ALLE MACHT DER BETREUUNG?

Autor:in - Ernst Schwanninger
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 9 - 12
Copyright: © Jugend und Volk 1982

ALLE MACHT DER BETREUUNG?

Was Du willst, wissen wir,

Deine Entscheidungen treffen wir.

Du willst nicht in das Heim?

Du hast Dir vom Leben mehr erwartet?

Was solls!

Deine Wünsche in Gottes Ohr -

aber Dein Glück in unserer Hand.

o.k.?

Ich war ein Kind, das nicht gehen konnte. Was das für meine Eltern bedeutete, weiß ich nicht genau. Mir machte es nichts aus, ich konnte fast so schnell kriechen, wie die anderen Kinder laufen konnten. Als ich in den allgemeinen Kindergarten kam, war meine Behinderung für die Kinder kein Grund, mich als Außenseiter zu behandeln. Wir spielten, lachten und lernten zusammen. Von den Kindern wäre keines auf die Idee gekommen, daß ich gerne ruhig im Garten sitze und die Natur beobachte, oder mich nur dann wohl fühle, wenn ich mit behinderten Kindern in einen Kindergarten gehe.

Ich wohnte in der Nähe eines Krankenhauses, sodaß es für meine Eltern nicht schwierig war, mich zwei- bis dreimal wöchentlich zur Therapie zu bringen. Man wußte nicht genau, welche Behinderung ich habe. Erst später stellte sich heraus, daß es progressive Muskeldystrophie ist. Mit 5 Jahren kam ich in die "Wiederherstellungsanstalt für körperbehinderte Kinder" in Hermagor, mit der Begründung, daß es dort eine noch bessere Therapie gäbe, und ich vielleicht dort gehen lernen würde. Mit Hilfe von Schienen lernte ich dies auch, hatte jetzt aber keine größeren Möglichkeiten, etwas zu tun, als vorher. Im Gegenteil: als ich wieder zu Hause war, konnte ich vieles nicht mehr. Man hatte es geschafft, es so aussehen zu lassen, als wäre ich weniger behindert. Dabei konnte ich mich nur noch im Haus fortbewegen, war beim Gehen um vieles langsamer als beim Kriechen, konnte Stiegen nur mehr hinaufschauen und wenn ich umfiel - was sehr oft passierte - konnte ich nicht selbst aufstehen. Meinen Eltern wurde damals nicht gesagt, daß die Schienen kein Mittel waren, um später richtig gehen zu lernen, sondern daß ich zum Gehen immer die Schienen brauchen würde. Die Kinder, die früher mit mir gespielt hatten, liefen mir jetzt davon, weil sie gewohnt waren, daß ich nachkommen konnte. Es war für sie auch uninteressant, mit mir zu spielen, da sie immer aufpassen mußten, daß sie nicht an mich anstießen, weil ich dann umfiel. Aber mit Hilfe der Schienen wurde vermieden, daß ich - den ästhetischen Normen widersprechend - herumkriechen konnte.

Von Hermagor aus wurde ich gleich an die Sonderschule für Körperbehinderte, das Elisabethinum in Innsbruck, weiterempfohlen. Aus Platzmangel wurde ich nicht sofort aufgenommen. An der Volksschule zu Hause wurde ich zuerst in eine Klasse im l.Stock gegeben und erst nachdem meine Mutter sich beim Direktor beschwert hatte, verlegte man mich in eine Klasse im Parterre. Monate später wurde ich im Elisabethinum aufgenommen.

Heimalltag

Der Heimalltag sah so aus: Um 6.45 Uhr kam die Schwester ins Zimmer, drehte das Licht an, wir wurden geweckt. Die Schwester und das Stockmädchen gingen zu den Kindern, die sich nicht selbst anziehen konnten. Um 7.30 Uhr wurde vor dem Frühstück das Tischgebet gesprochen. Zum Frühstück gab es Butterbrote und Kakao. Geredet werden durfte nicht. Nach dem Dankgebet gingen wir in die Klassenräume. Der Unterricht dauerte bis zwölf Uhr, danach gingen wir in den Tagraum unseres Stockes zum Mittagessen. Nachmittags spielten wir bei schönem Wetter im Garten, bei schlechtem Wetter und im Winter verbrachten wir unsere Freizeit im Tagraum. Nach dem Abendessen um ca. 19.00 Uhr gingen wir in die Schlafräume, zogen unsere Pyjamas an und durften bis 21.00 Uhr das Licht anlassen. Dieser Tagesablauf zeigt die Grenzen auf, die uns Kindern gesetzt wurden. In den Heimrhythmus waren noch Gottesdienst und Therapie eingebaut.

