anstalt an Transporttagen völlig abgesperrt war, vernahm man in der Umgebung durch die Schreie der Unglücklichen, daß etwas los sei. ...

Von Salzburg fuhren die Transporte nach Niedernhart oder direkt nach Hartheim. « [294]

Über die Vorgänge innerhalb der Anstalt sind meine Informationen sehr vage; ein ehemaliger Pfleger wollte keine Auskunft geben; die Schwester einer Klassestation wußte nicht viel, was über die Station hinausging, und ein Verwandter des damaligen Primarius Leo Wolfer hatte nur Erinnerungen vom Hörensagen.

Die Schwester, wie auch eine Lehrerin der Hilfsschule, erinnerte sich, daß Wolfer vor dem Anschluß allgemein beliebt, freundlich und umgänglich gewesen sei, danach aber sehr gefürchtet; noch mehr seine Frau, die als fanatische Parteigenossin bekannt war. Den Schwestern gegenüber sei Wolfer weiterhin korrekt gewesen, soweit diese sich an die Vorschriften hielten und an den zahlreichen Appellen teilnahmen. Anläßlich solcher Appelle wurde dem Personal auch die Anweisung aus Berlin mitgeteilt, welche Patienten aufgrund der Meldelisten zum Abtransport reisefertig gemacht werden mußten; von der Klassestation der Sr. E. waren es 8 von 25 Patienten. Gleichzeitig wurde dem Personal die angedrohte Todesstrafe bei Verletzung der Schweigepflicht mitgeteilt.

Da Leo Wolfer 1942 an Krebs starb, konnte nach dem Krieg unter Umständen Verantwortung auf ihn abgeschoben werden. Dies betonte ein Verwandter. Wolfer habe aber von der Euthanasie nichts gewußt, erst als die Todesmeldungen eintrafen, habe man Verdacht geschöpft. Wolfer, der in den 30er-Jahren an der Reformierung der Anstalt mit Betonung der Arbeitstherapie für die Patienten gearbeitet hatte, sei aus eben diesem Grund gegen die Verlegungen gewesen und habe sich auch -vergeblich- dagegen zur Wehr gesetzt.

Am 12.9.1941, die Anstalt stand halb leer, fand auf Vorschlag Wolfers eine Verhandlung zwecks Obersiedlung der Hilfsschule in die leergewordenen Räumlichkeiten statt. »Die Verwirklichung des Planes scheiterte an dem Einspruch aller Schulfachmänner.«[295]

Wie die ehemaligen Lehrer Frau H. und Herr G., letzterer nahm an der Verhandlung selbst teil, übereinstimmend mitteilten, habe man den Abtransport auch der Hilfsschüler befürchtet.

In dem oben zitierten Zeitungsartikel ist über den Sohn Leo Wolfers, der ebenfalls Psychiater war, zu lesen: »Gegen seinen Sohn, Dr. Heinrich Wolfer, steht die Anschuldigung, er habe als Leiter der 'Erbbiologischen Abteilung' an der Zusammenstellung der Transporte mitgewirkt und habe die Armenhäuser nach weiteren Opfern durchsucht.«[296]

Caritas-Anstalt St. Anton

1940 beherbergte die Anstalt etwa 40 Schüler und 35 Arbeitszöglinge, die der Schulpflicht bereits entwachsen waren und in der anstaltseigenen Gärtnerei angelernt wurden. »Unter dem Vorwande, daß die Fürsorge O.Ö. in das Land Salzburg nichts mehr zahle, wurden am 9.Juni 1940 sämtliche Zöglinge aus O.Ö. mit einem Auto abgeholt.«[297]Das waren 8 Kinder; eines kam später wieder zurück, von fünf langten Todesnachrichten ein.

Die Schwestern hatten seitens ihrer Vorgesetzten den Auftrag, keine Mithilfe bei den Transporten zu leisten, aber auch keinen aktiven Widerstand.

Im Herbst 1942 wurden 21 Arbeitszöglinge in die Landesheilanstalt nach Salzburg gebracht. Daß die Aktion T-4 zu diesem Zeitpunkt bereits beendet war, wußten die Schwestern natürlich nicht. Nach informellen Verhandlungen mit Ärzten der Heilanstalt konnten 11 dieser Zöglinge nach St. Anton zurückgeholt und in ein Pro-forma-Arbeitsverhältnis übernommen werden. Nach dem Krieg wurden diese Jugendlichen pensioniert. Diese 'Manipulationen' fanden zu einer Zeit statt, als offensichtlich manche informellen persönlichen Kontakte zwischen Kirche und Teilen des Staatsapparats möglich waren.[298]

1944 wurde noch einmal ein Transport von Kindern angekündigt, diesmal nach Wien in die Jugendfürsorgeanstalt ‚Am Spiegelgrund'; dazu kam es aber nicht.

Hilfsschule in Salzburg und Hilfsklasse in Hallein

Die Hilfsklasse in Hallein wurde 1938 aufgelöst. Alle Kinder sollen überlebt haben.

