Befreiungsversuche und Selbstorganisation

Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 377 - 390 ; Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten,Innsbruck
Copyright: © Jugend und Volk 1982

Einleitung (Überschrift von bidok)

Vorstehender Bericht - als Projektbericht 1977 geschrieben - beschreibt die Anfangsphase unserer Gruppe. Es ist unmöglich, über alle Vorgänge zu berichten, die in den folgenden vier Jahren die Arbeit der Gruppe bestimmt haben. Deshalb soll versucht werden, ohne die im obigen Bericht schon angedeuteten Tendenzen zu wiederholen, einige aktuelle Grundsatzdiskussionen auf dem Hintergrund der Erfahrungen unserer Gruppe zu beschreiben.

Entwicklungstendenzen von Behinderten-Selbsthilfegruppen

In Anlehnung an den Volkshochschulkurs "Bewältigung der Umwelt" in Frankfurt formulierten wir die Ziele unserer Gruppe einmal in folgender Weise (KLEE 1976, S. 15).

Wir verstehen unsere Gruppe als offenen Treffpunkt für Gespräche, gemeinsame Arbeit und Freizeitgestaltung.

Wir streben an:

  • Überwindung von Isolation

  • Erkennen eigener Bedürfnisse

  • Verhaltensänderung durch Lernerfahrung

  • Sensibilisierung für die Probleme und die Lebenssituation Behinderter

  • Überwindung der Scheu vor Behinderten, sowohl der Nichtbehinderten als auch der Behinderten untereinander

  • Schaffung eines persönlichen und damit "normalen" Verhältnisses

  • Selbstorganisation und Eigeninitiative

  • Änderung der Umwelt durch Aktion und Information.

Diese Ziele entsprechen einer neuen Art von Bewegung der Behinderten und Nichtbehinderten, wie sie zu Anfang der 70er Jahre vor allem von der BRD ihren Ausgang nahm. Sie setzte sich deutlich und bewußt von den traditionellen Interessensvertretungen der Behinderten ab, wie sie sich nach dem 2. Weltkrieg für die Kriegsopfer, aber auch für die sogenannten Zivilinvaliden gebildet hatten. In diesen auch jetzt noch existierenden und die "Behinderten-Szene" beherrschenden Vereinen sind nur Behinderte Mitglieder, sie sind streng hierarchisch organisiert und bewegen sich völlig innerhalb der Bahnen offizieller Behindertenpolitik, d.h. die Erhaltung eines guten Verhältnisses zu den Politikern steht im Vordergrund. Forderungen werden durch Funktionäre nur gemäßigt und absolut "realistisch" vertreten.

Trotzdem (oder eben deswegen) sind diese Vereine bei der Durchsetzung der entscheidenden Forderungen nach Integration vollkommen erfolglos geblieben.

Dieser Erfolglosigkeit nach außen entspricht eine rein karitative Tätigkeit innerhalb der Vereine, die keinen Spielraum für die Emanzipation der Betroffenen läßt oder gar eine solche Emanzipation zum Ziel hat.

In dieser Situation brachte die Gründung von Gruppen, in denen Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam vertreten waren, eine wichtige Wende.

Dies waren verschiedene Clubs von Behinderten und Nichtbehinderten (in der BRD z.B. die "Clubs Behinderter und ihrer Freunde"; in Österreich z.B. die "Alternativgemeinschaft Körperbehinderter und Nichtbehinderter", Wien), in denen Behinderte versuchten, aus dem persönlichen Ghetto auszubrechen und die vor allem im Freizeitbereich tätig wurden. Die persönliche Entwicklung im Kontakt mit Nichtbehinderten trat in den Vordergrund. Diese Gruppen entwickelten aber keinen Ansatz für Interessenspolitik, der über die Tätigkeit der traditionellen Behinderten-Verbände hinausging.

Ein weitergehender Ansatz ist im deutschsprachigen Raum eng mit der Tätigkeit des schon erwähnten Frankfurter Volkshochschulkurses "Bewältigung der Umwelt" verbunden. Ziele der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung standen im Vordergrund:

"Die Behindertenarbeit muß, will sie nicht Unterdrückte unterdrücken und anpassen helfen, Bewußtseinsbildung betreiben. Es gilt, den Wert der menschlichen Person neu zu entdecken, nicht die Brauchbarkeit oder die Nützlichkeit. Behindertenarbeit ohne Frömmelei, ohne ideologische Verbrämung, das heißt, daß allem, was der Verwirklichung dieses Personwerdens entgegensteht, der Kampf angesagt werden muß. Das bedeutet, daß Behinderte und Nichtbehinderte zusammen zu der Veränderung der Umwelt beitragen müssen, daß sie dafür aktiv einzustehen haben.... Dies ist kein spezielles Problem für "Krüppel", sondern heißt Humanisierung des Lebens." (KLEE 1976, S. 136)

Der Frankfurter VHS-Kurs berief sich als erste Gruppe im Bereich der Behindertenarbeit auf Methoden des politischen Kampfes gegen Diskriminierung, wie sie verschiedene Bürgerrechtsbewegungen entwickelt hatten. Durch die Bücher von Ernst KLEE (1976, 1980) wurden die Arbeit und die Aktionen dieser Gruppe sehr bekannt. Sie wurde Ausgangspunkt erster Ansätze einer selbständigen und emanzipatorischen Behinderten-Bewegung.

