Alternativen zur Freiheitsbeschränkung in Behinderteneinrichtungen aus Sicht von sonder- und heilpädagogischen Sachverständigen

Autor:in - Maritta Gsenger
Themenbereiche: Recht, Lebensraum
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie; eingereicht bei bei ao. Univ.-Prof. Dr. Volker Schönwiese, Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Copyright: © Maritta Gsenger 2009

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

Den Impuls für die Auseinandersetzung mit der Thematik Freiheitsbeschränkungen in Behinderteneinrichtungen bekam ich im Rahmen einer Lehrveranstaltung von Frau Mag.a Petra Flieger. Dort wurde die Wichtigkeit und Dringlichkeit von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung betont und nach dem Literaturstudium hat mich dieses Thema gefesselt und nicht mehr losgelassen. Aufgrund meiner eigenen Erfahrung als Tätige im Behindertenbereich weiß ich, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Institutionen verwendet werden, und ich kenne auch die Schwierigkeiten und Probleme im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Das war dann auch der Grund, warum ich mich für dieses Diplomarbeitsthema entschieden habe: einerseits um Ursachen herauszufinden, warum es überhaupt zu Freiheitsbeschränkungen kommt, und andererseits die eindringliche Aufforderung, sich intensiver mit pädagogischen Alternativen in Behinderteneinrichtungen auseinanderzusetzen.

Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich Rahmenbedingungen, Maßnahmen, Methoden, Fähigkeiten und Voraussetzungen aufzeigen, die bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung von Bedeutung sind. Es geht mir um die allgemeine Auseinandersetzung mit der Problematik und was in der Behindertenarbeit, aber auch auf wissenschaftlicher Ebene notwendig ist, damit in Zukunft freiheitsbeschränkende Maßnahmen bis auf ein unverzichtbares Maß verringert werden können. Das Ziel und der Zweck meiner Arbeit ist das Aufzeigen von förderlichen Gegebenheiten, die vorhanden sein müssen, damit pädagogische Alternativen zur Freiheitsbeschränkung überhaupt erfolgreich sein können. Auch durch die Interviews mit den Gutachterinnen konnten alternative Möglichkeiten zur Freiheitsbeschränkung in der Betreuung von Menschen mit Behinderung dargestellt werden. Alternativen zur Freiheitsbeschränkung sind notwendig und sehr lohnenswert und es gibt immer gelindere Mittel zu freiheitsberaubenden Maßnahmen von behinderten Menschen.

Besonderen Dank möchte ich meinen FreundInnen, meinen Eltern und meinem Bruder aussprechen. Sie haben mich in den letzten Monaten mit viel Geduld begleitet und immer wieder durch unterschiedlichste Art und Weise motiviert und unterstützt. Sie haben mir Kraft und Mut für die letzte Phase meines Studiums gegeben. An dieser Stelle möchte ich mich nochmals recht herzlich bei meinen Eltern bedanken, denn nur durch ihre Großzügigkeit und liebevolle Unterstützung konnte ich mir den Wunsch vom Studium in Innsbruck erfüllen.

Weiterer Dank gilt auch Frau Mag.a Flieger für ihre Bemühungen und Betreuung während der Entstehung der vorliegenden Diplomarbeit. Sie hat meine Texte immer wieder gelesen, korrigiert und kommentiert und Hilfestellung gegeben, wo es nötig war. Durch ihr Engagement hat sie einen Großteil zum Gelingen meiner Abschlussarbeit beigetragen.

Dann möchte ich mich noch bei meinen Interviewpartnerinnen für die interessanten Gespräche bedanken und dass sie sich die Zeit für die aufwendigen Interviews genommen haben. Zuletzt möchte ich auch noch meine Dankesworte an die Bewohnervertretung Tirol und Wien aussprechen für die elektronische Zusendung von Kontaktlisten und Literaturtipps.

1 EINLEITUNG

Im Zuge des Heimaufenthaltsgesetzes, welches am 1. Juli 2005 in Österreich in Kraft getreten ist und die gesetzliche Stellung von Menschen mit Behinderung und deren Personal in Einrichtungen regelt, setzte sich in der Behindertenpädagogik die Diskussion über Alternativen zur Freiheitsbeschränkung in Gang. Durch das neue Gesetz werden die Persönlichkeitsrechte jedes und jeder Einzelnen geschützt, aber auch das Personal erhält den notwendigen gesetzlichen Rahmen für seine Arbeit. Trotzdem werden freiheitsentziehende Maßnahmen in Behinderteneinrichtungen nach wie vor angewandt, weshalb die Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung uner lässlich ist.

Im ersten Abschnitt meiner Arbeit wird das Heimaufenthaltsgesetz kurz dargestellt, um die Ausgangslage für das Thema aufzuzeigen. Ebenfalls werden die Tätigkeit und Rolle von heilpädagogischen Sachverständigen in einigen Worten beschrieben.

Im nächsten Abschnitt findet eine genauere Auseinandersetzung mit den Ursachen und Formen von Freiheitsbeschränkungen in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung statt. Weiters sollen die Fragen geklärt werden, warum pädagogisches Personal freiheitsbeschränkende Maßnahmen in der Betreuung verwendet und wie damit im Betreuungsalltag umgegangen wird. Das letzte Kapitel dieses Abschnitts widmet sich der allgemeinen Auseinandersetzung mit den pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung.

Im darauffolgenden Abschnitt wird die von Wolfgang Jantzen entwickelte rehistorisierende Diagnostik als mögliche Vorgehensweise bei der Auseinandersetzung mit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung beschrieben - beginnend mit einem kurzen Einstiegskapitel zur Syndromanalyse und romantischen Wissenschaft, denn Jantzen bezieht sich auf die Lehre von A. R. Lurija, wenn er von einer verstehenden Diagnostik spricht.

Der zweite Teil stellt die empirische Untersuchung mit Verwendung von mehreren qualitativen Interviews mit Gutachterinnen, die im Zuge des Heimaufenthaltsgesetzes in Österreich arbeiten, dar. Die Auseinandersetzung mit der qualitativen Sozialforschung sowie den Methoden und Ergebnissen meiner eigenen empirischen Arbeit ergibt den letzten Teil meiner vorliegenden Arbeit.

Abgerundet wird diese Diplomarbeit mit meinen eigenen Gedanken zum Thema und einem persönlichen Resümee zur intensiven Auseinandersetzung mit den pädagogi schen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung.

THEORETISCHER TEIL

2 DARSTELLUNG DES HEIMAUFENTHALTSGESETZES

Am 1. Juli 2005 trat in Österreich das Heimaufenthaltsgesetz[1] in Kraft. BewohnervertreterInnen sorgen seither durch ihre Arbeit für eine bessere Lebensqualität von Menschen, die in Pflege-, Betreuungseinrichtungen und Krankenanstalten leben. "Das neue Gesetz hat zwei zentrale Ziele: Den Schutz der Persönlichkeitsrechte von BewohnerInnen in Pflege- und Betreuungseinrichtungen sowie die Unterstützung der dort arbeitenden Menschen", so die Fachbereichsleiterin der Bewohnervertretung im Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft[2] Mag.a Susanne Jaquemar (Verein für Sachwalterschaft 2005, im Internet).

Im HeimAufG ist genau geregelt, wie die Dokumentation, Meldung und Überprüfung von Freiheitseinschränkungen gehandhabt werden muss. In der Vergangenheit befanden sich MitarbeiterInnen von Pflege- und Betreuungseinrichtungen zwischen einer strafrechtlichen Ausübung der Arbeit und der Einhaltung der Sorgfaltspflicht gegenüber den KlientInnen. Das HeimAufG brachte also eine deutlich bessere rechtliche Stellung für BewohnerInnen, aber auch Sicherheit für das Personal. Die Ziele und Absichten der Gesetzgebung sind klar zu erkennen. Einerseits geht es um die Beseitigung der sogenannten "Grauzone", genaue Voraussetzungen, ab wann eine Freiheitsbeschränkung gerechtfertigt ist, eine Verbesserung der Lebensbedingungen von BewohnerInnen und natürlich um die Reduktion auf ein unverzichtbares Mindestmaß an freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in Pflege- und Betreuungseinrichtungen (vgl. ebd.).

Durch die Arbeit der neuen Instanz der Bewohnervertretung, die für die Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung zuständig ist, und das HeimAufG kam es zu einem Umdenkprozess und intensiven Auseinandersetzungen über Betreuung, Pflege, Lebensqualität und Bewegungsfreiheit von Menschen, die in Pflege- und Betreuungseinrichtungen leben. Doch laut VSP werden pro Monat immer noch circa 2400 neue freiheitsbeschränkende Maßnahmen gemeldet (vgl. Verein für Sachwalterschaft 2006, im Internet).

Das HeimAufG gilt österreichweit für insgesamt 1453 Einrichtungen mit 128.295 Plätzen (Stand 30.4.2004) (vgl. Schlaffer 2005, S. 5). Die 52 BewohnervertreterInnen, die in acht Bundesländern für 107 Bezirksgerichte aktiv sind, meldeten 2007/08 23.854 aufrechte Freiheitsbeschränkungen und Freiheitseinschränkungen (vgl. Schlaffer 2008, S. 17).

Die UN-Menschenrechtskonvent ion über die Rechte von Menschen mit Behinderung festigt nicht nur Ansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe, sondern weist auch auf die gleiche Anerkennung vor Gericht hin. "States Parties reaffirm that persons with disabilities have the right to recognition everywhere as persons before the law" (United Nations 2006, S. 9). Wie alle anderen haben selbstverständlich auch Menschen mit Behinderung das Recht auf Freiheit und Sicherheit. In allen Vertragsstaaten, unter anderem auch in Österreich, gelten freiheitsentziehende Maßnahmen als rechtswidrig und sind demnach ein Verstoß gegen die Menschenrechte, sofern bei einer Verhandlung im Zuge des HeimAufG keine Zulässigkeitserklärung durch den/die RichterIn erfolgt. Menschen mit Behinderung "are not deprived of their liberty unlawfully or arbitrarily, and that any deprivation of liberty is in conformity with the law, and that the existence of a disability shall in no case justify a deprivation of liberty" (ebd., S. 10). Gleichberechtigung vor Gericht und die Gewährleistung von angemessenen Prozessvorkehrungen sollen gegeben sein (vgl. ebd.).

Auf den folgenden Seiten werden nun die wichtigsten Aspekte des HeimAufG, eine ausführliche Definition von Freiheitsbeschränkung und deren Formen und abschließend die Rolle der heilpädagogischen Sachverständigen genauer dargestellt.

2.1 Allgemeine Bestimmungen des HeimAufG

2.1.1 Schutz der persönlichen Freiheit

"§ 1. (1) Die persönliche Freiheit von Menschen, die aufgrund des Alters, einer Behinderung oder einer Krankheit der Pflege oder Betreuung bedürfen, ist besonders zu schützen. Ihre Menschenwürde ist unter allen Umständen zu achten und zu wahren. Die mit der Pflege oder Betreuung betrauten Menschen sind zu diesem Zweck besonders zu unterstützen." (BGBI. 2004 Abschni tt 1 § 1)

Risikobereitschaft, Flexibilität und die Kommunikationsstruktur sind wesentliche Kriterien, die mit der Häufigkeit der Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen und somit auch mit dem Ausmaß von persönlicher Freiheit zusammenhängen. Die Umgangsform mit Menschen mit Behinderung in Einrichtungen hängt immer vom Personal ab und davon, wie die Betreuung in der täglichen Arbeit umgesetzt wird. Durch ein äußeres Regulativ - in diesem Fall sind es die BewohnervertreterInnen - kann eine andere Sichtweise im Hinblick auf die Beurteilung von Maßnahmen in Einrichtungen garantiert werden. Die drei Kriterien von Freiheit sind einerseits die Risikobereitschaft der Leitungsebene. Das bedeutet, je höher die Risikobereitschaft ist, desto mehr Freiheit haben die betreuten Personen. Wenn die handelnden Personen flexibel sind, können sie offener im Finden von alternativen Handlungsweisen sein und umso mehr Freiheit haben die BewohnerInnen. Auch eine gute Kommunikationsstruktur in einer Einrichtung trägt zum Verzicht auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen bei (vgl. ÖKSA 2005, S. 28f ).

2.1.2 Anwendungsbereich des HeimAufG

"§ 2. (1) Dieses Bundesgesetz regelt allein die Voraussetzungen und die Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen, Behindertenheimen sowie in anderen Einrichtungen, in denen wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepflegt werden können. In Krankenanstalten ist dieses Bundesgesetz nur auf Personen anzuwenden, die dort wegen ihrer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung der ständigen Pflege oder Betreuung bedürfen." (BGBI. 2004/11 Abschnitt 1 § 2)

Demzufolge gilt das HeimAufG für Pflege- und Betreuungseinrichtungen alter und behinderter Menschen im psychosozialen Bereich und in Krankenanstalten, sofern dort psychisch kranke PatientInnen und Menschen mit einer sogenannten gei stigen Behinderung Pflege und Betreuung benötigen. Wird eine Person von Familienmitgliedern, mobilen Diensten oder einer familienähnlichen Wohngemeinschaft betreut und gepflegt, unterliegt sie nicht dem HeimAufG (vgl. ÖKSA 2005, S. 11).

2.1.3 Definition von Freiheitsbeschränkung und Formen

"§ 3. (1) Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Gesetzes liegt vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (im Folgenden Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesonder e durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird.

(2) Eine Freiheitsbeschränkung liegt nicht vor, wenn der einsichts- und urteilsfähige Bewohner einer Unterbindung der Ortsveränderung, insbesondere im Rahmen eines Vertrages über die ärztliche Behandlung, zugestimmt hat." (BGBI. 2004/11 Abschni tt 1 § 3)

Laut diesem Gesetz liegt eine Freiheitsbeschränkung nur dann vor, wenn es einer Person nicht möglich ist, ihren Aufenthaltsort nach freiem Willen zu verändern. Ist die Bewegungsfreiheit einer Person auf einen bestimmten räumlich begrenzten Bereich beschränkt, dann handelt es sich ohne Zweifel um eine Freiheitsbeschränkung. Jedoch ist zu beachten, dass keine Freiheitsbeschränkung vorliegt, wenn eine Person gewisse Areale oder Räume nicht betreten kann (das ist eine sogenannte "negative Konfinierung") (vgl. ÖKSA 2005, S. 11).

Physische Mittel, welche im Gesetz beispielhaft erwähnt werden und die eine persönliche Ortsveränderung unmöglich machen, sind mechanische, elektronische und medikamentöse Maßnahmen. Das Ziel kann sein, dass der/die BewohnerIn durch unmittelbare körperliche Zugriffe zurückgehalten wird. "Beispiele hierfür sind etwa die Anbringung eines Steckgitters am Bett, das Vorstellen eines Sessels oder Tisches, die Entfernung einer Gehhilfe, die Verhinderung des Aufstehens aus dem Rollstuhl oder einer anderen Sitzgelegenheit mittels eines Fixiergurts, einer ‚Fixierhose' oder eines Leintuchs oder das körperliche Festhalten. Aber auch das Einschließen des Betroffenen in einem Raum oder in einer Abteilung fällt unter diese Kategorie" (Barth 2005, S. 37). Weitere Maßnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit sind, wenn das Gebäude nicht verlassen werden kann aufgrund versperrter Türen, Alarmchips oder des Zurückholens durch das Personal (vgl. Schlaffer 2005, S. 6).

Von einer Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel kann erst gesprochen werden, wenn der Bewegungsdrang einer Person unmittelbar durch die Behandlung unterbunden wird. Eine medikamentöse Freiheitsbeschränkung liegt nicht vor, wenn sich unvermeidliche bewegungsdämpfende Nebenwirkungen aufgrund eines therapeutischen Ziels ergeben.

Werden sogenannte "Induktionsschleifen" oder "Skorpione" verwendet, kann es sich um eine Freiheitsbeschränkung durch elektronische Überwachungsmaßnahmen handeln. Ausschlaggebend ist, ob die Person "zurückgeholt" wird, sobald sie den Alarm auslöst. Auch rein bauliche Maßnahmen können die persönliche Bewegungsfreiheit eingrenzen, wie zum Beispiel ein "Labyrinth" zur Lenkung dementer BewohnerInnen, eine unvorteilhafte Gestaltung der Station oder Türen, die schwer zu bedienen sind, bzw. komplizierte Türöffnungsmechani smen (vgl. Barth 2005, S. 37 ).

Weiters wird eine Freiheitsbeschränkung unabhängig vom räumlichen und zeitlichen Umfang der Maßnahme als solche qualifiziert, wenn eine Person ans Bett oder an den Rollstuhl angegurtet oder fixiert ist, sie in ihrem Zimmer eingesperrt ist und das Verlassen der Institution, Station oder des Stockwerks unmöglich ist. Hierbei handelt es sich um eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit, wobei die Dauer irrelevant ist (vgl. Schlaffer 2005, S. 8). Wird während der Nachtzeit die Stationstür versperrt, handelt es sich um keine Bewegungseinschränkung, sondern um eine "allgemeine Vorsichtsmaßnahme zur Verhinderung des unkontrollierten Ein- und Ausgangs" (Barth 2005, S. 37).

Bereits die Androhung psychischer Mittel, dass der/die Betroffene denkt, den Aufenthaltsort nicht verlassen zu können, ist schon eine Freiheitsbeschränkung im Sinne des Gesetzes (vgl. ebd.).

Die Voraussetzung dafür, dass eine Person in ihrer Freiheit eingeschränkt werden kann, ist nur dann gegeben, wenn sie die Möglichkeit zur körperlichen Bewegung und Ortsveränderung hat. Im Sinne des HeimAufG ist also ein im Koma liegender Mensch nicht Objekt einer Freiheitsbeschränkung. Das bedeutet, die Möglichkeit zur willkürlichen körperlichen Bewegung muss bestehen. "Diese Einwilligung muss ernstlich und frei von Zwang und Irrtum erteilt werden" (Schlaffer 2005, S. 10) .

Wie bereits erwähnt liegt keine Freiheitsbeschränkung vor, wenn der/die einsichts- und urteilsfähige BewohnerIn die Unmöglichkeit der Ortsveränderung gestattet. Jedoch muss der/die zu Betreuende geistig dazu in der Lage sein, die Wirksamkeit, Tragweite und Situation seines/ihres Einverständnisses zu begreifen. Die Einwilligung kann immer aufgehoben werden und gilt nicht für alle denkbaren Situationen ohne zeitlichen Rahmen. Wird eine Freiheitsbeschränkung mit dem Willen der jeweiligen einsichtsfähigen BewohnerInnen vorgenommen, muss dies dokumentiert (Grund, Art, Beginn, Dauer etc.) und die Einrichtungsleitung, Bewohnervertretung und Vertrauensperson müssen unverzüglich verständigt werden (vgl. ÖKSA 2005, S. 13) .

2.2 Voraussetzungen für eine Freiheitsbeschränkung

Eine Freiheitsbeschränkung darf nur vorgenommen werden, wenn die folgenden Zulässigkeitskriterien vorliegen:

  • Psychische Krankheit oder eine sogenannte geistige Behinderung des/der Betroffenen

  • Selbst- oder Fremdgefährdung

  • Verhältnismäßigkeit

  • Freiheitsbeschränkung muss unerl ässlich und geeignet sein

  • Keine lindernde oder pädagogisch sinnvollere Alternative existiert oder ist entwickelbar

  • Anordnung der freiheitsbeschränkenden Maßnahme durch eine anordnungsbefugte Per son (vgl. ÖKSA 2005, S. 67)

Wie bereits oben erwähnt darf eine Freiheitsbeschränkung gemäß § 4 Z 1 HeimAufG nur zur Anwendung kommen, wenn "der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben und die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet" (Barth et al. 2006, S. 4). Die Gefahr muss konkret und aktuell sein. Die bloße Vermutung, dass sich der/die BewohnerIn ernstlich selbst oder andere verletzten könnte, reicht für eine freiheitsbeschränkende Maßnahme nicht aus. Unter einer erheblichen Gefährdung werden Gesundheitsschädigungen von mehr als 24-stündiger Dauer, Knochenbrüche oder Gehirnerschütterung verstanden (vgl. Barth 2005, S. 38).

Die Verhältnismäßigkeit der Freiheitsbeschränkung zur Gefahrenabwehr muss unerlässlich und geeignet sein. Die Dauer und Intensität müssen im Verhältnis zur Gefahr tragbar sein. Eine Freiheitsbeschränkung gemäß § 4 Z 3 darf nur dann an Personen vorgenommen werden, wenn die Gefahr nicht durch andere Maßnahmen reduziert werden kann. "Mit diesem Grundsatz der Subsidiarität wird zum Ausdruck gemacht, dass die Freiheitsbeschränkung nur als letztes Mittel in Frage kommt, also wenn dem Bewohner nicht mehr auf andere Weise geholfen werden kann, somit der mit seiner Krankheit verbundenen Gefahr nicht auf andere Weise als durch die Freiheitsbeschränkung entgegengewirkt werden kann" (ebd. S. 38).

Gemäß § 5 des HeimAufG darf nur eine dazu befugte Person oder deren VertreterIn eine Freiheitsbeschränkung anordnen. In den meisten Fällen ordnet ein Arzt/eine Ärztin (z.B. AllgemeinmedizinerIn oder Facharzt/Fachärztin für Psychiatrie) die Freiheitsbeschränkung an. Bezüglich der Vornahme bei kurzen oder einmaligen Freiheitsbeschränkungen gibt es Ausnahmen. Anordnungsbefugte Personen sind in diesem Fall die Pflegeleitung, eine diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegeperson oder die pädagogische Leitung (vgl. Schlaffer 2005, S. 10f ).

Eine freiheitsentziehende Maßnahme muss selbstverständlich durch die MitarbeiterInnen der Einrichtung ordnungsgemäß dokumentiert werden. "Der Grund, die Art, der Beginn und die Dauer der Freiheitsbeschränkung sind schriftlich zu dokumentieren. Ärztliche Zeugnisse und der Nachweis über die notwendigen Verständigungen sind diesen Aufzeichnungen anzuschließen" (BGBI. I 2004/11 Abschnitt 2 § 6). Um die Dokumentations- und Meldepflichten zu erleichtern, wurde diesbezüglich vom Bewohnervertretungsverein in Zusammenarbeit mit dem Dachverband Österreichischer HeimleiterInnen ein Formular entwickelt. Durch dieses Ausfüllblatt kann die Vornahme einer Freiheitsbeschränkung/-einschränkung, die Aufhebung einer Freiheitsbeschränkung oder die Verlängerung einer Freiheitsbeschränkung gemäß § 19 dokumentiert und gemeldet werden (vgl. Schlaffer 2005, S. 11, 24f).

Gemäß § 7 des HeimAufG hat die anordnungsbefugte Person dem/der BewohnerIn gegenüber geeignete Aufklärungsarbeit über den Grund, die Art, den Beginn und die vermutliche Dauer der freiheitsbeschränkenden Maßnahme zu leisten. Die Form ist dabei nicht entscheidend. Ein Gespräch reicht vollkommen aus, jedoch muss der/die BewohnerIn den Inhalt und das Gespräch an sich verstehen können. Zudem muss jede Freiheitsbeschränkung, deren Aufhebung oder Einwilligung des Bewohners/der Bewohnerin dazu prompt der Leitung der Einrichtung mitgeteilt werden (vgl. Barth 2005).

2.3 (Bewohner-)Vertretung

Gemäß § 8 hat der/die BewohnerIn die Möglichkeit, eine/n selbst gewählte/n VertreterIn - nahe Angehörige, Rechtsanwälte/-anwältinnen oder Notare/Notarinnen - bei der Berücksichtigung seines/ihres Rechts auf persönliche Freiheit zu bestimmen. Damit Personen als BewohnervertreterInnen arbeiten können, wird vorausgesetzt, dass sie vom Heim unabhängig sind. Kann der/die BewohnerIn aufgrund seines/ihres Geisteszustands keine/n selbst gewählte/n VertreterIn beauftragen, erfordert es zu diesem Zweck die Zustimmung eines Sachwalters/einer Sachwalterin (vgl. ÖKSA 2005, S. 17ff).

Die selbst gewählten VertreterInnen und die BewohnervertreterInnen sind gemäß § 9 des HeimAufG zu folgenden Punkten berechtigt und verpflichtet:

  • Unangemeldete Besuche in der Einrichtung

  • Verschaffen persönlicher Eindrücke von den BewohnerInnen

  • Besprechung der Voraussetzungen für freiheitsbeschränkende Maßnahmen mit dem Personal und der anordnungsbefugten Person der Institution

  • Befragung der Interessensvertretung oder KlientInnen der Einrichtung

  • Einsicht in die Pflegedokumentati on, die Krankengeschichte und andere Aufzeichnungen über die BewohnerInnen (vgl. ÖKSA 2005, S. 19)

"Der Bewohnervertreter ist zum einen Vertreter einer Institution, deren Aufgabe es ist, die Rechte der individuellen Bewohner wahrzunehmen, die dazu nicht oder nur bedingt in der Lage sind - so gesehen ist der Vergleich mit der Rolle eines Sachwalters nicht unplausibel. Auf der anderen Seite ist er zugleich in einer Position, in der er die Lebenswelt der Bewohner insgesamt im Auge hat, wenn er etwa auf die Problematik bestimmter, freiheitsbeschränkende Wirkung entfaltender baulicher Maßnahmen hinweist, die nicht nur einen individuellen Bewohner, sondern alle betrifft, die auf einer Station leben" (Hofinger et al. 2007, S. 48).

Die Aufgabe der Bewohnervertretung ist demzufolge die Hinterfragung, ob die verwendete freiheitsbeschränkende Maßnahme angemessen und gerechtfertigt ist. Durch den persönlichen Kontakt und Besuche in der Einrichtung bekommt der/die BewohnervertreterIn einen Eindruck, ob es alternative Wege in der Betreuung des betroffenen Menschen mit Behinderung gibt und ob deshalb ein gerichtliches Kontrollverfahren notwendi g ist oder nicht (vgl. Schlaffer 2005, S. 13).

Laut § 10 des HeimAufG hat die Bewohnervertretung dem/der BewohnerIn die geplanten Vertretungshandlungen und andere bedeutsame Angelegenheiten in einer angemessenen Form mitzuteilen. Dies soll bestmöglich den Anliegen der BewohnerInnen gleichkommen, soweit die Handlung zumutbar und nicht nachteilig ist. Außerdem ist der/die gesetzliche VertreterIn zur Verschwiegenheit verpflichtet. Diese Geheimhaltung besteht jedoch nicht gegenüber dem Gericht, dem Verein, dem/der VertreterIn und der Vertrauensperson des Bewohners/der Bewohnerin und diversen Behörden (vgl. ÖKSA 2005, S. 20) .

2.4 Gerichtliche Überprüfung

Gemäß § 11 des HeimAufG ist das zuständige Bezirksgericht mit der Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung beauftragt. Eine gerichtliche Kontrolle kann nur der/die BewohnerIn, sein/e oder ihr/e VertreterIn oder Vertrauensperson oder der/die EinrichtungsleiterIn beantragen. Folglich entscheidet der/die RichterIn, ob eine freiheitsbeschränkende Maßnahme als zulässig oder unzulässig erklärt wird (vgl. BGBI. I 2004/11 Abschnitt 4 §11). Das Gericht hat ab der Bekanntgabe des Ansuchens auf gerichtliche Überprüfung sieben Tage Zeit, sich ein Bild von der Situation vor Ort zu verschaffen und Gespräche mit dem/der BewohnerIn und dem Personal zu führen, und letztlich verfasst der/die herangezogene Sachverständige ein Gutachten. Dieses wird im Kapitel über die Rolle und Tätigkeit von Sachver ständigen noch genauer dar gestellt.

Im Rahmen dieser Anhörung sind alle relevanten Informationen zu sammeln und alle beteiligten Personen zu befragen. Hierzu kann auch ein/e GutachterIn bestellt werden. Je nach Sachlage kommen diverse ExpertInnen infrage: "Fachärzte für Neurologie oder Psychiatrie, wenn es um die Frage des Vorliegens einer psychischen Behinderung oder geistigen Krankheit geht, Ärzte anderer Fachrichtungen, wenn geriatrische Probleme zur Debatte stehen, sowie Gutachter für pflegerische oder pädagogische Maßnahmen, wenn Fragen der Pflegestandards oder die Angemessenheit alternativer Maßnahmen zur Debatte stehen" (Hofinger et al. 2007, S. 88) .

Am Ende der mündlichen Verhandlung entscheidet das Gericht, ob die Freiheitsbeschränkung zulässig oder unzulässig ist. Dieser Beschluss ist gemäß § 15 zu verkünden und zu begründen und in einer geeigneten Weise dem/der BewohnerIn mitzuteilen (vgl. BGBI. I 2004/11 Abschnitt 4 § 15). Wird die Freiheitsbeschränkung für unzulässig erklärt, muss diese sofort aufgehoben werden, sobald die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind (vgl. BGBI. I 2004/11 Abschnitt 4 § 18). Falls eine freiheitsbeschränkende Maßnahme für zulässig erklärt wird, kann ein Rekursverfahren gegen diesen Beschluss von dem/der EinrichtungsleiterIn, dem betroffenen Mensch mit Behinderung, dem/der VertreterIn oder der Vertrauensperson des behinderten Menschen beantragt werden (vgl. BGBI. I 2004/11 Abschnitt 4 § 17).



