MAUERN ÜBERALL

Autor:in - Brigitte Wanker
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 21 - 34
Copyright: © Jugend und Volk 1982

MAUERN ÜBERALL

"Sind wir doch froh, daß es solche Heime gibt, dort haben sie doch alles was sie brauchen." (Alltagsargument)

Nach meiner Ausbildung als Weberin war es eher Zufall, daß ich zu Heimen Kontakt bekam. Durch meine Tante hatte ich Gelegenheit, das Pflegeheim St.Josefs-Institut in Mils/Tirol zu besuchen. Mir wurde plötzlich bewußt, daß ich noch kaum mit behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Berührung gekommen war. Ich hatte keine Vorstellungen vom Leben "behinderter" Menschen und deren Situation in Heimen.

Ich hatte die Möglichkeit, einige Abteilungen zu besichtigen. Einzelne Kinder waren mir gegenüber sehr aufgeschlossen und überhäuften mich mit Fragen, die mein Leben betrafen. Ich war von den Kindern fasziniert, zugleich aber geschockt, wie abgeschlossen sie leben mußten.

Ich bewarb mich um eine Anstellung, da ich glaubte, meine handwerkliche Ausbildung bei der Freizeitgestaltung der Kinder verwerten zu können. Einige Wochen später erfuhr ich, daß eine Stelle freigeworden war. Ich wurde nicht genauer über meine Arbeitsbedingungen informiert; von der Schwester Oberin wurde mir lediglich mitgeteilt, daß ich eine Bubengruppe im schulpflichtigen Alter zu betreuen hätte.

Das St.Josefs-Institut

Die Anstalt führt offiziell den Namen "Pflegeanstalt für Geistesschwache" und wird von den Barmherzigen Schwestern geführt. In ihr leben 210 Behinderte aller Altersstufen, von Kleinkindern bis zu alten Menschen; etwa ein Drittel sind Kinder und zwei Drittel Erwachsene. Die Behinderten werden zum Teil über das Jugendamt eingewiesen, ein anderer Teil wird von Eltern oder Familienangehörigen gebracht. Die Behinderten im St.Josefs-Institut werden alle unter dem Titel "geistig Schwerstbehinderte" geführt. Nach meinen Erfahrungen ist eine derartige Allgemeinaussage falsch und sehr stigmatisierend. Bei vielen Kindern und Jugendlichen bestand die Behinderung darin, daß sie aus schwierigen oder unvollständigen Familien kamen oder körperlich behindert waren, wobei so gut wie alle Behinderten lange Heimkarrieren hinter sich hatten. Mir scheint es zu einfach, sie als "geistig behindert" zu bezeichnen.

Im Heim selbst besteht eine Sonderschule für Schwerstbehinderte. Therapie, wie Logopädie und Physikotherapie, wird fallweise, aber sicher nicht konsequent durchgeführt. Im Anstaltsbereich wird auch ein Landwirtschaftlicher Betrieb geführt, in dem Behinderte arbeiten. Behinderte arbeiten zudem in der Küche und werden teilweise für Erziehungsaufgaben herangezogen. Sie sind allerdings nicht angestellt, sondern bekommen nur ein Taschengeld, das sie meist nicht selbst verwalten.

Die Finanzierung des Heimes erfolgt durch Tagessätze nach dem Tiroler Behindertengesetz.

Besuche im Heim und Ausgang nach Hause sind nur am Besuchssonntag (einmal im Monat) gestattet. Erst nach der Messe um ca. 9.15 Uhr bringt die zuständige Schwester das Kind ins Besuchszimmer oder zur Pforte; dadurch ist mir nie ein Kontakt mit den Eltern möglich gewesen. Die wenigen Eltern, die das Kind nach Hause mitnehmen, müssen es um 17.00 Uhr ins Heim zurückbringen - eine unzumutbare Belastung, da sie meist lange Fahrzeiten in Kauf nehmen müssen. Sie haben auch nie die Möglichkeit, ihre Kinder z.B. am Samstag abzuholen und erst am Sonntag zurückzubringen.

Erster Arbeitstag

Punkt 8.00 Uhr betrete ich den Vorraum, die Pforte des St.Josefs-Instituts. Die zweite Türe ist versperrt. Hinter dem Vorraum sitzt eine geistliche Schwester, zu der ich durch ein Fenster sprechen kann. Erst dann ist mir der Zutritt zu den einzelnen Abteilungen möglich. Die mir zugewiesene Bubengruppe befindet sich im ersten Stock. Ich stehe im langen Gang der Abteilung, in der ich von nun an arbeiten werde. Stille umgibt mich. Ich gehe weiter in der Hoffnung, Menschen zu begegnen. Eine Gruppe Kinder kommt mir entgegen, geschlossen in Zweierreihen, aus der Kapelle wie ich später erfahre, dahinter die zuständige geistliche Schwester. Sie begrüßt mich, steckt mir einen Kamm zu und sagt: "Die Kinder müssen alle aufs Klo gehen, lassen Sie sie dann in Zweierreihen anstellen und frisieren Sie die Buben der Reihe nach, sie müssen dann in die Schule gehen." Da stehe ich, den Kamm in der Hand - mir ist ganz komisch zumute.