Eine weitere Entwicklung innerhalb der Behinderten- Selbstorganisation zeichnet sich in den letzten Jahren durch die Gründung von "autonomen Krüppelgruppen" in der BRD ab. Diese Gruppen beriefen sich in ihrem Anspruch auf vergleichbare Ziele und Methoden der Frauenbewegung. Sie setzen sich deutlich von allen Nichtbehinderten ab und akzeptieren keine Integration von Behinderten und Nichtbehinderten innerhalb der Gruppen.

Die Kontroverse um den Krüppelstandpunkt

Die Gründung von "autonomen Krüppelgruppen" führte zu weitreichenden theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen zwischen den integrierten Gruppen von Behinderten und Nichtbehinderten und den Krüppelgruppen.

Hauptpunkt der Auseinandersetzung ist die Bewertung der Unterschiedlichkeit der Betroffenheit von Behinderten und Nichtbehinderten durch die Art und den Grad der erlebten Unterdrückung und Betroffenheit. Die Befürworter der Integration argumentieren, daß hier keine prinzipiellen Unterschiede zu erkennen seien.

"Egal wie die Unterdrückung aussieht, sie dient immer diesem einen Zweck: Es wird mir mein Unwert nachgewiesen, ob als Kind, als Frau, als Behinderter, als Arbeiter etc." ("LUFTPUMPE"1981, S. 9)

Außerdem wird darauf hingewiesen, daß Behinderte eine sehr vielfältige und nur ungenau zu bestimmende Gruppe seien, die neben der Unterdrückung durch den Kapitalismus keine spezifische Unterdrückung erleiden würden, Behinderte erlebten die kapitalistische Unterdrückung nur in einer besonders drastischen Form; Behinderte führten den gleichen Kampf wie die Arbeiter und Angestellten, die Teilung in Behinderte und Nichtbehinderte sei eine willkürliche Aufspaltung von Unterdrückten ("KRÜPPELZEITUNG" 1981, S. 32f).

Als weiteres Argument wird angeführt, daß der Grad der Unterdrückung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten nichts aussage. Vielmehr geht es um ein allgemeines Phänomen von Hierarchie und Kompensationsverhalten.

"Der Grad der Unterdrückung sagt über die Sensibilität, mit der ich Unterdrückung wahrnehme gar nichts aus. Ein psychologisches Phänomen ist dabei im Spiel: Das durch die Unterdrückung beschädigte Selbstwertgefühl wird wiederhergestellt, indem man entweder den Unterdrücker verherrlicht (z.B. Führerkult, Autoritätshörigkeit) oder indem man die Unterdrückung nach unten weitergibt, das heißt, noch Schwächere unterdrückt. Beides vertuscht die eigene Unterdrückung. Und je stärker die Unterdrückung, um so größer die Wahrscheinlichkeit, daß sich solche Mechanismen abspielen .... Es gibt keinen qualitativen Unterschied darin, ob ein Behinderter oder ein Nichtbehinderter einen Behinderten unterdrückt oder umgekehrt." ("LUFTPUMPE" 1981, S. 9f)

Die Gegner der direkten Zusammenarbeit von Behinderten und Nichtbehinderten innerhalb der Krüppelgruppen argumentieren, daß es zwar stimmt, daß jeder in irgendeiner Weise behindert sei, jedoch "Krüppel sind nur wir", die wir "ständig und überall durch die Reaktionen der Umwelt auf das eigene "Manko" hingewiesen werden" ("KRÜPPELZEITUNG" 1981, S. 36). Eine besondere Unterdrückung ergebe sich daraus, daß Krüppel nicht nur abqualifiziert würden, sondern auch ausgesondert und vernichtet. Diese Krüppelfeindlichkeit bestehe unabhängig vom heutigen Profitdenken über alle geschichtlichen Epochen und im Prinzip auch über alle sozialen Schichten hinweg. Das kapitalistische Profitdenken sei im Umgang mit Krüppeln nur auf die Spitze getrieben. Mit Kosten-Nutzen-Rechnungen werde das Abschieben der Krüppel als günstig für die Allgemeinheit belegt, oder die entsprechenden Ausgaben als Legitimation für den sozialen Staat benutzt (a.a.O., S. 40). Damit erfüllten Behinderte nicht die Vorstellungen, wie "normale Ausgebeutete" zu sein haben und unterschieden sich von den "einfach behinderten" Unterdrückten (der Arbeiterklasse), die die gesellschaftlichen Bedingungen mehr erfüllen könnten (CHRISTOPH 1980, S. 59).

Die unterdrückende Normalität werde gewollt oder ungewollt von Nichtbehinderten in Behindertengruppen repräsentiert,deshalb sei eine schonungslose Offenheit notwendig:

"Was heißt es, im Verhältnis Nichtbehinderter - Behinderter schonungslos offen zu werden?

Für Nichtbehinderte heißt es,

  • daß sie endlich zugeben, an der gewaltsamen Ausgrenzung Behinderter beteiligt zu sein

  • daß sie anerkennen, noch immer den Behinderten das Recht abzusprechen, für sich selbst zu sprechen

  • daß sie denken, daß wir Behinderte - gemessen an ihren Wert- und Normvorstellungen- ein unwertes Leben führen

  • daß sie endlich einmal versuchen, ihre Normalität und Wertkategorien zu hinterfragen

  • daß insbesondere nichtbehinderte Wissenschaftler bei sich selbst zu forschen anfangen, die uns bisher so selbstverständlich zu ihren Forschungsobjekten gemacht haben!