[1] Heimaufenthaltsgesetz wird künftig mit "HeimAufG" abgekürzt.

[2] Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft wird künftig mit "VSP" abgekürzt.

3 ROLLE UND TÄTIGKEIT VON SACHVERSTÄNDIGEN IM BEREICH DER SONDER- UND HEILPÄDAGOGIK

Im empirischen Teil werden qualitative Interviews mit Gutachterinnen geführt. Aufgrund dieser Tatsache werden in diesem Kapitel die Aufgaben und Tätigkeitsbereiche von heilpädagogischen Sachverständigen kurz erläutert, denn laut HeimAufG sollen heilpädagogische GutachterInnen vor Ort die Zulässigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme überprüfen und im Zuge des Gutachtensprozess gemeinsam mit dem Betreuungsteam pädagogische Alternativen zur Freiheitsbeschränkung erarbeiten. Die Ergebnisse werden dann in einem Gutachtensberi cht schriftlich oder mündlich festgehalten.

Falls ein Antrag auf gerichtliche Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung seitens der Einrichtung oder Vertrauensperson des Bewohners/der Bewohnerin gestellt wird, können unabhängige Sachverständige beauftragt werden. GutachterInnen und andere VertreterInnen des Gerichts haben sich binnen sieben Tagen nach Antragseröffnung einen persönlichen Eindruck von dem betroffenen Menschen mit Behinderung und der Betreuung in der Einrichtung zu verschaffen. Die Sachverständigen haben das Recht , sich in die Krankengeschichte, die Pflegedokumentation und andere Aufzeichnungen einzulesen, um einen Überblick über die Situation zu erhalten (vgl. BGBI. I 2004/11 Abschni tt 4 § 12).

Bei der Befunderhebung soll nach Datler eine "Problemanalyse " erfolgen, die bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung sehr sin nvoll ist. Diese fünf Fragen gilt es, zu klären:

  1. "Wie ist es um das Ausmaß, die Intensität und die Art der selbst- und fremdgefährdenden Handlungen best ellt?

  2. Welche innerpsychischen Prozesse veranlassen die Bewohnerin oder den Bewohner, die selbst- oder fremdgefährdenden Handlungen zu setzen?

  3. Welchen Einfluss haben äußere Faktoren auf das Zustandekommen der selbst- oder fremdgefährdenden Handlungen?

  4. Welche Maßnahmen wurden von der Institution bislang gesetzt, um das Zustandekommen der selbst- oder fremdgefährdend en Handlungen zu lindern oder gar zu verhindern?

  5. Welche Folgen zeitigten diese Maßnahmen bislang?" (Datler & Lehner 2006, S. 61)

Durch die Beantwortung dieser Fragestellungen sollen Sachverständige und MitarbeiterInnen in den Einrichtungen analysieren, ob eine freiheitsentziehende Maßnahme notwendig ist oder ob es nicht ein gelinderes Mittel bzw. alternative Wege für die Betreuung des Menschen mit Behinderung gibt (vgl. ebd.). Demnach geht der/die Sachverständige sehr prozess- und lösungsorientiert vor und durch die Beratungstätigkeit versucht er/sie, den MitarbeiterInnen einer Einrichtung fachliche Empfehlungen und Vorschläge zu unterbreiten. Datler spricht in diesem Zusammenhang das sogenannte "diagnostische Arbeitsbündnis" zwischen Sachverständigen und Einrichtung an. Durch das gemeinsame Verstehen der Problematik und Überlegungen über die möglichen Ursachen des selbst- und fremdgefährdenden Verhaltens können im Team alternative Lösungsmöglichkeiten zur freiheitsentziehenden Maßnahme angedacht werden. Ein Vorteil dieses Arbeitsbündnisses ist einerseits, dass die Einrichtung aufgrund der Zusammenarbeit die mit entwickelten Lösungsmöglichkeiten zur Freiheitsbeschränkung mitunter leichter umsetzt. Andererseits werden den MitarbeiterInnen einer Einrichtung alternative Wege in der Betreuung von Menschen mit Behinderung aufgezeigt und die freiheitsbeschränkende Maßnahme wird nicht mehr als einzige Problemlösung wahrgenommen (vgl. ebd., S. 62f).

In Wien fand vor Einführung des HeimAufG ein Weiterbildungslehrgang mit dem Titel "Heimaufenthaltsgesetz - Pädagogische Qualifizierung potentieller Gutachter", der von der Arbeitsgruppe für Sonder- und Heilpädagogik des Instituts für Bildungswissenschaft der Universität Wien organisiert wurde, statt. Die Ziele waren die postgraduale fachliche Qualifizierung von angehenden GutachterInnen, Alternativen zur Freiheitsbeschränkung und die Sicherstellung von festgelegten Maßnahmen für ein längerfristiges Qualitätsniveau. Die Teilnahmevoraussetzungen waren ein abgeschlossenes Pädagogikstudium, Berufserfahrung und die persönliche Eignung. Der Lehrgang wurde in vier große Themenblöcke unterteilt, um sich in rechtlichen und pädagogischen Angelegenheiten zu qualifizieren - angefangen bei allgemeinen Informationen zum HeimAufG, Grundlagen zum heilpädagogischen Handeln und der Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung, über die Analyse von Fallbeispielen und die Anleitung zur Gutachtenserstellung bis hin zur Anwesenheit bei zwei Gerichtsverhandlungen. Dieser Weiterbildungskurs dauerte circa 30 Stunden und diente zur Vorbereitung auf die Tätigkeit als beeidete/r Sachverständige/r (vgl. Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien, im Internet).

Wie sich die Arbeit von Sachverständigen in der Praxis gestaltet, wird im empirischen Teil der vorliegenden Diplomarbeit näher dargestellt. Dort wird Bezug genommen auf die Rahmenbedingungen, Voraussetzungen, Methoden, Maßnahmen und so weiter, die bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung förderli ch sein können.

4 FREIHEITSBESCHRÄNKUNGEN IN WOHN- UND TAGESEINRICHTUNGEN FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNG

4.1 Ursachen und Formen von Freiheitsbeschränkungen

Obwohl die moderne Behindertenpädagogik sehr auf Selbstbestimmung, Empowerment und ein Leben nach dem "Normalisierungsprinzip" ihrer KlientInnen und weniger auf Schutz vor Gefährdungen als in der Krankenpflege ausgerichtet ist, finden Freiheitsbeschränkungen ebenfalls in Wohn- und Tageseinrichtungen für Menschen mit Behinderung Eingang. Die BewohnerInnen stoßen nicht nur auf die durch das HeimAufG definierten Freiheitsbeschränkungen, sondern auch auf alltägliche freiheitsentziehende Maßnahmen. Beispiele der sogenannten "Soft Facts" der alltäglichen professionellen Arbeit sind Einschränkungen beim Essen oder der Zwang, dass die Mahlzeit aufgegessen werden muss, obwohl der/die BewohnerIn diese nicht mag, Machtausübung seitens des Personals in der Pflege, Kleiderwahl, Bestimmung der Bettruhe oder Ausgehzeit, das Spüren-Lassen, dass der/die BetreuerIn den/die BewohnerIn nicht mag, oder das Versperren von Kästen in Küchen, Wohnzimmern und weiteres. Die Bedeutung di eser sogenannten "Soft Facts" darf keinesfalls vernachlässigt werden und sie lassen auf die inhaltliche Struktur der Einrichtung, Aus-, Fort- und Weiterbildung des Personals und die interne Kommunikation schließen. Auch wenn die alltäglichen Freiheitsbeschränkungen nicht im Gesetz verankert wurden, sind Menschen mit Behinderung und deren Personal im Betreuungsalltag mit diesen konfrontiert (vgl. ÖKSA 2005, S. 25f).

Das HeimAufG hat viele Verbesserungen für BewohnerInnen und Personal im Bereich Wohnen und Tageseinrichtungen für Menschen mit Behinderung gebracht, aber das Problem von Zwangsmaßnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit war schon Jahre vor Inkrafttreten des HeimAufG präsent. Damals kam dieser Missstand in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung kaum zur Sprache. Diskussionen über Alternativen zur Freiheitsbeschränkung wurden selten geführt. In den einzelnen Einrichtungen ließen sich allerdings klare Unterschiede in Ausmaß, Form und Begründung erkennen und gegebenenfalls wurde zu wenig Rücksicht auf die individuellen Bedürfnisse des/der Einzelnen gelegt. Das Spektrum der verwendeten Mittel reichte vom freundlichen Zurückhalten, Auf-andere-Gedanken-Bringen und Überreden bis hin zur schweren Freiheitsbeschränkung durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen an BewohnerInnen (vgl. Schlaffer 1999, S. 4).

Immer wieder genannte Ursachen von Freiheitsbeschränkungen sind "Personalknapphei t, schlechte bauliche Bedingungen, mangelnde Versorgung mit technischen Hilfsmitteln, arbeitszeitrechtliche Regelungen oder fehlende Unterstützung durch entsprechende Fachdienste" (Hofinger et al. 2007, S. 17). Diesen institutionellen Gegebenheiten kann nur entgegengewirkt werden, indem die verfügbaren Alternativen bekannt und bewusst gemacht werden. Nicht nur ausreichende finanzielle Mittel sind Voraussetzungen zur Sicherstellung der Lebensqualität, sondern auch ein Umdenkprozess in der Unterstützung und Begleitung von Menschen in der Pflege und Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung (vgl. Verein für Sachwalterschaft 2006, im Internet).

In der Personalsituation liegt sicherlich eine bedeutungsvoll e Ursache, denn Einrichtungen sind personalmäßig häufig schwach besetzt. Doch nicht immer ist die Erhöhung des Personalschlüssels die beste Lösung. Im Rahmen der Tagung "Freiheitsbeschränkungen" bei Personen mit einer geistigen Behinderung und/oder einer psychischen Erkrankung machte eine Leitende diesbezüglich eine treffende Aussage: "Die Personalerhöhung alleine bewirkt keine Veränderung im Erleben und Verhalten des/der Betreuten. Wir müssen die Philosophie bzw. das Konzept der Betreuung ändern. Die MitarbeiterInnen müssen bereit sein, das Konzept der Beziehungsarbeit mitzutragen. Die veränderte Haltung und Einstellung gegenüber der betreffenden Person sind Voraussetzung für die Veränderung und die Wiedererreichung von Freiheit" (ÖKSA 2005, S. 31). Hier werden nochmals die Wichtigkeit des Nachdenkens über Alternativen, der Offenheit gegenüber Wahlmöglichkeiten, welche nicht beschränken, und generell die Bedeutsamkeit der Biografie und die Abklärung der isolierenden Bedingungen bei der Suche nach Al ternativen deutlich gemacht.

Ursachen von Freiheitsbeschränkungen liegen auch in der Struktur einer Einrichtung bezüglich Wohneinheiten, Organisation, Umgebung, Arbeit, Stadt/Land und so weiter. Ein Beispiel für eine strukturelle Freiheitsbeschränkung ist das Verschließen der Haustür. Einrichtungen in der Stadt, welche in einer viel befahrenen Straße liegen, rechtfertigen diese als Schutzmaßnahme, während Einrichtungen am Land freier mit der Handhabung bezüglich offener Haustür umgehen können (vgl. ÖKSA 2005, S. 30).

Eine Freiheitsbeschränkung spiegelt weder die "individuelle zurechenbare Inkompetenz" des Personals noch die Befürwortung und Notwendigkeit von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen der davon betroffenen BewohnerInnen wider. Vielmehr stellt die Struktur im Pflege-, aber auch im Einrichtungsalltag ein Problem dar. Freiheitsbeschränkung wird demnach auch immer als Form der "Problemlösung" dargestellt. Es kann also angenommen werden, dass die Verhältnisse zu freiheitsbeschränkende Maßnahmen führen und nicht das Verhalten (vgl. Hofinger et al. 2007, S. 17f).

Natürlich gibt es auch den entgegengesetzt en Fall, dass das Personal die Verantwortung bei seinem Vorgesetzten abgibt und sich nicht persönlich für die Situation verantwortlich fühlt. Mit anderen Worten wird das eigene Pflichtbewusstsei n zurückgenommen und die Verantwortung wird voll und ganz einer Autorität, Gruppe oder Einrichtung zugeschrieben. Dies kann eine mögliche Ursache für Freiheitsbeschränkung im Bereich der Behindertenpädagogik sein, aber auch die Struktur, Größe und Politik der Einrichtung können denkbare Gründe darstellen. Schlechte Arbeitsbedingungen aufgrund der Einrichtungsgröße, das Fehlen von behördlicher und branchenspezifischer Kontrolle von außen und mangelende interne Unterstützung können Verunsicherungen in der pädagogischen Arbeit bedeuten. Veränderungen in den Machtverhältnissen können zu Schuldgefühlen, Verdrängung und geringem Selbstwertgefühl bei den MitarbeiterInnen führen (vgl. Jantzen 2005, S. 207f ).

Wie bereits oben erwähnt existierte das Problem der Freiheitsbeschränkung in Pflege- und Betreuungseinrichtungen schon länger und erst im Zuge des HeimAufG hat eine gesetzliche Auseinandersetzung mit diesem Thema stattgefunden. Freiheitsbeschränkungen wurden jahrelang vor Inkrafttreten des HeimAufG an BewohnerInnen durchgeführt, jedoch nicht als solche wahrgenommen bzw. fehlte die bewusste Auseinandersetzung mit dieser Problematik. Das Personal rechtfertigte eine freiheitsbeschränkende Maßnahme als Schutzmaßnahme für die zu betreuende Person. Häufiger Personalwechsel, ein Mangel an MitarbeiterInnen und die Vernachlässigung der Aufsichtspflicht führten dazu, dass keine Alternativen zur Bewegungseinschränkung gesehen wurden. Das Personal fühlte sich vor Inkrafttreten des HeimAufG mit dem Problem alleingelassen und sprach sich für eine gesetzliche Regelung aus (vgl. Schlaffer 1999, S. 8f ).

"Und wie das Gebar en der geistig Behinderten uns [...] präsentiert, so fühlen sich auch jene, die mit ihnen leben und arbeiten, zwischen den Extremen Hoffnung und Hoffnungslosi gkeit, zwischen von Euphorie getriebenem Agieren und resigniertem in Gleichgültigkeit Aufgeben zerrissen" (Niedecken 1998, S. 17). Die Arbeit mit Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung ist nicht immer einfach und pädagogisches Personal ist ständig von den Gefühlen Resignation und Gleichgültigkeit im Gegensatz zu Euphorie und Hoffnung durch gute pädagogische Arbeit etwas bewirken zu können, hin und her gerissen. Überforderung mit Situationen, die Angst, zu versagen, die Annahme der Sinnlosigkeit von Verhaltensweisen und ein Berührtsein von der Lebensgeschichte sind Angelegenheiten, mit denen sich pädagogisches Personal immer wieder auseinandersetzen muss. Gegebenenfal ls tragen diese Gefühle auch dazu bei, dass KlientInnen in Wohn- und Tageseinrichtungen durch verschiedenste Maßnahmen beschränkt werden.

Wie Menschen, die sich gerade in einer psychotischen Krise befinden, wahrgenommen werden, hängt immer vom pädagogischen Personal ab. Eine subjektiv sinnvolle Betrachtung von besonderen Verhaltensweisen trägt zum besseren Verständnis des Klienten/der Klientin bei. Krisen jeglicher Art prägen jede Lebensgesichte und können je nach Entwicklungsstufen rekonstruiert werden. Außerdem sind sie Ausdrucksmittel von äußeren, aktuellen Lebensbedingungen. Wird dies von den MitarbeiterInnen nicht bemerkt, werden "Krisen als beängstigende, störende und verrückte Ereignisse verstanden, die zeitlich begrenzt gehalten werden müssen" (Brokinkel in Jantzen 1996, S. 79). Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit bestimmen die Betreuungssituation und Ratlosigkeit blockiert essenzielle Handlungsprozesse. Ursache, Anlass und Sinnhaftigkeit verlieren dabei an Bedeutung (vgl. ebd., S. 79f).

Die Arbeit mit alten, psychisch kranken und geistig behinderten Menschen kann durchaus fordernd und risikoreich sein. WARM - SATT - SAUBER sind unter anderem die Erwartungen der Umwelt an die Pflegenden und BetreuerInnen. Schon zeichnet sich das erste Spannungsfeld zwischen Institutionen, Umwelt und Betroffenen bezüglich der optimalen Versorgung von Menschen mit einer Beeinträchtigung ab. Häufig wird auf individuelle Bedürfnisse und die Erlebniswelt der KlientInnen keine oder nur wenig Rücksicht genommen und im Pflege- und Betreuungsalltag wird nicht darauf geachtet, was der/die Betroffene eigentlich selbst will. Das zweite Dilemma ist die Abwägung zwischen dem Fundamentalrecht der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung und dem Schutzgedanke n zur Erhaltung der körperlichen Unversehrtheit. Das Personal ist somit hin und hergerissen zwischen "was ist richtig und gut" und "was will oder braucht" der/die KlientIn. Wie bereits erwähnt schützt das HeimAufG einerseits die persönliche Freiheit von Menschen, die nicht für sich selbst eintreten können. Anderseits bietet das Gesetz den gesetzlichen Rahmen für MitarbeiterInnen einer Institution zwischen einer strafbaren Handlung und der Erfüllung ihrer Sorgfaltspflicht gegenüber den KlientInnen. Natürlich wird durch das HeimAufG auch das Hinterfragen der eigenen Philosophie im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung in den Einrichtungen angeregt (vgl. Leicht 2006, S. 73). Der veraltete Pflegegrundsatz WARM - SATT - SAUBER kann mitunter eine Ursache von Freiheitsbeschränkung sein. Die Wünsche und Bedürfnisse des/der Einzelnen werden nicht oder nur zum Teil respektiert. Das Personal achtet in diesem Fall nur auf die Versorgung der Grundbedürfnisse ihrer KlientInnen und verletzt somit das Grundrecht auf per sönliche Freiheit.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich Einrichtungen ständig im Spannungsfel d von Schutz und Selbstbestimmung des/der Einzelnen befinden. Die Ursachen von Freiheitsbeschränkungen sind vielfältig und je nach Einrichtung wird anders mit diesen Maßnahmen zur Bewegungseinschränkung umgegangen. Die wichtigste Aufgabe der modernen Behindertenpädagogik ist nun, Alternativen zur Freiheitsbeschränkung zu finden.

4.2 Umgang mit Freiheitsbeschränkungen

In Taiwan wurde 2002/03 eine Untersuchung mit zwölf Krankenschwestern in drei Krankenhäusern über ihre Gefühle und Gedanken, wenn sie freiheitsbeschränkende Maßnahmen an älteren Menschen durchführen, und die Coping-Strategien, die sie diesbezüglich anwenden, gemacht. Die Forschung wurde unter dem Titel bzw. der Zielsetzung "Nurses' feelings and thoughts about using physically restraining on hospitalized older patients" durchgeführt. Auch wenn der Fokus der Untersuchung auf dem Bereich der Altenpflege liegt, ist meiner Meinung nach pädagogisches Personal im Behindertenbereich, ebenso wie Krankenpfleger und Krankenschwestern, mit den beschriebenen Gefühlen und Gedanken aus der Studie konfrontiert. "Nurses reported a variety of emotional responses regarding the use of physical restraints, including sadness, guilt, conflicts, retribution, absence of feelings, security, and pity for the restrained older people. Rationalization, sharing with colleagues, and compensating behaviours were ways that nurses used to manage their negative feelings" (Chuang & Huang 2007, S. 486). BetreuerInnen und AssistentInnen von Menschen mit Behinderung können sich genauso schuldig, traurig und gefühlslos fühlen und möglicherweise auch Mitleid mit den betroffenen Personen haben, wenn sie jemanden in seiner/ihrer Freiheit massiv einschränken. Auch die Bestrafung von besonders "schwierigen Fällen" kann immer wieder zu inneren Konflikten zwischen der Anwendung einer Freiheitsbeschränkung und dem Verstoß gegen die Menschenrechte führen. Die Studie zeigt deutlich, wie bereits oben erwähnt, dass eine Freiheitsbeschränkung nicht die Inkompetenz der MitarbeiterInnen und die Befürwortung einer solchen Maßnahme widerspiegelt. Im Gegenteil, häufig fehlen das Wissen über durchführbare Alternativen und Methoden zur Vermeidung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen sowie die Möglichkeit, kreative und einfallsreiche Handlungen zur Freiheitsbeschränkung ausprobieren zu können.

Es herrscht ständig ein innerer Kampf zwischen PatientInnen- bzw. BewohnerInnenfreiheit, Schutz des/der Einzelnen und Einhaltung der Aufsichtspflicht. "The development of evidence-based specific guidelines or protocols to support decision-making on the use or non-use of physical restraints is strongly recommended" (Chuang & Huang 2007 , S. 491).

Stellt der/die RichterIn im Gerichtsprozess fest, dass die verwendete Freiheitsbeschränkung ungerechtfertigt ist und es alternative Maßnahmen in der Betreuung von Menschen mit Behinderung gibt, dann sind Einrichtungen aufgefordert, sich den alternativen Empfehlungen und Vorschlägen der Sachverständigen anzunehmen und diese folglich auch auszuprobieren. Nach einer Gerichtsverhandlung muss sich ein Betreuungsteam womöglich mit viel Kritik von außen auseinandersetzen. Durch das selbst- oder fremdgefährdende Verhalten des Menschen mit Behinderung ist für das Personal eine freiheitsbeschränkende Maßnahme die bestmögliche Antwort auf diese beunruhigende Verhaltensweise. Gleichzeitig gibt ein Betreuungsteam zu, über keine anderen Ideen oder Handlungsweisen zu verfügen, die den behinderten Menschen nicht in seiner Freiheit einschränken. "Es ist naheliegend, dass sich ein Team nach solch einem Verhandlungsausgang gekränkt, geringgeschätzt und vielleicht sogar gedemütigt fühlt" (Datler & Lehner 2006, S. 62). Dazu kommt die Angst, wie nun mit der neuen Situation umgegangen werden soll. In gewisser Weise hat sich die freiheitsbeschränkende Maßnahme in der Betreuung unter Umständen "bewährt" und nun soll schlagartig auf diese Handhabung verzichtet werden. Teamkonflikte oder unterschiedliche Ideen zur Neuentwicklung in der Betreuung des Menschen mit Behinderung führen zu einer zusätzlichen Belastung beim Umgang mit pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung (vgl. ebd.). Aus psychoanalytischer Sicht kann ein Betreuungsteam nach einer Gerichtsverhandlung auch Gefühle des Ärgers und Neids gegenüber dem/der Sachverständigen entwickeln. Diese negativen Gefühle können sich auf die fachliche Kompetenz oder auf die einflussreiche Position des/der Sachverständigen vor Gericht beziehen. Natürlich kommt auch das Unbehagen hinzu, dass sich der/die GutachterIn über den Betreuungsalltag (kritisch) äußert, ohne dabei wirklich involviert zu sein bzw. dann auch nicht die Konsequenzen der Unzulässigkeitserklärung einer freiheitsentziehenden Maßnahme durch das Gericht mittragen muss (vgl. ebd.).

Wird die Freiheitsbeschränkung nicht nur als gesetzliches, sondern auch als moralisches Problem betrachtet, tauchen natürlich die Fragen auf, ob eine bewegungseinschränkende Maßnahme berechtigt, das heißt richtig oder falsch ist, und was die Folgen für alle Beteiligten sind. Anzumerken ist dabei, dass eine Freiheitsbeschränkung nicht grundsätzlich als unmoralisch gilt, sondern dass die Handhabung mit Freiheitsbeschränkungen als moralisches Thema begriffen wird. Unter diesem Gesichtspunkt steht das Hinterfragen der Qualität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme im Vordergrund, weiters die Bemühung, moralisch korrekt zu handeln und die Natur der Moral als solche anzuerkennen. Wenn also eine Freiheitsbeschränkung als moralisches Problem verstanden wird, dann beeinflusst diese nicht nur die betreffende Person, sondern auch deren soziales Umfeld, gesetzliche VertreterInnen, Personal und im weitesten Sinne auch die Gesellschaft. Bei der Anwendung von Freiheitsbeschränkungen müssen sich die Entscheidungsorgane schon im Voraus im Klaren sein, dass sie anderen Menschen dadurch Schaden zufügen und moralisch nicht immer korrekt handeln (vgl. Tumeinski 2005, S. 44ff).

"Not enough thought is given to, for example, the human costs of using restraint, the question of whether it really 'works', what it does to the restrained person, or how it affects the relationship between the 'restrainer' and the 'restrained'" (ebd., S. 44). Dieses Zitat soll zum Ausdruck bringen, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen zur Problemlösung kritischer Momente ausgerichtet sind, aber sicherlich nicht auf Dauer wirksam sein können. Die Entscheidung, ob eine Freiheitsbeschränkung vorgenommen werden soll oder ob es eine Alternative dazu gibt, ist gewiss nicht einfach. Trotzdem muss beim Entscheidungsprozess das Wohl des/der Betroffenen an erster Stelle stehen. Was verursacht eine Freiheitsbeschränkung und welche Gefühle kommen beim betreffenden Menschen auf? Das sind Grundsatzfragen, die bei jeder Diskussion unter Professionellen über eine geplante freiheitsbeschränke Maßnahme zu bedenken sind. "The high use of restraints in services can cause some people with mental retardation and others who are socially devalued to take out their anger and frustration caused by their being restrained on other weaker service clients" (ebd., S. 45). Eine (länger andauernde) Freiheitsbeschränkung kann demzufolge Ärger und Frustration beim Menschen mit Behinderung verursachen. Durch das körperlich und seelisch zugefügte Leid einer freiheitseinschränkenden Maßnahme können so Symptome und Verhaltensweisen besser verstanden werden und die Wichtigkeit von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung kann deutlich gemacht wer den.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Selbstreflexion und die Hinterfragung der geplanten Freiheitsbeschränkung beim Personal im Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen unerlässlich sind. Eine Freiheitsbeschränkung verletzt nicht nur die Würde des/der Einzelnen, sondern auch das Personal hat mit inneren (und äußeren) Konflikten zu kämpfen. Eine gewaltfreie Betreuung von alten, psychisch kranken und behinderten Menschen ist erstrebenswert und notwendig, außerdem die Auseinandersetzung mit Alternativen zur Vermeidung von freiheitsentziehenden Maßnahmen als bedeutungsvollste Relevanz in der pflegerischen, psychiatrischen und behindertenpädagogischen Praxis. Im nächsten Kapitel wird die Dringlichkeit dieser Thematik genauer dargestellt.

4.3 Allgemeine Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung

Eine freiheitsentziehende Maßnahme bei Menschen mit Behinderung kann nie eine angemessene pädagogische Umgangsweise sein und so sind WissenschaftlerInnen und Personal im Behindertenbereich mit der Entwicklung von pädagogischen Methoden beauftragt, um in Zukunft Freiheitsbeschränkungen jeglicher Art im Betreuungsalltag zu vermeiden. Im folgenden Kapitel werden die pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung grundsätzlich beschrieben. Es geht demzufolge um die generelle Auseinandersetzung damit, welche Maßnahmen, Methoden und Fähigkeiten für eine entwicklungsförderliche Betreuung in Behinderteneinrichtungen notwendig sind.

Wie bereits kurz angesprochen, gibt es kein allgemeingültiges Rezept darüber, wann, wie und wo Alternativen zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen verwendet werden können. Laut Leicht orientieren sich Alternativen hauptsächlich an der betroffenen Person selbst, ebenso an den Zielen und Ressourcen der Einrichtung. Damit aber Freiheitsbeschränkungen unterlassen werden können, müssen Maßnahmen zur Prävention und ein funktionierendes Risikomanagement gegeben sein. Unter Risikomanagement wird der verantwortungsvolle Umgang mit möglichen Gefahrenmomenten verstanden. Schon im Vorfeld müssen die Organisations- und Prozessebene, aber auch die individuellen Ressourcen und Möglichkeiten der eigenen Organisation unter die Lupe genommen werden, damit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung gefunden werden können. Im Rahmen einer Teambesprechung können bereits präventive Maßnahmen für konkrete Situationen der Gefährdung im Voraus durchgesprochen werden. Fragen, die es zu klären gilt, sind:

  • "Welche Ressourcen und Möglichkeiten gibt es im eigenen Bereich, um z.B. mit der Situation der Stationsflüchtigkeit, hoher Sturzgefahr und Aggression umzugehen?

  • Welche Adaptierungen müssen durchgeführt werden?