In was für eine andere Welt bin ich geraten? Verschiedene Fragen der Kinder reißen mich aus meinen Gedanken. Für sie scheint alles in Ordnung zu sein: Anstellen in Zweierreihen und warten auf das Frisiert-werden. Warum können sie es nicht selber? Warum überhaupt frisieren, denn wie ich erfahre, spielte sich dieselbe Zeremonie eine halbe Stunde davor ab, bevor sie in die Kapelle zur Messe gingen. Ein Bub kommt mir zur Hilfe und sagt: "Frisier uns endlich, Du bist doch die Neue oder?" Ich bin ziemlich verwirrt, viele Kinder machen einen ganz normalen Eindruck auf mich, ich verstehe überhaupt nichts mehr. Die undurchschaubare Atmosphäre und die starren Ordnungsprinzipien lösen in mir Unsicherheit und große Betroffenheit aus. Ich stehe einer Gruppe von 24 Kindern und Jugendlichen gegenüber. Es wird mir bewußt: Alle Menschen, die ich hier treffe, habe ich weder auf der Straße, noch im Konzert, nicht im Cafe, auch nicht im Wirtshaus gesehen. Aber nach und nach begreife ich: Diese Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen kennen das Wirtshaus nicht, sie dürfen nicht ins Cafe, nicht ins Konzert. Ihr Leben spielt sich zwischen den Mauern und Gittern der Anstalt ab, die Ausnahme sind Spaziergänge, wohlgemerkt in Zweierreihen, Hand in Hand, auf sich immer wiederholenden Wegen.

Wolfgang

Mittagessen am zweiten Arbeitstag: Wolfgang[1] weigert sich, den Rest der Mahlzeit aufzuessen. Die Schwester stopft ihm alles in den Mund. Er schluckt nicht, sie droht: "Wir gehen ins Bad." Gebet, alle stehen auf, Wolfgang hat noch immer den Mund voll. Die Schwester zerrt ihn ins Bad. Ich muß inzwischen mit den anderen Kindern geschlossen zum Klo gehen. Wir hören im Nebenraum die Schwester brüllen, zuschlagen und Wolfgang schreien. Die Kinder halten sich die Ohren zu, wir hören die Szene fassungslos mit an. Auf meine Frage erzählen sie mir, daß so etwas öfters vorkommt. Wolfgang kommt verheult und mit einem blutigen Striemen auf der Wange aus dem Bad. Er berichtet mir zögernd, daß er zuerst kalt geduscht und dann mit dem Hosenträger geschlagen worden war.

Ich bin nicht fähig, darauf zu reagieren; so etwas hätte ich dieser Schwester nie zugetraut. Sie kommt aus dem Bad und sagt mit einer Härte, die für mich unverständlich ist: "Auch Sie müssen für Ordnung sorgen, denn wenn Sie das mit dem Nichtaufessen einmal durchgehen lassen, dann ..... Jeder muß essen, was auf den Tisch kommt." Ich bin total fertig. Ihr veränderter Gesichtsausdruck macht mir Angst; ein weiteres Gespräch über diesen Vorfall ergibt sich nicht.

Walter, ein 15jähriger Bub aus meiner Gruppe, gibt mir gutgemeinte Tips: "Brigitte, Du bist viel zu wenig streng, der Wolfgang muß die Knödel essen, auch wenn sie ihm nicht schmecken. Mit die schlimmen Kinder muß man streng sein, das hat die Schwester zu mir auch schon gesagt, ich helf Dir dabei." Er ist den anderen Kindern gegenüber sehr autoritär und fühlt sich für alles, was in der Gruppe vorgeht, verantwortlich. Die Schwester sagt mir, daß er seit frühester Kindheit im Heim sei und keinen Kontakt zu Eltern oder Angehörigen habe. Die Schwester warnt mich vor ihm. Er sei so anhänglich und suche immer nur Vorteile für sich.

Wolfgang ist seit ca. eineinhalb Jahren im Heim, hat keinen Kontakt zu seinen Eltern, da diese auch nicht an ihm interessiert sind. Er kommt aus einem schlechten Milieu, seine Eltern sind Trinker. Vorher hat Wolfgang bei einer Pflegemutter und dann in einem Heim in Kärnten gelebt. Mittagessen bedeutet für Wolfgang tagtäglich Angst. Angst vor Gulasch und Knödel, Angst vor Prügel und kalter Dusche. Diese Angst sehe ich ihm jeden Tag an. Nach dem Unterricht kommt er ins Speisezimmer geschlichen und fragt: "Brigitte, was gibts heute zum Mittagessen?" Wir warten dann gemeinsam auf die Schwester, die immer kurz nach 12.00 Uhr mit dem Essenswagen kommt.

Mittagessen, ca. ein Monat später: Ich hänge im Bad Wäsche auf. Die Schwester kommt mit Wolfgang, der wieder den Rest der Mahlzeit (Gulasch) nicht essen will. Ich soll ihn zwingen, alles aufzuessen. Er weint, schaut mich verzagt an und erbricht. Ich lasse alles fallen, schnappe mir einen Fetzen von der Schmutzwäsche und wische mit ihm gemeinsam auf. Die Schwester kommt zurück, sieht den Rest auf dem Teller und befiehlt ihm, sich nackt auszuziehen. Bevor sie das Bad verläßt, sagt sie: "Ich komme gleich wieder" Wolfgang beginnt sich auszukleiden; zwischendurch versucht er immer wieder, einen Bissen hinunterzuwürgen. Die Schwester kommt, schreit auf ihn ein, fordert ihn auf, sich in die Badewanne zu stellen. Sie duscht ihn kalt ab, Wolfgang versucht mit der Hand Wasser in den Mund zu schöpfen, um das Essen leichter schlucken zu können. Sie verbietet es ihm, und er wird kalt geduscht, bis er alles geschluckt hat. Ich stehe hilflos daneben, in mir ist alles blockiert. Ich zittere am ganzen Körper, verspüre unsagbaren Haß auf die Schwester und fühle mich allem so ausgeliefert.

Was hätte ich tun sollen? Ich wußte mir in solchen Situationen nicht zu helfen. Die Schwester verließ wortlos den Raum, und wieder hatte ich es nicht fertiggebracht, sie daraufhin anzusprechen. Jedem wird gleich viel Essen geschöpft, die meisten Kinder haben sich daran gewöhnt, Wolfgang aber nicht. Wolfgang ist nicht fähig "sich einzuordnen, sich anzupassen", heißt es dann.