Für uns Behinderte heißt das,

  • daß wir erkennen, daß unsere Existenz in dieser Gesellschaft auf Lügen, Berechnung und Verdrängung basiert - so hart das auch klingen mag

  • daß wir in Heimen zu verfaulen gezwungen werden

  • daß wir zugeben, daß wir, um ein wenig Anerkennung durch Nichtbehinderte zu bekommen, bereit sind, uns vor ihnen zu verkaufen und seelisch zu prostituieren

  • daß wir unter uns auch wieder Wertmaßstäbe anlegen, nämlich danach fragen, wer von uns am ehesten die Normen der Nichtbehinderten erfüllt. Ich denke, dies alles kann erst in langsamer Annäherung und Auseinandersetzung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten erfolgen. Dazu müssen die Nichtbehinderten aber aufhören, sich der Selbsterkenntnis zu verweigern und uns zur einseitigen Anpassung zu zwingen. Wir Behinderte müssen endlich lernen, unsere eigenen, unserer Lebensrealität gemäßen Wertstäbe zu entwickeln und auch zu versuchen, dazu zu stehen!" (a.a.O. S. 59)

Zum Selbstverständnis unserer Gruppe

Versuche, das Selbstverständnis unserer eigenen Gruppe zu der vorgenannten Diskussion zu formulieren, stammen erst aus jüngster Zeit. Wir sind jedenfalls sehr verunsichert und in eine neue Phase der Selbstreflexion eingetreten.

Wichtig erscheint uns, zuerst einmal von zwei Erfahrungsebenen auszugehen. Auf der einen Seite von der Ebene der Selbsterfahrung mit dem Ziel der Entwicklung der einzelnen Person, und auf der anderen Seite von der Ebene der politischen Arbeit und Interessensvertretung.

Unsere Gruppe war von Anfang an integrativ ausgerichtet. Dies entsprach einem gegenseitigen Wunsch von Behinderten und Nichtbehinderten. Die Krüppelgruppen kritisierten zu Recht die allgemeine Abhängigkeit und Unterdrückung der Behinderten, sowie die Zerstörung von Behinderten durch Betreuungsinstitutionen. Als Resultat der Situation der Behinderten ist der Wunsch nach näherem Kontakt zu Nichtbehinderten, der Wunsch nach "Integration" und Anpassung unter den Behinderten extrem groß. Auch läßt die Erfahrung, daß die Institutionen für Behinderte keine solidarischen Gemeinschaften sind, sondern erzwungene Gemeinschaften von Ausgestoßenen und Abgeschobenen, das Bedürfnis nach Abgrenzung von den anderen Behinderten entstehen. Die Aufhebung dieser Abgrenzung ist ein wichtiges Ziel.

Daraus abzuleiten, daß die Zusammenarbeit von Behinderten und Nichtbehinderten innerhalb von Gruppen in jedem Falle abzulehnen ist, erscheint uns jedoch als falsch. Schwer beschreibbare, von Hoffnung getragene Annäherung bestimmte z.B. unsere Gruppe immer wieder. Vorher kaum vorstellbare Gleichwertigkeit - über alle Schranken von Behinderung, Nichtbehinderung und Statusunterschieden hinweg - entstand.

Abhängigkeiten Behinderter von Nichtbehinderten können sehr wohl gelöst und bearbeitet werden, wenn Nichtbehinderte an der Bearbeitung konkret beteiligt sind. Solange die Isolation in der Gesellschaft für die ganz große Mehrheit der Behinderten überhaupt nicht aufgehoben ist, behält zumindest auf der persönlichen Ebene gleichberechtigtes Zusammenarbeiten seine Funktion des Besser-leben-lernens für Behinderte und Nichtbehinderte. Dies allerdings unter der Bedingung, daß das Zusammensein am Abgrund eines erstarrten Verhältnisses von "Hilflosen" zu "guten" oder "hilflosen Helfern" vorbeigehen kann. "Hilflose Helfer" benutzen und benötigen Abhängige, um ihr Selbstwertgefühl aufrechterhalten zu können. Sie sind weder an der Selbständigkeit der Behinderten noch an einem gleichberechtigten Verhältnis interessiert (SCHMIDBAUER 1977).

Es ist allerdings in unserer Gruppe nicht nur so gewesen, daß nur Behinderte ihre "Hilflosen-Rolle" ablehnten, sondern es ist auch immer wieder so gewesen, daß es auch Nichtbehinderte abgelehnt haben, Helfer - Rollen zu spielen. Sie fühlten sich als "Pfleger - Objekte" benutzt, wenn Behinderte ihre Dankbarkeits- oder Demutshaltung nicht aufgaben. Die klassische, den Behinderten in ihrer Erziehung und Entwicklung aufgezwungene Haltung beinhaltet die Vorstellung, für die Nichtbehinderten eine Belastung zu sein. Daraus resultiert die Tendenz, für Hilfeleistungen dankbar zu sein und eigene Bedürfnisse möglichst zurückzustellen. Dankbarkeit ist jedoch kein Teil einer gleichberechtigten Beziehung, sondern drängt auch die Nichtbehinderten in die Helferrolle, in die Rolle des "guten Helfers", der sich für die Behinderten aufopfert.