  • Welche zusätzlichen Mittel benötigt die Station?" (Leicht 2006, S. 74)

Durch diese Ressourcenerhebung entsteht ein Stufenplan, der für die MitarbeiterInnen als Orientierung und Unterstützung dienen soll. Wenn alle denkbaren Handlungsalternativen schon ausprobiert wurden, kommt die Säule der Rechtssicherheit zum Einsatz. Durch diesen Stufenplan sollen MitarbeiterInnen die Gewissheit haben, wer laut HeimAufG innerhalb der Organisation welche Verantwortung und Kompetenz übernimmt (vgl. ebd.).

Eine weitere präventive Maßnahme sind Schulungen und Fortbildungen für MitarbeiterInnen, damit sie der Zielsetzung der Einrichtung, aber auch den Bedürfnissen und Inter essen der KlientInnen nachkommen können. Auch die räumliche Gestaltung der Einrichtung kann präventiv und konfliktmindernd wirken, indem zum Beispiel auf verwirrende Bodenmuster verzichtet wird (vgl. ebd.).

Nun werden einige Alternativen zur Freiheitsbeschränkung genannt, die sich in der Praxis bereits bewährt haben: Sturzprophylaxe, Bett auf Bodenhöhe errichten, Verminderung des Bewegungsdrangs, Biografiearbeit, architektonische Gestaltung, Sensormatten, Alarmgeber, Sturzmelder oder Erhöhung der Fußablage, Kinestetikrolle anstelle von Gurt oder das Schrägstellen der Rückenlehne beim (Roll-)Stuhl (vgl. Jaquemar 2006, S. 122).

Bei der Suche nach Alternativen zur Freiheitsbeschränkung müssen MitarbeiterInnen auch immer wieder ihr eigenes Tun und Handeln reflektieren. "Wenn ich nicht bereit bin, mein eigenes Handeln zu reflektieren und in Frage zu stellen, mich auf mein Gegenüber einzulassen, ihn wahrzunehmen, seine Grenzen zu akzeptieren und zu respektieren, wenn ich nicht bereit bin, mich einzufühlen, ihm emphatisch zu begegnen, verweigere ich ihm den Dialog und jede noch so sinnvolle Methode wird zur bloßen Technik" (Jantzen 2005, S. 221). Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung soll Vertrauen entgegengebracht werden und er/sie soll als Individuum gesehen werden und nicht "zum Subjekt und zur Projektionsfläche meiner eigenen Ängste und meiner Hilflosigkeit" (ebd., S. 221) gemacht werden. Für Jantzen kann Freiheit nur dort beginnen, wo Nein zu Macht gesagt wi rd. Vertrauen setzt Aner kennung des Gegenüber s voraus, aber auch das Risiko, eine Beziehung einzugehen, wo Zurückweisung immer wieder vorkommen kann. Ängste und Unsicherheiten bei Begegnungen mit aggressiven und autoaggressiven Menschen sind verständlich und ich muss mir als BetreuerIn bzw. AssistentIn dessen bewusst sein und mir Hilfe an den Punkten holen, die am Weiterkommen hinderlich sind. "Sich trauen, mutig sein, etwas wagen, gemeinsam neue Schritte gehen, Konflikte aushalten und mittragen, da sein, präsent sein" (ebd., S. 222) sind wesentliche Eigenschaften für MitarbeiterInnen und somit entscheidend für die Betreuung und Begleitung von Menschen mit Behinderung (vgl. ebd., S. 221f).

"Ausgangspunkt jeglicher Betreuungsansätze muss der Mensch mit seiner besonderen Persönlichkeit, in seiner besonderen Situation und Umgebung sein. Für jeden Betroffenen müssen individuelle Konzepte erarbeitet werden, die auf seine Lebenssituation und Bedürfnisse bezogen sind. Allgemeine Forderungen zum Betreuungsmilieu lassen sich aus den Entstehungsbedingungen und unterschiedlichen Verlaufsformen der Persönlichkeitsstörung ableiten" (Brokinkel in Jantzen 1999, S. 86). Mit anderen Worten gibt es keine allgemeinen Lösungsvorschläge und spezifischen Therapien oder Betreuungsformen, die auf alle Menschen zutreffen. Voraussetzungen für das Finden von Alternativen zur Freiheitsbeschränkung sind sicherlich die Rücksichtnahme auf Zielsetzungen, Wünsche und Erwartungen aller Beteiligten und dass der Mensch mit Behinderung mit seiner persönlichen Geschichte im Mittelpunkt des diagnostischen Prozesses steht.

Weiters wirkt sich die Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten im Alltagsleben der betreffenden Person positiv auf die Suche nach Alternativen aus. Jedoch sollte der Mensch mit Behinderung keinen Leistungsdruck verspüren. Das Motto lautet demnach, dass jemand gefördert werden soll und nicht gefordert (vgl. Leicht 2006, S. 75).

Zudem sind Kreativität und Einfallsreichtum vom pädagogischen Personal bei der Suche nach Alternativen zur Freiheitsbeschränkung erwünscht. Es gibt viele unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten zur Freiheitsbeschränkung, da kein Mensch dem anderen gleicht und alle etliche Reaktionsmuster haben. Damit die richtige Alternative für den/die Einzelne/n gefunden werden kann, muss das Personal verschiedene Möglichkeiten behutsam ausprobieren (vgl. Landeshauptstadt München 2005 , im Internet). Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen von Menschen, di e sich aggressiv verhalten (Selbst- und Fremdgefährdung), und/oder eine starke motorische Unruhe aufweisen, die zu Gesundheitsbeeinträchtigungen führen kann, sind:

  • "Biographiearbeit, Ursachen erforschen und Erkenntnisse aus der Ursachenerforschung umsetzen

  • Validation, emotionale Zuwendung, angenehme Atmosphäre schaffen, Wertschätzung vermitteln (Pflegende und Besuchsdi enst)

  • Dämpfende Antidepressiva (bei agitierter Depression) nach fachärztlicher Anordnung

  • Tagesstrukturierung, Angebot von vertrauten Tätigkeit (z.B. hauswirtschaftliche Tätigkeiten, Gartenarbeiten, technische Reparaturen ...)

  • Gruppenangebote, Zehn-Minuten-Aktivierung, Einzelangebote (Gespräche), basale Sti mulation, Snoezelen ...

  • Bewegungsdr ang durch gezielte und geplante Maßnahmen ausleben lassen" (Landeshauptstadt München 2005 , o. S., im Internet)

Im Elmhurst Hospital Center in Queens, New York City wurde 2001 eine Untersuchung mit dem Titel "Reducing Restraints: Alternatives to Restraints on the Inpatient Psychiatric Service - Utilizing Safe and Effective Methods to Evaluate and Treat the Violent Patient" durchgeführt. Die ForscherInnen setzten sich mit der Fragestellung auseinander, wie Freiheitsbeschränkung und Abschließung großer Departments signifikant verringert, während ein sicherer und therapeutischer Umgang mit psychisch kranken Menschen im Genesungspr ozess gewährleistet werden kann. Ich will an dieser Stelle nicht auf die gesamte Untersuchung eingehen, sondern gleich auf die Ergebnisse dieser Studie zu sprechen kommen. Auch wenn die Studie mit psychisch kranken PatientInnen und psychiatrischem Personal im stationären Bereich durchgeführt wurde, finden sich ähnliche Bilder in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung.

Die entscheidenden Aspekte ei ner Betreuung ohne Freiheitsbeschränkung - und wenn eine freiheitsentziehende Maßnahme durchgeführt wird, dann nur als allerletzter Ausweg - sind laut diesem "Violence Safety Project":

  • Leitendes und psychiatrisches/pädagogisches Personal sollen eine Arbeitsumgebung ohne Freiheitsbeschränkung und PatientInnen/BewohnerInnen, die sich ihrer Rechte bewusst sind, vorfinden. Eine Veränderung in der (Betreuungs-)Kultur kann als Schlüssel für einen positiven Wandel gesehen werden.

  • Schulungen für MitarbeiterInnen, damit sie therapeutische (und pädagogische) Fähigkeiten erwerben können, wie sie angemessen und im Sinne einer nicht freiheitseinschränkenden Betreuung unter anderem mit aggressiven PatientInnen/BewohnerInnen umgehen können. In der Studie werden "useful assessment tools; pr actical intervention techniques; motivational and empowerment approaches with patients" (Sullivan et al. 2005, S. 64) genannt. Um effiziente Arbeit leisten zu können, müssen diese erworbenen Fähigkeiten immer wieder verbessert und beobachtet werden.

  • Das Arbeiten im Team ist ebenfalls ein wichtiger Punkt bei der Erarbeitung von Alternativen zur Freiheitsbeschränkung. Gemeinsame Ziele und Kommunikation im Team schaffen mehr Sicherheit für PatientInnen/BewohnerInnen.

  • "Aufmerksam bleiben" ist ein gutes Schlagwort für erfolgreiches Arbeiten ohne Freiheitsbeschränkung. Dieser Leitspruch sorgt für Offenheit und Flexibilität beim Erlernen neuer Techniken. Aber die erworbenen Fähigkeiten müssen stets überarbeitet und kontrolliert werden (vgl. Sullivan et al. 2005, S. 51-64).

5 SYNDROMANALYSE UND ROMANTISCHE WISSENSCHAFT - LURIJAS PERSPEKTIVEN EINER UMFASSENDEN THEORIE DES DIAGNOSTIZIERENS

Die von Wolfgang Jantzen entwi ckelte rehistorisierende Diagnostik bezieht sich auf die Lehre von A. R. Lurija, dessen Lebensziel es war, die Zusammenfügungen bzw. Formen des menschlichen Denkens, Wahrnehmens und Handels zu erforschen und wie diese unter Faktoren der Beschädigung, Störung, Verletzung oder Krankheit wiederhergestellt werden können. Die zerebralen, geistigen Funktionen des Menschen können keinesfalls nur durch die biologische Natur untersucht und verstanden werden, sondern immer auch durch die Erfahrung, Interaktion und Kultur des/der Einzelnen (vgl. Sacks in Lurija 1997, S. 7f). Lurija war Anhänger der romantischen Wissenschaft und er hatte weder das Anliegen, die lebendige Wirklichkeit in grundlegende Komponenten aufzuspalten, noch die Vielfalt der tatsächlichen Lebensprozesse in abstrakten Mustern zu zeigen. Er folgte also nicht dem klassischen Weg des Reduktionismus, sondern die Aufgabe der romantischen Wissenschaft ist es, den Reichtum der Lebenswelt aufzubewahren und sich diesem anzunehmen. Wie jede andere Wissenschaft gibt es auch in der romantischen Wissenschaft Mängel: Vernachlässigung der Logik, keine fortlaufenden Argumentationen und standhafte Formulierungen und erklärende Beschreibungen statt Versuche, komplizierte Erscheinungen auf wesentliche Teile eines Ganzen zu reduzieren und zurückzuführen (vgl. Lurija 1993, S. 177f).

"Im Lurijaschen Sinn Romantische Wissenschaft zu betreiben, bedeutet unsere Gefühle nicht vor dem Leid anderer zu verschließen, vielmehr die Schärfe und Bitterkeit dieses Leidens in vollem Umfang zu begreifen und uns berühren zu lassen. Die Überschreitung der hier durch das Leben gesetzten Grenzen zwischen den Ausgegrenzten und uns ist nur möglich indem wir, so Dorothee Sölle‚ den Schmerz der Leidenden mit ihnen teilen, sie nicht alleinzulassen und ihren Schrei lauter zu machen'" (Jantzen 2005, S. 32). Nachdem der Ort des Konkreten in der romantischen Wissenschaft bestimmt wurde, geht es in der Rehistorisierung um die Zurückgabe der eigenen Lebensgesi chte sowie um die Entfaltung neuer Möglichkeitsräume (vgl. ebd.).

Eine wissenschaftliche Beobachtung zeichnet sich durch die vielseitige Betrachtung ihrer Objekte und Ereignisse aus. Das ganzheitliche Verständnis wird angestrebt und dadurch findet keine isolierende Beobachtung statt. Eine nicht wissenschaftliche Analyse oder Beschreibung kann oberflächlich und lückenhaft bleiben und Pseudosinndeutungen lassen sich auf das subjektive Verständnis der Erscheinungen zurückführen (vgl. Lurija 1993, S. 180) .

Rehistorisierende Diagnostik im Sinne der Syndromanalyse beschäftigt sich nicht mit der Frage nach dem Defekt, sondern mit der Rolle des Defekts in der Persönlichkeitsentwicklung. "Die Anwendung dieser Syndrombetrachtungsweise auf die Lebensgeschichte leistet ein doppeltes: sie entschlüsselt die Defektdiagnose als verdinglichendes Krankheitsurteil, Konstruktion eines medizinischen Körpers losgelöst von der historischen Existenz des behinderten Menschen, und macht damit den Weg frei für die dialektische Entschlüsselung des Lebensprozesses" (Jantzen & Mertens 2000, S. 3). Mit anderen Worten bedeutet dies, dass Menschen mit Behinderung ständig mit Ausgrenzung und sozialem Ausschluss konfrontiert sind, und diese Prozesse wirken sich demzufolge auf die Entwicklung der Persönlichkeit und des Ichs aus. In dieser verstehenden Diagnostik geht es also nicht um den körperlichen Defekt, sondern um die Folgen dieses Defekts auf die radikal veränderte soziale Entwicklungssituation (vgl. Jantzen 1996, S. 21) .

Jantzen bezieht sich auf Lurija, wenn er über das integrierte Verstehen in einem psychologischen Prozess und über die sinnvolle und systemhafte Entschlüsselung jeder Tätigkeit spricht. Nach Lurija sind höhere Funktionen bezüglich ihrer Entstehung sozial, der Form bzw. Struktur nach unmittelbar und gemäß der Funktionsweise beliebig. Damit Interiorisierungsprozesse künftig als sichtbare Erkenntnishandlungen ablaufen können, müssen die vorher zwischen mehreren Individuen stattgefundenen Verhältnisse in eine intraindividuelle Beziehung verwandelt werden. Geistige Behinderung und psychische Krankheiten sind gesellschaftliche Formen des sozialen Ausschlusses und Auswirkungen totaler und gewaltvoller Institutionen, welche das Gehirn dazu veranlassen, auf eine andere Art zu funktionieren, und es werden neue funktionelle Systeme entwickelt. Lurija vernachlässigt bestimmt nicht die biotische Ebene, sie ist sogar der Ausgangspunkt für Isolation. Entscheidend ist, ob aufgrund dessen das soziale Verständnis für einen Menschen unterbrochen wird (vgl. Jantzen 1996, S. 5).

In der romantischen Wissenschaft arbeiten ForscherInnen demnach mit Menschen, die eine außergewöhnliche Eigenschaft besitzen, bei denen ein Charakterzug besonders hervorsticht, die eine geschädigte primäre Funktion haben, und mit den dadurch zustande kommenden Persönlichkeitsveränderungen. Die Aufgabe in diesen Untersuchungen ist das Herausfinden der Hauptfaktoren und die konkrete Befassung mit dem jeweiligen Syndrom, welches sich aufgrund dessen Schritt für Schritt zusammensetzt hat ( vgl. Lurija 1993, S. 191).

6 REHISTORISIERENDE DIAGNOSTIK NACH JANTZEN

6.1 Grundgedanke der rehistorisierenden Diagnostik

In der Einleitung seines Buches "Was ist Psychiatrie?" schreibt Basaglia über die Situation psychisch kranker Menschen Folgendes: "Wenn tatsächlich der Kranke die einzige Realität ist, auf die wir uns zu beziehen haben, dann müssen wir uns eben gerade mit beiden Seiten dieser Realität befassen: mit der, dass er ein Kranker mit einer (dialektischen und ideologischen) psychopathologi schen Problematik ist, und mit der anderen, dass er ein Ausgeschlossener ist, ein gesellschaftlich Gebrandmarkter" (Basaglia 1974, S. 15). Weiters betont Basaglia das Wollen einer therapeutischen Gemeinschaft und dass diese doppelte Realität, nämlich Krankheit und Brandmarkung, mit betrachtet werden muss, um die Krankheitsgeschichte des/der Kranken immer wieder rekonstruieren zu können. Wichtig ist dabei die Rekonstruktion, "wie sie gewesen sein musste, bevor die Gesellschaft mit ihren zahlreichen Schritten der Ausschließung und der von ihr erfundenen Anstalt mit ihrer negativen Gewalt auf ihn einwirkte" (ebd.). Jantzen beginnt sein Buch "Es kommt drauf an, sich zu verändern" mit diesem Zitat von Basaglia und will dadurch eine Theorie des Diagnostizierens aufzeigen. Das Hauptaugenmerk liegt bei Jantzen auf der "Frage der Rekonstruktion einer Methodologie des Diagnostizierens, in deren Mittelpunkt die Rehistorisierung der Betroffenen steht" (Jantzen 2005, S. 16). Mithilfe der von Lurija entwickelten Schritte - "das Aufsteigen im Abstrakten, das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten und das Aufsteigen im Konkreten" - und der Überlegungen von Gramsci und Basaglia fragt der Autor nach der Zuständigkeit der Intellektuellen bei der Vorgehensweise in der rehistorisierenden Diagnostik (ebd.).

Der erste Schritt, das Aufsteigen im Abstrakten, welchen Lurija auch als Prozess der Syndromanalyse und als eine Art Faktorenanalyse des Einzelfalls bezeichnet, meint die Entschlüsselung des Syndroms, welche die damit zusammenhängenden Symptome und die Lebensgesichte eines Menschen verstehbar darstellt (vgl. Jantzen 2005, S. 19). Die Bewertung vieler Einzeldaten soll den theoretisch wahrscheinlichsten Zusammenhang verstehbar machen. "Man muss daher über Hypothesen von A1-An verfügen, um einen Satz Symptome B1-Bn einen verborgenen Syndrom aus der Reihe C1-Cm so zuordnen zu können, dass die Hervorbringung der Symptome mit hoher Wahrscheinlichkeit durch dieses Syndrom, diesen Primärfaktor, diese Grundstörung erklärt werden kann" (ebd., S. 20). Mit anderen Worten ist das Syndrom der Schlüssel zum Begreifen, um die konkrete Lebenssituation von Menschen verstehen zu können. Nur wenn die Grundstörung bekannt ist, kann die soziale Entwicklungssituation verändert werden (vgl. ebd., S. 26).

Die Voraussetzung dafür ist die theoretische Betrachtung des Lebewesens als biopsychosoziale Ganzheit, denn eine Verallgemeinerung kann nur durch eine Theorie geleistet werden. "Eine derartige Abstraktion wäre z.B. bei Autismus die Beeinträchtigung von Neuigkeitsverarbeitung auf der Basis einer strukturellen Veränderung der entsprechenden zerebralen Integrationsfunktionen" (Kutscher in Jantzen 2001, S. 245).

Im zweiten Schritt wird der Fokus auf die Wirkung des Syndroms im Zusammenhang mit der konkreten Lebenssituation der betreffenden Person und dem Darstellen der damit veränderten Entwicklungsmöglichkeiten gelegt. Dieser Vorgang wird als das Aufsteigen vom Abstrakten ins Konkrete bezeichnet (vgl. Jantzen 2005, S. 26). Anders ausgedrückt kann der zweite Schritt wie folgt beschrieben werden: "In diesem Schritt ist die eigentliche Störungsanalyse des konkreten individuellen Lebensdramas mit wissenschaftlichen Erkenntnissen im Lichte des Syndroms zu leisten, beginnend mit der Phase vor dem Wirksamwerden des Ausschlusses und übergehend in die permanente Veränderung der sozialen Entwicklungssituation durch die Wirkung von isolierenden Bedingungen" (Kutscher in Jantzen 2001, S. 245). Die gewonnene Abstraktion wird in den historischen Lebenskontext eingesetzt, wo das Syndrom und die Entwicklung im Einzelnen zusammentreffen und gerade wirken. Um die bizarren und unterschiedlichen Verarbeitungsmodi und die Persönlichkeitsentwicklung verstehbar zu machen, ist die Betrachtung der Geschichte vor Auftreten der Krankheit bedeutsam (vgl. Jantzen 2005, S. 17).

Im dritten Schritt, dem Aufsteigen im Konkreten, geht es um die Rekonstruktion der betreffenden Person mit Beeinträchtigung als Persönlichkeit mit einer eigenen Subjektlogik, damit Zusammenhänge begriffen und Entwicklungsmöglichkeiten entworfen werden können. So wird der Mensch mit Behinderung oder einer anderen Beeinträchtigung nicht mehr als rätselhaft, unheimlich oder monströs gesehen, sondern durch eigene Parteinahme trägt er zur persönlichen Entwicklung und Rekonstruktion bei (vgl. Kutscher in Jantzen 2001, S. 245) . Die unabdingbar e Voraussetzung dafür ist die gefühlsbetonte Beteiligung der ForscherInnen. Der Weg des Aufsteigens im Konkreten kann also nicht aus der Distanz bestimmt werden. Nachdem der Ort des Konkreten festgelegt worden ist, geht es in diesem Schritt also um den Zeitpunkt, an dem das Syndrom die soziale Entwicklung extrem verändert hat. So ergibt sich auch die Hauptfrage in der biografischen Forschung, wie aus der Distanz Nähe gehalten werden kann. Der Rehistorisierungsprozess ist Ausdrucksmittel in der romantischen Wissenschaft und macht wissenschaftliche und ästhetische Erkenntnisse begreifbar. "Die eigene Handlung zielt darauf, dem anderen in einer reflektierten Ich-Du-Beziehung von Nähe und Distanz Spiegel der Selbstentwicklung zu sein" (Jantzen 2005, S. 31). Zusammenfassend bedeutet Rehistorisierung die Zurückgabe der eigenen Geschichte und die Macht über diese Situation, eine Erweiterung der eigenen Möglichkeitsräume und das Abbrechen des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem/der Betroffenen und dem/der ForscherIn (vgl. ebd., S. 30-33).

Die Formel vom "Aufsteigen zum Konkreten" nach Lurija meint die allumfassende Betrachtung von einem Objekt oder Ereignis. Je mehr wichtige Gesichtspunkte und Zusammenhänge bei der Untersuchung gemustert werden, desto eher wird das Wesen eines Objekts und somit werden dessen Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten verstanden. "Beobachtungen richten sich auf die wichtigen Merkmale oder Primärfaktoren, die einem Syndrom zugrunde liegen, und danach auf ihre ‚systematischen' Konsequenzen. Erst wenn die Primärfaktoren und ihre Folgen erforscht sind, kann ein umfassendes Bild entstehen. Endpunkt der Beobachtung ist also das Aufdecken eines Netzwerkes wesentlicher Zusammenhänge" (Lurija 1993, S. 182f).

Die rehistorisierende Diagnostik versteht den Menschen als bio-psychosoziale Einheit. Das heißt, biologische und soziale Bedingungen bilden eine psychische Singularität. Historisch-kulturell betrachtet beeinflusst diese Singularität die individuelle biologische Historie und den Prozess der biologischen Entwicklung im gesellschaftlichen Leben. "Zum einen finden wir hier die individuelle biologische Historie, die sich in - evtl. völlig zufällig entstandenen - veränderten biologischen Entwicklungsbedingungen und daraus resultierenden biologischen Strukturen äußern kann. Zum anderen findet dieser Prozess biologischer Entwicklung - wie normal oder verändert auch immer - aber immer auch in einem gesellschaftlichen Zusammenhang zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort und damit unter gegebenen historisch-kulturellen Bedingungen statt" (Rödler in Feuser & Berger 2002, S. 228). Die Art und Weise, wie sich jemand verhält, kann unter diesem Gesichtspunkt als überlebensnotwendiger und persönlich sehr sinnvoller Anpassungs- und Bewältigungsprozess unter den vorherrschenden Gegebenhei ten betrachtet werden.

Immer wieder werden Probleme der Diagnostik bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung und/oder Behinderung erläutert, speziell wenn die Personen zum sog. "harten Kern" zählen. Die Gründe dafür sind nicht, dass die Lebensformen und Lebensbedürfnisse dieser Personengruppe nicht verstanden werden könnten, sondern durch ihren sozialen Ausschluss ist die Kommunikation erschwert oder unmöglich. Gleichzeitig wird die Geschichte der Betroffenen durch den sozialen Ausschluss vernichtet. In diesem Zusammenhang steht nicht mehr der Mensch, sondern die Krankheit im Vordergrund und alles dreht sich um die Krankheitsgeschichte (vgl. Jantzen 1996, S. 3) .

Aus diesem Grund ist eine neue Diagnostik nötig, damit die Bezeichnung "harter Kern" aufgelöst und die Zuschreibung der Methodenforschung des individuellen Denkens und Handels erfolgen kann. Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung und/oder psychischen Erkrankung werden nicht selten als Ergebnisse ihrer Krankheitsgeschichte begriffen und die Schwere und Chronizität der Erkrankung und Behinderung stehen im Zentrum der Zuschreibung. Eine verstehende Diagnostik konzentriert sich auf die Prozesse des Erklärens und versucht, die Frage zu beantworten, welche Folgen die Krankheit und die damit verbundenen (sozialen) Veränderungen auf die Persönlichkeitsentwicklung hatten (vgl. ebd., S. 4).

Der amerikanische Neuropsychologe Oliver Sacks leistet in seinem Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" (1987) gute Übersetzungsleistung und erkennt das zugrunde liegende Syndrom, welches für uns als fremde, merkwürdige Formen menschlicher Lebensäußerungen erscheint, und erklärt uns die "Fall"-Geschichten nahe und verstehbar. Seine Arbeit steht für "Musterbeispiele einer verstehenden Diagnostik, die zugleich auf vielfältige Prozesse des Erklärens zurückgreift" (Jantzen 1996, S. 4). Im Kapitel "Hände" beschreibt er eindrucksvoll die Geschichte einer sechzigjährigen blinden Frau mit Spastizität, die noch nie in ihrem Leben ihre Hände verwendet hat. Sie fühlt sich als Wesen ohne Hände und bezeichnet diese auch als nutzlos und überflüssig. "Wie kann ich denn irgendetwas mit meinen Händen tun, wenn sie nichts weiter sind als zwei Klumpen Knete?" (ebd., S. 91). Sie entwickelte offensichtlich nie ein elementares Empfindungsvermögen in den Händen zu sich selbst und ihrer Umwelt. Erst im fortgeschrittenen Alter lernte diese Frau die grundlegende Wahrnehmungsfähigkei t, "Dinge" zu identifizieren und zu erkennen. Aufgrund ihrer Belesenheit und Intelligenz halfen der Frau Worte bei der Wiedererkennung und Analyse "alter Freunde". Endlich konnte sie eine Gabel, die sie immer als "einen länglichen, flachen Gegenstand mit mehreren dünnen Spießen" (ebd., S. 92) bezeichnete, auch als solche erkennen. Ein verloren gegangener Kringel am Küchentisch bei der Essenseingabe verhalf ihr dazu, zu einem "wahrnehmenden Individuum" zu werden, indem sie sich dieses Lebensmittel zum ersten Mal mit den Händen schnappte (vgl. Sacks 1987, S. 88 -96).

Wie auch beim oben genannten Beispiel steht im Zentrum des Artikels zur "Rehistorisierung" von Jantzen die Identifizierung des zugrunde liegenden Syndroms der jeweiligen Geschichte. "Denn damit hört die jeweilige Geschichte auf, nur als einzelne, von uns unverstandene Geschichte zu existieren. Durch die Einführung des Syndroms, und damit des Wissens über das Syndrom, wird sie zu einer besonderen Geschichte. Was bedeutet es, unter Bedingungen dieses Syndroms Mensch zu sein, welche Auswirkungen also hat das Syndrom auf die Entwicklung der Persönlichkeit?" (Jantzen 1999, S. 1). Fragen dieser Art stehen im Zentrum des diagnostischen Vorgehens bei Menschen mit Behinderung, auch wenn der Prozess unter schwierigen Bedingungen stattfindet. Die Diagnose "geistige Behinderung" kann sehr vielfältig sein und häufig befinden sich nur "Beschreibungen einer ausweglosen Situation des Personals denn valide Verhaltensbeobachtungen " oder "globale Urteile wie ‚geistige Behinderung unklarer Genese'" (ebd.) in den Dokumentationsmappen. Die Voraussetzung, um den "Kern der Retardation" zu ermitteln, ist das Neubegreifen und Erfragen der besonderen Ausgangsbedingungen der Geschichte der betroffenen Person mit Behinderung (vgl. ebd.).