Nie werde ich Wolfgangs suggestive Blicke vergessen, ebensowenig, in welch zwingender Eigenart er mich ansprach: "Wenn ich 18 Jahre bin, tu ich Dich heiraten. Heiraten muß gelernt sein, dann brauchst Du nicht mehr zu arbeiten, und ich werde Koch, dann gibts nie Knödel und Gulasch, nur Hendl. Ein Auto kauf ich auch."

Wieder einmal gibt es Knödel und ich muß die Schwester beim Essenschöpfen vertreten. Wolfgang meint: "Heute esse ich alles auf, wenn ich dafür beim Spaziergehen mit Dir gehen darf." Die anderen Kinder beschimpfen ihn: "Hör sofort auf, mit der Brigitte zu schmeicheln, die Schwester mag das auch nicht" Er kämpfte regelrecht um Liebe.

Wenn die Schwester nicht da ist, kommt er immer wieder zu mir und gibt mir ein Busserl, dann schaut er mich an und sagt in einem ganz eigenartigen Ton: "Brigitte, warum magst Du nicht streng sein?" Mir fällt auf, daß sein ganzes Verhalten darauf abzielt, mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit von mir zu bekommen. Er hilft auch den anderen Kindern viel. Es ist für ihn selbstverständlich, Walter in der Früh die orthopädischen Schuhe zu schnüren und einigen Buben, die sich durch ihre Behinderung schwer tun, beim Anziehen zu helfen. Trotzdem ist er bei den meisten Kindern nicht beliebt.



[1] Alle Namen von Kindern und einer Angestellten wurden geändert.

Erziehungsrichtlinien - Erziehungsrealität

Ich möchte auch einige Erziehungsrichtlinien des St.Josefs-Institut veröffentlichen, nach denen ich die Kinder hätte erziehen sollen. Die Schulleiterin ließ sie mir durch ein Kind kommentarlos überbringen.

Auszug aus den Erziehungsrichtlinien

"Sondererziehung versteht sich als Aufgabe, entwicklungsgehemmten Kindern und Jugendlichen mit den Mitteln der Erziehung und des Unterrichts zu einem erfülltem Leben zu verhelfen." (Heese)

Sozialerziehung (Erziehung zur Umgänglichkeit)

a) Umgangsformen

Grüßen (Wiedergrüßen, Handgeben, Mütze abnehmen, Handschuhe ausziehen, Verbeugung, Knicks, Grußformeln, Verabschiedung), Bitte- und Dankesagen, um etwas bitten, beim Grüßen und im Gespräch die anderen ansehen, anklopfen, gratulieren, sich entschuldigen, sich zurückhalten, Menschen auf der Straße nicht unnötig ansprechen, nicht mit Fremden gehen, von Fremden keine Geschenke annehmen, nicht betteln;

b) Anstand

Mund schließen, Hände vom Gesicht (von der Nase) nehmen, nicht kratzen, nicht an allen Dingen herumlutschen, keine Gesichter schneiden, Zunge nicht herausstrecken, keinen "Vogel" zeigen, keine schlechte Luft verbreiten, nicht aufstoßen, nicht spucken, nichts herumwerfen, häßliche Ausdrücke vermeiden, nicht an den Geschlechtsteilen spielen;

c) Rücksichtnahme

Andere nicht stören, nicht unterbrechen; nicht vordrängen, schubsen, stoßen, treten; nicht hinter anderen durchgehen; Platz machen, fremden Besitz achten; beim Gähnen, Niesen, Husten Hand vor den Mund halten;

d) Hilfsbereitschaft

Türe aufhalten, Heruntergefallenes aufheben, tragen helfen, in den Mantel helfen, Mantel abnehmen, Platz anbieten, zureichen, aushelfen, mithelfen, aufmerksam sein gegenüber Schwächeren;

e) Kontaktfähigkeit

Verträglich nebeneinander sitzen, spielen, arbeiten; miteinander spielen, arbeiten; sich einordnen; teilnehmen und teilnehmen lassen an Leistungen und Erlebnissen; abgeben, teilen, schenken; folgsam sein;

Gemütserziehung (Erziehung zur gemütsmäßigen Anteilnahme)

Sich mitfreuen, Mitleid haben, bedauern, bereuen; sich schämen, dankbar sein; Achtung vor Menschen und Dingen haben; Ekel empfinden, sich willig zeigen; zuverlässig sein; erkennen, was gut, was schlecht, was schön, was anständig ist.

Religiöse Erziehung

Die religiöse Unterweisung, die Anbahnung und Verfestigung religiöser Gewohnheiten, die Pflege religiöser Gefühle in der Anteilnahme an freudigen und traurigen Begebenheiten im Umkreis der vertrauten Menschen und an den Ereignissen des Kirchenjahres dienen der fortschreitenden Einbettung in die Geborgenheit in Gott.

1.3.1980: Ich gehe in die Garderobe, um Putztücher zu holen. Peter kommt nach, um mir zu helfen. Frau Silvia bügelt, er stolpert über das Kabel des Bügeleisens und reißt dabei die Steckdose aus der Wand. Ich gehe mit ihm ins Spielzimmer. Die Schwester erfährt von dem Vorfall, kommt, brüllt und schlägt auf den 17jährigen mongoloiden, geistig behinderten Buben ein, zerrt ihn an den Haaren ins Bad. Ich höre trotz der Entfernung Schläge und Schreie.

Ich bin total fertig und bespreche das Vorgefallene mit meinen Eltern. Ich sehe mich nicht mehr in der Lage, meine Arbeit im Heim unter diesen Voraussetzungen weiterzuführen, möchte aber der Kinder wegen nicht aufgeben. Mein Vater und ich haben noch am selben Tag eine ernste Auseinandersetzung mit der Schwester und der Schwester Oberin. Sie wollen, daß ich kündige, aber noch zehn Tage arbeite, da die Schwester in dieser Zeit auf Exerzitien ist.