Die Auflösung von Abhängigkeiten in der Beziehung von Behinderten und Nichtbehinderten ist allerdings nicht als einfache Willenskundgebung oder als einmaliger Befreiungsakt durchführbar. Ein gleichberechtigtes Verhältnis kann nur durch langfristige Erfahrungsprozesse erreicht werden. Die Rolle des "guten Helfers", die in unserer Gruppe von Seiten der Nichtbehinderten in reiner Form an sich nicht besteht, gerät z.B. wieder ins Blickfeld, wenn in der Gruppe der Versuch, über Helferrollen und Abhängigkeiten zu reden, abgelehnt wird. Das kann von Seiten der Nichtbehinderten bedeuten, daß sie einfach leugnen, etwas mit "hilflosen Helfern" zu tun zu haben und daß Behinderte die Aufgabe von Bedürfnissen als freigewählten Willen hinstellen. Bei diesem Konsens schleicht sich u.U. ein klassisches Verdrängungsverhalten nach dem Motto: "Was hier geschieht, ist nichts besonderes" (EMERSON 1974) wieder ein.

Letztlich geht es bei allen Problembearbeitungen und Lernprozessen darum, die Fähigkeit zu entwickeln, selbstverantwortlich zu sein oder Anderen Selbstverantwortung zuzugestehen.

Die Motive für eine Zusammenarbeit von Behinderten und Nichtbehinderten sind nicht in Formeln wie "Jeder ist behindert" zu erfassen. Das jenseits aller Anpassungswünsche faktisch existierende unterschiedliche Selbstgefühl und die unterschiedliche Erfahrung von Behinderten gegenüber Nichtbehinderten zeigen, daß ausgedehnte Gemeinsamkeitserklärungen zu theoretischen Konstrukten gezählt werden müssen. In diesem Sinn stimmt die Aussage: "Behindert ist jeder, Krüppel sind nur wir."

Auch wenn in Diskussionen zugestanden wird, daß die Probleme zwischen Behinderten und Nichtbehinderten nicht einfach durch eine Gemeinsamkeitserklärung hinweggewischt werden können, so wird an dieser Stelle immer wieder das Argument vorgebracht, daß sich die direkte Betroffenheit der Nichtbehinderten dadurch zeigt, daß sie jederzeit behindert werden können.

Dies im Unterschied zu Männern und Frauen, für die die Perspektive einer solchen Statusänderung nicht vorhanden ist. Dieses Argument erklärt jedoch praktisch wenig. So ist es z.B. sicher, daß jeder alt wird oder zumindest ein langes Leben haben möchte. Dennoch bezieht kein junger Mensch seine Identität daraus, daß er einmal zu den Alten zählen wird. Im Gegenteil, dies löst eher Ängste und Abgrenzungen aus. Man muß beginnen, Unterschiedlichkeiten nicht als Übel zu sehen, sondern sie anders zu bewerten. Die Möglichkeit zu lernen und herrschende Normen in Frage zu stellen, lebt sehr stark von dieser Unterschiedlichkeit. Nur bei Akzeptierung der Unterschiedlichkeit ohne Abgrenzung kann "Integration" eine emanzipatorische Funktion für Behinderte und Nichtbehinderte haben und beiden direkt nützen. Sonst verkommt "Integration" - wie es jetzt üblich ist - zu einer neuen Wunderformel für die allgemein geforderte Anpassungan die herrschenden Wertvorstellungen und erzeugt neuen Anpassungsdruck, der sich in solchen Kategorien wie "Integrationsfähigkeit" als neue Anforderung an Behinderte niederschlägt.

Ein wichtiger Unterschied zwischen Behinderten und Nichtbehinderten ist auch, daß Nichtbehinderte sich der direkten Auseinandersetzung mit der Normabweichung, wie sie Behinderte symbolisieren, entziehen und mit flüchten oder ihre Auseinandersetzung ohne Konsequenzen auf ihre Bereiche verschieben können. Eine nichtbehinderte Frau kann z.B. Probleme innerhalb der Frauenbewegung austragen, für eine behinderte Frau wird dort nur ein Teil ihrer Probleme direkt behandelt werden. Für Nichtbehinderte kann die Arbeit in einer Gruppe mit Behinderten eine richtige Übergangserfahrung sein, für Behinderte ist die Zusammenarbeit mit Behinderten zur Entwicklung eines bewußten Behindertenstandpunktes, d.h. eines Krüppelstandpunktes, fast unerläßlich.

Krüppelstandpunkt heißt für uns in diesem Zusammenhang die konsequente Ablehnung der gegebenen Leistungsvorstellungen, Schönheitsideale und aller daraus folgenden gesellschaftlichen Wertkategorien. Die Diktatur der Normalität muß ersetzt werden durch die Freiheit, anders sein zu dürfen. Erst dies ermöglicht die Entwicklung einer eigenständigen Krüppel-Identität, die von Krüppeln selbst entwickelt und vertreten werden muß. Dabei muß es abgelehnt werden, alle "Leistungen" von Behinderten als Kompensationsleistungen ihres "Mangels" oder als Ausdruck von geglückter "Integration" zu sehen. Behinderten wurde immer - und das kann man historisch verfolgen - eine eigene Identität verweigert und abgesprochen. Behinderte waren immer nur ein Tummelplatz gesellschaftlicher Projektionen.