6.2 Ziel und zentrale Botschaft der rehistorisierenden Diagnostik

"Zentrale Voraussetzung und Ziel rehistorisierender Diagnostik ist es, das Feld der Macht zu öffnen und den bisher als Objekt wahrgenommenen geistig behinderten Menschen als mit Vernunft ausgestattetes Subjekt zu betrachten" (Jantzen 2005, S. 111). Nur der/die Betroffene selbst verleiht den Deutungen des Gutachters/der Gutachterin durch seine/ihre Interpretation Wirklichkeit. Die Position des Diagnostikers/der Diagnostikerin ist nicht immer gleich bleibend und kann sich vom Pol der Macht zum Pol der Ohnmacht verschieben. Unter Umständen wird ein Dialog mit dem Gegenüber nicht als solcher realisiert, da die Situation aus den ver schiedensten Gründen nicht wahrgenommen wird. Das Recht des/der anderen, zu den Auffassungen des Gutachters/der Gutachterin Nein sagen zu dürfen, bewirkt Freiheit und nur diese Garantie schafft die Chance der Entwicklung. Eine sehr wichtige und unabdingbare pädagogische Voraussetzung bei jeder rehistorisierenden Diagnostik ist die Anwesenheit aller Beteiligten, also auch derjenigen Menschen, von denen die Rede ist. Weiters bedeutet Rehistorisierung auch immer Verzicht von Gewalt (vgl. ebd., S. 111f). "Immer ist Rehistorisierung die Einheit von Negation der Gewalt durch Anerkennung und Dialog und einer Denkbewegung, welche die Realität des psychisch kranken und behinderten Menschen als Ausdruck einer eigentümlichen psychopathologi schen Geschichte unter den Bedingungen von Gewalt wieder im Denken verflüssigt, und damit Verstehen ermöglicht" (Jantzen & Mertens 2000, S. 4). Diese Form der Diagnostik versucht, je nach historisch-kulturellen Gegebenheiten, geeignete Angebote für den/die Einzelne/n anzubieten und beeinträchtigende isolierende Aspekte abzuweisen, damit sich der Mensch weiterentwickeln kann bzw. um die Lebensgeschi chte wieder verfügbar werden zu lassen (vgl. Rödler in Feuser & Berger, S. 228).

6.3 Rehistorisierende Diagnostik und Syndromanalyse

Wenn bei einer Diagnostik die Syndromanalyse als Basis verwendet wird, hat der Kern der Retardation den wichtigsten Stellenwert. Nach Lurija sollen Symptome, welche Ausdruck eines zugrunde liegenden Syndroms sind, möglichst widerspruchsfrei mithilfe einer mitteilenden Abstraktion rekonstruiert werden. Die Syndromanalyse ist ein ausschlaggebendes und unverzichtbares Hilfsmittel in der Rehistorisierung und liefert die theoretische Grundlage, damit das Eingehen auf die Geschichte einer Person bzw. der "Fall von" untersucht werden kann (vgl. Jantzen 2005, S. 54). "Dies bedeutet das Syndrom unter den Bedingungen der Lebensgeschichte als theoretischen Schlüssel anzuwenden, um die Lebensgeschichte des Subjekts im sozialen Kontext so zu rekonstruieren, dass sie auch meine unter gleichen Bedingungen hätte sein können" (ebd., S. 55). So betrachtet wird die betroffene Person zum/zur MitforscherIn bzw. AssistentIn und verifiziert oder widerlegt die theoretischen Annahmen. Dadurch ist eine vielseitige Entschlüsselung der Situation möglich. Als Beispiel führt Jantzen das sich selbst verletzende Verhalten bei Autismus an, auf welches einige AutistInnen in Notsituationen ständig zurückgreifen müssen, da sie über keine Alternative oder andere Ausdrucksmöglichkeit verfügen. Konzentration und Aufmerksamkeit auf die Dialog- und Kommunikationsbereitschaft des Gegenübers sollten immer gegeben sein, denn Dialoge passieren nicht immer über Worte, sondern auch mit Berührungen oder Gesten (vgl. ebd.). Wittgenstein stellte die Frage: "Einen geistig Zurückgebliebenen sollte man nicht wie eine Uhr ansehen, deren Werk nicht mehr in Ordnung ist. Statt dessen sollte man fragen ‚Welche Sprachspiele kann er spielen?'" (Wittgenstein zitiert nach Jantzen 2005, S. 57). Die Antwort kann laut Jantzen anhand der Syndromanalyse und Rehistorisierung gegeben werden. Die Syndromanalyse bleibt demnach der erste Schritt in einer rehistorisierenden Diagnostik. Dies beschreibt er in seinem Artikel "Qualitätssicherung in einer Großeinrichtung" folgendermaßen: "Denn durch die Zuordnung der vorgefundenen Zustände von BewohnerInnen zu einem Syndrom wird uns ein Schlüssel zur Übersetzung von deren Lebensgeschichte als die Geschichte von ‚meinesgleichen' geliefert. Um diesen Schlüssel jedoch benutzen zu können, müssen wir die Lebensgeschichte von behinderten Menschen als Geschichte struktureller Gewalt lesen können und ideologische Verkürzungen, die diese Geschichte als Entäußerung von Defekten zu lesen versuchen, zurückweisen" (Jantzen 1999, S. 5).

Als Beispiel einer diagnostischen Vorgehensweise bei Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung nennt Jantzen (vgl. Jantzen 1999, 2005, S. 102f) die damals 39-jährige Elke G., die zu der Zeit in einer Wohngruppe lebt und zum sogenannten harten Kern der Einrichtung zählt. "Sie ist tetraspastisch mit deutlicher Linksbetonung, und neigt zu Autoaggressionen, z.B. indem sie sich auf den Kehlkopf schlägt. Möglicherweise ist sie blind" (ebd. S. 103). Sie spricht nicht. Durch hohe Töne stört sie MitarbeiterInnen und BewohnerInnen und Elke reißt immer wieder Gegenstände vom Tisch. Frau G. verfügt über motorische Elementarfunktionen der Hände sowie gegenständliches Greifen. In ihrer dünnen Akte wird von "einem durch CT verifizierten perinatalen Defekt rechts temporal und parietal" (ebd.) gesprochen.

Jantzen lernt Elke während einer Fachberatung im Beisein anderer BewohnerInnen und MitarbeiterInnen der Einrichtung zum ersten Mal kennen. Als Elke beim Treffen in den Raum kommt, hält sie mit dem linken Arm eine Cola-Flasche fest und nach Aussagen der MitarbeiterInnen hilft ihr dies, um ruhig zu bleiben (Übergangsobjekt). Mit der rechten Hand zerrt sie ständig an einer Mitarbeiterin herum. Der Diagnostiker nimmt laut dem CT-Befund an, dass es sich um ein "Rechtshemisphären-Syndrom und damit verbunden eine linksseitige Störung des Körperselbst" (ebd.) handelt.

Jantzen beginnt Annäherungsversuche, indem er im rechten Körperraum von Elke zu arbeiten anfängt. "Ich berühre ihre Hand, z.T. gebe ich ihr kurze rhythmische Muster auf die Handoberfläche oder den Handrücken, warte ab bis sie reagiert, und nur wenn sie anfängt meine Hand zu traktieren, ziehe ich diese wieder weg. Binnen kurzer Zeit gelingt es, dass sie sich selbst, z.T. auch in Form von Lauten, an der Mustervariation beteiligt. Alles was sie produziert, greife ich auf und wiederhole es bzw. biete es später erneut an. Am Ende der Beratung ist ein wechselseitiges, rhythmisches in die Händeklatschen mit ihrer rechten Hand möglich" (ebd. S. 104). Aufgrund dieser Gegebenheit kommt Jantzen zu dem Schluss, dass es sich um ein Kompensationsmuster bezüglich ihrer hospitalisierenden Situation handelt. Dies zeigen die "diffuse Abgrenzung mit der rechten Hand" (ebd.) und die von ihr immer wieder verwendeten hohen Töne. Elke kann rasch grundlegende dialogische Muster aufnehmen und ihr linker Arm als "Übergangsobjekt" zeigt ein differenziertes Körperselbst im linken Körperraum.

Anhand dieses Fallbeispiels wird deutlich, dass ein wesentlicher Teil der Syndromanalyse die Bestimmung des Kerns der Retardation ist. Durch die Auseinandersetzung mit einem dermaßen harten, auskristallisierten Kern von Alltagsproblemen und Hoffnungslosigkeit würde eine gemäße und ständige pädagogische Arbeit bewirkt werden. Die Vielfältigkeit von Dialog und Kommunikation mit KlientInnen wird hier im Artikel zur "Rehistorisierung" nochmals klar aufgezeigt, aber auch die Verschiebung im Bereich der Macht. Dadurch kann besser auf die Bedürfnisse von Frau G. eingegangen werden und die MitarbeiterInnen bekommen mehr Freiräume gegen die alltäglichen Vorkommnisse auf der Station (vgl. Jantzen 1999, S. 2).

Mit anderen Worten bedeutet eine rehistorisierende Diagnostik bei Menschen mit Behinderung, dass ihre psychische Tätigkeit sinnvoll und systemhaft ist. Im Mittelpunkt stehen die Prozesse des Erklärens und Verstehens der Syndrome. Menschen mit Behinderung sind aufgrund ihres körperlichen Daseins viel mehr auf die soziale Kompensationen ihrer Einschränkung angewiesen, da sie in einem anderen Verhältnis zu den Menschen und zur Welt stehen. Als Beispiel kann an dieser Stelle die Gebärdensprache für gehörlose Menschen angeführt werden. Weiters sind Menschen mit Behinderung häufiger mit wechselnden sozialen Kontakten und fragilerer Identitätsbildung konfrontiert als Menschen ohne Behinderung. Die ständige soziale Isolierung wird durch den Defekt und das veränderte Verhältnis zu den Menschen und zur Welt verursacht. Bei der rehistorisierenden Diagnostik steht jedoch nie der Defekt im Zentrum der Überlegungen, sondern es geht vor allem um die Auswirkung des Syndroms auf die Persönlichkeitsentwicklung und darum, was es bedeutet, unter Bedingungen des jeweiligen Syndroms Mensch zu sein (vgl. Jantzen 2005, S. 98) .

6.4 Kern der Retardation

Ein wichtiger Aspekt im Sinne der lurijaschen Syndromanalyse ist, und wie bereits auch mehrmals schon erwähnt, die Bestimmung des "Kerns der Retardation" zusammen mit der dialektischen Entschlüsselung. Kurz zusammengefasst sind die wichtigsten Schritte die Auseinandersetzung mit der Ausgangssituation des betr offenen Menschen , mit seiner Welt, und die Klärung, um welches Syndrom es sich handelt. Weiters muss der Kern des Syndroms bestimmt werden und letztendlich geht es um die ursprünglichen Kompensationen und Überlebensstrategien, die sich der Mensch mit Behinderung wegen der dramatisch eingegrenzten Lebenssituation angeeignet hat. Häufig können bestimmte Verhaltensweise, wie Autoaggressivität und Fremdgefährdung, auf die langjährige schwere Hospitalisierung zurückgeführt werden (vgl. Jantzen 2005, S. 104). "Sind die festgestellten Symptome hingegen Folge einer Isolation durch die Art der Störung, so können sie als Ausdruck von Kompetenz unter diesen isolierenden Bedingungen verstanden werden, eine Kompetenz, deren Problem nicht in dieser Art von Symptomen liegt, sondern im Fehlen von Alternativen" (Jantzen 1996, S. 6). Durch die dialektische Entschlüsselung entstehen somit neue Handlungsspielräume und das Interesse des Diagnostikers/der Diagnostikerin gilt den Auswirkungen des Defekts auf die Persönlichkeitsentwicklung (vgl. ebd.).

In seinem Artikel "Deinstitutionalisierung" (1999) beschreibt Jantzen die ideologische Entschlüsselung der Geschichte von Herrn P. wie folgt: Der damals 37-jährige Herr P. lebt seit seinem sechsten Lebensjahr in der Einrichtung. Aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens gilt er als "geistig behindert", ist sehr autoaggressiv, spricht nicht, er bewegt sich kriechend bzw. mit nach vorne gebeugter Hockstellung weiter und er ist blind. Die MitarbeiterInnen fühlen sich in der Arbeit mit ihm, besonders mit seiner Autoaggression, überfordert. Die Fachberatung findet im Beisein einer Mitarbeiterin und Herrn P. im Dienstzimmer statt. Während Jantzen und die Betreuerin sich über die Erfahrungen der Gruppe mit Herrn P. austauschen, sitzt dieser die meiste Zeit am Boden und lauscht dem Gespräch. Irgendwann kriecht Herr P. zur Tür und schlägt sich an den Kopf. Im ersten Moment weiß keiner, was Herr P. damit sagen will. Da er das Schlagen nur andeutet, wird ihm schließlich die Tür geöffnet und er verlässt den Raum. Das Gespräch zeigt, dass Herr P. zum Symbolgebrauch in der Lage ist und er Gesprächsinhalte, soweit sie ihm zugänglich gemacht werden, verstehen bzw. sich in der gesprochenen Sprache gut orientieren kann. Aufgrund von Ängsten der MitarbeiterInnen, dass er sich selbst verletzten könnte, fanden bisher die Gespräche ohne die Anwesenheit von Herrn P. statt.

Wie wurde die ideologische Entschlüsselung sichtbar? "Autoaggressivität wurde als sinnvolles Verhalten und nicht mehr ideologisch als defektive Folge von geistiger Behinderung interpretiert. Daher war es unproblematisch, eine gemeinsame Beratung mit Herr P. zu führen, solange wir ihn und seine Bedürfnisse gleichberechtigt im Auge behielten. Und seine Bedürfnisse sind die aller Menschen: nach gleichberechtigter Teilhabe an Gemeinschaft, Kommuni kation, sozialem Verkehr" (Jantzen 1999 , S. 5).

Jantzen bezieht sich im Artikel "Rehistorisierung - Zu Theorie und Praxis verstehender Diagnostik bei geistig behinderten Menschen" (1999) auf Vygotskij, der über die Wichtigkeit der syndromanalytischen Auseinandersetzung spricht. Zum Neubegreifen einer Lebensgesichte gehört auch für Vygotskij der "Kern der Retardation", um die Ausgangslage für die veränderte soziale Entwicklungssituation durch das Syndrom betrachten zu können. Das Wissen über die Vergangenheit und Gegenwart ist entscheidend bei der Rekonstruktion einer Geschichte. Als Veranschaulichung gibt Jantzen die Gehörlosigkeit an, die auch durch Abweichungen des ZNS die Beziehung zu anderen Menschen und zur Welt beeinflusst (vgl. Jantzen 1999, S. 1).

Abschließend zu diesem Kapitel kann gesagt werden, dass die Ermittlung des "Kerns der Retardation" in der rehistorisierenden Diagnostik nicht defektorientiert verläuft, sondern das Interesse liegt in der psychischen Konstruktion des Menschen und in den Auswirkungen von Defekt und Lebensumständen auf die Entwicklung der Persönlichkeit (vgl. Jantzen 2005, S. 41). Nach der Entschlüsselung des Syndroms beginnt der Akt des Verstehens, der nun auf den folgenden Seiten näher dargestellt wird.

6.5 Rehistorisierende Diagnostik als romantische Wissenschaft - Über den Prozess des Verstehens

Der erste Schritt im Sinne der Syndromanalyse ist die Nutzung des Syndroms als Schlüssel zur Lebensgeschichte. Durch eine derartige Entschlüsselung kann diese dann verstanden werden. Im zweiten Schritt ist das vorhandene Syndrom Gr undlage der Geschichte, wobei durch den Akt des Erklärens erst das Verstehen ermöglicht wird. "Durch diese Transformation wird die uns vorher fremde Geschichte durch den Modus der ‚Entschlüsselung ' zu einer besonderen Geschichte von Menschsein, die auch die unsere hätte sein können. Was vorher als Natur oder mir fremdes Schicksal erschien, erscheint nun als Ausdruck eines Dramas des Lebens" (Jantzen 1999, S. 3). Der Akt des Verstehens setzt also die Anerkennung der Würde des anderen voraus. Durch den Prozess des Erklärens und später des Verstehens werde ich als DiagnostikerIn von der Geschichte des anderen berührt und das, was mir vorher unverständlich vorgekommen ist, wird nun zu einer Geschichte, welche auch meine hätte sein können. Jedoch bleibt unbekannt, ob ich unter vergleichbaren Umständen besser oder schlechter mit dieser Lebenssituation umgegangen wäre (vgl. Jantzen 2005, S. 151).

Durch das Mitempfinden der besonderen Geschichte des anderen öffnet sich das Feld der Macht und zugleich wird Anerkennung möglich. Weiters wird in diesem Prozess verlangt, in der Nähe Distanz zu bewahren und zugleich in der Distanz Nähe zu schaffen (vgl. Jantzen 1999, S. 3). Das zweite Gefühl im Reflexionsprozess, nämlich aus der Distanz Nähe zu halten, meint alle meine Empfindungen für den/die andere/n, deren Aufdeckung durch eine bestimmte Methodologie passiert. "Und jene Gefühle, die in der Rehistorisierung meiner eigenen Erfahrungen in diesem Prozess auftauchen. Um mich in der dadurch auftretenden Nähe zu mir nicht zu verlieren, muss ich unter diesem Gesichtspunkt aus der Nähe zu mir (die ich auch nicht verlieren darf) Distanz zu mir halten" (Jantzen 1996, S. 27). Dadurch ist eine wechsel seitige dialogische Anerkennung möglich.

Der Begriff des Verstehens in der rehistorisierenden Diagnostik setzt die Orientierung an der Würde des Gegenübers voraus. Dabei müssen meine eigenen Ängste und sozialen Vorurteile durchbrochen werden. Als Beispiel für ein solches Vorurteil ist das Aberkennen der Vernunft oder "Personenhaftigkeit" bei schwerstbehinderten Menschen. Die eigene Angst, selbst als unvernünftig zu gelten, wenn dem Menschen mit Behinderung Anerkennung und vernünftiges Handeln zugetraut wird, spielt eine wesentliche Rolle. Hier werde ich vom Helfenden zum Hilflosen, insofern die Lebensgeschichte des Menschen mit Behinderung noch unbekannt ist. Sind sich arbeitende Menschen in Sozialberufen dieser denkbaren Handlungsweise bewusst, kann einem gelungenen Erkenntnisprozess in der rehistorisierenden Diagnostik nichts mehr entgegenstehen. In der Begegnung mit Menschen mit Behinderung sollte nie der Defekt im Mittelpunkt des diagnostischen Prozesses stehen, sondern immer eine wertschätzende und anerkennende Haltung (vgl. Jantzen 2005, S. 136f). Wie bereits oben erwähnt sieht Basaglia eine psychisch kranke Person mit zwei Realitäten konfrontiert: Einerseits handelt es sich um einen Menschen mit psychopathologi schen Problemen und anderseits wird er aufgrund dessen von der Gesellschaft ausgeschlossen (vgl. Basaglia 1971, S. 151). Die Leitgedanken in der rehistorisierenden Diagnostik sind folglich das Wissen über die Lebensgeschichte, den anderen anzuerkennen und zu verstehen, die Auseinandersetzung mit meinen eigenen Handlungsweisen als DiagnostikerIn oder Helfende/r und die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung einer doppelten Realität ausgesetzt sind.

Um eine Geschichte rekonstruieren und verstehen zu können, wird mehr als bloßes Alltagswissen verlangt. Der Übergang von Beschreibungs- zu Erklärungswissen meint, dass Lebewesen und Naturprozesse im Sinne ihrer Autonomie, Tiefenstruktur und Entwicklungslogik anerkannt werden müssen. Das Lebewesen oder der Naturprozess wird demnach als Subjekt wahrgenommen und existiert nicht aus eigener Ursache (vgl. Jantzen

1996, S. 18).

Wesentlich bei der Entschlüsselung von Sinneszusammenhängen ist der Wechsel vom äußeren zum inneren Beobachten. Das bedeutet, nicht das (pathologische) Handeln darzustellen, sondern vielmehr die Sinnhaftigkeit des Handels eines Menschen verstehen zu lernen. Für diesen Prozess des Verstehens werden neurologische Kenntnisse über das vorhandene Syndrom, das Wissen über die soziale Konstruktion vom Krankheitsbild, die Form der Anpassungsnotwendi gkeit im gesellschaftlichen Kontext und der Einblick in die Lebensgeschi chte des Menschen dur ch Beobachtungen und Daten herangezogen (vgl. Rödler in Feuser & Berger 2002, S. 228f).

In den letzten Jahren sind die biografische Arbeit und die Berücksichtigung der Lebensgesichte von KlientInnen im Bereich der Behindertenpädagogik immer wichtiger geworden und die Beantwortungsversuche der Fragen "Wieso ist das so?" oder "Was steht denn dahinter?" sind nicht mehr wegzudenken. Die Konstruktion der Lebensgeschichte ist notwendig, um Menschen mit Behinderung anzunehmen und verstehen zu können. Eine gemeinsame Biografiearbeit mit den Angehörigen, dem/der Betroffenen selbst und dem Personal ist unerlässlich. Dabei sollte aber nicht nur auf die Kindheit und Jugendzeit geschaut werden. Das oft menschunwürdige Leben im Heim oder in der Klinik gehört ebenfalls zur Lebensgesichte dazu und die Geschehnisse dort dürfen auf keinen Fall vernachlässiget werden. Der Ort der Kontrolle sollte demnach immer beim betroffenen Menschen selbst liegen. Er muss aus der Opferrolle genommen werden und wi rkt bei der Gestaltung der eigenen Situation und Rekonstruktion der Lebensgeschichte aktiv mit. Weiters muss ich als BetreuerIn auch immer meine Selbstbetroffenheit, verdeckten Motive und Involviertheit mit reflektieren, damit ich den betroffenen Menschen gerecht werden kann. Jede/r hat eine persönliche Geschichte und das Vorangehen ist höchst individualisiert und dies muss von dem/der Betreuenden in der Biografiearbeit erkannt werden (vgl. Petzold 1999, S. 3).

Werden die Thesen vom Verstehensprozess in der rehistorisierenden Diagnostik nach Jantzen abschließend in diesem Kapitel zusammengefasst, dann kann davon ausgegangen werden, dass eine verstehende Diagnostik Erklärungswissen braucht, um eine Gesichte rekonstruieren zu können. Jede Tätigkeit ist sinnvoll und systemhaft und die Geschichte eines Menschen wird nicht auf "Natur und Schicksal, Pathologie und Devianz reduziert". Dieselbe Geschichte hätte jede/n von uns treffen können. "Dieser Akt des Erkennens führt einerseits zum Anerkennen, dass es so ist, wie es ist, und andererseits zur Abhängigkeit meiner Erklärungen und meiner Verstehensakte von ihrer Anerkennung durch den oder die andere" (Jantzen 2005, S. 152). Dieser Prozess bleibt immer relational, denn nur so können Anerkennung und das Wissen von Erklären und Verstehen gewährleistet werden (vgl. ebd.).

Empirischer Teil

7 GRUNDSÄTZLICHES ZUR METHODE DER QUALITATIVEN SOZIALFORSCHUNG

In der qualitativen Sozialforschung gelten die folgenden fünf Grundsätze: "die Forderung stärkerer Subjektbezogenheit der Forschung, die Betonung der Deskription und der Interpretation der Forschungsobjekte, die Forderung, die Subjekte auch in ihrer natürlichen, alltäglichen Umgebung (statt im Labor) zu untersuchen, und schließlich die Auffassung von der Generalisierung der Ergebnisse als Verallgemeinerungsprozess" (Mayring 2002, S. 19).

Das bedeutet, die ForscherInnen möchten die Welt der Menschen verstehen. Jede/r von uns hat seine/ihre eigene Lebenswahrheit. Die Realität ist demzufolge "eine persönliche interne Nachbildung der eigenen Erfahrungen" (Cropley 2002, S. 37) , und die nicht für alle Menschen gl eich ist. Weiters wird eine Kooperation zwischen ForscherIn und den Teilnehmenden an der Untersuchung vorausgesetzt. Durch die Zusammenarbeit kann die individuelle Realität des/der Einzelnen gemeinsam verstanden werden. Die Erkenntnisse der Untersuchung werden erst am Ende der Forschung mithilfe der Informationen der teilnehmenden Personen verallgemeinert, ebenso die Ableitung von Hypothesen und Schlussfolgerungen aus dem Forschungsprozess ( vgl. ebd., S. 37-41).

Das Ziel qualitativer Sozialforschung ist es, Theorien "zur Erklärung menschlichen Handelns, sozialer Strukturen und Zusammenhänge" systematisch zu überprüfen (Schnell et al. 1999, S. 7). Dabei ist das Prinzip der Offenheit von zentraler Bedeutung. Anders als bei der quantitativen Vorgehensweise soll der/die ForscherIn neuen Entwicklungen und Dimensionen während der Untersuchungsphase möglichst offen gegenübertreten. Da keine vorformulierten Antwortkategorien und hoch standardisierten Erhebungstechni ken bei den Befragungen verwendet werden, wird auf eine vorzeitige Hypothesenbil dung verzichtet (vgl. Lamnek 2005, S. 21). "Der Forschungsprozess muss so offen dem Gegenstand gegenüber gehalten werden, dass Neufassungen, Ergänzungen und Revisionen sowohl der theoretischen Strukturierungen und Hypothesen als auch der Methoden möglich sind, wenn der Gegenstand dies erfordert" (Mayring 2002, S. 28).

Neben Offenheit ist das Prinzip der Kommunikation eine bedeutende Säule in der qualitativen Sozialforschung. Forschung bedeutet demnach auch immer Kommunikation und Interaktion zwischen ForscherIn und dem/der TeilnehmerIn. Folglich ist die Interaktionsbeziehung zwischen den AkteurInnen ein wesentlicher Bestandteil im qualitativen Ansatz und beeinträchtigt keineswegs den Forschungsprozess. Kommunikative Alltagsregeln sind auch in einer Befragungssituation einzuhalten (vgl. Lamnek 2005, S. 22).

Qualitative Ansätze zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie möglichst nahe an der gewohnten Lebenssituation anknüpfen. "Humanwissenschaftliche Gegenstände müssen möglichst in ihrem natürlichen, alltäglichen Umfeld untersucht werden" (Mayring 2002, S. 22). Menschen verhalten sich in Laborsituationen, die neu und unnatürlich auf die TeilnehmerInnen wirken, anders als in einer Untersuchung mit großer Alltagsnähe. Demnach ist die Naturalität ein wichtiges Merkmal in der qualitativen Forschung, da in der natürlichen Welt und mit naturalistischen Methoden untersucht wird (vgl. Schatzmann & Str auss nach Lamnek 2005, S. 33) .

In dieser Arbeit sollen die pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung von Menschen mit Behinderung erforscht werden. Sachverständige aus dem Bereich der Sonder- und Heilpädagogik, die im Zuge des HeimAufG tätig sind, berichten über ihre Erfahrungen als Gutachterinnen bei der Entwicklung von Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen. Aufgrund der Tatsache, dass die Problematik von Freiheitsbeschränkungen in Behinderteneinrichtungen erst durch das Inkrafttreten des HeimAufG auf rechtlicher Basis diskutiert wird, gibt es bis dato kaum wissenschaftliche Untersuchungen in diesem Bereich. Da der Grundgedanke der quantitativen Sozialforschung der ist, dass sich das soziale Leben nach gewissen Regelmäßigkeiten zuträgt und der/die ForscherIn von außen diesen Prozess beobachten und erklären kann, kam für mich diese Vorgehensweise nicht in Betracht. Ein interpretatives Paradigma, welches die soziale Wirklichkeit als "Resultat eines interpretationsgeleiteten Interaktionsprozess zwischen Gesellschaftsmi tgliedern" begreift, kam für mich in dieser Auseinandersetzung mit der oben genannten Thematik mehr infrage (Lamnek 2005, S. 32, 34). Sowohl qualitative als auch quantitative Sozialforschung ist methodisch kontrollierbar und überprüfbar. "Generalisierung im qualitativen Sinne meint, durch Abstraktion auf das Wesentliche zu kommen und ni cht wie in statistisch-standardisierter Forschung von Teilen auf das Ganze zu schließen" (ebd., S. 187). So meint die Überprüfung der Verallgemeinerung in der qualitativen Sozialforschung die systematische Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die intersubjektive Kontrollierbarkeit der Vorgehenswei se (vgl. ebd., S. 183).

Das Feld der empirischen Sozialforschung findet aber nicht nur im akademischen Kontext Anwendung. "Neben einem wissenschaftlichen Interesse an einer möglichst guten und differenzierten Beschreibung und Analyse der sozialen Welt finden sich in anderen Verwendungskontexten Anforderungen, die sich am ehesten unter dem Stichwort Problemlösung beschreiben lassen" (Weischer 2007, S. 56). Da meiner Meinung nach die Auseinandersetzung mit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung sehr wichtig ist, geht es natürlich auch um die Frage, wie freiheitsentziehende Maßnahmen künftig in Behinderteneinrichtungen vermieden werden können. Das Suchen und Finden von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung wäre nicht nur für die Wissenschaft ein bedeutender Fortschritt, sondern auch für alle, die mit freiheitsentziehenden Maßnahmen zu tun haben, sei es als Betroffene/r oder als MitarbeiterIn in einer Behinderteneinrichtung.

8 DATENERHEBUNG

Für diese Arbeit wurden vier qualitative Interviews mit Gutachterinnen geführt. Nach dem Literaturstudium zu qualitativen Forschungsmethoden wurde das problemzentrierte Interview gewählt, da durch diese Methode das Problemfeld meiner Meinung nach am besten untersucht werden kann. Die Darstellung dieses spezifischen Datenerhebungsverfahrens und die Begründung für die Verwendung dieser Methode folgen im kommenden Kapitel.