Äußerung der Schwester Oberin zu den Vorfällen: "Ich habe in meiner Kindheit mehr Schläge bekommen wie alle Kinder im Heim zusammen, und ich bin meinen Eltern dankbar dafür".

Tagesablauf meiner Gruppe

6.00 Uhr: Wecken, erstes Mal anstellen in Zweierreihen, die Buben werden frisiert, dürfen es nie selber tun, die Hemden werden schön in die Hosen gesteckt.

6.45 Uhr: Frühstück. Zweites Mal anstellen in Zweierreihen, die Buben werden frisiert, dürfen es nie selber tun, die Hemden werden schön in die Hosen gesteckt.

7.30 Uhr: Hl.Messe. Drittes Mal anstellen in Zweierreihen, die Buben werden frisiert, dürfen es nie selber tun, die Hemden werden schön in die Hosen gesteckt. Aufsicht: Geistliche Schwester.

8.00 Uhr: 20 Buben gehen zur Schule. Ein Bub verbringt den Vormittag in der Bastelstube ("Strickliesl") nebenher wird zeitweise Rosenkranz gebetet. Aufsicht: Geistliche Schwester. Drei Buben, die wegen ihrer Behinderung nicht schulpflichtig sind, verbringen diese Zeit auf dem Balkon, im Spielzimmer oder in der Garderobe, wo eine Angestellte diverse Arbeiten (Bügeln, Nähen) verrichtet.

12.00 Uhr: Mittagessen.

Ca. 13.00 Uhr: Ein Teil der Gruppe ist montags und dienstags noch einmal in der Schule - Werken, Turnen, der Rest geht spazieren in Zweierreihen oder verbringt die Zeit auf dem vergitterten Balkon.

14.30 Uhr: Jause.

15.00 Uhr: Ich bin mit der ganzen Gruppe in einem Raum, dem Spielzimmer. Erledigung der Hausaufgaben, sie sind kaum in der Lage, selbständig zu arbeiten; die Kinder, die keine Hausaufgaben haben, sind auch auf mich angewiesen - sie haben keinen Zugang zu den Spielsachen in den Kästen. Lärm - Langeweile - für mich bedeutet dieser Zustand (für 24 Buben alleine dazusein) immer Hektik! Eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung ist daher nie möglich. Einzelgespräche oder Gruppengespräche können unter diesen Voraussetzungen nie zustande kommen. Die verschiedenen Interessen der 24 Buben im Alter von 7 bis 17 Jahren können niemals gefördert werden.

17.15 Uhr: Viertes Mal anstellen in Zweierreihen, die Buben werden wieder frisiert, dürfen es nie selber tun. Die Hemden werden schön in die Hosen gesteckt.

17.30 Uhr: Rosenkranzbeten in der Kapelle. Aufsicht: Geistliche Schwester.

18.00 Uhr: Abendessen.

19.00 Uhr: Manchmal fernsehen, meistens nach dem Abendessen waschen, Zähneputzen (am Abend ohne Zahncreme), ins Bett gehen.

Tagesbeginn

Vertieft, versunken in Gedanken, fast wie bei einem Ausflug oder Spaziergang, komme ich immer näher zum Heim - wie bedrohlich es mir entgegenschaut, eingehüllt vom Schwarz des frühen Morgens - werde ich aus meinen Träumen gerissen, erkenne hinter schwachen Lichtern die vergitterten Balkone. Die Kinder schlafen noch friedlich in ihren Betten, hinter weißen Mauern, manche in vergitterten Käfigen, gefesselt ans Bett, ohne sich rühren zu können. Ich höre leises Jammern und Kindergeschrei vom ersten Stock, die ersten Menschen sind schon wach. Hilflose Kinder, Jugendliche und Alte werden da drinnen aufbewahrt, gepflegt und bevormundet, und ich bilde mir immer noch ein, etwas verändern zu können. Werde auch ich bald abstumpfen und Dinge wie das tägliche Wecken verrichten wie ein Arbeiter, der die Maschinen in der Fabrik in Schwung bringt? Ich gehe weiter, vorbei am verschlossenen Haupteingang; die Schwestern sind um diese Zeit in der Kapelle. Ich gelange zum hinteren Hof, rechts Beton, graues Pflaster und wieder Gitter über Gitter beim Betongarten des Männerstockes, links die Ställe - die Kühe und Schweine werden schon von einigen Pfleglingen versorgt. Aus der Kapelle kein Laut, nur vereinzelt ein Schatten oder Schleier. Beten, Singen, Schreie, Schläge, kalte Dusche, Zwangsjacken .... Bilder, unklar und doch deutlich, die ich in der Früh vor Augen habe. Noch ein kurzer Blick zu den beleuchteten Fenstern der Kapelle, weiße Schleier - schwarz der Morgen. Dann stelle ich mein Fahrrad ab, öffne die Eingangstüre und betrete den Vorraum. Ich befinde mich im Männerstock. Licht, kahle Wände, Stiegengeländer Gitter, schwarz-weiß gesprenkelte Treppen, verschlafene Männergesichter in blauen Arbeitsschürzen. Geruch von schwitzenden Körpern, überheizten Schlafsälen - vermischt mit Stallgeruch - und das auf leeren Magen; ich habe ein Kindergesicht vor Augen, wie es sagte: "Ich will nie in den Männerstock, da stinkt's so", erreiche die Türe zum ersten Stock. Da stehe ich im langen, düsteren Gang, kahle hohe Wände, oben abgerundet, die wenigen Lampen - das spärliche Licht, der viel zu lange Gang, gehe vorbei an versperrten Türen, hab wenig Einblick in diese Abteilung, weiß aber, wie es in den Zimmern aussieht. Angebundene Kinder in weißen Krankenhausbetten, Lederriemen, Gurten - höre wieder Schreie, nicht verständliche Laute. Ein Bub liegt mit Zwangsjacke im Bett, da er in tiefster Verzweiflung oder in wilder Wut am Vortag das Kruzifix zerbrochen hat. Jede Regung, alle Abweichungen oder Ausbruchsversuche werden brutal unterbunden, sie enden meist in Zwangsjacken, mit Schlägen ins Gesicht oder kalter Dusche.