Therapie

Mit Therapie habe ich den Punkt aufgegriffen, mit dem das Heim im Interesse der Kinder begründet bzw. fast schon entschuldigt wird. Nur im Heim können sämtliche Tätigkeiten des Kindes in ein Therapieprogramm eingebaut, kann das Leben zur Therapie gemacht werden. Das sieht dann so aus, daß die Therapeutin die Möglichkeit hat, darüber zu entscheiden, mit welchem speziellen Löffel ein Kind ißt, in welchem Sessel es sitzt, ob es bestimmte Bewegungsabläufe (z.B. kriechen) machen darf oder nicht. Die Therapeutin entscheidet auch, in welchem therapeutischen Fahrzeug sich ein Kind im Garten fortbewegen darf, wie es beim Spielen sitzen soll, usw. Sie hat alle Möglichkeiten, in ihrem Sinne korrigierend einzugreifen, sie kann das Leben der Kinder der Therapie unterordnen mit dem Ziel, sie an eine nie zu erreichende Norm-Daseinsform anzugleichen. Die Schwester als ständiges Betreuungs-, Beobachtungs- und Kontrollorgan wird zum verlängerten Arm der Therapeutin.

Die Therapie arbeitet mit an einer Zwangsanpassung der Kinder an den Heimalltag, da sie auf der "künstlichen" Heimumgebung und auf der Alltagsituation des Kindes im Heim aufbaut. Was aber brauchen Behinderte, wenn sie das Heim verlassen? Führt dann das Gelernte auf den richtigen Weg zur Bewältigung einer späteren eigenständigen Wohnsituation? Es ist die Frage, wieviele Behinderte das Heim dann überhaupt noch verlassen können, wenn sie zu Hause vieles nicht mehr können, weil dort ganz andere Bewegungen (Handgriffe, Fußstellungen, Hilfsmittel) wichtig sind und eine ständige "beschützende" Betreuung und Kontrolle nicht mehr vorhanden sind. Außerdem - und das ist besonders wichtig - selbständiges Handeln und die Verantwortung für sich und seinen Körper zu übernehmen, kann unter solchen Bedingungen nie gelernt werden. Die Aufgabe einer Therapeutin besteht darin, einen krank Gewordenen, Verunfallten gesund zu machen, den Gesundheitszustand zu verbessern, den Gesundheitszustand aufrecht zu erhalten, eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu verlangsamen. Damit hat man als Behinderter seine "Lebensaufgabe": Sich therapieren, sich anpassen zu lassen - mag es auch noch so sinnlos sein. Im Heim bekamen bis auf ganz wenige Ausnahmen alle Kinder Therapie. Es gab fix angestellte Therapeutinnen, aber das Therapiepersonal erneuerte sich fast jährlich. Langfristige, klar definierte Therapieziele konnten also kaum verwirklicht werden. Selbst wenn eine neue Therapeutin von ihrer Vorgängerin eingeführt wurde, so arbeitete sie doch als eine andere Therapeutin, vielleicht mit anderen Vorstellungen oder Therapieansätzen, weiter.

Das Heim hatte die Aufgabe übernommen, uns Behinderte auf die Rolle vorzubereiten, die wir in der Gesellschaft zugewiesen bekommen haben:

Arm,

rührende Spendenaktionen,

hilflos,

Hilflosengeld,

kann für seinen Lebensunterhalt,

Beschäftigungswerkstatt,

nicht aufkommen,

Sonderförderung,

lieb,

Sonder(Sonnen)zug,

nicht in der Norm,

psychiatrische Anstalt,

geschlechtslos,

bei normaler Sexualität,

Prüfstein Gottes,

medikamentöse Sexualdämpfung.

