Gegen die Schutzhaft der Nächstenliebe

Umgang mit Kranken und Behinderten

Autor:in - Klaus Dörner
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: Publik-Forum Nr. 15; 1999
Copyright: © Publik-Forum 1999

Wir müssen die Heime abschaffen - und die »Insassen« endlich in ihrer Menschenwürde ernst nehmen.

Kein chronisch psychisch Kranker und kein schwieriger geistig Behinderter muß dauerhaft in einer Anstalt leben. Das klingt wie eine Provokation und wie eine Spinnerei - aber es ist der fachliche internationale Standard. Deutschland hinkt in diesem Prozeß hinterher, während etwa in England schon die Hälfte der Heime aufgelöst worden ist.

In der Bundesrepublik könnten 70 Prozent der chronisch psychisch Kranken und 50 Prozent der geistig Behinderten unter fachlichen Gesichtspunkten auf der Stelle entlassen werden. Man muß sogar noch zuspitzen: Sie müssen entlassen werden, weil sie mit ambulanter Betreuung genauso gut oder besser zurechtkommen - bei den restlichen 30 Prozent würde es etwas länger dauern, aber im Prinzip gibt es keinen chronisch psychisch oder geistig Behinderten, der dauerhaft in einer Institution leben muß. Das ist nicht nur fachlich geboten, sondern unter dem Aspekt der Humanität und der Würde des Menschen zwingend, und schließlich braucht man dafür weniger als die Hälfte der Kosten.

Heime sind Relikte des vergehenden Jahrtausends, und ihre Betreiber müssen, auch wenn das hart klingt, als Geiselnehmer »ihrer« psychisch Kranken und geistig Behinderten betrachtet werden, wenn sie weiter an der »Schutzhaft der Nächstenliebe« festhalten. Obendrein sind die Heimbetreiber als notorische Kostenmacher gegenüber Anbietern, die die ambulante Betreuung professionell organisieren können, rettungslos im Nachteil.

»Enthospitalisierung« ist das Modewort für solche Programme geworden, mit denen Träger oder Betriebsleitungen von oben festlegen, daß so und soviel chronisch psychisch Kranke und Behinderte aus der eigenen Institution zu entfernen seien. Da die Tätigkeit des Enthospitalisierens dann eine Subjekt-Objekt-Struktur hat (Ich enthospitalisiere dich), dieser Umgang mit einem Menschen aber kaum mit dessen Würde und damit auch nicht mit Fachlichkeit vereinbar ist, ist dieser Begriff abzulehnen, ganz abgesehen davon, daß auf diese Weise meist nur eine Umhospitalisierung herauskommt.

Nachdem uns in Gütersloh dieses fachliche und moralische Problem deutlich geworden ist, haben wir uns den Begriff Enthospitalisierung verboten und benutzen statt dessen

nur noch den aus der englisch-amerikanischen Psychiatriereform und Bürgerbewegung stammenden Begriff der De-Institutionalisierung. Er besagt, daß es nicht darum geht, Menschen zu ändern, sondern Institutionen zu ändern und ihren Institutionalitätsgrad so lange zu senken, bis die von ihnen gelähmten Menschen wieder wahl- und entscheidungsfähig werden und selbständiger leben können.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Fachlichkeit und Professionalität im sozialen Bereich weiterentwickelt und vor allem an therapeutischen Techniken angelehnt. Je mehr es sich um eine akute Störung oder Krise handelt, desto mehr scheint dieser aktive, den anderen ändernde Ansatz, der eher der Verwertungslogik entspricht, angemessen und wirksam zu sein. Aber auch das könnte ein Irrtum sein. Unlängst äußerte eine Frau in einer Diskussion, daß sie, wenn es ihr schlecht gehe, nicht gut mit einem anderen sprechen könne und zwar »aus Angst, der andere könnte mir helfen wollen«. Auf die Frage, was sie sich denn statt dessen wünsche. »Ich wünsche mir einen anderen, von dem ich sicher sein kann, daß er mir solange zuhört, bis ich selbst wieder weiß, woran ich bin und was ich zu tun habe.« Man schämt sich zu Tode, wenn man nur einmal eine gute Dokumentation in einem guten Behindertenheim liest, wo über 20 Jahre fein säuberlich aufgeschrieben wird, wie die Selbständigkeit eines Bewohners innerhalb der Institution täglich trainiert wird, ohne daß je eine wirkliche Selbständigkeit nämlich Entlassung in die ambulante Betreuung - dabei herauskommt.