Ich gehe weiter, vorbei an den Fenstern, einer Türe - gelange zum neun Meter langen und zwei Meter breiten Balkonkäfig. Dies sind die einzigen Stellen, wo ein wenig Licht in die Düsternis des Ganges dringt, doch jetzt ist noch tiefste Nacht. Gitter über Gitter, Öde, Trostlosigkeit, einige Papierblumen an den Lampen, einsam schwebend in grauer Luft. Der Gang mündet in einen zweiten langen Gang, schummriges Licht, kahle Wände unterbrochen von geschmacklosen Dekorationen, die man in der Düsternis aber übersieht. Das ist die Abteilung, in der ich täglich acht Stunden arbeite. Wieder verschlossene Zimmer - ich sperre die Garderobe auf, Licht an, Schuhe ausziehen, Jacke aufhängen, ein langer Tisch mit numerierter Wäsche .... Nummern, Gitter. Es ist genau sechs Uhr, ich stehe wieder im dunklen "Schlauch", gehe weiter vorbei am Bubenklo, Türe offen, grelles Licht, sterile Wände, die Zwangsjacke auf der Zentralheizung, zwei Stühle, Töpfe, Urin, ein paar Fetzen Zeitungspapier auf weiß-schwarz gesprenkeltem Boden. Klopapier gibt es nur für Schwestern und Angestellte in der danebenliegenden Toilette. Warum? Sparmaßnahmen. Wie ungerecht, die typische Einstellung: "Für diese Schwachsinnigen ist Zeitungspapier gut genug, die kriegen eh nix mit". Das in einem Kasten aufbewahrte Zeitungspapier im Bubenklo darf von den Kindern nicht selbst herausgenommen werden. Die ganze Gruppe muß nach den Mahlzeiten geschlossen aufs Klo gehen, die Schwester sorgt für Ruhe und Ordnung und weist die Buben der Reihe nach in die vier vorhandenen Kabinen ein. Sie ist es auch, die das Zeitungspapier verteilt. Vorbei an weiteren Türen, Waschraum, Bad und Schwesternzimmer, bin ich bei den Schlafräumen der Buben angelangt.

Zimmer: 6 weiße Krankenhausbetten, kahle weiße Wände, gleiche Bettwäsche, nichts Persönliches, ein paar Stofftiere am Fensterbrett. Die Schwester ist es, die am Abend die Wäsche ordnet und die schmutzige Unterwäsche durch saubere ersetzt. Keine Kästen, die Kleidung und wenigen Habseligkeiten der Kinder werden in der Garderobe aufbewahrt. Ich erlebe andauernd, wie diesen Menschen der Weg zur Selbständigkeit versperrt wird. Jeder wird gleich behandelt, ohne Rücksicht auf vorhandene Fähigkeiten, Eigenheiten und Bedürfnisse. Nichts kann selbst bestimmt werden, der tägliche, hektische Tagesablauf, festgelegte Zeiten, Mauern, Gitter, kaum ein Aufmucken - die Kinder haben sich daran gewöhnt, nehmen alles hin, ein Ausbrechen wäre sinnlos. Die Schwester redet von "harter Liebe", die Schwester Oberin von "Zucht und Ordnung".

Wecken

Das tägliche Wecken bedeutet Hektik: Licht an, Vorhänge auf, Bettdecken zurückschlagen, 24mal dieselbe Handbewegung bei 24 verschiedenen Kindern, keine Zeit für Extrawünsche, Fragen werden überhört, übergangen. Ich war geschockt, mit welcher Härte und Gefühllosigkeit die Schwester diese Dinge verrichtete. Maschine einschalten, Nummern verteilen, keine Gefühle zeigen, Härte, Schreien, leises Flüstern, eingeschüchterte Kinder, plötzliche Stille, brav sein, folgen, in der Kapelle schön andächtig sein, .... so viel Traurigkeit im finsteren Gang, Tränen, verstummendes Kinderlachen, mein bißchen Liebe, kleine Zärtlichkeiten, ungerecht verteilt auf 24 Kinder.

Zwangsjacken

l. Modell - besteht aus einem Teil, vorne befinden sich an der Innenseite zwei Öffnungen, wo die Hände hineingeschoben werden; auf der Rückseite wird sie zugeknöpft.

2. Modell - sieht aus wie eine Bluse, die Ärmel sind unten zugenäht; die daran fixierten Bänder dienen dazu, das Kind mit dieser "Jacke" an den Stuhl (mit Topf) zu binden; auf der Rückseite wird sie ebenfalls zugeknöpft.

Ich bin allein, um 24 Buben aufzuwecken. Ich betrete das erste Zimmer, völlige Ruhe, alle fünf Buben schlafen noch. Zuerst ziehe ich die Vorhänge auf, lasse die Rollos hinauf. Vorsichtig lege ich die Bettdecken zurück und rede leise mit denen, die schon wach sind. Sie stehen meistens gleich auf und stellen mir alle möglichen Fragen. Dann betrete ich das zweite Zimmer, das sich auf der anderen Seite des langen, düsteren Ganges befindet. Manfred, der sich nicht allein aufsetzen kann, sagt: "Brigitte, hilf ma, i muas aufs Töpfl". Christoph ist wie immer total verschlafen, ich wecke ihn meistens als letzten. Das dritte Zimmer ist gleich daneben. Florian stellt mir wieder viele Fragen, ohne an den Antworten interessiert zu sein. Ich helfe ihm beim Aufsetzen, meistens läßt er sich wieder fallen, am liebsten wäre es ihm, wenn ich nur für ihn da sein könnte, er ist kaum in der Lage, sich selber aus- und anzuziehen. Ich verspreche ihm wiederzukommen, wenn ich alle geweckt habe. Er verspricht mir, sich wenigstens den Oberteil seines Pyjamas auszuziehen. Michi umarmt mich so fest, daß ich fast zu ihm ins Bett falle. Kurti liegt im Bett und lächelt mich an, zieht die Bettdecke fest an sich und will nicht aufstehen. Stefan, der jüngste von allen, sitzt in seinem Gitterbett, mit nassen Windeln - er kann nicht gehen und spricht kein Wort.