Die Feststellung von Unterschieden ist deshalb wichtig, da sie den Hintergrund für Fragen in einem weiteren Problembereich der Arbeit unserer Gruppe bildet, der Arbeit nach außen, als Interessensvertretung in ihrer politischen Dimension. Hier erscheint es uns wichtig und richtig, den Selbstvertretungsanspruch der Behinderten stärker hervorzukehren. Die Herstellung von Öffentlichkeit und die Durchsetzung von Forderungen, wie die Abschaffung von Heimen, Sonderschulen usw. und die Errichtung entsprechender alternativer Strukturen, ist eine Angelegenheit der Behinderten. Hier sind die Behinderten direkt existentiell betroffen, die Nichtbehinderten nur indirekt. Für Nichtbehinderte ist es nun einmal kein direktes Problem, daß fast keine behindertengerechten Wohnungen existieren. Auch in der "normalen" Schule überleben die Nichtbehinderten, sonst wären sie ja schon von der Definition her Behinderte. Nichtbehinderte sind also in dieser Hinsicht eher Unterstützer oder Animatoren als gleichberechtigte Mitstreiter. Diesen Unterschied, der z.B. in der folgenden Geschichte, die man auf die politische Dimension der Zusammenarbeit von Behinderten und Nichtbehinderten übertragen kann, zum Ausdruck kommt, müssen sie verstehen lernen. Das Zitat stammt aus dem von Sitzenbleibern und Bauernjungen geschriebenen Buch "Die Schülerschule":

"Stokely Carmichael war siebenundzwanzigmal im Gefängnis. Während des letzten Prozesses erklärte er: 'Ich trau auch nicht einem einzigen Weißen'..

Als ihm ein junger Weißer, der sein ganzes Leben der Sache der Neger gewidmet hatte zurief: 'Wirklich nicht einem, Stokely?', wandte sich Carmichael zum Publikum, sah den Freund an und sagte: 'Nein, nicht einem einzigen.'

Falls der junge Weiße sich gekränkt fühlte, gab er damit Carmichael recht. Falls er wirklich mit den Negern ist, muß er das hinunterschlucken, sich beiseite schlagen und fortfahren zu lieben. Carmichael wartete vielleicht auf diesen Augenblick." ("DIE SCHÜLERSCHULE" 1980, S. 81)

Falsch wäre es allerdings zu glauben, daß mit solch einem Standpunkt längerfristig keine Zusammenarbeit mit Nichtbehinderten mehr möglich ist. Es ist im Gegenteil wichtig, mit entsprechenden Gruppen von Nichtbehinderten zusammenzuarbeiten. Nur fehlen hier leider die Partner, wie z.B. Gruppen von Sonderschullehrern oder von Heimerziehern, mit entsprechenden emanzipatorischen Zielsetzungen.

Wie wir Öffentlichkeit hergestellt haben

Zu Beginn der Arbeit waren unsere Ziele noch vielfältig. Freizeitinteressen, das Ziel der Durchsetzung von Forderungen bei Politikern und die Lösung persönlicher Probleme technischer und organisatorischer Art waren durchmischt. Wir erkannten jedoch, daß wir mit der Problemlösung für einzelne Behinderte überfordert waren, und daß es auch das bessere Ziel war, die einzelnen Behinderten durch die Arbeit in der Gruppe zu befähigen, die Lösung ihrer Probleme selbst in die Hand zu nehmen. Damit konzentrierten wir uns weitgehend auf strukturelle Probleme, deren Lösung uns im Interesse aller Behinderten wichtig schien. So versuchen wir derzeit die Errichtung von behindertengerechten Wohnungen und die Einrichtung eines dazugehörigen Pflegedienstes zu erreichen.

Um uns nicht zu überfordern, begannen wir zu Beginn unserer Gruppenarbeit mit dem einfachsten uns vorstellbaren Problem, einem einfachen technischen Problem, von dem wir annahmen, daß es jedem leicht einsichtig zu machen wäre: Der Abflachung der Gehsteige an Fußgängerübergängen. Dieses einfache Problem beschäftigte uns dann aber zwei Jahre. Die Öffentlichkeit und bürokratische Apparate in Bewegung zu bringen, ist - unabhängig von der Größe des vorgebrachten Problemes - schwer. So wurde für uns der Kampf um rollstuhlgerechte Fußgängerübergänge zu einer Grundsatzerfahrung bei der Durchsetzung von politischen Forderungen.