Sexualität

Behindertensexualität im Heim. Liebe ist schön. Liebe in Verbindung mit Behinderung wird als sehr schwierig eingestuft. Liebe Behinderter im Heim kann zur Zeit leider nicht probiert werden, weil sich dazu die Heimstrukturen grundlegend verändern müßten. Während 14-15jährige in der nicht kontrollierten Zeit außerhalb des Elternhauses und der Schule lernen, für sich selbst zu entscheiden und etwas Freiraum - ohne die Angst vor einer Strafe - für eine Sexualentwicklung vorfinden, gibt es im Heimalltag ein lückenloses Betreuungs-, damit verbunden auch ein Beobachtungs- und Kontrollsystem. Meine Erzieherinnen waren Nonnen und allein ihre negative Einstellung gegenüber allem, was in irgendeiner Form die Sexualität berührte, ließ unsere Fragen, Wünsche, Probleme gar nicht erst auftauchen. Ich wußte, Sexualität ist schlecht, ist Sünde, und wenn sie mich beim Onanieren erwischen, habe ich etwas Furchtbares angestellt. Ein Mädchen zu küssen und dabei ertappt zu werden, war damit verbunden, daß wir alle beide aus dem Heim fliegen würden. Als Kind wußte ich nur, daß es dann nur noch schlimmer werden konnte, daß man dann noch besser, noch genauer kontrolliert würde, um zum Richtigen erzogen zu werden. Mit diesem sogenannten Richtigen konnte ich aber nichts anfangen, es bedeutete nur noch mehr Einschränkung. Im Alter zwischen 12 und 14 Jahren hatte ich nicht das Bedürfnis, mit einem Mädchen zu bumsen, wohl aber das Bedürfnis, ein Mädchen zu streicheln, Zärtlichkeiten auszutauschen. Dies war im Heim aber etwas, was nicht nur nicht gewollt, sondern als das Schlimmste angesehen wurde, was wir hätten tun können. Durch den Druck zur Geschlechtslosigkeit, unter dem Liebe oder Zärtlichkeit keine Entfaltungsmöglichkeit vorfanden, griff ich zu verschiedenen Formen einer möglichen Ersatzbefriedigung. Mädchen wurden zu Objekten in Form von Pornos und verbotenen Fernsehfilmen. Zärtlichkeit konnte nicht weitergegeben werden, sondern beschränkte sich auf Onanie als einziges Ausdrucksmittel. Bei Zärtlichkeiten mit anderen Buben spielte ich nicht mit, da sie nicht in meine als Fluchtmöglichkeit aufgebaute Traumwelt paßten.

Befreiung

Ich habe, bevor ich mit sechs Jahren ins Heim kam, gerade noch genügend Erfahrung in einem "normalen" Leben machen können, um zu erkennen, daß das Heim lebenseinschränkend, freiraumbegrenzend und entpersönlichend wirkt. Während meiner ganzen Heimzeit habe ich das Bild eines "normalen Lebens", wie ich es von meinen Geschwistern kannte, bewahrt. Ich fiel deshalb im Heim als nicht angepaßtes, trotziges, schwererziehbares Kind auf und wurde auch ein Jahr vor Beendigung meiner Schulpflicht nach Hause zurücküberwiesen. Ich sollte nun auf einmal die lokale Schule besuchen, obwohl ich aufgrund meiner progressiven Krankheit nun schon viel schwerer behindert war als zu Beginn meiner Schulzeit. Nach meinen langen Heimerfahrungen brauchte ich mehrere Jahre, um wieder ein richtiges Verhältnis zu mir zu finden. Das betraf vor allem mein Selbstwertgefühl und meine negative Selbsteinschätzung, die ich mit Alkohol und professionellem Kartenspiel auszugleichen versuchte. Das drückte sich auch darin aus, daß ich Arbeit unter Bedingungen annahm, die ein Nichtbehinderter nie akzeptiert hätte. Ich war auch unfähig, sexuelle Beziehungen aufzubauen, da ich meinen Körper ja selbst nicht einmal akzeptierte und glaubte, mich Frauen als Sexualpartner nicht zumuten zu können. Daß ich trotzdem in meiner Entwicklung weiterkam, verdanke ich ausschließlich dem neugewonnenen Freiraum mit all seinen Erfahrungsmöglichkeiten und den nichtprofessionellen Beziehungen zu vielen Bekannten und Freunden. Die beste Therapie ist immer noch die Freiheit.

Es gibt in unserem Behinderten-Betreuungs-System anscheinend keine "Schuldigen" bei der Unterdrückung und Aussonderung der Behinderten, sondern nur mit besten Absichten ausgestattete Helfer. Solange es aber Betroffene gibt, gibt es auch Personen, die höhere und den Interessen der Behinderten entgegengesetzte Interessen vertreten und auch an ihnen vollziehen. Es gilt immer noch: Wie man die "Schwächsten" in einer Gesellschaft behandelt, daran erkennt man die wahre Moral und Menschlichkeit einer Gesellschaft, daran erkennt man den wahren Charakter der christlich-humanistischen Wertvorstellungen in unserem "sozialistischen" Sozialstaat.

Quelle:

Ernst Schwanninger: Alle Macht der Betreuung?

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 9 - 12

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.07.2006

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