Das nächste Zimmer liegt ein paar Meter weiter, auf derselben Seite, es ist das größte Zimmer. Georg springt sofort aus dem Bett und hilft mir, die Vorhänge aufzuziehen. Die anderen sieben Kinder warten, bis ich zu jedem von ihnen komme. Ein Blick auf die Uhr, ich muß schnell weiter, noch die restlichen Buben wecken. David, ein taubstummer Bub, schläft allein im Zimmer. Er ist meistens schon auf, am liebsten sitzt er vor der inneren zweiten Tür und lacht über sein Spiegelbild in der Türklinke. Er bemerkt mein Kommen nie, so beobachte ich ihn eine Weile. Im letzten Zimmer schlafen Johannes und Walter; sie sind am selbständigsten und stehen gleich auf.

Ich gehe den langen Gang zurück, betrete den Waschraum und teile die Zahncreme aus. Klaus kommt noch im Pyjama daher, in der Hand hält er das zugeknöpfte Hemd, er erzählt mir von der Baustelle im Dorf, ich verspreche ihm, daß wir sie uns beim heutigen Spaziergang anschauen werden. Ich knöpfe ihm das Hemd auf und fordere ihn auf, sich schnell anzuziehen. Er braucht immer am längsten, weil er jedes Kleidungsstück von allen Seiten betrachtet, ehe er es anzieht. Florian hat wieder einen seiner häufigen Schreianfälle und ruft nach mir. Die anderen Kinder schimpfen mit ihm, und er schreit noch lauter. Ich gehe zu ihm und ziehe ihm den Pyjama aus. Da uns bis zum Frühstück wenig Zeit zur Verfügung steht, ziehe ich ihn schnell an, obwohl es viel wichtiger wäre, ihn geduldig dazu zu bringen, sich selber aus- und anzuziehen.Ich rufe einen von den größeren Buben zu Hilfe, um ihn in den Rollstuhl zu setzen. Allein schaffe ich es nicht, er ist mir viel zu schwer. Inzwischen ist schon ein Großteil der Gruppe im Waschraum. Die meisten putzen sich selber die Zähne, waschen sich und stellen sich dann im Gang vor dem Waschraum in Zweierreihen an. Meistens drücke ich einem von den Buben den Kamm in die Hand, damit er die anderen frisiert, da mir kaum Zeit dazu bleibt. Im Waschraum gibt es keine Spiegel, die Buben dürfen sich nie selber frisieren. Wieder ein Blick auf die Uhr, wir haben noch zehn Minuten Zeit bis zum Frühstück. Klaus ist immer noch nicht fertig angezogen. Michi sagt mir erst jetzt, daß er noch keine Unterhose hat. Gert, David, Jörg und Rupert warten noch darauf, von mir die Zähne geputzt zu bekommen. Die Schwester kommt von der Kapelle zurück. Plötzliche Stille, sie schimpft, weil die Buben nicht ordentlich in Zweierreihen aufgestellt sind. Sie verschwindet in ihrem Zimmer. Endlich habe ich es halbwegs geschafft, alle sind fertig angezogen und gewaschen, zwar noch nicht ordentlich frisiert. Abmarsch ins Speisezimmer, natürlich schön in Zweierreihen.

Frühstück

Alle setzen sich auf ihre Plätze, es ist ziemlich laut. Walter, der Chef der Kinder, schreit "Ruhe" und schlägt auf den Tisch. Er steht auf und fordert die anderen auf, zum Kruzifix zu schauen und beginnt mit dem Gebet "Oh Gott, Du hast in dieser Nacht so väterlich für mich gewacht ..." Ich hole inzwischen vom Nebenraum, der Teeküche, eine kleinere Kaffeekanne, um den Kaffee aus der riesigen Kanne umzuschütten. Ein Bub beginnt die Butterbrote auszuteilen, die am Vortag gestrichen wurden. Alle warten geduldig, bis ich den Kaffee eingeschenkt habe.

Die Medikamente müssen auch noch verteilt werden; ich eile zum Medikamentenkasten, ein Blick auf die Liste, obwohl ich die verschiedenen Dosierungen schon auswendig kann; so, das wäre auch geschafft, jetzt müssen noch die Brillen gewaschen werden, ein Bub hilft mir dabei und verteilt sie dann. Der kleine Stefan brüllt vor Hunger, er muß gefüttert werden, so bereite ich noch einen Brei aus Kaffee und trockenem Kuchen für ihn. Ich setze mich zu ihm und löffle es ihm ein. Die ersten sind schon mit dem Frühstück fertig und fragen mich, ob sie aufs Klo gehen dürfen. Manuel, ein ca. 15jähriger Bub, hat die Aufgabe, den taubstummen, geistig und körperlich behinderten David nach jeder Mahlzeit aufs Klo zu bringen, ihn in die Zwangsjacke zu stecken und die Türe von außen zuzusperren.

Inzwischen ist die Schwester vom Frühstück zurück und fordert alle auf, sich auf dem Gang in Zweierreihen aufzustellen. Sie frisiert alle noch einmal und sagt dabei: "Seid in der Kapelle schön andächtig, Ihr wißt ja, Jesus ist in Eurem Herzen". Nachdem sie allen das Hemd schön in die Hosen gesteckt hat, gehen sie leise durch den langen Gang zur Kapelle.