In Deutschland gibt es echte De-Institutionalisierung viel zu selten. Das beste Beispiel für das Gelingen eines solchen Prozesse ist - leider - bislang das ehemalige Landeskrankenhaus Gütersloh geblieben. Von 1981 bis 1996 wurden alle 435 Langzeitpatienten dieser psychiatrischen Anstalt entlassen, 70 bis 80 Prozent davon in ambulante Betreuung, in Wohnungen, Wohngemeinschaften oder in die eigenen Familien. Das gilt auch für die 70 geistig Behinderten, die nur wegen ihrer besonderen Schwierigkeit ins Krankenhaus gekommen waren. Wir haben sie inzwischen alle aufgesucht und sorgfältig nachuntersucht (die Untersuchung erscheint unter dem Titel »Ende der Veranstaltung - Anfänge einer Chronisch-Kranken Psychiatrie« im Jakob van Hoddis Verlag) : So gut wie keiner will zurück, fast alle fühlen sich wesentlich besser, es gibt keine vermehrten Suizide und kein Abdriften in die Obdachlosigkeit. Dabei gehört zu der dafür erforderlichen Professionalität, daß kein Mitarbeiter dadurch seinen Arbeitsplatz verloren hat und daß wir nun mit weniger als der Hälfte der Kosten auskommen.

Die Wiedervereinigung von Menschen mit und ohne Behinderung ist erst real, wenn sie auch den Arbeitsbereich und damit die Wirtschaft erreicht hat. In Gütersloh arbeitet ein Großteil der Patienten mittlerweile in Selbsthilfe-Unternehmen, die von Sozialarbeitern und Krankenschwestern gegründet worden sind. Dabei sind rund 100 Vollzeit- und 200 TeilzeitArbeitsplätze geschaffen worden, so daß das Problem der Arbeitslosigkeit chronisch psychisch Kranker im Raum Gütersloh weitgehend behoben ist.

Hundertfünfzig Jahre lang gab es für chronisch psychisch Kranke und geistig Behinderte praktisch nur die stationäre Versorgungsform. Das Projekt der Moderne bestand wesentlich in der Umstellung von der Subsistenzwirtschaft auf die marktwirtschaftliche Industriegesellschaft. Wichtiger Bestandteil dieses Projektes war die Ausgrenzung der verschiedenen Gruppen der chronisch Kranken, Behinderten, störenden oder leistungsunfähigen Menschen in flächendeckende Systeme sozialer Institutionen, schon um die Familien von ihnen zu entlasten, damit die leistungsfähigen Mitglieder dieser Familien weitgehend dem Wirtschaftsprozeß zur Verfügung stehen konnten. Mit dieser Antwort auf die soziale Frage, was man mit überflüssigen Menschen machen soll, waren alle zufrieden. Erst nach 1945 kam es zu einem weltweiten Erschrecken darüber, was man auf diese Weise den Insassen der Institutionen angetan habe verdichtet in dem Begriff »totale Institution«. Seitdem gibt es den Versuch, nicht mit immer mehr, sondern mit immer weniger Institution auszukommen, obwohl dies zunächst der ökonomischen und industriellen Vernunft entgegenlief. Diese globale Bewegung der De-Institutionalisierung ist in ihren tiefgreifenden Wurzeln durchaus verwandt mit der Bewegung der Entkolonisierung und der Bewegung des ökologischen Kampfes gegen die Ausbeutung der Natur. In den 80er Jahren gab es in der Bundesrepublik mit dem »betreuten Wohnen« erstmals das finanzielle Instrument für ambulante Betreuung und in den 90er Jahren die weiteren Instrumente der ambulanten Pflege.

Dieser Prozeß wird weitergehen. Wir werden immer weniger Krankenhausbetten und immer weniger Heimplätze haben, immer weniger Fremdhilfe, immer weniger Professionalität im sozialen Bereich und immer weniger Sicherheit durch Ausgrenzung von Risikogruppen:

  • Ins Krankenhaus zu gehen verliert immer mehr an Attraktivität in der Bevölkerung. Dem entspricht, daß die Krankenhaustechnik immer kleinräumiger und mobiler wird und ins Haus gebracht werden kann. So wird das Bett allmählich zur unsichersten Ressource des Krankenhauses, entsprechend dem Slogan »Das Krankenhaus der Zukunft ist das Krankenhaus ohne Adresse«.

  • Wenn auch schon in der Vergangenheit niemand, wenn er die Wahl hatte, wirklich freiwillig in ein Heim gegangen ist, so heute erst recht nicht. Die Heimträger tun gut daran, sich in Dienstleistungszentren für die Organisation ambulanter Hilfen in einer Region umzuwandeln.