8.1 Das problemzentriete Interview

Das problemzentriete Interview wurde von Witzel (1982 nach Mayring 2002, S. 76) ausgearbeitet und beschreibt eine halb strukturierte, teilweise offene Form der Befragung. Das Gespräch ist auf eine bestimmte Problemstellung fokussiert, die bereits im Vorhinein von dem/der Interviewenden analysiert und herausgearbeitet wurde. Weiters wurde ein Interviewleitfaden erstellt und während des Interviewverlaufs werden bestimmte Aspekte angesprochen. Die Befragung soll möglichst offen gestaltet werden, damit der/die Befragte sich frei zu einer bestimmten Problematik äußern kann (vgl. ebd.). Bei dieser Form des Interviews tritt der/die ForscherIn nicht ohne theoretisch-wissenschaftliches Vorwissen in die Befragungssituation. Durch die Auseinandersetzung mit Fachliteratur, eigene Recherchen im Untersuchungsfeld und Erhebung des Fachwissens der ExpertInnen bereitet sich der/die ForscherIn auf die Untersuchung vor. Aus der Fülle an Informationen hebt er/sie die wesentlichen Gesichtspunkte des Problembereichs hervor und durch die Verknüpfung und Verdichtung dieser sozialen Realität entsteht ein theoretisches Konzept (vgl. Lamnek 2005, S. 364) .

Die Grundgedanken dieser Interviewform sind nach Witzel die Problemzentrierung, die Gegenstandsori entierung und zuletzt die Prozessorientierung. Wird von einer gesellschaftlichen Problemstellung ausgegangen, mit der sich der/die ForscherIn bereits vor den geplanten Interviews objektiv auseinandergesetzt hat, dann wird von Problemzentrierung gesprochen (vgl. Mayring 2002, S. 68). Das zweite Kriterium meint die Gegenstandsorientierung und "richtet sich gegen die häufig geübte Praxis, entweder ausgefeilte Forschungsmethoden unabhängig vom Gegenstand zu entwickeln oder deren Eignung für den zu untersuchenden Gegenstand mit dem Hinweis auf ein gängiges Verfahren in einem ebenso gängigen Methodenlehrbuch stillschweigend vorauszusetzten" (Witzel 1982, S. 70). Als letzten Aspekt nennt Witzel die Prozessorientierung. Der Problembereich wird flexibel analysiert und allmählich werden Daten gewonnen und überprüft. Erst dann kristallisieren sich unter reflexiver Bezugnahme auf diese Methode die Beschaffenhei t und Zusammenhang der einzelnen Bestandteile heraus (vgl. ebd., S. 71) .

Wie bereits oben angesprochen bringt das Prinzip der Offenheit einen entscheidenden Vorteil bei der Verwendung dieser Methode mit sich. "Die Interviewten werden zwar durch den Interviewleitfaden auf bestimmte Fragestellungen hingelenkt, sollen aber offen, ohne Antwortmöglichkeiten, darauf reagieren" (Mayring 2002, S. 69). Durch das Erzählprinzip bleibt dem/der Befragten die soziale Realität durch seine/ihre Bedeutungsstruktur erhalten und er/sie kann so völlig offen auf die Fragen eingehen. Dadurch, dass nur das Problemfeld erkenntlich gemacht wird, bleibt das theoretische Konzept des Forschers/der Forscherin vorerst unbekannt und kann erst nach der Untersuchungsphase bei Feststellung von Falschheit und Unvollständigkeit gegebenenfalls modifiziert, überprüft und erneuert werden (vgl. Lamnek 2005, S. 365) .

Das problemzentrierte Interview wird nach Lamnek in folgende vier Phasen gegliedert: Einleitung, allgemeine Sondierung, spezifische Sondierung und direkte Fragen (vgl. ebd., S. 365f ).

  • Die Interviewsituation beginnt mit einleitenden Worten zur erzählenden Gesprächsführung und der Festlegung des Problemfeldes der sozialen Realität im Interview.

  • "Sondierungsfragen sind ganz allgemein gehaltene Einstiegsfragen in eine Thematik. Dabei soll eruiert werden, ob das Thema für den Einzelnen überhaupt wichtig ist, welche subjektive Bedeutung es für ihn besitzt" (Mayring 2002, S. 70). Der/Die Interviewende beginnt das Gespräch mit einen Erzählbeispiel mit Alltagsbezug, wodurch der/die Befragte zum detaillierten Erzählen aus seiner/ihrer sozialen Wirklichkeit eingeladen werden soll (vgl. Lamnek 2005, S. 365).

  • In der Phase der spezifischen Sondierung hat der/die InterviewerIn drei aktive Verständnisgenerierungen während der Befragungssituation zur Auswahl. Die erste Möglichkeit ist die Zurückspiegelung und meint das Angebot der Interpretation des Gesagten in eigenen Worten des/der Interviewenden an den/die Befragte/n. Die Auffassungen des Forschers/der Forscherin können so noch einmal besprochen werden (vgl. ebd.). "Darüber hinaus geht es um das Sondieren von ausweichenden, versteckten und widersprüchlichen Antworten mit Hilfe von Verständnisfragen und Konfrontationen, das den Interviewten zwingt, an seinen Explikationen zu arbeiten bzw. seine Konstruktion der Realitätsdarstellung offenlegt" (Witzel 1982, S. 101) .

  • Folgend hat der/die ForscherIn in einer weiteren Phase die Möglichkeit, direkte Fragen zum Gesprächsinhalt zu stellen, falls diese noch nicht angesprochen wurden (vgl. Lamnek 2005, S. 366). Ad-hoc-Fragen können hier also spontan formuliert werden (vgl. Mayring 2002, S. 70) .

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich das problemzentrierte Interview aufgrund der primären Problemanalyse für theoriegeleitete Forschungen anbietet. "Überall dort also, wo schon einiges über den Gegenstand bekannt ist, überall dort, wo dezidierte, spezifischere Fragestellungen im Vordergrund stehen, bietet sich diese Methode an" (Mayring 2002, S. 70).

8.2 Datenerfassung

Um möglichst viele Informationen und viel Material für die spätere Auswertung zu bekommen, kann in der qualitativen Sozialforschung auf Techniken der Datenerfassung zurückgegriffen werden. Mithilfe eines Kurzfragebogens zu Beginn oder am Ende des problemzentrierten Interviews können zusätzliche Auskünfte über den sozialen Hintergrund des/der Befragten ermittelt werden. Ein Kurzfragebogen biet et einen guten Einstieg in die Interviewsituation und die erste inhaltliche Auseinandersetzung findet statt (vgl. Lamnek 2005, S. 366f). Auch in der vorliegenden Arbeit wurden einleitende Fragen in den Problembereich gestellt, damit der Untersuchung sgegenstand in weiterer Folge gründlich und umfassend erfasst werden konnte.

Es wurde folgender Leitfaden für die vier problemzentrierten Interviews mit den Gutachterinnen erstellt:

Einleitende Fragen (Kurzfragebogen)

Wie lange sind Sie schon als Gutachterin im Zuge des Hei mAufG tätig?

Wie viele Gutachten haben Sie im Bereich Sonder- und Heilpädagogik bereits erstellt?

Können Sie Ihren fachlichen Hintergrund aufzeigen?

Gibt es Schulungen und Aust auschmöglichkeiten für GutachterInnen?

Erfahrungen als Gutachterin

Mit welchen Formen von Freiheitsbeschränkung haben Sie im Wohnbereich und/oder in Tageseinrichtungen für Menschen mit Behinderung als Gutachterin berei ts zu tun gehabt?

Welche Rolle spielt der Mensch mit Behinderung selbst im Diagnostikprozess bzw. bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen?

An welchen Theorien orientieren Sie sich bei der Diagnostik einerseits und der Erarbeitung von Alternativen andererseits?

Rehistorisierende Diagnostik (falls nach dieser Theorie gearbeitet wird)

Welche Rolle spielen die rehistorisierende Diagnostik und die Syndromanalyse bei der Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen?

Können Sie anhand Ihrer Berufspraxis den Prozess der rehistorisierenden Diagnostik näher erläutern?

Welchen Stellenwert hat die Rekonstruktion der Lebensgeschichte der betroffenen Person bei der Suche nach Alternativen?

Wie wichtig ist das jeweilige Syndrom bei der Auseinandersetzung mit Alternativen?

Wie bedeutend ist die eigene Reflexi on beim Diagnostikprozess?

Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen

Können Sie den Entwicklungsprozess von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung anhand eines konkreten Fallbeispiels darstellen?

Welche Maßnahmen, Methoden und Fähigkeiten sind bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung Ihrer Meinung nach wichtig?

Was sind aufgrund Ihrer Erfahrung geeignete pädagogische Alternativen im Bereich Wohnen und/oder Tageseinrichtungen für Menschen mit Behinderung?

Welche Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, damit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung funktionieren können?

Grenzen/Schwierigkeiten

Was sind Schwierigkeiten und Probleme bei der Umsetzung von Alternativen zur Freiheitsbeschränkung?

Können Sie aufgrund Ihrer Erfahrung als Gutachterin das Scheitern einer pädagogischen Alternative näher darstellen?

Ausblick

Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Voraussetzungen, damit in Zukunft freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Behinderteneinrichtungen vermieden werden können?

Dieser Leitfaden bot eine Orientierungshilfe bei den geführten Interviews mit den Gutach terinnen. Weiters ist bei nicht standardisierten Befragungen die Ton- und Bildaufzeichnung eine entscheidende Voraussetzung, damit im Nachhinein die gewonnenen Informationen ausgewertet werden können. "Nur über eine Aufzeichnung kann man sich später noch einmal - entlastet von den Erfordernissen der Interaktion und der Gesprächsführung - anhören oder anschauen, was Fragende und Befragte wie gesagt haben, wie sie sich in der Befragungssituation verhalten haben" (Weischer 2007, S. 287). Die Sprachaufzeichnung dient der Transkription und der weiteren Analyse des Materials. Die Tonbandaufnahme muss vor dem Interview von dem/der Fragenden abgesprochen werden (vgl. ebd.). Auch in dieser Arbeit wurden die Gespräche durch ein Diktiergerät aufgezeichnet und zu ei nem späteren Zeitpunkt wörtlich wiedergegeben.

Der/Die InterviewerIn hat ebenso den Auftrag, nach dem Interview ein Postskript aufzusetzen. Die Gespräche, die vor und nach der Tonbandaufnahme geführt wurden, können gegebenenfalls dokumentiert werden. Ebenso die Rahmenbedingungen des Gesprächs und nonverbale Reaktionen der befragten Person (vgl. Lamnek 2005, S. 367). Nach jedem geführtem Interview wurde auch i n dieser Arbeit ein Postskript angefertigt.

8.3 Auswahl und Kontaktaufnahme mit den Interviewpartnerinnen

Die Problematik mit Freiheitsbeschränkungen in Behinderteneinrichtungen ist sehr sensibel und teilweise fehlt die Bereitschaft der offenen Auseinandersetzung innerhalb der Pflege- und Betreuungseinrichtungen für Menschen mit Behinderung, aber auch die Kooperation und Kommunikation mit außenstehenden Personen. Diese Vermutung wurde auch im Rahmen einer Lehrveranstaltung von Frau Mag.a Flieger zur Thematik von Freiheitsbeschränkungen und ihren persönlichen Erfahrungen bestätigt. Durch diese Erkenntnis kam die Überlegung, sich an Sachverständige im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik zu wenden, aufgrund der Tatsache, dass GutachterInnen im Idealfall gemeinsam mit den MitarbeiterInnen einer Einrichtung pädagogische Alternativen zur Freiheitsbeschränkung entwickeln und als Außenstehende einen Eindruck in den Betreuungsalltag und die pädagogische Arbeit mit den Menschen mit Behinderung bekommen.

Meines Wissens arbeiten in Tirol nur zwei Gutachterinnen in diesem Bereich und deswegen wurde die Suche nach möglichen InterviewpartnerInnen auf Ostösterreich erweitert. In Wien wurden schon mehr derartige Gerichtsverfahren geführt, so erschien die Auswahl von geeigneten InterviewpartnerInnen größer zu sein. Um Kontakt zu GutachterInnen herzustellen, vermittelten die Bewohnervertretung Tirol und Wien und Frau Mag.a Flieger. Durch die Mithilfe von zwei Bewohnervertreterinnen erhielt ich wenig später die ersten Kontaktmöglichkeiten. Die Gutachterinnen wurden hauptsächli ch per E-Mail, aber auch telefonisch um ein Interview gebeten. Ich erhielt nur Zusagen und die Kooperationsbereitschaft vonseiten der Gutachterinnen war enorm. Einige von ihnen kontaktieren KollegInnen im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik, sodass sich insgesamt vier Gutachterinnen für ein Gespräch zur Verfügung stellten. Folglich fanden ein Interview in Innsbruck und drei Befragungen in Wien statt. Leider ist mir nicht bekannt, ob auch Männer als Gutachter tätig sind, jedoch bekam ich auf meine Interviewanfragen ausschließlich von Frauen Zusagen. Die Gutachterinnen werden im Folgenden mit G1, G2 etc. abgekürzt.

8.4 Interviewverlauf

Die Interviews fanden an sehr unterschiedlichen Orten statt, die von den Gutachterinnen als Treffpunkte für die Befragung vorgeschlagen wurden. Sie variierten von Kaffeehausatmosphär e über ein Treffen in der eigenen Wohnung bis zu Universitätsräumlichkeiten der einzelnen Gutachterinnen. Die Alltagsnähe während der Interviewsituation konnte dadurch garantiert werden. Die Gesprächsdauer der einzelnen Interviews lag zwischen 51 und 71 Minuten und die Befragung wurde unter Einverständnis der Interviewpartnerinnen mit einem digitalen Tonbandgerät aufgezeichnet.

9 AUSWERTUNG DER DATEN

Das Material aus den qualitativen Interviews wird durch Heranziehen der vier Phasen, folglich Transkription, Einzelanalyse, generalisierende Analyse und Kontrollphase, nach Lamnek verarbeitet und analysiert. Hierbei handelt es sich um "eine allgemeine Handlungsanwei sung für die Auswertung [...], die eine generelle Struktur vorzeichnet, aber gleichwohl offen für gegenstandadäquate Modifikationen ist" (Lamnek 2005, S. 402).

9.1 Transkription

Die erste Phase stellt die Transkription der geführten Interviews mit den Gutachterinnen dar. Dieser Schritt ist sehr technisch und zeitaufwendig, jedoch ist die lesbare Form unbedingt notwendig für die spätere Auswertung (vgl. Lamnek 2005, S. 403). Die Verschriftlichung des Gesprochenen wurde mithilfe eines Tonbandgeräts aufgezeichnet und dann anhand des Transkriptionsprogrammes F4 auf Papier gebracht. Die Sprache der Gutachterinnen war großteils Schriftsprache, jedoch wurden auch einige Dialektwörter ins Hochdeutsche über setzt, da sie für die Forschungsfragen an sich wenig Bedeutung haben. Auch nonverbale Aspekte während des Gesprächs wurden bei der Transkription berücksichtigt. Die nonverbalen Aspekte wurden teils in Klammer gesetzt wie zum Beispiel (Lachen), (Räuspern), (Husten) oder (Kopfschütteln). Unvollendete Sätze wurden mit (kommt es noch?), stark betonte Äußerungen mit (betont) und schlecht oder kaum hörbare Passagen mit (unhörbar) gekennzeichnet. Pausen wurden je nach Länge des Schweigens durch .. für eine kurze Pause, ... für eine mittlere Pause oder (Pause) im Text angegeben. Einige "Mhm", "Ja", "Aha" und so weiter meinerseits wurden während fließenden Aussagen der Interviewpartnerinnen nicht berücksichti gt, um eine bessere Lesbarkeit zu erzielen. Diese Handhabung der Füllwörter hat keine Bedeutung für die zentralen Inhalte des Interviews. Die Interviewpartnerinnen wurden anonymisiert genauso wie im Gespräch genannte Personen. Diese wurden mit Herr/Frau (Name) im Text gekennzeichnet. Nachdem das Gespräch vollständig abgetippt worden ist, wurden die Transkriptionen mit der Bandaufnahme verglichen, um vorhandene Tipp- und Hörfehler zu verbessern und Fehlendes zu ergänzen.

9.2 Einzelanalyse

In der zweiten Phase begi nnt die Analyse der einzelnen Interviews und die Konzentration liegt auf den Wesentlichkeiten. Demnach werden Nebensächlichkeiten aus den Interviews entfernt und der Fokus liegt auf den zentralen Aussagen des Interviewpartners/der Interviewpartnerin, sodass ein komprimierter Text entsteht. Die Aussagen werden nach inhaltsanalytischen Kriterien ausgewertet. Das gesamte Interview wird in dieser Phase "kommentiert und bewusst wertend integriert zu einer ersten Charakterisierung des jeweiligen Interviews" (ebd., S. 404). Weiters werden die Wertungen und Beurteilungen des Interviewers/der Interviewerin mit wörtlichen Passagen der interviewten Person verknüpft. Im Text werden wortgetreue Aussagen mit Anführungszeichen unten und oben und kursiv hervorgehoben (vgl. ebd.).

9.3 Generalisierende Analyse

"In Phase 3 der Auswertung blickt man über das einzelne Interview hinaus, um zu allgemeinen (theoretischen) Erkenntnissen zu gelangen" (ebd.). In einem ersten Schritt geht es um die "typisierende Generalisierung". So können Gemeinsamkeiten in allen oder einigen geführten Interviews herausgearbeitet werden. Auch die Unterschiede zwischen den Interviews sollen nach inhaltlichen Gesichtspunkten untersucht werden. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede geben in einem nächsten Schritt Aufschluss über "Grundtendenzen und Syndrome, die für einige oder alle Befragten typisch erscheinen" (ebd.). Die Darstellung und Interpretation von "unterschiedlichen Typen von Befragten, Aussagen, Informationen etc." (ebd.) spielen ebenso eine wesentliche Rolle, um zu allgemeinen Ergebnissen zu kommen.

9.4 Kontrollphase

Die Kontrollphase dient der erneuten Kontrolle auf mögliche Fehlinterpretationen. Da bei diesem Auswertungsverfahren nur die relevanten und wichtigen Passagen von Nutzen sind, können sich Fehler bei der Auswertung einschleichen. Die Kontrollphase kann selbst oder mit fremder Hilfe durchgeführt werden. Empfehlenswert sind die Verwendung der vollständigen Transkription, ein neuerliches Anhören der Tonbandaufnahme oder, falls im Team gearbeitet wird, Diskussionen und Austauschmöglichkeiten bezüglich der Interpretation des Materials (vgl. ebd.). Mit der Phase 4 endet die interpretativ-reduktive Form der Auswertung qualitativer Interviews.

9.5 Begründung der verwendeten Form der Interviewauswertung

Für mich erschien die interpretativ-reduktive Form der Verarbeitung des Materials am besten geeignet zu sein für meinen Forschungsgegenstand. Die vier Auswertungsschritte sind klar nachvollziehbar und geben allgemeine Anleitungen zur Auswertung. Weiters ist es für mich wichtig, dass die einzelnen Interviews genau, aber in stark gekürzter Form wiedergegeben werden können. Da die Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung auf persönlichen Erfahrungen beruht, sind konkrete Gutachtensfälle in jedem der geführten Interviews ein wesentlicher Bestandteil. Mir geht es zunächst um die ganz persönlichen Arbeitsweisen und Gedanken der einzelnen Gutachterinnen, um dann in weiterer Folge Rahmenbedingungen, Voraussetzungen und andere wichtige Anhaltspunkte bei der allgemeinen, generalisierenden Auseinandersetzung mit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung überhaupt aufzeigen zu können.

10 DARSTELLUNG DER EINZELNEN INTERVIEWS

10.1 Interview 1

Die erste befragte Interviewpartnerin hat Psychologie studiert und arbeitet schon viele Jahre im Behindertenbereich. Sie hat im Zuge des HeimAufG zwei Gutachten geschrieben. Beide Male ging es um das Versperren von Türen, in einem Fall mit der zusätzlichen Problematik, dass eine Person an den Rollstuhl angegurtet wurde. In Westösterreich wurde kein Lehrgang für GutachterInnen vor Einführung des HeimAufG angeboten und folglich hat G1 weder eine Schulung noch einen Kurs für ihre Tätigkeit als Sachverständige besucht. Bei ihrem ersten Gutachten hat sie sich Hilfe von einer Gutachterin aus Wien geholt, die diesen Lehrgang an der Universität Wien gemacht hat. Im Kapitel über die Rolle und Tätigkeit von Sachverständigen im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik wurde dieser Universitätslehrgang bereits näher beschrieben. In Westösterreich finden kaum Treffen für GutachterInnen statt, nur inoffizielle Austauschmöglichkeiten unter KollegInnen. Im Interview erzählt G1 mehr aus ihrer Erfahrung und Arbeit im Behindertenbereich und weniger aus ihrer Tätigkeit als Gutachterin. G1 konzentriert sich sehr stark auf die Menschen mit Behinderung und bestärkt, dass eine rehistorisierende Diagnostik eine sehr förderliche Maßnahme beim Entwickeln von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung sein kann. Die Interviewpartnerin kommt auch immer wieder auf generelle Probleme und Schwierigkeiten im Behindertenbereich zu sprechen.

Bei ihrer Tätigkeit als Gutachterin macht sich G1 immer ein Bild vor Ort. Sie führt Befragungen mit dem Personal, gegebenenfalls mit den Eltern und dem Menschen mit Behinderung durch. Sie versucht immer, ein Kommunikationssystem mit dem behinderten Menschen aufzubauen. "Das heißt, der spielt eine Rolle, aber wenn Sie sich vorstellen, dass das meistens Menschen sind oder in meinen Fällen jedes Mal Menschen sind, die jetzt keine verbale Sprache haben, sondern nur nonverbale Sprache". Die Kontaktaufnahme kann auf unterschiedlichste Weise passieren. "Das eine Mal war das so ein Klopfspiel und ein Muster-Finden im Rhythmus" oder die gemeinsame Besichtigung der Lieblingsplätze des Menschen mit Behinderung. Durch die ersten Eindrücke von der Person können Hypothesen aufgestellt werden. In einem nächsten Schritt folgt dann die Beurteilung des Entwicklungspotenzials der betroffenen Person und mit welchen Mitteln und Wegen bis jetzt anstelle der Freiheitsbeschränkung gearbeitet wurde. G1 erzählt von einem Mann, der ihr während der Befunderhebung in der Einrichtung das Gefühl, aber auch Sicherheit gegeben hat, dass noch viel Entwicklungspotenzial vorhanden sei und dass es noch ein gelinderes Mittel als die Freiheitsbeschränkung geben müsse. "Der hat mich wirklich auch in irgendeiner Form .. scheint's wohl verstanden zu haben, dass ich da jetzt eine wichtige Person bin und da habe ich das Gefühl gehabt, da ist ganz viel an Auf-mich-Zugehen und W ollen von mir".

Die Lebensgeschichte des Menschen mit Behinderung ist ein weiterer wesentlicher Punkt, wenn es um die Entwicklung von Alternativen zur Freiheitsbeschränkung geht. Häufig sind nur Eckdaten daraus bekannt, denn die Dokumentationen sind zum Teil sehr knapp und unvollständig. Was unter Umständen schon gelingen kann, meint G1 ist, "dass ich so .. eine Grundidee (Pause im Wort) dafür kriege, warum der Mensch so geworden ist, wie er ist". Die Befragung der Eltern und Geschwister kann ihrer Meinung nach noch hilfreicher als eine dokumentierte Lebensgesichte in der Einrichtung sein. "Was glauben die Eltern oder Geschwister, was glauben die, waren die wichtigen Ereignisse im Leben der Personen. Ihre Theorien, warum die Person so gewor den ist, wie sie ist (schnell)". Demnach ist das Miteinbeziehen der Eltern und Geschwister genauso wichtig wie das der Einrichtung und der Person mit Behinderung selbst. G1 bezieht sich bei dieser Thematik konkret auf das Fallbeispiel mit einem Mann, wo die Türen im Tageseinrichtungsbereich versperrt wurden aufgrund seiner sehr hoch eingeschätzten Fremd- und Selbstgefährdung. Die Eltern von diesem Mann hatten damals klare Vorstellungen davon, was in der Einrichtung anders gemacht werden sollte. Sie hatten zwar keine konkreten Ideen einer Alternative zur Freiheitsbeschränkung, aber sie sahen viel Entwicklungspotenzial in ihrem Sohn und Bruder. Durch die Gerichtsverhandlung und Anregungen von alternativen Wegen durch G1 bekamen die Familienangehörigen wieder Hoffnung und Mut, sich erneut gegen diese einschränkende Betreuung auszusprechen. Der Mann wurde immer wieder als Belastung für seine Umwelt bezeichnet und "dann kommt jemand daher und sagt, ich glaub nicht, dass der die anderen verletzen will, und ich glaube, dass der kommunizieren will und dass der Bedürfnisse hat, und ich glaube, dass man diese Bedürfnisse erkennen muss und dann wird das vielleicht aufhören. .. Da haben die Eltern natürlich dann gleich gesprudelt und gesagt ja, wir glauben das auch. Und wenn ich dann noch sage, vielleicht kann man die Türe ja auch aufsperren und man kann ein akustisches Signal an der Türe anbringen".

G1 geht davon aus, dass strukturelle Gegebenheiten in Einrichtungen Aggressionen und als Folge davon dann Freiheitsbeschränkungen verursachen müssen. Alternativen können nur funktionieren, wenn die Umgebung förderlich ist und positive Entwicklungsmöglichkeiten aufweisen kann. Das heißt, es muss die Frage beantwortet werden: Tut die Institution, Gegend, soziales Umfeld überhaupt gut oder gibt es einen anderen, besseren Ort für den Menschen mit Behinderung? Weiters die Suche nach Anlässen, warum jemand immer wieder in bestimmten Situationen ausrastet oder aggressiv wird. "Da gehört zu überlegt, ob da nicht eine gewisse (Pause) strukturelle Gewalt schon in diesen Einrichtungen steckt, die auch Aggressionen produziert". Eventuell kann dieses selbst- oder fremdgefährdete Verhalten gegen sich und andere als Schrei nach Veränderung gesehen werden. Dann sollte auch der Frage nachgegangen werden, ob das Personal schlichtweg überfordert ist mit "schwierigen" Personen aufgrund schlechter Ausbildung oder wenig Erfahrung im Umgang mit behinderten Menschen. G1 spricht hier speziell von Zivildienern oder jungen Erwachsenen, die gerade ein freiwillig soziales Jahr machen. "Ich habe eher immer das Gefühl, es wer den Personen, die einfach überfordert sein müssen (stark betont) den schwierigsten Menschen in einer Einrichtung, diesen Menschen anvertraut". Das bedeutet, dass eine gute Grundausbildung eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Alternativen überhaupt funktionieren können. Auch dass MitarbeiterInnen, die weniger Erfahrung und Ausbildung haben, jemanden zur Seite gestellt bekommen, der/die eine akademische Grundausbildung vorweisen kann und ein gutes Konzept im Hintergrund hat und die dann auch als AnsprechpartnerIn zur Verfügung steht. Auf institutioneller Ebene benötigt es laut G1 "mehr Zeit, mehr Personal, mehr Räume".

Bei der Auseinandersetzung mit Alternativen spricht G1 auch die Unterbesetzung von Personal in Einrichtungen an und dass dadurch keine optimale Form der Betreuung stattfinden kann. Das bedeutet, dass auch ein angemessener Betreuungsschlüssel notwendig ist, damit jede/r die Unterstützung erhält, die ihm/ihr auch zusteht. "Also, da gibt es auch ein steirisches Gerichtsgutachten, wo der Richter im Zuge des Heimaufenthaltsg esetzes gesagt hat, Personalmangel kann nicht eine Menschenrechtsverletzung legitimieren, und auch wenn eine Einrichtung sagt, wir haben niemanden. Das ist kein Argument für eine Freiheitsbeschränkung und das finde ich ganz, ganz wichtig".

Damit alternative Wege erarbeitet und ausprobiert werden können, müssen sich BetreuerInnen, HelferInnensystem oder Familien auch Zeit dafür nehmen. Die Auseinandersetzung und Umsetzung pädagogischer Alternativen sind längere, zeitintensive Prozesse. Aufgrund von Personalmangel oder ungünstiger Organisationsstruktur kann eventuell keine gründliche Vertiefung dieser Problematik stattfinden. "Ich glaube auch, dass Betreuer sich denken. Ma, ich kann ja nicht so viel Zeit in den stecken". Auch hier kann der BetreuerInnenschlüssel zum ernsthaften Problem werden. "Eben in diesem System, wenn Sie ein Betreuer sind für zehn Klienten oder für sieben oder fünf. Dann geht immer die Betreuung des einen auf Kosten des anderen. Das ist immer unfair dieses System". Demnach spielt ausreichend Zeit bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen eine nicht unwesentliche Rolle.