Die Angaben über die Salzburger Hilfsschule sind vage. Aus der Schulchronik erfährt man: Gleich nach dem Anschluß veranlaßte der Schularzt »die Übersiedlung geistig ganz minderwertiger oder schwer erziehbarer Kinder an entsprechende Anstalten. Das ist neu.«

Im Schuljahr 1939/40 wurden zwei Kinder »aus disziplinären Gründen« von der Schule entfernt; ein Junge (»schlechte häusliche Verhältnisse, Erbsyphilis, Diebstähle, Vagabundage«) kam nach Fügen; ein Mädchen (»schlechte häusliche Verhältnisse, Diebstähle«) nach Hirtenberg. Was mit diesen Kindern weiter geschah, ist nicht bekannt.

Frau H., die damals Lehrerin an der Hilfsschule war, erinnert sich an gelegentliche Kontrollen und einzelne Abholungen. Wenn sie von sollen Kontrollen hörte, hieß sie das Kind des Schulwarts, das ziemlich stark behindert war, zu Hause bleiben. Dem Vater, der ihr deswegen Vorhaltungen machte, habe sie den Grund erst später angedeutet. Mit Kollegen habe sie darüber nie gesprochen, da man nicht wußte, wem man trauen konnte.

Die psychiatrische Anstalt in Niedernhart war für die Euthanasieopfer nur Durchgangsstation vor ihrer Überführung nach Hartheim.[299]

Im Sommer 1938 war die dortige Idiotenanstalt des o.ö. Wohltätigkeitsvereins mit etwa 200 Pfleglingen aufgelöst, das Schloß enteignet und 1940 als Vernichtungsanstalt eingerichtet worden. Über dem Eingangstor hing ein Schild: »Erholungsheim«.

Nicht nur Behinderte und Geisteskranke, auch Juden, gebrechliche alte Menschen und nach Abbruch der Aktion T-4 geschwächte und kranke Häftlinge aus den Konzentrationslagern Mauthausen, Gusen und Dachau wurden dort ermordet. Leiter war Dr. Lonauer, der 1945 Selbstmord beging. Sein Stellvertreter Dr. Renno -ihm gelang die Flucht- tauchte später als Arzt in der Bundesrepublik Deutschland wieder auf; ein Gerichtsverfahren gegen ihn wurde eingestellt.

Die Euthanasieopfer wurden mit Autobussen nach Hartheim gebracht, in einem von außen uneinsehbaren Holzverschlag ausgeladen und mußten sich im Entkleidungsraum nackt ausziehen. Dann wurden sie fotografiert und mit Nummern versehen. Wer Goldzähne hatte, wurde am Rücken mit einem Kreuz gekennzeichnet. Im Vergasungsraum waren zur Täuschung Duschen an der Decke montiert. Die Leichen wurden in einem Kühlraum gestapelt, dann in zwei Öfen verbrannt. Die Asche wurde in Lastwagen zur Donau und zur Traun transportiert. Im Keller des Schlosses fanden medizinische Experimente statt.

Im November 1944 kam die Anweisung aus Berlin, die Anstalt zu schließen und den alten baulichen Zustand wieder herzustellen; dazu wurde ein Bautrupp Mauthausener Häftlinge beordert.

Als die Amerikaner einmarschierten, fanden sie in Hartheim - ein Kinderheim.

Die Durchführung der Aktion T-4 war zwar einheitlich geplant, mit Schwierigkeiten wurde aber von Anfang an gerechnet. Deshalb mußte alles streng geheim bleiben. Allen Menschen, die direkt oder indirekt von den Aktionen wissen konnten, wurde bei Androhung der Todesstrafe strengstes Stillschweigen auferlegt. So entstand zwar ein Klima der Angst und Unsicherheit, das rasche Bekanntwerden der Euthanasie konnte aber nicht verhindert werden.

Das geht u.a. aus den Briefen der Sr. Visitatorin der Barmherzigen Schwestern in Salzburg, Anna Bertha Königsegg, hervor. Diese Briefe dokumentieren einen der wenigen Versuche, dem Regime in der Euthanasiefrage o f f e n e n Widerstand entgegenzusetzen.

Am 17.8.1940 hatte die Reichsstatthalterei Salzburg der Leitung der Pflegeanstalt Schernberg die mögliche Verlegung ihrer Patienten angekündigt.

Am 23.8. schrieb Sr. Anna Bertha an den Reichsverteidigungskommissar in Innsbruck, von dem der Erlaß angeblich ausging: »...Es ist nunmehr ein offenes Geheimnis, welches Los diese abtransportierten Kranken erwartet, denn nur zu oft langt kurz nach ihrer Überführung die Todesnachricht vieler derselben ein.«

Im weiteren appelliert sie -mit durchaus systemloyalen Formulierungen- an das Gewissen des Kommissars und schlägt die Übernahme der Pflegekosten während des Krieges durch die Kongregation vor. Und sie schließt: »Sollte aber aus irgendeinem Grunde der Vorschlag nicht angenommen werden, so bitte ich Sie, nicht auf unsere Mithilfe beim Abholen und Transport der Kranken zu rechnen.«

Über die nun folgenden Ereignisse schreibt Jablonka: »Der Protest hatte für Schwester Königsegg ernste Folgen. Sie wurde am 17. September 1940 verhaftet; die Gestapo wollte wissen, wer ihr von den Euthanasiemaßnahmen berichtet habe. Waitz, davon informiert, wandte sich unverzüglich an Bischof Wiencken in Berlin. Auch er betont in seinem Schreiben, es sei ein »offenes Geheimnis, daß solche Pfleglinge in gewissen Anstalten auf dem Weg der Euthanasie dem Tod zugeführt und in einem Krematorium verbrannt werden«; ... Der Protest scheint Erfolg gehabt zu haben. Schwester Königsegg wurde nach 11 Tagen Haft entlassen. In den Verhören hatte sie sich standhaft geweigert zu verraten, wer ihr die Mitteilung von den Euthanasiemaßnahmen gemacht habe.«[300]