Als Strategie entwickelte sich über einen längeren Zeitraum eine Mischung aus Verhandeln, Öffentlichkeitsarbeit und Aktion. Die Einbeziehung der Öffentlichkeit stellte sich als das wichtigste uns zur Verfügung stehende Druckmittel heraus. Es zeigte sich auch, daß nur durch gewaltfreie Aktionen Auseinandersetzungen herbeiführbar sind, in denen die alltäglichen Partnerschafts- und Integrationsfloskeln als verlogene Verwischung von Interessenwidersprüchen aufgedeckt werden können (SCHÖNWIESE & SCHWANNINGER 1981) [1]. Als Beispiel für eine Aktion, die die Öffentlichkeit mit einzubeziehen versuchte, soll folgender Bericht dienen:

Im Mai 1978 waren wir Teilnehmer einer Veranstaltung von verschiedenen Jugendzentren und Sozialarbeitsgruppen, wobei wir uns wie die anderen Gruppen vorstellten. Wir machten dies in folgender Weise. Wir bauten vor dem Eingang des Saales einen Gehsteig auf und stellten einen leeren Rollstuhl davor. Als u.a. der Stadtrat für Soziales bei der Veranstaltung eintraf, setzten wir ihn überraschend in den Rollstuhl und ließen ihn versuchen, über den Gehsteig zu fahren. Dies konnte er natürlich nicht, da es ja auch nicht geht. Wir baten daraufhin den Stadtrat, doch ein Gruppenmitglied von uns im Rollstuhl über den Gehsteig zu führen. Mit genauen Anweisungen schaffte er es, reagierte aber überhaupt nicht so verständnisvoll, wie man es von einem Sozialstadtrat bei solchen Problemen wohl hätte erwarten dürfen. Unser Trick dabei war, daß wir den ganzen Vorgang mit Video aufnahmen und kurz darauf den 300 Leuten im Saal vorführten. Der Stadtrat reagierte darauf vor allen Besuchern sehr erbittert - man kann wohl sagen, daß er sich als Sozialstadtrat blamiert hatte. Für die Besucher der Veranstaltung war dies ein eindrucksvolles Erlebnis, das ihnen das technische Problem der Behinderten verständlich machte und es andererseits nicht einfach als Problem des Behindertseins erscheinen ließ. Es wurde klar, daß hier ein politisches Problem vorliegt. Der Aufklärungswert der Aktion war hoch. Allerdings gab es in der Gruppe noch Diskussionen, ob wir nun nicht den in den Rollstuhl gesetzten Politiker so verschreckt hätten, daß wir überhaupt nichts mehr erreichen würden. Das Gegenteil trat jedoch ein. Der Politiker wandte sich später von sich aus an uns und unterstützte uns auch bei der Lösung des Gehsteig-Problems gezwungenermaßen ein Stück.

Ein weiteres Beispiel ist die Aktion vor der Hofburg zur Eröffnungsverstaltung der Bundesregierung zum "Jahr der Behinderten" im Jänner 1981. Hier blockierten wir unmittelbar vor Beginn der Veranstaltung gemeinsam mit verschiedenen Initiativgruppen aus ganz Österreich eine halbe Stunde lang die Eingänge zur Hofburg. Die geladenen Politiker, Ehrengäste und Funktionäre mußten in dieser Zeit vor der Hofburg warten und wurden damit von uns behindert. Wir protestierten damit gegen ein selbstgefälliges Feiern, wo doch die meisten entscheidenden Probleme Behinderter in unserem Sinne ungelöst sind (vgl. dazu den Forderungskatalog der Alternativgruppen von Behinderten und Nichtbehinderten im vorliegenden Buch). Über diese Aktion haben alle Medien berichtet und damit wurde über den Unmut von Betroffenen eine enorme Öffentlichkeit hergestellt. Diese Aktion war auch Ausgangspunkt für ein Treffen der beteiligten Initiativgruppen mit Sozialminister Dallinger, bei dem unsere Forderungen besprochen wurden. Die Folgen dieses Gesprächs sind nicht in konkreten Ergebnissen zu messen, jedoch ist uns die Erfahrung, mit direkt Verantwortlichen verhandelt zu haben, wichtig.



[1] Vgl. auch den Bericht über unsere Demonstration bei der Eröffnung des Behindertendorfes Altenhof, Oberösterreich, in KLEE 1980, S. 109f.

Wie Politiker und Funktionäre mit uns umgehen

So wie bei Aktionen die Öffentlichkeit meist auf unserer Seite ist, so versuchen Politiker und Funktionäre uns meist nur abzuwehren. Aus der Fülle der entsprechenden Funktionärs- und Politikerverhaltensweisen wollen wir im weiteren einige wenige kurz beschreiben.

Eine wichtige Abwehrstrategie ist der Versuch, Forderungen als Ausdruck von persönlicher Nichtverarbeitung von Behinderung zu erklären. Dabei ist eine Schuldzuweisung an den Behinderten das Ziel. Als Beispiel dafür nachfolgend der Brief einer im Behindertenbereich tätigen Person an ein Gruppenmitglied, das in einer Fernsehdiskussion aufgetreten war.

Grüß Gott Herr S.!

Wenn Sie ein gesunder Mensch wären, müßte man Sie als Querulanten übelster Sorte bezeichnen. So aber muß ich Sie nach etwas milderen Maßstäben messen. Eines steht jedoch fest, dem Pubertätsalter dürften Sie noch nicht entwachsen sein. Das Gemisch von Hallutinationen und neunmal gescheit entspricht einer unbewältigten Lebenssituation. Als Beruf wurde bei Ihnen Student angegeben. Sie leben also derzeit auf Kosten der Allgemeinheit. Deshalb wäre es Ihre erste Pflicht zu trachten, das Studium mit einem positiven Abschluß so rasch als möglich zu beenden. Dann tun Sie etwas. Auf das Tun kommt es an. Reden kann bald jemand. Taten müssen beweisen. Die Notwendigkeit sich für Behinderte zu verwenden ist groß. Sie müssen sich als Betätigungsfeld nicht gerade Oberösterreich aussuchen. Bleiben Sie in Ihrem Bereich und nehmen Sie den Mund nicht zu voll. Ich wünsche Ihnen Mut zu einer ehrlichen Selbsterkenntnis und Demut sich selbst zu finden. Erst dann können Sie wirklich helfen."