Ein ressourcenorientiertes Behindertenbild ist ebenfalls sehr förderlich bei der Erarbeitung von Alternativen. G1 geht davon aus, das Aggression prinzipiell etwas Kommunikatives ist. "Wo es darum geht zu sagen, ... um Selbstbehaupt ungstendenzen und wo man etwas will von jemand anderem". Unter Umständen ist Aggression die einzig mögliche Form, um mit anderen in Kontakt zu treten. Ihrer Ansicht nach sollte das aggressive Verhalten, das vielleicht auf den ersten Blick als schlecht oder unnütz gedeutet werden kann, als Ausgangslage für die Fragen verwendet werden, an was denn der Mensch mit Behinderung gehindert wird und warum er/sie so geworden ist, wie er/sie heute ist.

Alternativen sollen ihrer Meinung nach auch immer im Team ausgearbeitet und entwickelt werden. G1 sieht sich eher in einer beratenden Rolle als Gutachterin. Durch ihr Fachwissen kann sie Empfehlungen und Ratschläge bezüglich alternativer Wege geben, aber für die Erarbeitung und Umsetzung von Alternativen ist dann ein Team, HelferInnensystem oder die Familie zuständig. "Ja also, ich entwickle ja jetzt keine Alternativen als Gutachterin. Ich schlage vor". Das bedeutet, G1 stellt in ihren Gutachten Thesen pädagogischer Art auf und es liegt dann an den handelnden Personen, diese Ratschläge anzunehmen oder abzulehnen. G1 hat den leisen Verdacht, dass teilweise die vorgeschlagenen Alternativen in den Gutachten gar nicht ausprobiert werden seitens der Einrichtung oder inwieweit ein Machtkampf herrscht zwischen BetreuerInnen und GutachterInnen bezügli ch der realen Einschätzung der Umsetzung von Alternativen zur Freiheitsbeschränkung. "Ich glaube, dass Gutachten nicht wirklich ... geeignet sind, um Menschen zu motivieren, dass sie sich Alternativen überlegen".

G1 beschreibt die eigene Reflexion bei der Erstellung von Gutachten als "unglaublich wichtig". Bei einem der beiden Fälle wurde ein enormer Druck auf sie ausgeübt und sie musste ihre Position als Gutachterin überdenken. "Also, wenn ich mich so eindeutig auf die Seite der Klienten stelle, auf die ich ja eigentlich nicht stehen soll als Gutachterin, ja. Ich soll ja irgendwie neutral sein". Die Selbstreflexion äußerte sich quasi in einem inneren Konflikt, ob sie als Gutachterin überhaupt parteilos gegenüber der Einrichtung einerseits und dem Menschen mit Behinderung andererseits sein kann. Weiters fordert G1 ihrer Ansicht nach durch ihre Stellungnahme vor Gericht ein Betreuungsteam unter anderem auf, sich wehren und kritisieren lassen zu müssen. Durch ihre Vorschläge und Empfehlungen von kurz-, mittel- und langfristigen pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung bringt sie "auch ein Team unter Umständen in die Position, sich verteidigen zu müssen. Also, warum haben wir das noch nicht gemacht, war um wissen wir das nicht und war um haben wir die Theorie noch nicht gehört". Und dann die Reflexion darüber, ob die vorgeschlagene Alternative überhaupt realistisch ist oder ob es sich um eine Wunschvorstellung ihrerseits handelt. "Ich hab mir damals schon auch beim Verfassen des Gutachtens Unterstützung geholt von zwei Gutachterinnen. ... So in Richtung, bin ich hier eh noch richtig? Schieß ich nicht übers Ziel mit meinen Vorstellungen? Halten sie das auch für möglich?" Das heißt, auch das Gefährdungspotenzial muss seitens der GutachterIn richtig bei der Suche nach Alternativen eingeschätzt wer den.

Auf die Frage, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit es in Zukunft keine Freiheitsbeschränkungen mehr gibt, antwortet G1, dass ihrer Meinung nach noch kein gesellschaftlicher Konsens darüber herrscht, was überhaupt eine freiheitsbeschränkende Maßnahme ist. "Dass das jetzt mal ins Bewusstsein rückt. Dass es in das Bewusstsein rückt, aha, jemanden einzusperren, jemanden an den Rollstuhl mit Gurten zu fixieren, jemanden mit Medikamente so weit zu sedieren, dass der wie ferngesteuert rumrennt, ist eine Freiheitsbeschränkung (betont) und ist ein Verstoß gegen Menschenrechte (betont) und ist eigentlich in Österreich nicht mehr zulässig (Pause)". Ihrer Einschätzung nach herrscht derzeit nur ein rechtlicher Konsens, wobei auch hier noch lange nicht alle Bereiche im Umgang mit dieser Problematik abgedeckt sind. Außerdem fehlt es häufig noch an der gesellschaftlichen Nichtakzeptanz der Familien, BetreuerInnen und unmittelbar betroffenen Personen. "Aber da den Blick zu schärfen .. wär dringend notwendig. Und dann wird es nicht so sein, dass keine freiheitsbeschränkende Maßnahmen mehr sind, sondern dann wird erst mal auffallen, wo überall die sind. (Pause) Und das würde ich mir wünschen, das passiert".

G1 kommt auch immer wieder auf die Wichtigkeit der Lebensgeschichte des Menschen mit Behinderung zu sprechen. Dabei bezieht sie sich auf die rehistorisierende Diagnostik von Wolfgang Jantzen. "Ich glaube, wenn man es [rehistorisierende Diagnostik] betreibt, wenn man sich einarbeitet, [eine] sehr strukturierte Form anbietet, wie man Menschen versteht. .. Wie man Menschen aufgrund von einem Syndrom versteht. Und versteht, natürlich mit dieser Behinderung oder mit diesem .. muss ja gar keine Behinderung sein, mit diesem Defizit oder mit dieser Einschränkung ... komm ich an die und die Reaktionen der Umwelt und diese Reaktionen machen mich zu dem, der ich bin". Ihrer Ansicht nach ist die rehistorisierende Diagnostik eine sehr gute Maßnahme bei der Auseinandersetzung mit und folglich auch bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung. Gegen Ende des Interviews erzählt sie ein schönes Beispiel dafür, was eine gelungene rehistorisierende Diagnostik bewirken kann. G1 war zur damaligen Zeit in einem Wohnhaus tätig, wo auch ein Mann lebte, der zur sogenannten geistigen Behinderung noch eine psychiatrische Diagnose hatte, ein manisch-depressives Krankheitsbild. Diese Manie war speziell in den Frühlingsmonaten sehr ausgeprägt. Gegenüber dem Wohnhaus war ein Pferdestall, welchen der Mann immer wieder gerne besuchte. Das Team schätzte zunächst die Besuche im Pferdestall als gut für ihn ein, weil er immer wieder die Kraft aufbrachte, trotz der manischen Phasen im Frühjahr dort hinzugehen. "Und es waren dann auch immer recht bedrohliche und auch manische Zustände, wo er dann auch selbstgefährdend war. In dem Sinn, dass er dann mitten auf der Straße Rad gefahren ist und solche Dinge gemacht hat. Auch dann ein Stück weit fremdgefähr det geworden ist. Sich nichts mehr sagen hat lassen und man dann auch nicht mehr reden konnte". Das waren die Situationen, die für das BetreuerInnenteam beobachtbar war.

Dieser Pferdestall diente jedoch auch als Zuchtstation für Stuten und vom Wohnhaus aus konnten die gewaltvollen und "ekeligen" Szenen des Befruchtungsvorgangs betrachtet werden. Das Team war sich dann auch unsicher, ob diese Besuche im Pferdestall wirklich gut seien für den Bewohner oder nicht. Jedes Jahr wurde in einem multiprofessionellen Team über das Ruhigstellen durch Medikamente, einen Psychiatrieaufenthalt und die Ursachen dieser Manie diskutiert. Irgendwann lieferte dann der Bruder des Mannes das fehlende "Puzzleteil" und mit dieser Information konnte seine Lebensgeschichte und Gewordenheit endlich verstanden werden. Dieser Mann wurde als Jugendlicher Opfer eines gewaltvollen Übergriffs durch Gleichaltrige. "Im Frühjahr, in dieser Wiederholung dieser Gewaltszene, die da vor unserem Haus passiert. Ja, vor seinen Augen abläuft und dem er sich auch nicht entziehen konnte. Sondern wo er dann auch magisch angezogen und wo er dann auch immer runter ist. Dass das natürlich auch die Manie verstärkt. Und ... aus diesem Wissen raus konnten wir dann auch ganz anders tun. Dann war klar, der Pferdestall ist nicht gut für ihn, das Zuschauen ist nicht gut für ihn und dann konnten wir auch Vorkehrungen treffen. Und wir konnten das Thema bearbeiten". G1 beschreibt diesen Vorgang als jahrelangen Prozess und als "höchst gelungenes Beispiel einer rehistorisierenden Diagnostik". Die Zeit spielte demnach eine wesentliche Rolle. Angefangen mit dem Erkennen, dass sich dahinter ein Muster verbirgt, hinter der verstärkten Manie in einer bestimmten Jahreszeit, die Manie in Zusammenhang mit den Pferdestall zu bringen und die ständige Auseinandersetzung mit den Ursachen des Verhaltens. "Und dann dieses Glücksgefühl für ein Team und für ihn. Und wie gut das für unsere Beziehung war, draufzukommen. Okay, wir haben etwas verstanden. Wir haben von dir etwas verstanden. Du hast von uns was verstanden". Eine passende und förderliche Alternative kann nicht von heute auf morgen umgesetzt werden. Würde über diese wesentliche Schlüsselszene in seiner Lebensgesichte hinweggeschaut oder die Ursache dieser Manie nicht erforscht werden, dann wäre er unter Umständen nie von seinen Mitmenschen verstanden worden bzw. hätte er nicht die Betreuung erhalten, die er braucht, um ein geregeltes Leben führen zu können. Bei der Auseinandersetzung mit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung geht es zunächst darum, die Lebensgeschi chte zu verstehen und dann in einem nächsten Schritt das Erfahrene mit dem Menschen mit Behinderung aufzuarbeiten und weitere Vorkehrungen für die Betreuung zu treffen. "Auch wenn es nur symbolisch zwischen zwei Tieren passiert. Aber der Mann scheint doch ... oder der war intellektuell fähig, diese Verbindung herzustellen. Das war oder es war emotional so belastend, dass sich das in einer Manie niedergeschlagen hat". Wäre dieses gewaltvolle Ereignis bis heute unbekannt geblieben, müsste er wahrscheinlich noch immer mit diesem Schmerz alleine fertigwerden.

Während des Erzählens kam G1 der Gedanke, dass eine freiheitsbeschränkende Maßnahme eine "heile Welt" aufrechterhalten kann. Wenn sich Familien, BetreuerInnen und andere unmittelbar Betroffene mit der Lebensgeschi chte und Gewordenheit der Menschen mit Behinderung auseinandersetzen, dann können natürlich viele verdrängte Geschichten ins Bewusstsein rücken, die traurig und schockierend sind. Diese Aufarbeitung des Geschehenen bedeutet auch Schmerz, nicht nur für den Menschen mit Behinderung selbst, sondern auch für diejenigen, die in dieses Netz auf irgendeine Art und Weise verwickelt sind. Das würde wiederum bedeuten, dass Freiheitsbeschränkungen auch als Schutzmaßnahmen gesehen werden können. "Und dass die Menschen auch, .. um nicht an den Schmerz erinnert zu werden, lieber intellektuell ihre Kapazitäten verlieren und dann schützen sie uns. Schützen sich und schützen uns". Alternativen zur Freiheitsbeschränkung verlangen aber, gerade den Schmerz und die Mitschuld am Leid des/der anderen auszuhalten und ebenso Verantwortung zu übernehmen für das eigene Fehlverhalten. "Das dürfte es sein, was uns hindert, ... hinzuschauen" und "wenn diese freiheitsbeschränkenden Maßnahmen wirklich gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert werden würden, dann müssten wir sehr viel Schmerz aushalten. Und sehr viel an Hinschauen auch ".

Die wichtigsten Aussagen in diesem Interview waren für mich einerseits die Bestätigung durch G1, dass eine rehistorisierende Diagnostik bei der Erarbeitung von pädagogischen Alternativen von höchster Bedeutung sein kann und dass es sich lohnt, sich die Zeit für das Verstehen der Gewordenheit und der Lebensgeschichte des Menschen mit Behinderung zu nehmen. Andererseits war es die Aussage, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen Schutz für alle unmittelbar Betroffenen bieten, nur um sich nicht an schmerzhafte Ereignisse erinnern zu müssen.

10.2 Interview 2

Die zweite befragte Gutachterin hat insgesamt zwei Gutachten im Zuge des HeimAufG verfasst und arbeitet derzeit unter anderem als Bewohnervertreterin. G2 ist von der Grundausbildung her Sonder- und Heilpädagogin und besuchte vor Einführung des Bundesgesetzes einen Lehrgang, um sich als Sachverständige in pädagogischen und rechtlichen Angelegenheit im Behindertenbereich zu qualifizieren. Es finden nach wie vor regelmäßige Treffen dieser ehemaligen Lehrgangsgruppe statt, somit bleibt Raum und Zeit für Austauschmöglichkeiten, zum Besprechen von Fallbeispielen und zur internen Supervision. Bei den zwei Gutachten von G2 ging es um eine geschlossene Station und eine versperrte Zimmertür in der Nacht als freiheitsbeschränkende Maßnahmen.

Den Prozess des Entwickelns von pädagogischen Alternativen beschreibt G2 folgendermaßen. Zunächst setzt sie sich damit auseinander, was denn der Grund oder die Ursache für die freiheitsbeschränkende Maßnahme sein kann. Nachdem sie erste Hypothesen darüber aufgestellt hat, ist es ihr wichtig, diese dann mit dem Personal und der Einrichtungsleitung zu besprechen. "Also letztendlich mal ein Stückchen gemeinsam nach Ansicht meiner Hypothesen zu entwickeln, was könnte man denn anstatt der Freiheitsbeschränkungen oder was noch tun oder was könnte man in welcher Form wie tun". In diesem ersten Schritt ist dann auch ersichtlich, wie veränderungsbereit letztendlich die Einrichtung ist und wie sehr andere Sichtweisen aufgegriffen und weiterentwickelt werden können. G2 ist der Ansicht, nur wenn die Einrichtung im Gutachtenspr ozess involviert ist, kann diese auf den Weg gebracht werden, Alternativen zur Freiheitsbeschränkung anzudenken und folglich auch Ideen dafür zu entwickeln, wie diese ausschauen könnten. "Nur dann wird es auch gelingen, dass sie dann später was umsetzen davon". Ein gemeinsamer Austausch und die Erarbeitung von Alternativen zwischen GutachterIn und pädagogischem Personal sind so gesehen wesentliche Rahmenbedingungen für den Gutachtensprozess, aber dann auch für die Gutachtenser stellung. "Das würde ich jetzt mal als die optimale Form beschreiben, wenn man die Einrichtung dazu bringen kann und wenn sie dafür bereit ist und umgekehrt auch". G2 begründet die Wichtigkeit der Zusammenarbeit in einem nächsten Schritt, dass die Einrichtung dadurch schon einen Plan B hat, wenn der/die RichterIn eine Freiheitsbeschränkung für nicht zulässig erklärt. "Letztlich haben sie dann vom Gericht eine Unzulässigkeitserklärung, also wenn's dazu kommt, und stehen dann vor der Situation, sie können die Freiheitsbeschränkung nicht länger anwenden und haben gleichzeitig keine Idee von Alternativen".

Während der Diagnostik, aber auch bei der Entwicklung von Alternativen sucht G2 immer den persönlichen Kontakt mit dem betroffenen Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung. "Mir ist es dabei immer wichtig, herauszufinden, also einerseits so die Frage, was will er denn, und andererseits der Frage nachzugehen, was kann er denn auch beziehungsweise wie .. wie würde oder wie schätze ich das Gefährdungspotenzial ein". G2 versucht je nach Möglichkeit, Fragen zu stellen, also in Interaktion zu treten. Zudem stellt die GutachterInnentätigkeit ihrer Meinung nach ebenfalls eine beobachtende Rolle dar. Da sie in ihrer Funktion als Sachverständige nicht in den Betreuungsalltag bzw. das -geschehen involviert ist, spielt die Einschätzung der Art und Weise der Betreuung eine wesentliche Rolle bei der Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen. Durch ihre beobachtende Anwesenheit in der Einrichtung bekommt sie ein Gespür für das Alltagsgeschehen und eine Idee davon, wie mit dem Klienten/der Klientin gearbeitet wird. Ein weiteres und eigenes Kapitel im diagnostischen Prozess ist die Lebensgeschichte des Menschen mit Behinderung. "Ja, es war mir in beiden Fällen sehr, sehr wichtig. Ah, quasi so die aktuelle Lebenssituation oder auch die aktuellen Konflikte. Also, so die aktuelle Gefährdung, die ja auch Teil des .. von psychischen oder innerpsychischen Konflikten sind, auch vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte zu beleuchten ". G2 hat auch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Einrichtungen ganz wenig zur Lebensgeschichte ihrer KlientInnen erzählen können. Das Wissen über die wichtigsten Ereignisse und verschiedenen Stationen im Leben des/der Betroffenen ist jedoch die Basis, um dann einen Ansatzpunkt für Veränderungen zu schaffen. "Da war mehr die Intention dahinter und dann verstehen zu können, warum ist das Kind oder das junge Mädchen [bei einem Gutachten handelte es sich um ein junges Mädchen] so, wie sie heute ist. Also, wie ist sie vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte zu verstehen". Das Aufrollen der Lebensgeschichte gibt GutachterInnen, aber auch der Einrichtung wichtige Hinweise darauf, warum jemand so geworden ist, wie er/sie heute ist und wie hoch das Gefährdungspotenzial ist. Durch die Auseinandersetzung mit dem Symptom, also dem selbst- oder fremdgefährdeten Verhalten, kann G2 besser einschätzen, "in welchen Bereichen ist denn der geistig behinderte Mensch wie gefährdet oder in welchen Bereichen gefährdet er wie andere". Ebenso ist die eigene Selbstreflexion, aber auch die Reflexion über den Fall von großer Bedeutung, denn dadurch ergeben sich neue Zugänge zum Fall im Gutachtensprozess. Hier wird deutlich sichtbar, dass es notwendig ist, den Menschen mit Behinderung in den Diagnostikprozess mit einzubeziehen. Das heißt in weiterer Folge, mit ihm/ihr in Kontakt zu treten, ihn/sie über die Situation aufzuklären und mit ihm/ihr gemeinsam zu versuchen, die Lebensgeschichte zu rekonstruieren. Die Auseinandersetzung mit der Gewordenheit der Person ist sicher lich eine der schwierigsten Aufgaben bei der Entwicklung von Alternativen, aber auch die Grundvoraussetzung für gegenseitiges Verstehen.

G2 hat nach Einführung des HeimAufG zwei Gutachten erstellt. Beim ersten Fall ging es um einen Mann Mitte dreißig, der die gesamte Station nicht verlassen konnte. Lediglich mithilfe des Personals konnte er sich von der geschlossenen Station entfernen. Im Gutachtensprozess kam G2 zum Entschluss, dass "das Gefährdungspotenzial des jungen Mannes gar nicht so hoch (betont) war, dass er überhaupt auf einer geschlossenen Station hätte leben sollen oder müssen". G2 sah bei diesem Mann viel Weiterentwicklungspotenzial und konnte eine Reihe an pädagogischen Alternativen aufzeigen. "Ahm, die Alternativen waren damals im ganz praktischen Bereich von Verkehrstraining, Orientierungstraining, also so in diesen Bereichen, also ganz praktisch angesiedelt. Auf einer längerfristigen, mittel- bis längerfristigen Ebene, ahm, F örderung von Selbstständi gkeit, das Angebot oder überhaupt die Umstrukturierung dieser Wohneinheit in eine offene Wohneinheit". Beim Gerichtsverfahren gab es eine befristete Zulässigkeitserklärung der Freiheitsbeschränkung. Da der alternative Weg in Richtung struktureller Veränderung gegangen ist, gab es die berechtigte Annahme, dass die Umsetzung der Alternativen nicht so schnell passieren kann. Die Einrichtung hat zunächst mit dem Klienten gearbeitet und diagnostische Einschätzungen gemacht. Wie der aktuelle Stand der Umsetzung ist, ist ihr leider nicht bekannt. Es gibt Bemühungen auch seitens der Bewohnervertretung in Richtung offene Wohneinheit und Auflösung der geschlossenen Wohnstruktur.

Beim zweiten Gutachten handelte es sich um ein 16-jähriges Mädchen, bei dem nachts aufgrund des sehr hoch eingeschätzten Gefährdungspotenzials immer die Tür von ihrem Zimmer versperrt wurde. Durch MitarbeiterInnenmangel wurde dies auch tagsüber für die Einrichtung zum Problem, da das Mädchen alles Essbare und Nichtessbare in den Mund genommen und sich dann verschluckt hat oder einfach abgehaut ist. G2 teilte die Meinung der Einrichtung, dass das Gefährdungspotenzial sehr hoch ist und sah weniger Alternativen im kurzen, mittelfristigen Bereich. "Da ist lediglich die Alternative geblieben, dass der Nachtdienst so verstärkt wird, auf der strukturellen Ebene, dass, wenn immer sie den Raum verlässt, oder das Zimmer in der Nacht verlässt, dann immer wer ad hoc bei ihr sein kann. Ah, (Räuspern). Das jetzt auf der kurzfristigen strukturellen Ebene". Das junge Mädchen wies autistische Züge auf und auf längere Sicht hin empfahl G2 eine Psychotherapie, "um ihre vielen, unzähligen innerpsychischen Konflikte mit anderen Formen als wie mit Autoaggression bewältigen zu lernen". Der alternative Vorschlag das Team betreffend waren Fallberatungen, damit andere Umgangsformen mit den vielen konflikthaften Situationen gefunden werden konnten. Letztendlich wurde die freiheitsentziehende Maßnahme durch das Gericht als zulässig erklärt und "insofern, da der Druck für die Einrichtung, was zu verändern am Bestehenden sehr , sehr gering war".

Bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung auf einer sehr allgemeinen Ebene gibt es für G2 zwei geeignete Wege, die sich während ihrer Tätigkeit als Gutachterin immer wieder bewährt haben. Auf der einen Seite geht es um die intensive Auseinandersetzung des Teams mit dem Menschen mit Behinderung durch Fallsupervision und Fallberatung. "Ich glaube, was schon auch wichtig ist und letztendlich geht es ja da immer so um den Bereich der Mitarbeiter und gar nicht mehr so sehr um den geistig Behinderten oder eigentlich gar nicht mehr um den geistig behinderten Menschen. Weil die ja meines Erachtens ihr Handeln verändern müssen und es nicht darum geht oder es nicht (betont) so sehr darum geht, dass der geistig behinderte Mensch sich verändert". G2 geht davon aus, dass sich in erster Linie die MitarbeiterInnen der Einrichtung über das eigene Handeln Gedanken machen müssen. Durch die Selbstreflexion des Personals soll das eigene Tun hinterfragt und ein Bewusstsein darüber geschaffen werden, was freiheitsbeschränkende Maßnahmen für den Menschen mit Behinderung bedeuten.

Fragen wie "Was tun wir denn da eigentlich?" oder "Warum eskalieren Situationen immer genau in diesen Situationen und was ist unser Anteil dabei?" müssen ausgehalten werden. Methodisch gesehen sind also G2s Auffassung nach verschiedenste Formen von Fallberatung, Fallsupervision und das Bemühen der Selbstreflexion über das eigene Tun notwendig bei der Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung im Behindertenbereich.

Auf der anderen Seite und ebenfalls auf einer sehr allgemeinen Ebene nennt G2 differenzierte diagnostische Einschätzungen. Hier geht es um die Beurteilung kognitiver Fähigkeiten, aber auch um den emotionalen Erfahrungs- und Lebensbereich des Menschen mit Behinderung. Die Empfehlung ihrerseits ist "also eine diagnostische Einschätzung über die Fähigkeiten, über den Grad der Selbstständigkeit oder das Gefährdungspotenzial. Aber das auch durchaus angesi chts seiner Geschichte oder seiner bisherigen Gewordenheit. Also warum ist er denn heute so, wie er ist?" Die Begründung, warum G2 eine differenzierte diagnostische Einschätzung bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen für so wichtig hält, ist das kurzsichtige alltagspädagogische Verständnis in einigen Einrichtungen. Je mehr Wissen über den Menschen mit Behinderung vorhanden ist, desto mehr Sinn macht es, an bestimmten Problembereichen zu arbeiten. "Und dann, quasi daraus wiederum, ahm, Ideen, Maßnahmen, .. Alternativen abzuleiten, wie fördere ich denn den Menschen am besten oder was kann ich denn tun, damit er nicht ununterbrochen in so, so riesige Konfliktsituationen gerät".

Auf einer konkreteren Ebene nennt G2 sehr praktische und durchaus konkrete Vorstellungen und Vorschlägen. Im Idealfall werden diese Ideen gemeinsam mit dem Personal angedacht und entwickelt, um dann den Einrichtungsalltag rasch einmal etwas anders gestalten zu können. Konkret auf das Fallbeispiel des Mannes, der auf einer geschlossenen Station lebte, bezogen wäre das zum Beispiel Orientierungs- und Selbstständigkeitstraining. "Das ist, wo man mal anfangen kann, wo man mal was tun kann". Somit wird schon einmal die Richtung von alternativen Denkweisen angeregt, bevor die Auseinandersetzung mit größeren pädagogisch- diagnostischen Fragestellungen beginnt.

G2 sieht ein Arbeitsbündnis zwischen der Einrichtung und dem/der GutachterIn als eine wesentliche Rahmenbedingung, damit eine Alternative zur Freiheitsbeschränkung überhaupt funktionieren kann. Unter Arbeitsbündnis versteht G2 den regen Austausch während dem Gutachtenspr ozess und die Willigkeit, alternative Wege in der Betreuung anzudenken und zu entwickeln. "Was dann quasi verhandelt wird, damit da die Bereitschaft steigen kann, von dem was anz unehmen. Im günsti gsten Fall, wenn sie quasi dann schon bei der Verhandlung draufkommen, das sind ja Dinge, die haben wir eh gemeinsam entwickelt und das sind ihre Ideen. Und das steht dann auch im Gutachten so drinnen. Also, finde ich so vom Verlauf eines Gutachtensprozesses eine ganz, ganz wesentliche Rahmenbedingung".

Einrichtungen haben bezüglich pädagogischer Alternativen zur freiheitsentziehenden Maßnahme ganz unterschiedliche Zugänge. Die einen sind stur und lehnen Empfehlungen und Vorschläge ab, da sie "immer wieder beweisen wollen, dass das, was sie tun, eh das Richtige ist". Und die anderen nehmen fachliche Aussagen dankend an und probieren anhand der Außensicht Neues aus. Letzteres kann als eine wesentliche Rahmenbedingung seitens der Einrichtung verstanden werden. Die Institution muss offen und bereit sein für das Experimentieren mit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung. "Also, sich schon auf gewisse Weise, sich auf die Finger schauen zu lassen und vielleicht auch in bestimmten Punkten sich angreifen zu lassen oder auch sich angegriffen zu fühlen". Diese Rahmenbedingung setzt aber voraus, dass die Einrichtung nicht zu sehr im Konflikt mit dem Gesetz, aber auch mit der Bewohnervertretung ist, welche das HeimAufG repräsentieren. Können Institutionen letztendlich dem Gutachten nichts Positives entnehmen, wird die Freiheitsbeschränkung erneut gesetzt. Das sind dann auch die Schwierigkeiten und Probleme bei der Umsetzung von pädagogischen Alternativen, wenn freiheitsentziehende Maßnahmen "aus der Not heraus .., weil sie ja wirklich nicht wissen, wie anders tun", angewendet werden. Auch die Annahme des Personals, dass eine Freiheitsbeschränkung "die einzige und die beste Möglichkeit" ist, in Anbetracht der schwierigen KlientInnen in der Einrichtung.

Bestmöglich ausgebildetes Personal im (sonder-)pädagogischen Bereich, die Bereitschaft und Fähigkeit, das eigene Tun zu reflektieren, und gut funktionierende Betreuungsteams sind nach G2 die wesentlichen Voraussetzungen für eine ideale Betreuung ohne freiheitsentziehende Maßnahmen. Dazu gehört auch das Alltagsverständnis, das eigene Handeln kritisch zu beleuchten und diagnostische Einschätzungen vorzunehmen und diesbezüglich auch zu handeln. Ihrer Meinung nach bedarf es auch Betreuungsteams, "die sich in schwierigen Situationen Fallberatung, Fallsupervision holen [und] die ein bestimmtes diagnostisches Know-how haben". Ob Einrichtungen in Zukunft keine Freiheitsbeschränkungen mehr anwenden, bleibt zweifelhaft. G2 meint, dass Institutionen mehr die Notwendigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme hinterfragen und differenzierter und reflektierter an dieses Problem herangehen sollten. "Ob man so ganz ohne auskommt, da bin ich mir nicht ganz so sicher".