Möglicherweise hatte sie die Information aus den Reihen ihrer Kongregation in Linz. Denn es gibt den Bericht einer Barmherzigen Schwester, die in der Idiotenanstalt Hartheim gearbeitet und deren Auflösung miterlebt hatte. Sie kam zusammen mit den Buben nach Niedernhart, von wo die Kinder später -als erste Euthanasieopfer- wieder nach Hartheim überstellt wurden. Da sie selbst in Hartheim zuhause und öfters zu Besuch war, v. a. aber durch ihren Bruder, wußte sie über die Vorgänge im Schloß ungefähr Bescheid.[301]

Zurück nach Salzburg. Als auch die Verlegung der Kinder von Maria-Tal bei Kramsach angekündigt wurde, richtete Sr. Anna Bertha am 18.1.1941 ein Schreiben an den »Reichsverteidigungskommissar Dr. Rainer« nach Salzburg (Er war gleichzeitig Reichsstatthalter und Gauleiter). Inhaltlich deckt sich dieser Brief mit dem ersten; Kopien schickte sie an den Reichsminister des Inneren in Berlin und an den Reichsstatthalter in Innsbruck.

Auf diesen Brief folgte keine Reaktion. Aber als im April 1941 der unmittelbar bevorstehende Abtransport der Patienten aus Schernberg bekannt wurde und die Schwester erneut an Rainer schrieb, wurde sie drei Tage später, am 16.4.1941 wieder verhaftet. Man befürchtete offensichtlich, sie könnte noch größeres Aufsehen erregen und Schwierigkeiten bei den Transporten machen, die noch am selben Tag in der Landesheilanstalt begannen: 16., 17., und 18.April sowie 21.Mai aus Lehen; 21.April und 20.Mai aus Schernberg; das Datum von Maria-Tal ist nicht bekannt.

Nach vier Monaten, am 13.August 1941, wurde Sr. Anna Bertha zwar wieder entlassen, mußte aber Salzburg unverzüglich verlassen.

Diese Geschichte dokumentiert nicht nur einen Widerstand gegen die Euthanasie, sie macht auch die Behauptung, die Ärzte der Landesheilanstalt hätten von der geplanten Ermordung ihrer Patienten nichts gewußt, unglaubwürdig. Denn auch in dieser Anstalt waren Barmherzige Schwestern tätig; der erste Brief der Königsegg und Ihre erste Verhaftung datieren ein halbes Jahr vor den ersten Abtransporten. Spätestens seit damals dürfte -wenn schon nicht offen geredet, so doch über die Euthanasie gemunkelt worden sein.

Das Netz der Geheimhaltung hatte zahlreiche Schwachstellen. Und es passierten Pannen; die Todesnachnichten erzeugten Verdacht und Unruhe, v.a. wenn absurde Todesursachen angegeben wurden (Blinddarmentzündung bei längst -operierten). Manche Priester wagten öffentliche Proteste, so der Bischof von Münster in einer Predigt 1941. Der Reichsjustizminister Gürtner, selbst Gegner der Euthanasie, soll einem Anstaltsleiter geraten haben, Anzeige gegen Bouhler zu erstatten. Teilweise griff der Staatsapparat in Gestalt von Staatsanwaltschaften die Klagen von Angehörigen auf und erstattete Anzeigen.

Selbstverständlich wurden alle diese gerichtlichen Verfahren eingestellt oder niedergeschlagen. Dennoch sollen diese Unruhe und diese Proteste der Hauptgrund für den Abbruch der Aktion T-4 am 24.8.1941 gewesen sein.[302]

Als weitere Gründe werden die Konzentration auf den Rußlandfeldzug und die geplante Verlegung des Großteils der Vernichtungsmaschinerie weiter nach Osten genannt.

Damit war aber die Euthanasie Behinderter nicht beendet. In psychiatrischen Anstalten wurde sie mit Giften und durch Nahrungsentzug teilweise fortgesetzt.[303]

Wir konnten etwas Licht auf das Schicksal der Insassen einiger Salzburger Anstalten werfen; aus diesem Bereich waren etwa 420 Opfer zu beklagen.

Kaum etwas wissen wir von jenen Behinderten und Geisteskranken die zu Hause oder in Altersheimen wohnten. In Uttendorf schritt die Gestapo ein, als eine Frau öffentlich erzählte, aus dem Gemeindespital seien die 'Toggln' weggebracht worden.[304] Eine Schwester erzählt, daß aus dem Altersheim Hopfgarten/Tirol jüngere und ältere geistig Behinderte und Taubstumme abtransportiert wurden.

Wenig wissen wir auch über die Reaktionen von Angehörigen. Die Schwestern erinnern sich, daß manche Eltern ganz froh waren, daß ihre schwerstbehinderten Kinder nun »endlich erlöst« wären. Andere waren entsetzt oder konnten es einfach nicht glauben. »Wenn das der Führer wüßte!« Frau Nora Watteck[305] erzählt von einer überzeugten Nationalsozialistin, deren Tochter vergast wurde; diese Frau sei, auch nach dem Krieg, fest davon überzeugt gewesen, daß »die Schwarzen« ihr Kind ermordet hätten.