Eine weitere Strategie ist darin zu sehen, daß man Behinderte insoferne entmündigt, als man Verantwortliche sucht. Behinderte können nach diesem Gedankenklischee offensichtlich selbständig überhaupt nichts tun, sondern können nur benutzt werden. Bei Aktionen wie bei der Hofburg-Aktion hören wir immer wieder solche Fragen wie: "Wer ist dafür verantwortlich?", "Wer hat Euch hierhergestellt?", "Mit wem sind Sie gekommen?" usw.

Der Versuch, uns von anderen Behinderten abzugrenzen, ist eine weitere Methode, uns zurückzuweisen. Dabei wird anerkennend und lobend auf unsere einmalige Lebensbewältigung trotz Behinderung hingewiesen, sowie darauf, daß dies aber die Ausnahme sei. Für die anderen Behinderten sei es auf Grund ihrer Behinderung nicht möglich, Selbständigkeit oder Mitverantwortlichkeit zu erreichen.

Ein ganzes Bündel von Ausweichstrategien kommt in folgender Szene zum Ausdruck, in der wir die Verhandlung mit einem verantwortlichen Beamten authentisch nachgespielt haben. Die Szene steht für sich selbst. Sie ist all eines Videofilms, den wir produziert haben und den wir zur Öffentlichkeitsarbeit in Schulen und bei Diskussionsveranstaltungen verwenden [2].

Senatsrat (S): Ja, also mein Chef hat mich da zu Euch her beordert, weil ich gehört hab, Ihr wollt's da mit mir einmal über die Abflachung der Gehsteige sprechen.

Gruppenmitglied 1 (G1): Das finde ich deswegen sehr interessant, weil wir unsere Vorstellungen eigentlich schon sehr genau der Stadt mitgeteilt haben, was wir wollen; daß die Gehsteige nach den internationalen Normen abgeflacht werden. Mich wundert das sehr, daß Sie da von vornherein einmal gar nichts wissen darüber.

S.: Ja, wissen's eh wie das ist, man derfragt nit alles; aber wie haben Sie sich das eigentlich vorgestellt?

Gruppenmitglied 2 (G2): Ja wir haben uns das so vorgestellt, wir haben dem Herrn Bürgermeister auch schon Fotos geschickt von den Gehsteigen in München; und er hat sie sich angeschaut und hat immer wieder gesagt "ja ja, die Schwierigkeiten mit den Technikern, die Techniker wollen halt nicht".

S.: Ja, ganz richtig; und ich sag Ihnen etwas, es ist ja nicht alles gut, was vom Ausland kommt, nicht? Schaun's doch herum, wir haben ja auch gute Sachen, nicht? Und das in München, wenn mich nicht alles täuscht, das ist ja so, das ist ganz flach, nicht? Das geht ja bei uns schon einmal nicht, weil im Winter die Schneefräsen fahren müssen; das geht einmal bei uns nicht, das müßt's einsehen.

G1: Wieso soll das in München gehen und bei uns nicht, dort und hier gibt es den gleichen Schnee.

S.: Ja, da haben wir uns auch schon zusammengesetzt und den Kopf zerbrochen; aber wissen's was, ich könnte das so machen bei der Triumphpforte oben, da lasse ich einen Steinmetz einen Probegehsteig machen, dann können wir uns das einmal anschauen miteinand - und was für Bedenken haben Sie denn überhaupt, wegen den Rollstühlen oder wegen was?

G1: Ist Ihnen das nicht klar, Herr Senatsrat, daß man als Behinderter über die Gehsteige nicht ohne weiteres darüber kommt? Das ist eine Barriere, ja da geht nichts.

S.: Passen Sie auf, da könnten wir folgendes machen, reden's doch einmal mit den Rollstuhlherstellern, nicht, die könnten doch einen Rollstuhl in der heutigen Zeit schon längst konstruieren, der auch über Stufen und Gehsteige hinaufkommt.

G2: Wie stellen Sie sich das denn vor, so Ketten?

S.: Man müßte sich halt einmal zusammensetzen, Sie müßten sich einmal mit denen in Verbindung setzen.

G2: Nein, wir reden jetzt nicht über die Rollstühle, sondern wir reden über die Gehsteige, bleiben wir jetzt einmal bei den Gehsteigen, ja?

S.: Ja, wie gesagt, wir haben uns da schon den Kopf zerbrochen und wir wollen auch in Zukunft so kleinere Rampen bauen, aber so wie Ihr Euch das vorstellt's, ganz abflachen, daß jedes Auto auf den Gehsteig hinaufkommt, das geht nicht.

G1: Aber Herr Senatsrat, das ist doch ein völliges Mißverständnis; wir haben nie behauptet, wir wollen die Abflachung der Gehsteige, sondern wir wollen an den Fußgängerübergängen die Abflachung der Gehsteige, net daß die Gehsteige jetzt weg sind, wie Sie uns dauernd unterstellen; also so wie es den Normen entspricht an den Fußgängerübergängen, so eine Art von Wannen zu machen, das finden wir auf jeden Fall, daß das die beste Lösung ist; schauen Sie, wie will jemand, z.B. ein Rollstuhlfahrer, wenn er z.B. einkaufen geht, wie will er da selbständig auf den Gehsteig hinauf kommen, das in das Geschäft hineinkommen ist erst das nächste Problem.