Ich bleibe mit zwei Buben zurück, die wegen ihrer Behinderung nie in die Kapelle mitgehen dürfen. David, einer von den beiden, sitzt eingesperrt mit Zwangsjacke auf dem Klo. Stefan, der noch mit nassen Windeln und Pyjama im Rollstuhl sitzt, schreit laut; ich bringe ihn ins Bad und wasche ihn. Nachdem ich ihn angezogen habe, gehe ich zu David ins Klo und befreie ihn aus der Zwangsjacke. Ich nehme beide mit ins Spielzimmer, das ich jeden Morgen aufräumen muß.

Die Kinder erzählen

Gottlieb: "Immer kalte Dusche, der Rupert und ich sind in der Früh vorm Gewecktwerden im Gang spazieren gegangen und haben die kalte Dusche gekriegt. Du bist nett, Schwester Schwein. Ich glaub nicht mehr an den lieben Gott, ich will nicht mehr der Gottlieb sein, ich will ein Mörder sein."

Florian: "Schwester Oberin Schwein, Schwester Imelda alle Hax'n ausreißen, lieber Gott Sau, die Schwester hat gesagt, daß ich nicht in den Himmel komm, in Rollstuhl einischlog'n."

Walter: "Die Schwester hat gesagt, wenn da Gottlieb nochamal die Steckdose kaputtmacht, krieg ma alle die kalte Dusche."

Die Kinder untereinander

Peter, ein 17jähriger mongoloider Bub, geistig behindert, will zur Jause den Apfel nicht essen. Ich ignoriere es und frage die anderen Kinder, ob sie noch Hunger hätten. Einige nicken mit den Köpfen, so gehe ich in den danebenliegenden Raum, die Teeküche, um weitere Äpfel zu holen. Peter versucht inzwischen seinen Apfel loszuwerden und legt ihn einem Buben auf den Teller. Großes Geschrei - Walter greift wie immer ein und schreit: "Iß sofort Deinen Apfel, jeder muß seinen Apfel selber essen." Er hält ihm den Apfel unter die Nase. Peter schüttelt den Kopf und murmelt unverständliche Wörter in seiner eigenen Sprache. Im selben Moment läutet auf dem Gang das Telefon, und ich bin gezwungen, den Raum zu verlassen. Als ich zurückkomme, sehe ich, wie Walter auf Peter einschlägt und ihn beschimpft. Peter sitzt weinend vor seinem Apfel und schüttelt den Kopf. Immer mehr Buben mischen sich ein und erwarten, daß ich Walters Aktion unterstütze. Ich versuche den Kindern klarzumachen, daß es sinnvoller wäre, diesen Apfel demjenigen zu geben, der noch Hunger hat. Die meisten schütteln den Kopf und sagen: "Wir haben eh keinen Hunger mehr, der Peter muß den Apfel selber essen." Ich nehme den Apfel von seinem Teller und trage ihn wortlos in die Teeküche. Einige Minuten muß ich das Geschimpfe mancher Buben über mich ergehen lassen, "Titte spinnt, Agitte unmeglich...".

Innerhalb und außerhalb der Mauern

In der Zwischenzeit gelingt es mir, Frau Maria Zipperle kennenzulernen, die vor mir in dieser Abteilung gearbeitet hat. Ich erzähle ihr meine Erlebnisse und Eindrücke vom Heim und finde in ihr einen Menschen, dem es genauso wie mir ein Anliegen ist, endlich etwas gegen dieses unmenschliche Erziehungssystem zu unternehmen. Wie, das ist uns nicht klar.

Maria erzählt mir, daß sie einer Fürsorgerin vom Jugendamt über die Mißstände am St.Josefs-Institut berichtet hätte, diese sah aber auch keine Möglichkeit, ihr zu helfen. Auch ich habe meine Erfahrungen mit dem Jugendamt gemacht. Zu mir sagte man: "Sie sind viel zu sensibel für diese schwierige Arbeit." Von meinen Aufzeichnungen wollte man schon gar nichts wissen: ".... und hören Sie sofort mit Ihren Tagebuch-Aufzeichnungen auf, sind wir doch froh, daß es noch Schwestern gibt, die sich für diese Menschen aufopfern."

Von anderen Angestellten kann ich auch keine Hilfe erwarten. Wir begegnen uns nur selten und wenn, nur einmal am Tag beim Essen in der Mittagspause. Es sind junge Mädchen ohne Ausbildung, so wie ich. Sie sind auch mit vielem nicht einverstanden, bleiben aber trotzdem - der Kinder wegen. Die gemeinsame halbe Stunde verbringen wir damit, zu essen und uns von den Schwierigkeiten mit den geistlichen Schwestern zu erzählen. Dann ist jede von uns wieder allein in ihrer Abteilung.

Abschied von den Kindern

Anfang Mai kündige ich. Der Abschied von den Kindern steht mir in diesen letzten Arbeitswochen täglich vor Augen - ich habe Angst davor. Wie werde ich es ihnen sagen, wie werden sie es aufnehmen?

Ich habe versucht, gegen mein Ausgeliefertsein in diesem festgefahrenen, unmenschlichen System anzukämpfen. Immer wieder mußte ich feststellen, daß es für mich überhaupt keine Möglichkeit gab, etwas zu verändern.