Manche Angehörige wußten offenbar längere Zeit nichts vom Tod ihrer Verwandten, weil die Todesnachrichten oft an die Anstalten geschickt wurden. So fand ich etwa in Schernberg folgenden Brief aus dem Jahre 1943:

»Geschätzte Verwaltung!

Bitte möchten Sie mir Bescheid geben, wie es mit meiner Frau Psutka Barbara steht, und wie es ihr geht, und ob ich hoffen kann, daß sie wieder voll und ganz gesund wird? Da es mir jetzt im Krieg der Dienst es nicht erlaubt, zu fahren, so ersuche ich nochmals freundschaftlichst mir baldigst Genaueres schreiben zu wollen. Mit bestem Dank im voraus zeichnet Willi Psutka, Wien 22.«

Darauf der Vermerk: »Am 21.4.1941 nach Niedernhart überstellt.«

Die Hilfsschulen Salzburgs während der NS-Zeit

Die Politik gegenüber der Hilfsschule in Salzburg war widersprüchlich: einerseits Förderung der 'Brauchbaren' und organisatorische Aufwertung der Schule; andererseits heftige Attacken auf die pure Existenzmöglichkeit der Schule. Letzteres nicht seitens der Schulbehörden, sondern seitens der Gauleitung.

Eine Aufwertung der Hilfsschule stellte die Bestellung eines eigenen Fachinspektors dar, nachdem vor 1938 die Hilfsschulen dem Bezirksschulinspektor unterstanden hatten. Fachinspektor wurde Herr G., ehemaliger Lehrer der Halleiner Hilfsklasse, Mitglied der NSDAP, »der aber seine Grenzen kannte«. G. nahm 1938 an einem Reichslehrgang der Fachgruppenleiter in Bayreuth teil; »man hat dort gegen die Sterilisierung Schwachsinniger und Gehörloser Stellung genommen«.[306]Eventuell ein Indiz dafür, daß die Lehrerschaft noch keineswegs gleichgeschaltet war. G. legte vor allem Wert auf die Lehrerfortbildung und organisierte entsprechende Kurse.

Die Kinder der Hilfsschule waren nicht zu 'minderwertig', um in die Hitler-Jugend einzutreten. Darauf wurde sogar besonderer Wert gelegt, die Teilnahme an den Treffen war verpflichtend.

Schwerer als die teilweise Aufwertung des Hilfsschulunterrichts für die 'brauchbaren' Schüler wogen freilich die ständigen Versuche, der Hilfsschule die Existenzgrundlage zu entziehen. Gleich nachdem »wir in den Märztagen Geschichte erlebten« und der Anschluß »sich ohne Blutvergießen in brausender Begeisterung« vollzogen hatte, mußte die Hilfsschule die Räume in der St. Andrä-Schule verlassen und mit 102 Schülern drei Räume in der Wolf-Dietrichstraße beziehen. Im folgenden Schuljahr mußten gleich mehrere Verlegungspläne abgewehrt werden. Die Einrichtungsgegenstände und Lehrmittel waren in schlechtem Zustand. Drei Lehrer wurden zur Wehrmacht eingezogen und zunächst durch fachfremde pensionierte Lehrer, dann durch Hausfrauen ersetzt.

Im Schuljahr 1940/41 stellten die Behörden die Schülerausspeisung, die Milchaktion und das Schulbad ein. Im Jahr darauf wurden Lehrermangel und Raumnot so akut, daß bei insgesamt 122 Schülern und 6 Klassen jede nur an jedem zweiten Tag Unterricht hatte.

Gegen Kriegsende war auch die Hilfsschule zunehmend von den Kampfhandlungen betroffen. Bombenangriffe, Evakuierungen, lange Schließungen und Plünderungen standen auf der Tagesordnung. Nach einem schweren Bombardement am 25.April 1945 wurde die Schule geschlossen.

Die jeweiligen Chronisten mußten (oder wollten) natürlich angepaßt schreiben. Manche Jubelberichte, wie der Führer wieder einmal »Geschichte gemacht« hat, lesen sich wie eine Satire. Vielleicht waren sie auch als solche gedacht, denn im gleichen Atemzug finden sich Klagen über Schikanen, Gehaltskürzungen und unfreiwillige Arbeitseinsätze.

Während die Hilfsklasse in Hallein nach dem Anschluß aufgelöst wurde, blieben Hilfsschule und Internat in St. Anton bestehen. Allerdings waren einerseits die geistlichen Schwestern, andererseits die ganze Anstalt heftigen Angriffen ausgesetzt. Immer wieder kamen Kommissionen, einmal um die Weiterführung der Anstalt unter weltlicher Führung zu beraten, dann wieder um das Gelände für den Bau eines Krankenhauses für Zell amSee zu beschlagnahmen.[307]

Doch hat die Anstalt überlebt, was wohl einerseits mit ihrer relativ großen ökonomischen Unabhängigkeit zusammenhing (eigene Landwirtschaft), andererseits mit dem Umstand, daß es auch für das Regime nicht ratsam schien, die einzige Möglichkeit, Kinder aus Landgemeinden, meist 'Fürsorgefälle', in eine Hilfsschule zu geben, abzuschaffen.