  • Die immer umfassendere Entlastung der Familie im Dienste der Ökonomisierung des Sozialen hat zum Verlust an sozialer Funktion, Glaubwürdigkeit und Autorität der Familie geführt. Heute jedoch zeigt sich, daß die Familie als Institution beim besten Willen nicht auszurotten ist. Die hinreichend großzügige Ausstattung der Familien mit finanziellen Mitteln könnte im Verein mit professioneller Beratung zu einem für alle akzeptablen Kompromiß zwischen sozialer Tragfähigkeit für früher ausgegrenzte Personen und Individualbedürfnissen aller Familienmitglieder führen. Zumindest tun alle Heimträger gut daran, sich zunehmend familienentlastende Dienste zuzulegen, die in Zukunft freilich eher familienbelastende Dienste heißen müßten.

  • Die kaum zu stoppende Dynamik der Individualisierung hat schon längst zu einer Abneigung gegenüber jeder Fremdhilfe geführt. Inzwischen haben praktisch alle Gruppen chronisch Erkrankter und Behinderter sich in Selbsthilfeinitiativen organisiert, was sich sowohl auf der individuellen Ebene wechselseitiger Hilfen als auch auf der Ebene des politischen Kampfes für die eigenen Interessen auswirkt.

  • Da die flächendeckende Versorgung aller sozialen Problemfälle durch Professionalisierung immer weniger bezahlbar sein wird, ist die Entwicklung - wahrscheinlich, daß in Zukunft nur noch wenige hoch professionalisierte Kräfte zusammen mit »unausgebildeten«, aber sozial engagierten Bürgern die zunehmend auf der Straße liegenden sozialen Probleme aufgreifen werden. Das ist die realistische Perspektive für das, was heute schon - wenn auch überwiegend erst auf ideologischer Ebene - sich mit Begriffen wie Bürgergesellschaft, Zivilgesellschaft oder Verantwortungsgesellschaft abzeichnet. In der Stadt Gütersloh, die europaweit besonders dicht mit chronisch psychisch Kranken und schwierigen, verhaltensauffälligen geistig Behinderten besiedelt sein dürfte, ist es jetzt schon so, daß die Schultern der Bürger mehr als die Schultern der Profis tragen. Hier liegt übrigens eine besondere Zukunftschance für Kirche und Diakonie. Das »Schisma« des 19. Jahrhunderts hat die Kirche arbeitsteilig gespalten in die Gemeinde mit ihrer Zuwendung zu Gott und die Diakonie mit ihrer Zuwendung zum anderen Menschen. Die Gemeinde stirbt physisch aus, während die Diakonie sich auf technische Professionalität reduziert und dadurch von anderen Anbietern kaum noch unterscheidbar ist. Dabei lehrt eigentlich schon das Alte Testament, daß Gott nur durch den anderen Menschen erfahrbar ist. Die Wiedervereinigung von Gemeinde und Diakonie auf kommunaler Ebene würde allen übrigen gesellschaftlichen Trends entsprechen und eine faszinierende Chance für eine wieder zum Leben erwachte Kirche sein.

  • Schon in der Vergangenheit hat die institutionelle Ausgrenzung potentiell gefährdeter oder gefährlicher Menschen die Sicherheit der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu garantieren vermocht. Der nicht zu stoppende Trend der De-Institutionalisierung führt zunehmend dahin, daß diese Menschen unter uns und mit uns leben, was im selben Maße bedeutet, Sicherheit statt durch Mauern durch zwischenmenschliche Beziehungen zu ersetzen.

Die Logik des ökonomischen Systems lautet: »Investieren, wo es sich am meisten lohnt.« Dem muß eine Ethik des sozialen Systems entgegenstehen: »Investieren, wo es sich am wenigsten lohnt.« Der entsprechende Imperativ lautet: Handle so, daß du in deinem Verantwortungsbereich mit dem Einsatz all deiner Ressourcen an Hörfähigkeit, Aufmerksamkeit und Liebe, aber auch Manpower und Zeit immer beim jeweils Schwächsten beginnst - bei dem, bei dem es sich am wenigsten lohnt.

Prof. Dr. Dr: Klaus Dörner ist Psychiater und war lange Jahre Leiter des Landeskrankenhauses Gütersloh

Quelle:

Klaus Dörner: Gegen die Schutzhaft der Nächstenliebe - Umgang mit Kranken und Behinderten

Erschienen in: Publik-Forum; Zeitung kritischer Christen, Oberursel, Ausgabe Nr. 15/1999.

Homepage: http://www.publik-forum.de

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Stand: 24.08.2005

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