S.: Ja, jetzt sagn's grad, gehn Behinderte jetzt einkaufen auch noch?

Gruppenmitglieder: Stell da des vor, - schaffst das, - au weh, o weh, na na.

G1: Herr Senatsrat, na, ich kann gar nichts sagen.

G2: Da kann man wirklich nichts sagen.

S.: Na, wir machen das so, ich werde ihnen den Probegehsteig bauen lassen und wir setzen uns dann in einem Monat oder zwei wieder zusammen, nicht? Und Sie sind, glaube ich im Sozialdienst, Sie rufen mich wieder einmal an, nicht? Verbleiben wir dann so.

G1: Na, soweit ist das nicht gut, wir wissen noch nicht, warum Sie das jetzt z.B. nach den internationalen Normen ablehnen, das ist mir überhaupt noch nicht einsichtig.

S.: Ja, ich hab's Ihnen eh gesagt, erstens haben wir in Tirol so viel Schnee, die Schneepflüge müssen fahren, da gibt es dann Behinderungen.

G1: Der Schneepflug wird behindert?! Wir, wir werden behindert, nicht der Schneepflug, sehen Sie das doch einmal ein.



[2] Dieser Videofilm, 40 Min, Farbe, Was heißt denn da behindert, kann entliehen werden bei: Filmladen, Mariahilferstraße 58/7, 1070 Wien, Tel.: 0222/93 43 62 und 93 44 79.

Eine kleine Zusammenfassung

Zum Schluß einige wenige Punkte als Zusammenfassung der Erfahrungen unserer Gruppe in den letzten Jahren:

Wir sind selbständiger geworden. Dies zeigt sich u.a. auch darin, daß mehrere behinderte Gruppenmitglieder es geschafft haben, sich selbständige Wohnsituationen zu schaffen. Wir haben gelernt, Helfer-Hilflose-Beziehungen zu reflektieren.

Zu Beginn der Gruppe war die Initiative von Nichtbehinderten (vor allem Studenten) vorherrschend. Inzwischen dominiert die Selbstvertretung der Behinderten das Gruppengeschehen. Z.B. ist von den nichtbehinderten Autoren des ersten Projektberichtes nur mehr eine Person zeitweise in der Gruppe.

Die Gruppe hat sich in inhaltlichen Auseinandersetzungen stark entwickelt. Dies hat allerdings das zwiespältige Ergebnis mit sich gebracht, daß sie kleiner geworden ist und der Abstand zu den lokalen Gegebenheiten größer. Die überregionale Zusammenarbeit hat sich dagegen stark entwickelt.

Wir haben gelernt, daß wir nur dann die völlige Freiheit der Argumentation behalten können, wenn wir uns nicht institutionalisieren oder Träger eines Projektes werden.

Wir haben gelernt, die Interessensgegensätze bei unseren berechtigten politischen Forderungen zu erkennen und zu versuchen, uns selbst öffentlich zu vertreten.

Die politischen Erfolge zur konkreten Änderung der Situation Behinderter sind minimal. Im Wettlauf mit den neuen Strukturen, die Behinderte weiterhin zerstören, existiert kaum eine Chance auf wirkliche Veränderungen. Es existiert weiterhin grundsätzlich kein Interesse an einem alltäglichen Zusammenleben mit Behinderten in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Unser Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung geht jedoch über das hinaus, was man von so einer kleinen Gruppe eigentlich erwarten könnte. Dies liegt vielleicht auch daran, daß die derzeit praktizierte Verlogenheit für uns klar geworden ist und wir sie verschiedentlich auch aufgezeigt haben.

Die Mitglieder der Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten (März 1982):

Martina Lassacher, Volker Schönwiese, Volker Marini, Ernst Schwanninger, Helmut Schiestl, Herlinde Trager

Literaturverzeichnis:

Christoph, F., Behindertenstandpunkt, in: Sozialmagazin, März 1980, S. 56-59.

Die Schüerschule, Scoula di Barbiana, Wagenbach, Berlin 1980.

Emerson J.,Was hier geschieht, ist wirklich nichts besonderes, in Gruppendynamik, Heft 2, S. 84-87

Klee, E., Behinderten-Report 2, "Wir lassen uns nicht abschieben", Fischer, Frankfurt 1976.

Klee, E., Behindert - ein kritisches Handbuch, Fischer, Frankfurt 1980.

Krüppelzeitung 1981, Heft 1, Zusammenarbeit von Behinderten und Nichbehinderten? Pro und Contra, S. 31-41

Luftpumpe 1981, Heft 5, Können, dürfen, sollen Nichtbehinderte in der Behindertenbewegung mitarbeiten oder nicht? S. 9-10.

Schmidbauer, W., Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe, Rowohlt, Reinbek 1977.

Schönwiese, v., E.schwanninger, Anheimelnde Partnerschaft, in: betrifft: soziale Arbeit und Sozialpolitik 1981, Heft 4, S. 29-31.

Quelle:

Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten, Innsbruck: Befreiungsversuche und Selbstorganisation.

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 377 - 390

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 27.07.2005

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