Abschließend sei auf ein merkwürdiges, aber bedeutsames Phänomen nach Zusammenbruch des NS-Regimes hingewiesen: die nahezu vollständige 'Amnesie' der Öffentlichkeit in bezug auf die Verbrechen an Behinderten und Geisteskranken, obwohl es während der NS-Zeit nicht unbedeutenden Widerstand gegen die Euthanasie gegeben hat. Für Salzburg bestätigten das alle meine Gesprächspartner; weder wurde darüber unter den Professionisten gesprochen, noch gingen diese oder Angehörige der Opfer vor Gericht.

Der Widerspruch zwischen den Reaktionen auf die Ermordung Kranker einerseits, von Juden andererseits, während und nach dem Krieg, wurde von mehreren Autoren als allgemeines Phänomen festgestellt. So schreibt Klaus Dörner:

»Während gegen die Judenverfolgung von der ersten 'harmlosen' Restriktion bis zur Endlösung sich im damaligen Deutschland nur sehr wenige schwache Stimmen erhoben, ihre zeitgeschichtliche Bearbeitung nach 1945 aber Bibliotheken füllte, lösten die Aktionen gegen 'unwertes Leben' eine Fülle von Protesten der Bevölkerung aus den verschiedenartigsten -nicht nur kirchlichen- Kreisen aus, bilden aber innerhalb der Zeitgeschichte nach 1945 heute noch einen nahezu weißen Fleck.« [308]



[276] »The science which deals with all influences that improve the inborn qualities of a race.« Galton 1883, zitiert nach Kanner, S.128

[277] Vgl. Otto Reche: Die Bedeutung der Rassenpflege für die Zukunft unseres Volkes. In: Veröffentlichungen der Wiener Gesellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene). Heft 1, 1925.

[278] Vgl. Kanner, S. 136 f

[279] Vgl. Hans-Georg Güse/ Norbert Schtnacke: Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus. Kronberg 1976, S.389 ff

[280] Binding/Hoche, S.56; zitiert nach Wolfgang Hantel: Die Eliminierung der Behinderten und die Ausrichtung der Psychologie im Hitler-Faschismus. In: P & G Nr. 12, Gießen 1979, S.45

[281] Siehe Werner Kienreich: Die Wiener Gesellscbaft für Rassenpflege im Lichte ihrer 'Nachrichten'. In: P & G Nr. 12, Gießen 19 79.

[282] Reche, S.7

[283] Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 3/1979, S.529 f

[284] Vgl. Walter Schulte: 'Euthanasie' und Sterilisation im Dritten Reich. In: Andreas Flitner (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Tübingen 1965, S.76

[285] Manfred Höck: Die Hilfsschule im 3. Reich. Berlin 1979.

[286] Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke: Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt-Hamburg 1962, S.184

[287] Im wesentlichen konnte ich Informationen zum Schicksal der Salzburger Anstaltsinsassen festhalten. Eventuell vorhandene Akten sind noch unter Verschluß. Zum Teil war es schwierig, noch lebende Zeugen überhaupt aufzufinden; nicht alle waren dann zu einem Gespräch bereit. Schließlich konnte ich zwei ehemalige Hilfsschullehrer, einige Barmherzige Schwestern, eine Schwester der Vöcklabruckerinnen und einen Verwandten des damaligen Chefs der Landesheilanstalt befragen. Auszüge der Mitschriften und schriftlichen Erinnerungen, sowie einige Dokumente finden sich im Anhang zur Dissertation, S.248 ff. Die Subjektivität dieser Erinnerungen braucht nicht extra betont zu werden. Manche Informationen sind durch Vergleiche mit Eintragungen in den Anstaltschroniken besser belegt.

[288] Vgl. auch im folgenden Florian Zehethofer: Das Euthanasieproblem im Dritten Reich am Beispiel Schloß Hartheim. In: O.Ö. Heimatblätter 1978, Heft 1/2, S. 47 ff

[289] Zitiert nach Mitscherlich/Mielke, S.184

[290] Vgl. Klaus Dörner: Nationalsozialismus und Lebensvernichtung. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1967, 2. Heft, S.144

[291] Eintragung im Krankenregister in Schernberg.

[292] Schriftliche Erinnerung der Sr.A.

[293] Diagnosen im Krankenregister.

[294] Karl Engl: Die Vorfälle in der Landesheilanstalt Leben. In: Salzburger Nachrichten, 11.3.1947

[295] Schulchronik.

[296] Salzburger Nachrichten, 11.3.1947

[297] Hauschronik.

[298] Vgl. dazu Ernst Hanisch: Nationalsozialistische Herrschaft in der Provinz. Salzburg im Dritten Reich. Salzburg 1983, S.190 f

[299] Alle Angaben über Hartheim nach Zehethofer, S.52 f

[300] Hans Jablonka: Waitz: Bischof unter Kaiser und Hitler. Wien 1971, S.144 f

[301] Vgl. Zehethofer, S.55

[302] Vgl. Zehethofer, S.49 ff

[303] Unter anderem in Wien 'Am Spiegelgrund'. Siehe dazu Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin: Vom Umgang mit der Vergangenheit. Psychiatrie in Österreich und die Gegenwart. In: P&G Nr. 12, Gießen 1979, S.75-88 und Karl Marschall: Volksgerichtsbarkeit und Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Österreich 1945-1972. Wien 1973.