Die wichtigsten Aussagen im Interview waren für mich einerseits die gemeinsame Erarbeitung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung (das sogenannte Arbeitsbündnis) und der Kenntnisaustausch zwischen Einrichtung und dem/der Sachverständigen im Gutachtenspr ozess sowie andererseits das Wissen über die Lebensgeschichte und warum der Mensch mit Behinderung so geworden ist, wie er heute ist. Diese Erkenntnisse geben Auskunft über Gründe und Ursachen eines Verhaltens und weswegen eine freiheitsentziehende Maßnahme im Betreuungsalltag verwendet wird. In Kontakt zu treten mit dem betroffenen Menschen mit Behinderung, ist demnach höchst empfehlenswert und auch notwendig, um geeignete Alternativen zu finden. Die Art und Weise der Betreuung, Ausbildung und Hinterfragung des eigenen Tuns des Personals, strukturelle Gegebenheiten, die Offenheit und Bereitschaft zur Veränderung der Einrichtung, das Wissen über mögliche Alternativen, differenzierte und diagnostische Einschätzungen und Formen von Fallberatung und Fallsupervision können als Schlagwörter und förderliche Maßnahmen bei der Entwicklung von pädag ogischen Alternativen angesehen werden.

10.3 Interview 3

Die dritte befragte Gutachterin hat insgesamt circa 20 Gutachten im Zuge des HeimAufG erstellt und ist von ihrer Grundausbildung her Sonder- und Heilpädagogin und klinische Psychologin. G3 hat ebenso den Lehrgang für GutachterInnen vor Einführung des HeimAufG absolviert. Speziell für rechtliche Fragestellungen finden immer wieder Aus- und Fortbildungen, aber auch Austauschmögli chkeiten vom Verband für Sachverständige statt. Bei diesen Meetings werden Gutachtensfäll e analysiert und besprochen. "Da versuchen wir auch, so etwas wie fachliche Standards zu entwickeln". Die Formen von Freiheitsbeschränkung, mit denen G3 im Rahmen ihrer Tätigkeit als Sachverständige bereits zu tun gehabt hat, waren unter anderen versperrte Türen beim Zimmer und Haus, Vier-Punkt-Fixierung, medikamentöse Freiheitsbeschränkung und Käfi ghaltung.

Ihre Vorgehensweise bei der Erstellung von Gutachten ist gleich wie bei G1 und G2. Auch G3 macht sich ein Bild vor Ort von der Situation, tritt in Kontakt mit dem Personal und dem Menschen mit Behinderung und versucht, das Verhalten, das zu der freiheitsbeschränkenden Maßnahme geführt hat, zu entschlüsseln. G3 bezeichnet die Entwicklung von Alternativen als Frage-Antwort-Prozess. "Wenn das Symptom jetzt eine Frage ist, ja, .. eine Mitteilung, dann kann man sagen, die Alternative ist der Versuch, eine Antwort zu geben, die für den behinderten Menschen eine Entwicklungsmöglichkeit bereitstellt". Eine freiheitsbeschränkende Maßnahme wird demnach angewendet, wenn der Mensch mit Behinderung nicht verstanden bzw. missverstanden wird. Weiters betont die Interviewpartnerin, dass die Entwicklungsprozesse von pädagogischen Alternativen nicht allzu schwierig sind. "Das war auch das Überraschende an der Sache. .. Ahm, im pädagogischen Bereich, in den Institutionen viel weniger angeboten wird, weniger Angebote und viel weniger pädagogisches Denken da ist. Ahm, als wir eigentlich geglaubt haben". Daraus kann schlussgefolgert werden, dass Einrichtungen bei der Betreuung von Menschen mit Behinderung eher selten ein gutes pädagogisches Konzept im Hintergrund haben, sei es durch Überforderung mit bestimmten Situationen, schlechte Grundausbildung des Personals oder dass pädagogische Methoden nicht verwendet werden, weil einerseits das Wissen darüber fehlt oder andererseits eine Unklarheit besteht, wie diese dann gut umgesetzt werden könnten.

Der Mensch mit Behinderung soll immer in den Entwicklungsprozess miteinbezogen werden. G3 ist ein persönlicher Kontakt zum betroffenen behinderten Menschen sehr wichtig. Die Kontaktaufnahme kann durch ein "direktes Gespräch" oder durch die Kommunikation auf einer symbolischen Ebene stattfinden. "Das, denk ich mir, macht auch anders nicht Sinn". Die Beobachtung einer Interaktionssituation von dem Menschen mit Behinderung und dem/der (Bezugs-)BetreuerIn ist für G3 wichtig bei der Analyse und Diagnostik des Gutachtensfalls. Die Lebensgeschichte spielt ebenso eine zentrale Rolle. "Das ist etwas, was mir sehr wichtig ist, denn anders kann ich sie auch nicht verstehen". G3 spricht in diesem Zusammenhang auch den Wissensverlust beim Wechsel von einer in die nächste Institution an. Die Lebensgeschichten von Menschen mit Behinderung sind meist lückenhaft und es ist ratsam, Gespräche mit den Eltern zu führen, sofern dies möglich ist. Um jemanden verstehen zu können, warum er/sie so geworden ist oder weswegen sich der behinderte Mensch fremdoder selbstgefährdet, braucht die Gutachterin Informationen über die Lebensgeschichte, um dann auch die Symptomatik begreifen zu können. G3 bezeichnet das Symptom als "die Spitze von einem Eisberg". Es ist ein Ausdrucksmittel, mit dem der Mensch mit Behinderung auf sich aufmerksam machen will. Bei der Entwicklung von Alternativen geht es demnach nie um die radikale Abschaffung eines Symptoms, "sondern zu schauen, was hat denn dazu geführt und was steckt dahinter". Das erfordert die intensive Auseinandersetzung der MitarbeiterInnen einer Einrichtung und aller unmittelbar betroffenen Personen mit dem Menschen mit Behinderung und seiner individuellen Geschichte und Gewordenheit. Alltagspädagogische Schlussfolgerungen können zwar zutreffend sein, müssen es aber nicht immer sein, denn nicht jeder behinderte Mensch verletzt sich selbst, nur damit er sich spürt. Die Erarbeitung von pädagogischen Alternativen verlangt, dass das selbst- oder fremdaggressive Verhalten richtig gedeutet und verstanden wird von den handelnden Personen, die mit dem behinderten Mensch zusammenar beiten.

Aufgrund ihrer vielen Erfahrungen als Gutachterin konnte sie anhand mehrerer Fallbeispiele die erarbeiteten Alternativen kompakt erläutern - angefangen bei den Problemstellungen über ungünstige strukturelle Gegebenheiten in den Einrichtungen bis hin zu den konkreten alternativen Vorschlägen in ihrer Tätigkeit als Sachverständige. Diese Fälle aus der Praxis sollen zeigen, dass es fast immer eine Alternative zur Freiheitsbeschränkung gibt.

Im ersten Fall ging es um einen jungen Mann, der in einer Wohngemeinschaft lebte, wo die Tür zum Wohnbereich, aber auch die Haustür versperrt wurde. Die Einrichtung argumentierte, dass der Mann nicht verkehrstüchtig sei, denn das Haus befände sich an einer viel befahrenen Straße. Die freiheitsentziehende Maßnahme brachte aber nicht den gewünschten Effekt. Die Einrichtung nahm den Schutzauftr ag des Klienten viel ernster, als es notwendig war. Das führte dazu, dass dieser Mann sich gewaltsam Zutritt nach draußen verschaffte, indem er Fenster beschädigte oder aufbrach und immer wieder hinausrannte, sobald die Tür offen war. Sein Ziel war immer wieder die gegenüberliegende Tankstelle und dort besonders das Süßigkeitenregal. "Das Bemerkenswerte war, dass es ein Verhalten war, das er seit Jahren macht. Und dass das Versperren der Türen überhaupt nichts genutzt hat". In den Jahren hatte er nie einen Verkehrsunfall und wenn es Verletzungen gab, dann waren dies die Folgewirkungen des gewaltvollen "Ausbrechen-Müssens". In der Werkstätte galt diese Handhabung nicht. Dort hatte er einen eigenen Schlüssel und er konnte die Räumlichkeiten, wann immer er wollte, verlassen. Für G3 war schnell klar, dass diese Maßnahme "nicht sinnvoll" ist. Die Erarbeitung von pädagogischen Alternativen setzte sie vor allem beim Betreuungsteam an. Es ging darum, "Sprengelarbeit" zu leisten, da sich die BetreuerInnen "unheimlich geniert" haben in der Tankstelle. "Die waren schon sehr angefressen", weil sie sich dort immer wieder entschuldigen mussten. Und dann ging es darum, die Maßnahme abzustellen und neuen Mut zu entwickeln. "Mit den Betreuern daran zu arbeiten, ihm ein bisschen mehr zuzutrauen. Weil offensichtlich hat er wirklich motorische Koordination sehr schnell durchführen können und daran zu arbeiten, was es für ihn bedeutet und warum das für ihn dort so wichtig ist, ja. Also da war eigentlich die Initiative, dass sich die Betreuer mit der Situation so auseinandersetzen, dass sie sehen, welche Auswirkungen das für sie hat und für sie bedeutet und dem behinderten Menschen etwas mehr zuzutrauen".

Im zweiten Fall handelte es sich um eine Vier-Punkt-Fixierung. In der Einrichtung wurde nach keinerlei pädagogischer Methode gearbeitet, sondern die MitarbeiterInnen orientierten sich nur an medizinischen Maßnahmen. "Und sie mussten überhaupt schauen, dass sie ein pädagogisches Konzept für diese Einrichtung entwickeln" und erkennen, "dass ein rein medizinisches Konzept nicht (betont) ausreichend ist und dass das nicht die Antwort darauf sein kann". In dieser Institution mangelte es an Angeboten, Tagesstrukturen und generell einem Konzept, wie mit Menschen mit Behinderung gearbeitet werden kann.

In weiteren Gutachtensfällen hatte G3 mit Käfighaltungen zu tun. "Also, da waren so Gitterstäbe, also wie ein riesengroßer Käfig". Insgesamt hatte G3 drei Fälle mit dieser Problematik zu bearbeiten. Die alternativen Empfehlungen waren zum Beispiel die Umgestaltung des Raumes anhand von Sensormatratzen. Im zweiten Fall konnte sich der Betroffene gut mit Helm bewegen und es gab keinen Grund für die Beschränkung. In einem anderen Fall hatte das Betreuungsteam Angst, dass die schwer gehbehinderte Frau stürzen könnte. Die betroffene Frau nutzte diesen Käfig dann auch ein Stück als Gehhilfe. "Nur dann war es eigentlich nicht sinnvoll, ihn zuzusperren. Da ist es darum gegangen, dann stückweise durch in erster Linie musikalisch-rhythmische, die war Musik sehr zugänglich, durch musikalisch-rhythmische Elemente ihr zu zeigen, dass dieser Käfig auch eine andere Seite hat und das si e die benutzen kann".

In diesen Gutachtensfällen war Personalmangel die Ursache, warum Menschen mit Behinderung in ihrer Freiheit eingeschränkt wurden. "Wie gesagt, Betreuermangel i st kein Grund, jemanden ei nzusperren".

G3s Auffassung nach müssen zwei Rahmenbedingungen gegeben sein, damit pädagogische Alternativen zur Freiheitsbeschränkung funktionieren können. Einerseits muss im "Ausbildungs-, Fortbildungs- und Supervisionsbereich des Personals", insbesondere auch bei der Leitung der Einrichtung, gearbeitet werden. Andererseits spielt die Struktur der Institution eine wesentliche Rolle: "Wie funktioniert Kommunikation, wie funktioniert Gerichtswesen, wer ist wem gegenüber verantwortlich, wer ist wie anwesend und so weiter. Gibt es Institutionskultur oder Organisationskultur und so weiter".

Bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen geht G3 davon aus, dass eine gute Basisausbildung die Voraussetzung dafür ist, dass sich dann in wei terer Folge MitarbeiterInnen in einzelnen Bereichen spezialisieren können. Aufgrund der Vielzahl an methodischen Ansätzen gibt es ihrer Meinung nach zwei Extreme. Entweder gibt es kaum bis wenig Fachwissen oder das Wissen über mögliche Diagnostiken und Methoden wird zu wenig im Behindertenbereich angewandt. Theorien oder Diagnostiken verlangen viel an Intellektualität, Vorwissen und die Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen. "Also, ich glaube, dass was an Fachwissen notwendig ist, wird in der Regel noch verschätzt". Eine sehr empfehlenswerte Maßnahme, die laut G3 gegeben sein muss bei der Erarbeitung von pädagogischen Alternativen, sind Einrichtungen, die eine angemessene Betreuung anbieten können. "Und das gehört einmal ... ordentlich auf die Beine gestellt. Es muss wirklich .. gute .. Institutionen geben, und dafür braucht es Ausbildung, Geld und .. auch gesetzliche Rahmenbedingungen, damit das verwirklicht werden kann". G3 spricht auch die "Abwehr vom institutionellen Kern" an, denn sie sieht große Schwierigkeiten bei Einrichtungen, welche in Elternnähe angesiedelt sind bzw. aus Elterninitiative heraus entstehen. Ebenfalls hat sie Bedenken, dass die schlechten Verdienstmöglichkeiten für Tätige im Behindertenbereich Auswirkungen auf die Betreuung für Menschen mit Behinderung haben können. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass Orte geschaffen werden sollen, die auch den "schwierigsten KlientInnen" eine optimale und förderliche Betreuung bi eten können. Solange katastrophale Zustände in Institutionen herrschen, gibt es leider wenig Raum für Alternativen. Geld, Ausbildung, die Bereitschaft der Institution sowie gute pädagogische Konzepte und gesetzliche Rahmenbedingungen tragen wesentlich zur Auseinandersetzung mit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung bei .

G3 beschreibt die Reflexion in der Wiener Arbeitsgruppe, Supervision und interne Besprechungen mit KollegInnen als unerlässlich beim Entwicklungsprozess von Alternativen. "Na ja, die ist ganz wichtig. ... Denn man kommt ganz schnell auf di e Schiene, diese fürchterlichen Betreuer und der arme Mensch. Also da muss man schon sehr .. aufpassen". Das heißt, die Selbstreflexion über das eigene Handeln, die richtige Einschätzung der Situation und das Besprechen des Gutachtens mit KollegInnen und SupervisorInnen sollen bei der Gutachtenserstellung mit einbezogen werden. Der Austausch in der Wiener Arbeitsgruppe findet ihrer Meinung nach noch zu sel ten statt, wie es eigentlich "geschickt" wäre.

Auf die Frage hin, was die wesentlichsten Voraussetzungen sind, damit in Zukunft freiheitsbeschränkende Maßnahmen unterlassen werden könnten, plädiert G3 für Holding- und Containing-Funktionen in den Institutionen. MitarbeiterInnen und Leitende sollen diese übernehmen können und sich dieser gleichzeitig auch bewusst sein. "Ich glaube, dass da die Leitungsebene und die Organisationsstruktur .. ahm, eine ganz, ganz wichtige Rolle spielt. Und dass diesem .. Seiltanz zwischen ,Ich decke meine Mitarbeiter' und ,Ich weiß, sie bauen Mist'" durch diese haltenden und einbindenden Funktionen entgegengewi rkt werden kann. Falls ich meine Interviewpartnerin in diesem Punkt richtig verstanden habe, dann geht es in erster Linie um das Wissen über die Organisationstruktur und darüber, wer für welche Angelegenheiten verantwortlich ist und wer AnsprechpartnerInnen sind in den unterschiedlichsten Fachbereichen. Weiters geht es um die Abklärung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, so nach dem Motto "Was darf ich und wo wird die Grenze überschritten". Schlussfolgernd kann gesagt werden, dass Holding- und Containing-Funktionen Schutz und Orientierungshilfe in Behinderteneinrichtungen bieten. Aufgrund der Tatsache, dass sich folgende Antwort bei der Auswertung für mich als etwas unklar herausgestellt hat, folgten diesbezüglich meine Interpretationen zu Holding- und Containing-Funktionen. Die Interviewpartnerin konnte nach dem persönlichen Treffen leider nicht mehr erreicht werden, um diesen Punkt im Gespräch nochmals verständlicher zu machen.

G3 sieht auch Schwierigkeiten und Grenzen bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung. Sie bezieht sich dabei auf Menschen mit Behinderung, die eventuell durch diese Maßnahme Sicherheit und Geborgenheit bekommen. "Dass diese Freiheitsbeschränkung diesen behinderten Menschen etwas sehr Wichtiges und Liebgewonnenes ist, ja. Sich von einem Symptom oder .. so zu verabschieden, bedeutet ja auch, etwas Vertrautes aufzugeben". Der Aspekt, welchen Einfluss die Freiheitsbeschränkung auf das Leben des Menschen mit Behinderung hat, sollte beim Auseinandersetzungsprozess mit Alternativen mit einbezogen werden. G3 spricht hier das Beispiel der schwer gehbehinderten Frau an, die durch den angefertigten Käfig auch eine Gehhilfe hatte.

Als zweite Grenze erwähnt G3 die Ängste des Personals. "Einerseits, .. Ängste, es könnte ihnen etwas vorgeworfen werden oder sie könnten vor dem Richter zitiert werden oder sie könnten .. den Job verlieren". Das wäre sozusagen die rechtliche Befürchtung, was passieren könnte. "Das andere sind dann die persönlichen Konsequenzen, also ich will nicht schuld sein, ... wenn dieser Mensch verletzt ist. Ja, das sind die Ängste des Personals im Umgang mit behinderten Menschen". Die persönlichen Befürchtungen drücken sich dadurch aus, dass Freiheitsbeschränkungen leichter zu akzeptieren sind, wenn damit die eigenen Ängste in Schach gehalten werden können.

Gegen Ende des Interviews erzählte G3 noch ein Fallbeispiel aus ihrer Tätigkeit als Sachverständi ge. Dieser beschriebene Fall zeigt das Scheitern pädagogischer Arbeit, weil alternative Wege zur Freiheitsbeschränkung erst gar nicht ausprobiert worden sind.

Es ging um einen 45-jährigen behinderten Mann, der in der Wohngemeinschaft eingesperrt und mit Medikamenten schwer sediert wurde. Zu seiner Lebensgeschi chte kann gesagt werden, dass er im Alter von acht Jahren einen Verkehrsunfall hatte und dabei schwer verletzt wurde. Weiters lebte er gemeinsam mit seiner Mutter bis zu ihrem Tod im Altersheim. Dieser Mann hat sich immer wieder gegen die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in der Einrichtung gewehrt und hat sich als "nicht behindert" bezeichnet. "Ahm, .. und der hat auch ganz klar gesagt, er will nicht eingesperrt werden. Er will sich frei bewegen können. Ahm, sie sollen ihn nicht einsperren und solange sie ihn einsperren, wird er Radau schlagen und wird er sich dementsprechend aufführen. Ahm, weil er nicht behindert ist und es keinen Grund gibt .. eingesperrt zu sein". Das heißt, dieser Mann äußerte sich ganz klar gegen die Freiheitsbeschränkung und bestand mit allen Mitteln auf sein Recht auf Freiheit. Die Einrichtung schenkte seinem Anliegen wie es scheint keine Beachtung und mit medikamentösen und physischen Mitteln wurde er so stark in seiner Freiheit beschränkt, dass er schlussendlich in ein psychiatrisches Pflegeheim gekommen ist. Die Verhältnismäßigkeit war nach G3 nicht gegeben, denn die nächste Gefahr einer Straße war weit entfernt. "Diese wirklich aggressiven Durchbrüche sind dann in seiner Verzweiflung passiert, weil er wieder eingesperrt werden muss, ja. Ich denk mir, da hätte man, .. dieses ,Wir müssen ihn schützen und er muss unbedingt geschützt werden' ... aus meiner Sicht schiefgegangen". G3 bezeichnet die Einrichtung als ignorant, weil sie sich "von Anfang an überhaupt keine Gedanken gemacht hat, wie die [seelische] Welt von dem Menschen ausschauen könnte". Bei Eintritt in die Institution haben sich die Verantwortlichen offensichtlich nicht oder nur wenig mit seiner Lebensgeschichte beschäftigt. Er hatte ein enges Verhältnis zu seiner Mutter, ist mit ihr dann sogar ins Altersheim gezogen und was das dann für den Mann bedeutet, nach dem Tod der Mutter in diese Wohngemeinschaft zu ziehen, wurde laut G3 außer Acht gelassen. Ebenso wurde keine Trauerarbeit nach dem Verlust seiner Mutter gemacht. "Die haben nicht einmal den Todestag der Mutter gewusst oder wo sie begraben ist". Wenn er über seine Lebenssituation sprechen und von seiner Behinderung ablenken wollte, weil der diese Tatsache auch nicht wahrhaben wollte, wurde er vermeintlich nicht gehört. Weiters wurde ihm eine bildhübsche Assistentin zur Seite gestellt, die mit ihm unter anderem auch auf Urlaub gefahren ist. "Das war keine gute Idee", sofern er seine Behinderung auch nicht akzeptieren konnte. Dieser Mann wurde mit seinen Bedürfnissen und Wünschen nur scheinbar ernst genommen. G3 beschreibt die Suche nach Alternativen als nicht wirklich schwer. "Da gab es noch viel, ja. .. Und er hat es ja auch sagen können. Der hat es ja auch ganz klar gesagt".

G3 hat Vermutungen, warum die Einrichtung auf die Äußerungen des Mannes kaum regierte. "Ich denk mir, erstens einmal waren sie enttäuscht und ja, wirklich enttäuscht. Sie haben versucht, .. es ihm .. schön zu machen". Die Institution hat ihm ein Angebot gemacht, doch dieser Mann mit Behinderung war nicht zufrieden mit diesem Vorschlag. Die Enttäuschung der Einrichtung äußerte sich quasi dadurch, dass ihm ein Angebot vorgelegt wurde, dies jedoch nicht passend war, und dann in einem nächsten Schritt den Mann die "scheinbare Selbstbestimmung" zu geben, so nach dem Motto, "wenn das nicht passt, dann gibt es noch das psychiatrische Pflegeheim". G3 bezeichnet diese Vorgehensweise als "ziemlich aggressiv". Das war ihrer Ansicht nach der eine Punkt und der andere betraf die Team- und Organisationskultur. Es herrschten interne Teamkonflikte und die Schwierigkeiten wurden dann auf KlientInnenebene ausgetragen. Psychoanalytisch betrachtet fand in diesem Team ein Übertragungs- und Gegenübertragungsprozess statt. Schlussfolgernd äußerte sich die Not oder Problematik des Mannes mit Behinderung auf Personalebene und die Schwierigkeiten und Konflikte im Team wurden auf KlientInnenebene ausgehandelt. Bei der Auseinandersetzung mit den Ursachen ist demnach ein Selbstreflexionsprozess unerlässlich.

Die wesentlichen Aussagen im Interview waren für mich, dass bei der Erarbeitung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung der Mensch mit Behinderung eine ganz wesentliche Ressource darstellt; überhaupt wenn der/die Betroffene über verbale Sprache verfügt und sich in Worten ausdrücken kann. Dies wurde im letzten Fallbeispiel sehr deutlich geschildert. Dann auch der Hinweis, dass eine freiheitsbeschränkende Maßnahme auch Sicherheit und Geborgenheit für Menschen mit Behinderung bedeuten kann. Weiters bezeichnet G3 das Entwickeln von pädagogischen Alternativen in manchen Fällen als nicht allzu schwierig, aufgrund fehlender pädagogischer Angebote und Denkweisen in Einrichtungen. Bei der Suche nach Alternativen zur Freiheitsbeschränkung muss demnach eine förderliche Umgebung geschaffen werden, was Umdenkungsprozesse, Selbstreflexion und Kommunikation innerhalb der Institution erfordert. Es geht also stark um die Schaffung von rechtlichen, methodischen und pädagogischen Grundelementen, die die Arbeit mit behinderten Menschen erleichtern sollen.

10.4 Interview 4

Die vierte befragte Interviewpartnerin ist von ihrer Grundausbildung her Sonder- und Heilpädagogin und derzeit in Ausbildung zur Psychotherapeutin. G4 hat im Zuge des HeimAufG bereits 26 Gutachten verfasst. Sie besuchte den Fortbildungslehrgang der Universität Wien vor Inkrafttreten des HeimAufG, um sich als Sachverständige im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik zu zertifizieren. Bei ihren Gutachten ging es überwiegend um verschlossene Türen und (Gurt-)Fixierungen, aber auch um medikamentöse Freiheitsbeschränkung und Netzbetten. In letzter Zeit hatte sie vermehrt mit Auszeiträumen zu tun. G4 orientiert sich im Gutachtensprozess stark an der rehistorisierenden Diagnostik nach Wolfgang Jantzen.

In der Befundaufnahme ist es G4 wichtig, direkten Kontakt zum betroffenen Menschen mit Behinderung zu haben. Das Zusammentreffen findet entweder im Beisein von BetreuerInnen oder alleine mit dem/der Betroffenen statt, jedoch gibt es auch rein beobachtende Kontaktsituationen. "Das heißt, je nachdem, wie viel Kommunikation und wie viel Austausch auch möglich ist, ist das zwischen einer halben Stunde und Stunde, wo die Kontaktaufnahme zu den Betroffenen ist". Die zentrale Frage im Gutachtensprozess ist für G4, warum es zum selbst- oder fremdgefährdeten Verhalten gekommen ist, um dann in weiterer Folge Alternativen zur Freiheitsbeschränkung abzuleiten. Über Hypothesenbildung versucht sie, das Verhalten, die Lebensgeschichte und die derzeitige Lebenssituation in Verbindung zu bringen, um den Menschen mit Behinderung besser verstehen zu können. Durch Gespräche mit dem zuständigen Personal, Kontaktaufnahme mit dem behinderten Menschen und Dokumentationsstudium bekommt sie einen Eindruck von der Situation und kann erste Hypothesen dazu bilden, um dann geeignete Alternativen und Maßnahmen entwickeln zu können. Obwohl die Zeit für die Befunderhebung knapp ist, gelingen erste Auffassungen zum Alltagsgeschehen in der Institution und Vermutungen können angestellt werden. Eine umfassende Diagnostik und gemeinsame Erarbeitung von pädagogischen Alternativen mit der Institution ist in dieser kurzen Zeit jedoch nicht möglich bzw. passiert eher selten. "Was oft relativ schnell klar ist, dass es Alternativen gäbe zu dem, was passiert. Also, dass di ese Freiheitsbeschränkung eigentlich nur zeigt, dass es keine Hypothesen gibt für das Verhalten. Also, wo dann reagiert wird mit Freiheitsbeschränkung anstatt mit pädagogisch-therapeutischen Maßnahmen, um ein Verhalten zu ändern. Um das einzuschätzen, das gelingt schon".

G4 beschreibt die rehistorisierende Diagnostik und Syndromanalyse als wesentlichen und wichtigen Teil im Gutachtenspr ozess. Die Rekonstruktion der Lebensgeschichte gibt Anhaltspunkte zum derzeitigen Verhalten einer Person und durch dieses Wissen kann auch die aktuelle Lebenssituation besser verstanden werden. "Aber oft gibt es da ganz viele Hinweise, wie es dazu gekommen ist und wie das entstanden ist. Und das finde ich einen ganz wesentlichen Teil". In diesem Zusammenhang spricht die Interviewpartnerin die häufig schlecht dokumentierten Lebensgeschichten von Menschen mit Behinderung in Institutionen an. "Und es zeigt auch viel, wenn die Institutionen in der Befundaufnahme eigentlich nix über das Leben wissen". Für G4 ist die Tatsache "erschreckend" und die Unwissenheit über die Lebensgeschichte erschwert ihrer Meinung nach die Erstellung von Förderkonzepten auf Grundlage von Hypothesen. Dieses fehlende Verständnis führt dazu, dass der Grund eines Verhaltens nicht erklärt werden kann. Eine fehlende pädagogische Kompetenz in den Einrichtungen kann mitunter dazu führen, dass eine Behinderung als nicht veränderbar wahrgenommen wird. Im Sinne einer rehistorisierenden Diagnostik sind aber die Auseinandersetzung mit dem Symptom und die Rekonstruktion der Lebensgeschichte unverzichtbar, damit Entwicklungsmöglichkeiten für den/die Einzelne/n geschaffen werden können.

Die von G4 entworfenen Hypothesen beziehen sich einerseits auf das Symptom, andererseits auf die verschiedenen Lebensabschnitte und wi chtigsten Ereignisse im Leben des behinderten Menschen. "Es geht dann zum Schluss, glaub ich, nicht mehr um das Symptom, sondern um die Bedeutung, die es hat. .. Also, insoweit ist es schon wichtig, aber es ist nicht das Zentrale". Das Symptom kann demnach auf symbolischer Ebene sehr viele Hinweise geben, warum jemand so geworden ist, wie er/sie ist. Die Bedeutung des Symptoms lässt darauf schließen, dass ein vorher als rein somatisch bezeichnetes Symptom als wichtiger Einflussfaktor für die Hypothesenbil dung gesehen wer den kann.