Endlos quälte ich mich mit der Frage, wie ich mich von den Buben verabschieden sollte. Sie erfuhren von meiner Absicht wegzugehen zwei Wochen davor und reagierten ganz unterschiedlich darauf. Ich hätte es ihnen gerne selber gesagt, doch die Schwester kam mir zuvor. Ich hatte an diesem Abend keine Ahnung, daß sie davon wußten, bis Walter zu mir kam und sagte: "Brigitte komm mit, ich muß mit Dir reden." Er nahm mich bei der Hand und wir gingen ins Klo, wo wir ungestört miteinander reden konnten. Walter schaute mich lange an, ehe er etwas sagte. "Brigitte, stimmt es, daß Du von uns weggehst?" Ich war momentan nicht fähig, darauf zu antworten. Der erste Satz, den ich herausbrachte, war: "Wer hat es Euch gesagt?" - "Die Schwester M. hat es heute beim Mittagessen zu uns gesagt, auch, daß eine Neue kommen wird, die viel strenger mit uns sein wird wie Du. Warum magst Du nicht mehr länger bei uns bleiben, sind wir zu schlimm? Ich glaub, Du mußt wirklich strenger sein, ich helf Dir" "Weißt Du, Walter", stotterte ich, "das ist alles ein bißchen schwer zu erklären, ..., ich hab Euch sehr lieb, das weißt Du eh, aber ich kann trotzdem nicht mehr bei Euch bleiben. Ich werde im Herbst wieder zur Schule gehen, so wie Ihr, ich muß noch viel mehr lernen." Walter darauf: "Nein, das glaub ich nicht, Du kannst so gut basteln und theatergespielt hast auch mit uns - ja und an Tixo hast mir auch immer geschenkt, wer wird mir denn, wenn Du weg bist, einen Tixo kaufen? Weißt was, bevor Du weggehst, kaufst ma noch an Tixo, an Uhu und an Patex." Ich verspreche ihm, diese Dinge gleich morgen zu besorgen. Plötzlich kommt Gottlieb hereingestürzt und sagt: "I bin e froh, wenn Du nimmer kommst, dann kommt a Neue, a Milserin" - da fliegt er mir auch schon um den Hals. "Warum gehst Du weg, wenn ma di jetzt so gern hab'n, magst uns nimmer? Immer a Neue, zerst is die Maria nimmer kommen, jetz Du, i kenn mi nimmer aus."

Als ich das hörte, brach ich fast zusammen. Da standen sie und schauten mich fragend an: "Bist auch traurig?" Ich nickte, konnte ihnen nicht in die Augen blicken, ich kämpfte gegen meine Tränen, die herauszuströmen drohten.

Wir gingen eingehängt durch den langen Gang zu den anderen Kindern, die schon auf dem Balkon waren. Auf Wunsch von Gottlieb spielten wir Schispringen. Das sah so aus: Wir mußten der Reihe nach auf die Holzbank steigen, mit Anlauf so weit wir konnten auf den Boden springen und so tun, als hätten wir Schistöcke unter den Armen. Da gabs immer großes Geschrei und Streitereien, wer als nächster an der Reihe war.

Manche protestierten dagegen, da es ihnen zu laut oder zu wild war. So machten wir zwischendurch eine Pause und ich versuchte ihnen einzureden, daß es vor dem "zweiten Durchgang" wichtig sei, auszuspannen, um sich zu erholen. Sie waren einverstanden und als Ersatz gab es eine Geschichte von Walter, in der es um die Gasthäuser in Mils ging. Er spielte den bösen Wirt vom Tirolerhof. Die Kinder hörten ihm andächtig zu und waren ganz aufgeregt. Als er seine Geschichte beendet hatte, war es auch schon Zeit, zur Jause ins Speisezimmer zu gehen. So gab es nur noch einen kurzen 2.Durchgang für die fanatischen Schispringer. Immer Hektik, obwohl so viel Langeweile den Tag beherrscht. Auch wenn das mit dem Schispringen recht nett klingen mag, so gab es Tage, wo uns dieser vergitterte Balkon verhaßt war, da wir bei schlechtem Wetter keine Alternative dazu hatten.

Der Balkon

9 m lang, 2 m breit. Regen, kalt und feucht, grauer Tag. Regenwetter, nicht spazierengehen in Zweierreihen im weiten Wald. Regenwetter heißt, den Nachmittag im Käfig zu verbringen, Käfig, Gitter, Draht über Kreuz, Kinderhände verkrallt in Drahtgeflecht, Spannteppich auf dem Boden, weiß und grünlich die Mauern, der Blick immer wieder aufgefangen von Drahtgeflecht, Spielen auf dem Balkon, zwei Stunden Drahtverhau, und dann Schispringen spielen, von der Holzbank, 10 Kinder springen, sitzen, schreien. Laute undeutliche Wörter, immer wieder liegen Kinder auf dem Boden, andere steigen darüber, trampeln aufeinander, furchtbarer Lärm, mir droht der Kopf zu springen, und doch in der schlimmsten Erniedrigung immer noch ein Lachen. Und das zum tausendsten Mal wiederholte Spiel bereitet immer noch Freude.

Der letzte Arbeitstag

..... hab noch den Tag vor Augen, als ich mit vielen Situationen zum ersten Mal konfrontiert war und weiß noch, wie schwierig sie mir erschienen, doch heute am letzten Arbeitstag verspüre ich eine starke Beziehung dazu. Die Sehnsucht wächst, weiterhin am Leben der Kinder teilzuhaben doch ich werde sie nie wiedersehen können. Ich spüre Eifersucht auf die "Neue", ich hab sie heute gesehen. Manfred meinte: "Diese Frau ist keine Österreicherin, sie spricht chinesisch, sie ist aus China, die Brigitte Wanker mog i am liabsten, weil sie eine Hallerin ist, sind die Kinder in Hall lästig, Brigitte Wanker sag 'Hall-Kracherl', sprechen die Haller den gleichen Dialekt wie die Milser? Brigitte Wanker, i mog di angreifen..."

Ich fühle mich so machtlos, allem so ausgeliefert! Habe viele Zweifel, weiß aber: Alles muß an die Öffentlichkeit, verspüre aber auch Mitleid mit den Schwestern. Als Abschiedsgeschenk habe ich heute von der Schwester Oberin ein Körberl mit Salz und Pfefferstreuer (leer), einer Maggidose (gefüllt mit Knorrwürze) und einem Knorr Aromat (Streuwürzmittel nach Schweizer Art) erhalten; da kann ich keinen Haß verspüren, nur Mitleid bei soviel Hilflosigkeit.

Quelle:

Brigitte Wanker: Mauern überall

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 21 - 34

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand:11.07.2006

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