[304] Vgl. Hanisch, S.205

[305] Autorin von: Lappen, Fexen und Sonderlinge in Salzburg. In: MGSL. 118/1978.

[306] Schriftliche Erinnerung von Herrn G.

[307] Hauschronik St. Anton.

[308] Dörner 1975, S.59; siehe auch AG Kritische Medizin, S.86

Nachwort von Volker Schönwiese

Das Wissen um die Sozialgeschichte von Behinderung ist bei uns gering. Dies mag viele Gründe haben. Ein wichtiger Grund scheint in einer Abwehrhaltung zu liegen, sich mit historischen Erfahrungen auseinanderzusetzen, diese ernst zu nehmen. Zu viele lieb gewordene Erklärungen heutigen 'sozialen' Handelns könnten dabei ins Wanken geraten. Humanitäres Handeln müßte mit den Interessen der Helfenden, Hilfe für Behinderte mit politischen und ökonomischen Interessen in Verbindung gebracht werden.

In diesem Sinne ist es anläßlich der laufenden Diskussion über die Integration Behinderter besonders wichtig, Material zur Sozialgeschichte von Behinderung aufzuarbeiten. Dem Autor des vorliegenden Buches ist zu danken, daß er hier einen für Österreich wichtigen Beitrag leistet.

Es kann davon ausgegangen werden, daß die Lebenssituation der geistig behinderten Mitbürger in Relation zur Gesamtbevölkerung auch heute extrem schlecht ist und zum Hauptcharakteristikum Isolation von den wichtigsten gesellschaftlichen Lebenswelten hat. Rund die Hälfte der geschätzten 22.000 erwachsenen geistig behinderten Personen in Österreich leben in Heimen, Anstalten oder psychiatrischen Kliniken. Diese Institutionen können den Bedürfnissen ihrer Insassen in keiner Weise gerecht werden (vgl. Laburda 1981, S.30) und müssen mehr oder weniger als 'totale Institutionen' charakterisiert werden.

Die Sonderschulen wurden in den letzten Jahrzehnten stark ausgebaut. Die Möglichkeiten integrativen Unterrichts sind bei uns völlig außer Sicht geraten. Erst seit wenigen Jahren ist in Osterreich eine Integrations-Diskussion in Gang gekommen, die 'Normalisierung' und 'De-Institutionallsierung' forciert. In anderen Ländern, wie Schweden, USA und Italien, begann diese Diskussion in den 50er- und 60er-Jahren und hat vielfache praktische Umsetzungen bewirkt. Am bekanntesten davon sind die Schulintegration in Italien und die Wohngemeinschaften in Schweden. Konkrete Umsetzungen in Österreich sind über eine nur kleine Anzahl von Wohngemeinschaften für geistig behinderte Personen und erste Schulversuche nicht hinausgegangen.

Real sind weiterhin folgende Problembereiche aktuell:

a) Behinderte werden immer noch als Mängelwesen definiert, insbesondere durch die medizinisch-defektologische Sichtweise.

Behinderte als Mängelwesen zu definieren, hat Tradition. Hintergrund dieser Tätigkeit ist der Versuch, eine Eigenschaft als Schaden, als Abweichung zu erkennen. Dabei geht das medizinische Denken von einer scheinbar natürlichen Kategorie der Gesundheit, d.h. der Funktionstüchtigkeit des Körpers und des Geistes aus. Nur so lassen sich die endlosen und weiterhin modischen Versuche erklären, Behinderung zu erfassen, zu zählen, zu systematisieren, zu kategorisieren. Typisch ist dabei, daß mit der Kategorisierung von Schäden eine entscheidende negative Generalisierung auf die Gesamtkonstitution und Gesamtpersönlichkeit des Menschen stattfindet. Einteilungen wie debil, imbezill, idiotisch beziehen sich stigmatisierend auf Gesamtpersonen. Eine Unzahl ansonsten 'normaler' Eigenschaften von Behinderten werden dem untergeordnet, bzw. es geht die soziale Genese von Reaktionen, die man z.B. 'Pfropfpsychose' nennt, verloren.

Die soziale Genese von Behinderung, die zeigt, daß eine Eigenschaft für sich keine Bedeutung hat, sondern nur in sozialen Prozessen Bedeutung erlangen kann, ist zwar durch einen Teil der interaktionistisch und/oder kritisch orientierten Wissenschaft seit langem behauptet, hat aber kaum Konsequenzen, da die medizinisch-naturwissenschaftliche 'Defekt'-Sichtweise wissenschaftlich und alltäglich weiterhin die wichtigste Beurteilungsgrundlage für Behinderte darstellt.

Unter diesen Bedingungen werden nicht die Aneignungsfähigkeiten Behinderter entschieden unterschätzt, sondern auch die besondere positive Provokation, die von ihnen für die sogennante normale Welt ausgehen können:

etwa die kommunikative Konkretheit und K ö r p e r l i c h k e i t, die von diesem Personenkreis ausgeht;

die oft phänomenale E x p r e s s i v i t ä t, mit der nonverbale Kommunikationstechniken bis zur emotionalen Virtuosität gehandhabt werden können;

der Umstand, daß die Möglichkeit der geistig behinderten Mitbürger, uns an ihren Gefühlen partizipieren zu lassen, mit ihrer außerordentlichen Merkfähigkeit, Dankbarkeit, Treue, also auch zeitlich emotionalen I n t e g r i t ä t korreliert (vgl. Bosshard 1977, S.33 f).

Die Widerständigkeit geistig behinderter Mitbürger gegen unsere Leistungsideologie birgt die ständige Frage, wieweit Gleichheit und Demokratie bei uns nicht nur Schlagworte sind, sondern auch unseren realen Lebensbedingungen entsprechen.

b) Therapie und Erziehung sind derzeit Scheinbegriffe, da sie nicht von der Ganzheit des behinderten Menschen bzw. von seiner Lebenswelt ausgehen.

Die schon erwähnte fast zwanghafte Suche unserer Medizin und Heilpädagogik nach Defekten entspricht dem ebenso zwanghaften Bemühen zu therapieren. Dabei ist in den letzten Jahrzehnten eine wahre Therapieflut entstanden, von traditionsreichen Therapien wie Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, bis zu Hippo-, Freizeit-, Musik-, Spiel-, Wander-, Bibliotherapie usw. Das therapeutische Angebot ist oft der wesentliche Grund, Behinderte in Heimen und Sonderinstitutionen unterzubringen. Heime wiederum beziehen ihre wesentlichste Legitimation aus Therapieangeboten. Es besteht die Tendenz, den gesamten Alltag von Behinderten in Therapie zu verwandeln. Dabei geht der behinderte Mensch als Gesamtperson verloren. Die Therapie-Spezialisten fühlen sich nur noch für die Teilbereiche verantwortlich.

Die Erkenntnis der Bedürfnisse unserer behinderten Mitbürger und die Motivation als eigentliche Triebkraft jeder Veränderung reduzieren sich mit dem Grad der Unterwerfung unter die therapeutische Technifizierung, die für den naturwissenschaftlichen Ansatz so typisch ist.

Dazu kommt noch, daß die derzeitige Therapiepraxis -mit sich selbst im Widerspruch- dazu neigt, klar definierte Ziele aufzugeben und stattdessen einer unklaren Ideologie von 'je mehr Therapie, desto besser' anzuhängen. Damit wird Therapie zum Selbstzweck. Therapeutisches Handeln hat dann mehr mit institutionellen Zielen und der institutionellen Eigendynamik zu tun, als mit der Erkenntnis der realen Bedürfnisse unserer behinderten Mitbürger. Das Entscheidende dabei ist, daß dadurch die Verantwortung aus der sozialen Nähe des gesellschaftlichen Alltags abgezogen wird und Fachleute durch die Parzellierung des behinderten Menschen seiner sozialen Umgebung Verantwortung entziehen, statt zu helfen, Verantwortung zu übernehmen (vgl. Aly 1981, Milani 1982, Wöhler 1981).

c)Institutionelles Angebot und die Aussonderung unserer behinderten Mitbürger verstärken sich derzeit in einem Regelkreis.

Die Institutionen der Behindertenbetreuung werden mit dem Pathos der Liebe, der Fürsorge oder der humanen Hilfe umgeben. Nimmt man diese Maske weg, erkennt man ein Dienstleistungssystem, das sich entsprechend den Grenzen unserer Wirtschaft entwickelt, seine Ressourcen braucht und expansiven Charakter hat. Wir befinden uns auf dem Weg zu einer Dienstleistungsgesellschaft, und die Behindertenhilfe ist hier in guter Gesellschaft mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Die Vermehrung von Kunden entspricht der Logik von Dienstleistungssystemen. In der Regel vergrößert sich die Zahl der als deviant definierten Personen in dem Maße, wie die Zahl der mit der Kontrolle beauftragten 'Spezialisten' zunimmt (vgl. Hohmeier 1975, S.18).

Die professionellen Dienstleistungssysteme definieren Bedürfnisse wie etwa das Bedürfnis von geistig behinderten Menschen nach Nähe und Betreuung (Bedürfnisse, die jeder hat, Babys z.B. auch in extremer Form), als Mangel und suggerieren dem Klienten drei Dinge:

»1. Du leidest unter Mängeln,

2. Du selbst bist das Problem,

3. Du hast ein ganzes Bündel von Problemen auf dich vereinigt.

Aus der Perspektive der Interessen und Bedürfnisse der Dienstleistungssysteme lauten diese drei Mängel-Definitionen so:

1. Wir brauchen Mängel,

2. Die ökonomische Einheit, die wir brauchen, ist das Individuum,

3. Die produktive ökonomische Einheit, die wir brauchen, ist ein Individuum mit vielen Mängeln. « (McKnight 1979, S.54)

Es braucht nicht weiter betont zu werden, daß der im Moment überall feststellbare Abbau von 'Sozialleistungen' nichts mit einer prinzipiellen Änderung und De-Institutionalisierung unseres Dienstleistungssystems zu tun hat, sondern in Zeiten ökonomischer Krise dazu da ist, Rationalisierungsdruck zu erzeugen.

d) Der Alltag unserer behinderten Mitbürger ist immer noch geprägt -man kann es nicht anders sagen- von Menschenrechtsverletzungen und Gewalt.

Gewalt ist so untrennbar mit dem Alltag behinderter Menschen verbunden, daß sie schon fast selbstverständlich als Teil von Behinderung akzeptiert und damit vergessen wird.

Galtung (1975, S.9) definiert Gewalt so: »Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktulle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung«.

Es geht also nicht einfach um Formen aktueller, brutaler und direkter Gewalt, wie sie leider weiterhin noch zur Genüge vorkommen. Immer wieder einmal an die Öffentlichkeit dringende Vorfälle in Betreuungs-Institutionen sind sicher nur eine Spitze eines Eisberges. Es geht vielmehr um die Beschränkung prinzipiell möglicher Bedürfnisbefriedigung durch strukturelle Inszenierungen, deren notwendiges Nebenprodukt aktuelle Gewalt ist. Die Beschreibung von struktureller Gewalt eines Archetyps von Institutionen, von 'totalen Institutionen' durch Goffman (1973) ist sehr bekannt, aber deshalb nicht weniger aktuell.

Die Folge des Lebens in 'totalen Institutionen' ist die Anpassung an die Institution und damit Desintegration, die dazu führt, daß geistig behinderte Menschen ihr Leben lang in Anstalten bleiben.

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B) Unveröffentlichte Quellen, Haus- und Seminararbeiten

Salzburger Landesarchiv (SLA):

Churfürstliche und k.k. österreichische Regierung: R XI/H 112:Anstalt zur besseren Versorgung der mit konvulsivischen Krankheiten behafteten Menschen, oder sogenannten Kretinen, Halbkretinen und Blöden. 1804.

Kreisamt: B.IX. 1.(152):Allgemeine sanitäre Maßnahmen. B.IX.9.(212, 213): Sanitäts-Jahresberichte. D.8.(361/2): Taubstummen-Institut.

Linzer Akten neu: 238, Z 4: Guggenmoos 1817-1833.

K.k. Landesregierung: VII.A.:Heilwesen, Überhaupt (Sanitätsberichte).

Konsistorialarchiv Salzburg (KAS):

Akten 22/84: Z.1068: Circulare No.49, Die Kretinen des Kreises betreffend (1831); Z.5460, 3833: Über Evidenzhaltung taubstummer und blödsinniger Individuen (1855). Z. 1854, 586, 9244, 9971, 3351, 3445: Zur Kretinenzählung (1857).

Krankenregister der Privatpflegeanstalt Schloß Schernberg, 1906 ff.

Schulchronik der Hilfsschule (Hilfsklasse) in Salzburg, 1903 ff.

Hauschronik der Caritas-Anstalt St. Anton, 1922 ff.

Hausarbeiten:

Steininger, Roswitha:Gesellschaftsbild und politische Einstellung der Ärzteschaft im Liberalismus (1860-1878). Salzburg 1980.

Uroseviteanu, Ernestine:Die unterrichtliche und fürsorgliche Betreuung schwachsinniger Kinder in Vergangenheit und Gegenwart im Lande Salzburg. Salzburg 1963.

Seminararbeiten:

Craigher, Ilse:Die Reform des Schulwesens in Salzburg. Salzburg 1973.

Glück, Erich:Statistik des Erzstifts Salzburg. Salzburg 1973.

Mayr, Waltraud:Bemühungen zurHebung der Volkswohlfahrt. Salzburg 1967.

Pfoser, Alfred: Josepbs II. Reformen als Vorbild für Salzburg, Salzburg 1973.

Schatzl, Annamaria:Die Reform der Elementarschulen. Salzburg1980.

Schmidt, Emma:Die Hebung des Volksunterrichts. Salzburg 1967.

Watzinger, Maria:Handel, Wirtschaft und Verkehr im 18. Jahrhundert im Erzstift Salzburg. Salzburg 1973.

BILDERNACHWEIS

(Anmerkung bidok: Originalbilder der Erstveröffentlichung sind im Netz nur teilweise verfügbar)

Seite 18: Aus Franz Valentin Zillner: Über Idiotie. Jena 1860, Tab. 6

Seite 35: Haus der Natur, Salzburg.

Seite 40: Dannreiter-Stich.

Seite 60: Aus EOS, Jg. 1907, S.205

Seite 66: Haus der Natur (Themesl-Foto 1985).

Seite 83: Aus Josef Schweighofer: Landes-Heilanstalt für Geistes- und Gemütskranke in Salzburg 1898-1908, Anhang.

Seite 100: Salzburger Landesarchiv.

Seite 110: Aufnahme des Verfassers 1983.

Seite 116: Aus Die Heimat, Sonntagsbeilage zur Salzburger Chronik, 9. Juni 1918

Seite 154: Aus 75Jahre Sonderschulen im Bundesland Salzburg. Salzburg 1978, S.14

Seite 157: Aus der Festschrift zur Kinderdorferöffnung. Salzburg 1959.

Über den Autor

Inghwio aus der Schmitten, Jg. 1954, Studium der Psychologie und Psychopathologie an der Universität Salzburg, Tätigkeit als Psychologe in der WERKSTATT für Gesellschafts- und Psychoanalyse, gegenwärtiges Forschungsinteresse: Früherkennung von Behinderungen.

Quelle:

Inghwio aus der Schmitten: Schwachsinnig in Salzburg. Zur Geschichte einer Aussonderung Verlag UMBRUCH. WERKSTATT für Gesellschafts- und Psychoanalyse, Salzburg 1985

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.09.2009

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