Die eigene Reflexion im Gutachtenspr ozess bezeichnet die Interviewpartnerin als "ganz zentralen Punkt" im Diagnostikprozess. Innerhalb der kurzen Zeit soll einerseits das eigene Handeln überdacht werden, aber auch die Entschlüsselung der Dynamik in einem Betreuungsteam. Die Rolle als Sachverständige im Gutachtenspr ozess verlangt das rasche Verschaffen eines Überblicks über das Geschehen und die Beziehungsstrukturen innerhalb des Personals, aber auch mit dem betroffenen Menschen mit Behinderung. Das sogenannte Arbeitsbündnis zwischen Institution und GutachterIn, aber auch die eigene Position als Experte/Expertin sollte nach Möglichkeit in der Situation gut reflektiert werden. Aufgrund der knappen Zeitbemessung bei der Gutachtenserstellung sind der Austausch mit KollegInnen und/oder Supervision nicht immer möglich. "Dass ja dann oft zwischen der Befundaufnahme und dem Zeitpunkt, wo dann das Gutachten fertig sein muss, ja ganz wenig Zeit ist".

Auf den Zeitfaktor bei der Gutachtenserstellung angesprochen meint G4, dass die wenigen Tage schon ausreichend sind, um dem/der RichterIn bei seiner/ihrer Entscheidungsfindung behilflich zu sein. "Das heißt, es ist ja nur bedingt mein Auftrag, wirklich alle Hypothesen, die infrage kommen, bis ins Letzte irgendwie auszuarbeiten, sondern es können viele auch wirklich hypothetisch bleiben". Die Zeit reicht aus, um Anregungen und Empfehlungen an Institutionen weiterzugeben, aber eine umfassende Diagnostik und intensive Auseinandersetzung mit pädagogischtherapeutischen Maßnahmen sind kaum möglich. "Das ist ja eigentlich nicht der Auftrag [eines Gutachters/einer Gutachterin]". G4 sieht Schwierigkeiten bei der Umsetzung von den vorgeschlagenen Anregungen und alternativen Möglichkeiten in der Betreuung von Menschen mit Behinderung. Innerhalb kürzester Zeit soll eine Institution im Rahmen einer Gerichtsverhandlung Alternativen zur Freiheitsbeschränkung andenken. Da ein Gutachten sehr formell aufgebaut ist, äußert G4 Bedenken an der Handlungsber eitschaft seitens der Institutionen, am Bestehenden etwas zu verändern. "Aber ich denk mir, eigentlich soll es ja so sein, dass die Institution irgendeine Idee kriegt, was man weitermachen könnte, und dafür ist es knapp". Auch für das sogenannte Arbeitsbündnis bleiben kaum Zeit und Raum. Das heißt, der Zeitfaktor spielt eine Rolle bei der Erstellung von Gutachten. Der offizielle und rechtliche Auftrag der GutachterInnentätigkeit kann ausgeführt werden, jedoch fördert diese rasche Handhabung im Gutachtenspr ozess nicht eine intensive und umfassende Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung seitens der Institutionen.

G4 schildert ein Fallbeispiel einer rehistorisierenden Diagnostik. Sie erzählt von einer Frau, die nach Aussagen der BetreuerInnen "ziemlich unvermittelt auf andere losgeht". Die Ausbrüche sind nicht immer vorher erkennbar und sie wird als "schwer handelbar" bezeichnet. "Und der einzige Weg, wie sie es sich vorstellen können und wie sie es auch handeln, sind mit Medikamenten". Es handelt sich demnach um eine medikamentöse Freiheitsbeschränkung. Im Dokumentationsstudium wird ersichtlich, dass das Leben der Frau von vielen Verlusterlebnissen geprägt ist. Sie kam mit circa acht Jahren in ein Kinderheim, da zu Hause der Verdacht auf Verwahrlosung bestand und ihr das damalige Umfeld wenig Entwicklungsmöglichkeit bot. Die Betroffene wurde schon als Kind als "behindert" und verhaltensauffällig bezeichnet. Während ihrer Zeit im Heim hatte sie nur wenig Kontakt mit den Eltern und nach dem Tod von Vater und Mutter zogen sich auch die Schwestern mehr und mehr zurück. Dazu kam noch ein ständiger Personalwechsel durch Kündigungen von BezugsbetreuerInnen. Das Wissen über die Lebensgeschichte gab Aufschluss über ihre aktuelle Lebenssituation. Im Gespräch mit G4 wurde schnell deutlich, dass die Frau einen großen Wunsch nach Beziehung hat, "der nix mit Wut zu tun hat, sondern mit ganz viel Traurigkeit". So ist für G4 die Hypothese entstanden, dass dieser Wunsch nach Beziehung Gefühle der Eifersucht hervorbringt, weil andere BewohnerInnen mehr Besuch erhalten. Das fremdgefährdende Verhalten und das Losgehen auf andere äußerten sich immer nur dann, wenn sie mit der Situation nicht mehr alleine fertigwurde. "Ja, ... das wär jetzt ein Beispiel, wo es aus der Situation heraus nicht verständlich war und aus der Geschichte, denk ich, jetzt mal in Hypothesen sehr gut verständlich ist, wieso sie so reagiert". Gleichzeitig erzeugen ihre aggressiven Ausbrüche Angst in der BewohnerInnengruppe. G4 vermutet, dass sich die Frau diese Strategie bzw. dieses Verhalten im Kinderheim angeeignet hat, um sich dort durchsetzen zu können und Respekt zu verschaffen.

Die alternativen Empfehlungen von G4 waren einerseits eine klare Strukturierung des Alltags. Die Frau soll sich auf Einzel- und Gruppenkontakte im Vorhinein einstellen können. Für ausreichend Personalkapazität soll in Gruppensituationen gesorgt werden, damit der Angstdynamik in der BewohnerInnengruppe entgegengewirkt werden kann. Besuchsdienste sollen angeboten werden, damit sie ihrem Wunsch nach Beziehungsaufbau nachkommen kann. Weiters das Angebot, dass sie ihr Verlangen nach Kontakt autonomer mitteilen kann. "Zu einem Zeitpunkt, wo das auch noch geht für sie. Also, wo sie nicht hinhauen muss, sondern wo man mit ihr ein System mit Karten oder anderen Zeichen arbeitet". Durch ihr eigenes Setzen von Erkennungszeichen macht sie auf ihre schlechte Gemütslage aufmerksam und kann so selbstständig den Wunsch nach Kontakt äußern. "Wo sie einfach signalisieren kann, es geht mir jetzt einfach nicht gut und wo vorher besprochen ist, wenn's mir nicht gut geht, passiert das, dass jemand zehn Minuten Zeit hat für dich innerhalb einer halben Stunde". Die Weiterführung der Kunsttherapie war ebenfalls eine Empfehlung von G4. Inwieweit die Einrichtung die pädagogisch-therapeutischen Maßnahmen von alternativen Wegen in der Betreuung der Frau umgesetzt hat, weiß G4 leider nicht. Die Institution zeigte sich aber während der Befunderhebung sehr kooperativ und wollte Alternativen zur medikamentösen Freiheitsbeschränkung ausprobieren.

Für die Interviewpartnerin sind Fähigkeiten und Fertigkeiten das Zentrale bei der Erarbeitung von Alternativen zur Freiheitsbeschränkung , doch dazu wird ein gutes pädagogisches Konzept benötigt. "Es ist nur wichtig, dass man eines hat .. auf deren Grundlage man arbeitet". Ein pädagogisches Konzept bietet eine wesentliche Orientierungshilfe, aus der dann auch Maßnahmen und Methoden entwickelt werden können. G4 sieht die Betreuung von Menschen mit Behinderung ohne eine pädagogische Vorstellung als problematisch. "Weil wenn ich jetzt ein Konzept habe, auf dessen Grundlage ich arbeite, dann kann ich Hypothesen entwickeln, und die halte ich für ganz zentral. Dass ich ohne eine Hypothese für ein Verhalten oder für eine Situation keine Maßnahme entwickeln kann". G4 bezeichnet dann die Entwicklung von Maßnahmen als "relativ leicht", denn Vermutungen lassen viel Spielraum für alternative Wege zur Freiheitsbeschränkung. Die befragte Interviewpartnerin äußert in diesem Zusammenhang Kritik an Einrichtungen, die mit keinem oder nur sehr spärlich mit pädagogischen Konzepten arbeiten und sich wenig Gedanken bezüglich der Herkunft des selbst- oder fremdgefährdenden Verhaltens machen. Die gesetzten Maßnahmen sollen Entwicklungsschritte fördern, wozu es eine pädagogische Kompetenz des Personals braucht. "Und ich glaube, dass es zum Teil an den pädagogischen Konzepten hapert. Dass da wenig da ist. Oder nicht ausgesprochen da ist. Oder nicht konkret genug überlegt ist, wie ich arbeite".

G4 bezeichnet alle pädagogisch-therapeutischen Maßnahmen als geeignete Alternativen zur Freiheitsbeschränkung. In der Befunderhebung spielt auch immer wieder die Erarbeitung bzw. die Entwicklung von Kompetenz im Kommunikationsaufbau eine Rolle. "Das wird oft völlig übersehen, dass die Leute [Menschen mit Behinderung] gar nichts kommunizieren können und sie auch nicht mitbestimmen lasst". Das heißt, dass G4 immer wieder erlebt, dass Menschen mit Behinderung keine Möglichkeit zur Mitbestimmung über das eigene Leben bekommen. Das ständige Missverstehen kann dann auch zu einem selbst- oder fremdgefährdenden Verhalten führen. Der Aufbau einer gemeinsamen Kommunikation zwischen BetreuerInnen und Menschen mit Behinderung stellt demnach für G4 eine wesentliche Maßnahme bei der Entwicklung von Alternativen zur Freiheitseinschränkung dar.

Die relevantesten Rahmenbedingungen bei der Entwicklung von Alternativen sind laut G4 die Bereitschaft des Betreuungsteams, an der freiheitsentziehenden Situation von dem Menschen mit Behinderung zu arbeiten, und der Glaube an das Entwicklungspotenzial des/der Betroffenen. "Das Team muss wollen. Ahm ... also, ich glaube, das ist das Oberste". Eine angemessene personelle Beschaffenhei t in der Institution trägt ebenfalls zum Funktionieren einer Alternative bei. Ebenso muss eine Umgebung geschaffen werden, die Entwicklungsschritte ermöglicht. "Weil oft ist es so starr organisiert, dass Entwicklungsprozesse eigentlich Schwierigkeiten machen würden". Individuelle Bedürfnisse und Wünsche des/der Einzelnen sollen im Tagesablauf berücksichtigt werden, damit die persönliche Weiterentwicklung gefördert werden kann. Dazu bedarf es nach G4 sicherlich einer Reflexionsfähigkeit vom Betreuungsteam.

G4 beschreibt die Institutionen während der Befunderhebung als sehr kooperativ ihr gegenüber. "Also ich denk mir, das wär ja auch sehr nachteilig für die Institutionen, wenn sie irgendwie den Gerichtssachver ständigen den Einblick in die Dokumentationen verwehren oder so. Das würde im Gutachten stehen und damit wäre es nicht sehr günstig". Die Bereitschaft seitens der Einrichtungen, dann auch die empfohlenen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung auszuprobieren, ist unterschiedlich. Einige arbeiten im Gutachtenspr ozess gut mit G4 zusammen und wollen an der Situation etwas ändern und sind dann auch froh, wenn der/die RichterIn eine Freiheitsbeschränkung für unzulässig erklärt. Ihrer Ansicht nach spielt die Rechtssicherheit eine wesentliche Rolle, weil damit eine freiheitsbeschränkende Maßnahme nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Doch es gibt auch Institutionen, die sich trotz Unzulässigkeitserklärung für eine Freiheitsbeschränkung aussprechen und Rekurs beantragen. "Manchmal finde ich es fast erstaunlich, wie kommentar los sie es akzeptieren. Das ist auch, oder wo ich mir dann auch denk, da bin ich mir jetzt nicht sicher, ob sie es wirklich nicht weitermachen".

Die Umsetzung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung nach der Gerichtsverhandlung gestaltet sich nach Angaben von G4 nicht immer einfach. "Und dann hör e ich schon auch oft, dass es schwi erig ist und dass sich wenig ändert .. das schon". Schwierigkeiten und Probleme ergeben sich ihrer Meinung nach, wenn die Insti tution die empfohlenen Alternativen nur ausprobiert, weil die freiheitsentziehende Maßnahme für unzulässig erklärt wurde und die Vorschläge umgesetzt werden müssen. "Dass das dann so ein bisschen halbherzig und ohne Konzept eben ausprobiert wird". Hier stellt sich die Frage, inwieweit sich das Betreuungsteam mit der Problematik auseinandergesetzt und gemeinsam an einer Einigung gearbeitet hat. Alternativen zur Freiheitsbeschränkung können trotz guter pädagogischer Arbeit und Initiative seitens der Einrichtung auch scheitern. Situationen können eskalieren, wenn eine freiheitsbeschränkende Maßnahme von einen auf den anderen Tag aufgehoben wird. "Aber ich finde so vom pädagogischen Prozess her ist das halt eine Variante. Dass man auch, wenn man an einer Hypothese arbeitet, dann an einen Punkt kommt, wo dann entweder was zu viel war oder zu schnell oder doch die falsche Hypothese war und wo man dann auch evalui eren muss". G4 erwähnt in diesem Zusammenhang ein Fallbeispiel einer Frau, die seit 20 Jahren an den Armen im Bett fixiert wurde. Die Freiheitsbeschränkung wurde für unzulässig erklärt und von einem Tag auf den nächsten aufgehoben. Aufgrund fehlender Wahlmöglichkeiten, Gewohnheit an die Fixierung der Arme und Gefühle der Sicherheit hat sich die Frau immer wieder selbst ans Bett angebunden. G4 sieht die rasche Aufhebung von jahrelangen freiheitsentziehenden Maßnahmen nach der Verhandlung als sehr problematisch. Durch pädagogisch-therapeutisches Arbeiten können Verbesserungen in der Betreuung von Menschen mit Behinderung erzielt werden, jedoch nicht innerhalb kürzester Zeit. "Ich glaube, dass es da auch gefährlich sein kann, da zu sagen, man muss aufheben". Im oben genannten Beispiel ist es ihrer Ansicht nach sinnvoller, an Alternativen zu arbeiten und gemeinsam mit dem Menschen mit Behinderung ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass der Schutzgedanke nicht nur durch eine freiheitsbeschränkende Maßnahme erfüllt werden kann. "Dass sie [die Frau] diese Sicherheit auch anders haben kann, und dann muss man schon daran arbeiten, dass die Freiheitsbeschränkung weggeht". Der Auftrag der Gutachtenstätigkeit endet mit Abschluss der Verhandlung und somit gibt es kaum Auskünfte, ob die empfohlenen Alternativen dann auch umgesetzt wurden und ob sich der Betreuungsalltag verändert hat. "Offiziell ist es so, dass die Sachverständigen nicht einmal mehr Recht darauf haben, zu erfahren, wie das Verfahren ausgegangen ist".

G4 bezeichnet eine entwicklungsorientierte Betreuung als eine wichtige Voraussetzung, damit in Zukunft bis auf ein Mindestmaß auf freiheitsentziehende Maßnahmen verzichtet werden kann. Ihrer Meinung nach braucht es keine schonende und sichere Betreuung von Menschen mit Behinderung, sondern "dass die Entwicklung von Autonomie im Vordergrund steht". Die Interviewpartnerin spricht in diesem Zusammenhang auch die Organisation in Einrichtungen an. "Und dass dann auch die Institutionen ganz anders organisiert sein müssten. Wenn ich es nach dem Gedanken organisiere, dann müsste es viel individueller auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen und .. dann .. würden die Institutionen anders ausschauen". Das heißt, kleinere Organisationen, bessere Arbeitsbedingungen für das Personal und das Grundverständnis, dass Entwicklungsmöglichkeiten auch Risiken mit sich bringen. G4 spricht hier die vorgeworfene Fahrlässigkeit der BetreuerInnen an, wenn erwachsene Menschen mit Behinderung einen Unfall haben, wenn sie zum Beispiel alleine auf dem Weg in die Werkstätte sind. Entwicklung bringt nun mal Risikofaktoren mit sich und der Schutzgedanke ist nur bedingt möglich. "Im Behindertenbereich ist völlig klar, dass man erst über die Straße gehen kann alleine, wenn 100 % sicher ist, dass man keinen Unfall haben wird. Und das wird nie sein". Der Glaube an das Entwicklungspotenzial des/der Einzelnen lässt ihrer Meinung nach neue Prozesse und Schritte in der Betreuung entstehen. Eine Behinderung ist nie etwas rein Somatisches und es gibt keine Behinderungsform, "wo die Symptome einfach so dazugehören und so ist es".

Ob eine Betreuung ohne freiheitsentziehende Maßnahmen möglich ist, weiß G4 nicht. "Also ich denk mir, dass es schon so Situationen gibt, wo man es brauchen kann und brauchen wird". Die Interviewpartnerin spricht hier von Krisensituationen, wo eine kurzfriste Freiheitsbeschränkung zum Schutz aller Beteiligten erforderlich ist. G4 lehnt in diesem Zusammenhang aber Freiheitsbeschränkungen ab, die sich über Jahre ziehen und die kaum Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten für den betroffenen Menschen mit Behinderung bedeuten. "Das Problem find ich nur die [Institutionen], die so was [Freiheitsbeschränkung] beginnen und dann geht's aber nie wieder weg. Also, dass es so Krisensituationen geben kann, das kann i ch schon nachvoll ziehen. Wo man dann auch di e anderen schützen muss oder die Betreuer schützen muss. Aber das sind wirklich Krisenmaßnahmen und die Frage, ob das dann in pädagogischen Institutionen .. tatsächli ch sein muss".

Zusammenfassend waren für mich die wesentlichen Aussagen im Interview mit G4, dass die rehistorisierende Diagnostik einen relevanten Bestandteil bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung darstellt. Erst durch die Rekonstruktion der frühen und späteren Lebensgeschichte können Hypothesen über das selbst- und fremdgefährdende Verhalten in Verbindung mit der aktuellen Lebenssituation gebildet werden. Der Mensch mit Behinderung kann durch das Wissen über die bisherige Lebensgeschichte und Gewordenheit besser verstanden werden. Diese Erkenntnisse geben viel Spielraum für pädagogisch-therapeutische Maßnahmen zur Freiheitsbeschränkung. Eine entwicklungsorientierte Betreuung und die Bereitschaft, am Bestehenden etwas zu ändern, tragen ebenfalls zum Funktionieren von Alternativen bei. Der Zeitfaktor bei der Gutachtenserstellung spielt zwar eine Rolle, wurde jedoch von G4 als ausreichend für die Auftragserfüllung im Rahmen ihrer Gutachterinnentätigkeit beschrieben. Die wenigen Tagen genügen, um sich ein Bild von der Situation zu machen und Empfehlungen für alternative Betreuungsmöglichkeiten ohne freiheitsentziehende Maßnahmen an die Institution weiterzugeben.

11 GENERALISIERENDE ANALYSE ALLER GEFÜHRTEN INTERVIEWS IN VERBINDUNG MIT DER VERWENDETEN FACHLITERATUR

Im vorherigen Kapitel wurden die wichtigsten Aussagen aller vier Interviews genauer dargestellt und mit konkreten Fallbeispielen aus der Praxis der Gutachterinnen veranschaulicht. Um zu allgemeinen theoretischen Grundtendenzen zu gelangen, werden nun die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der geführten Gespräche miteinander verglichen. In diesem Punkt geht es vor allem um das Hervorheben der bedeutsamsten Angaben über die Arbeitshaltung und Herangehensweise als Sachverständige im Gutachtensprozess und die Gestaltung von notwendigen Rahmenbedingungen, die bei der Auseinandersetzung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung förderlich sein können. Um die wesentlichen Erkenntnisse besser darzustellen, wurden Themenkategori en ausgewählt. So ist eine umfassende Analyse sichergestellt. Die Aussagen der Interviewpartnerinnen werden zunächst den einzelnen Kategorien zugeordnet und in einem nächsten Schritt in Verbindung mit der verwendeten Fachliteratur aus dem ersten Teil der vorliegenden Arbeit in Zusammenhang gebracht. Zum Schluss folgen meine eigenen Interpretationen undGedanken zum T hema.

11.1 Entwicklungsprozess von Alternativen zur Freiheitsbeschränkung bzw. Befunderhebung

Alle vier Gutachterinnen gehen während der Befunderhebung ähnlich vor. Sie machen sich ein Bild vor Ort und führen Gespräche mit dem Personal, dem Menschen mit Behinderung und gegebenenfalls mit Familienangehörigen. Anhand von ersten Hypothesen werden das Gefährdungs- und Entwicklungspotenzial des betroffenen behinderten Menschen eingeschätzt. Die Ausgangsfrage ri chtet sich an die Ursachen und Gründe einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme und danach, welche alternativen Wege von den Institutionen bereits ausprobiert worden sind. Im günstigsten Fall arbeiten die Gutachterinnen und die Einrichtung gemeinsam an den pädagogischen Alternativen. So kann die Institution einerseits Ideen entwickeln, wie eine Betreuung ohne fr eiheitseinschränkende Maßnahmen aussehen könnte, und andererseits steigt ihre Bereitschaft, die Empfehlungen und Vorschläge nach der Gerichtsverhandlung wirklich auszuprobieren. Alle vier Gutachterinnen befürworten zwar die Auseinandersetzung mit Alternativen im Team, dennoch ist eine gemeinsame Zusammenarbeit aus Zeitgründen nicht immer möglich. Jede Gutachterin versucht während der Befunderhebung, in Interaktion mit den betroffenen Menschen mit Behinderung zu treten, zum Beispiel durch ein persönliches Gespräch, durch Kommunikation auf einer symbolischen Ebene oder durch Besichtigung der Wohnräume. Auch die Beobachtung einer Interaktionssituation zwischen dem Menschen mit Behinderung und seinem/seiner BetreuerIn gibt Aufschluss über das Alltagsgeschehen, die Arbeitsweise und den Umgang mit KlientInnen. Der Entwicklungsprozess von Alternativen während der Befunderhebung wird immer wieder als nicht schwierig bezeichnet, da seitens der Gutachterinnen die Erfahrung gemacht wurde, dass wenig Angebote und pädagogisches Denken in Institutionen vorhanden sind. Eine Gutachterin (G3) beschreibt die Erarbeitung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung als Frage-Antwort-Prozess. Das Symptom kann als Frage verstanden werden, die es anhand entwicklungsfördernder Maßnahmen zu beantwor ten gilt.

11.2 Rolle des Menschen mit Behinderung bei der Entwicklung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung

Die Rolle des Menschen mit Behinderung wird im Diagnostikprozess und in der Auseinandersetzung mit Alternativen als sehr wesentlich beschrieben. Die Kontaktaufnahme während der Befunderhebung ist meistens kurz, dennoch wird versucht, die Wünsche und Bedürfnisse des behinderten Menschen in die alternativen Empfehlungen zur Freiheitsbeschränkung einfließen zu lassen.

11.3 Rehistorisierende Diagnostik

Auch wenn nur zwei (G1 und G4) der vier befragten Interviewpartnerinnen nach der rehistorisierenden Diagnostik arbeiten, finden sich bestimmte Teilaspekte dieser in jeder vorgestellten Arbeitsweise. Jede Gutachterin versucht, anhand der Lebensgeschichte die Gewordenheit des Menschen mit Behinderung zu verstehen. Durch die Kontaktaufnahme und Miteinbeziehung in den Gutachtensprozess können die aktuelle Lebenssituation und das selbst- oder fremdgefährdende Verhalten besser begriffen werden. Auch die eigene Reflexion in der Befunderhebung wird als sehr relevant bezeichnet. Das heißt, auch wenn Gutachterinnen einen psychoanalytischen Zugang im Gutachtenspr ozess haben, unterscheiden sich die Herangehensweisen und Ausgangsüberlegungen nicht wesentlich von der Theorie nach Jantzen. Insofern wurde von jeder Gesprächspartnerin bestätigt, dass die Kernelemente einer rehistorisierenden Diagnostik sehr förderlich und notwendig sind bei der Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung.

11.4 Rekonstruktion der Lebensgeschichte

Die Lebensgeschichte des betroffenen Menschen mit Behinderung ist für den Gutachtensprozess wesentlich, denn anders kann auch nicht verstanden werden, warum jemand so geworden ist, wie er/sie heute ist. Die Lebensgeschichte steht also immer in Verbindung mit der aktuellen Lebenssituation und bietet die Basis für Hypothesen. Alle vier Gutachterinnen sprechen die oft knappen und unvollständigen Dokumentationen in den Institutionen an. Durch das fehlende Wissen über die wichtigsten Lebensabschnitte und Ereignisse gehen viele wertvolle Informationen verloren. Häufig wurde seitens der Gutachterinnen die Erfahrung gemacht, dass das Personal wenig oder nichts über die Lebensgeschi chte berichten kann. Eine Sachverständige (G1) findet die Befragung von Angehörigen im Diagnostikprozess besonders bedeutsam, da sie eventuell mehr über die einzelnen Stationen im Leben des behinderten Menschen erzählen können.

11.5 Bedeutung des Symptoms

Das Symptom wird von den Gutachterinnen als Kommunikationsmittel verstanden. Es geht um die Suche nach den Ursachen und Gründen, warum sich ein Mensch auf diese Art und Weise ausdrücken muss. In einem Interview (G3) wird das Symptom als "Spitze eines Eisbergs" bezeichnet. Es geht keinesfalls um die rasche Abschaffung des aggressiven Verhaltens, sondern um die Ursachenfindung. Die Selbst- oder Fremdgefährdung hat einen zentralen Stellenwert im Entwicklungsprozess von Alternativen zur Freiheitsbeschränkung, aber die wichtigere Frage ist, warum der Mensch mit Behinderung so geworden ist. Das Wissen über die Lebensgeschichte spielt aus diesem Grund eine relevante Rolle. Die Bedeutung des Symptoms lässt auf das Gefährdungspotenzial schließen und hilft bei der Hypothesenbildung. Aggressives Verhalten kann aus diesen Überlegungen heraus als sinnvolles Ausdrucksmittel verstanden werden, das es zu entschlüsseln gilt.

11.6 Eigene Reflexion im Diagnostikprozess

Die Selbstreflexion im Gutachtenspr ozess wird von allen Gutachterinnen als unverzichtbar und sehr wichtig bezeichnet. Die Reflexionsfähigkeit als Sachverständige betrifft viele unterschiedliche Bereiche: einerseits die Selbstreflexion über das eigene Handeln und gegebenenfall s der Austausch über Gutachtensfäll e in der Wiener Arbeitsgruppe, Supervision und interne Besprechungen mit KollegInnen, andererseits Gedankengänge über die Position als Gutachteri n, insbesondere über Neutralität, die realistische Einschätzung alternativer Empfehlungen, die Rolle als Expertin und den Umgang mit Kritik an Einrichtungen. Weiters geht es in der eigenen Reflexion auch um die Entschlüsselung der Dynamik im Betreuungsteam, um Beziehungsstrukturen, Alltagsgeschehen und um den Aufruf zur gemeinsamen Erarbeitung von pädagogischen Maßnahmen zur Freiheitsbeschränkung.

11.7 Förderliche Maßnahmen und Rahmenbedingungen bei der Erarbeitung von Alternativen zur Freiheitsbeschränkung

Die Interviewpartnerinnen sind sich einig, dass auf institutioneller Ebene eine gute Grundausbildung des Personals und das Arbeiten nach pädagogischen Konzepten notwendig sind, um eine angemessene Betreuung für Menschen mit Behinderung anbieten zu können. Durch die pädagogische Kompetenz der MitarbeiterInnen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten und das Wissen über methodische Ansätze und pädagogisch-therapeutisches Arbeiten können Maßnahmen und Alternativen zur freiheitsentziehenden Maßnahme leichter entwickelt werden. Um eine förderliche Umgebung für den betroffenen Menschen mit Behinderung zu schaffen, braucht es gut ausgebildetes Personal, finanzielle Mittel und die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen, damit Hypothesen über die Lebensgeschi chte und die aktuelle Lebenssituation aufgestellt werden können, die viel Spielraum für alternative Möglichkeiten bieten. Weitere wichtige Maßnahmen sind Fallsupervision und Fallberatungen für Betreuungsteams, die Selbstreflexionsfähigkeit des eigenen Handels und eine intensive Auseinandersetzung mit dem betroffenen Menschen mit Behinderung. Dazu gehör t die Erarbeitung eines Kommunikationssystems, damit der behinderte Mensch mit seinen Bedürfnissen und Wünschen vom Betreuungsteam gehört und wahrgenommen werden kann. Unter Berücksichtigung der Lebensgeschichte und Gewordenheit des Menschen mit Behinderung können kognitive Fähigkeiten, der Grad der Selbstständigkeit, die emotionale Lebenswelt und das Gefährdungspotenzial besser eingeschätzt wer den.

Damit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung überhaupt erfolgreich sein können, braucht es gesetzliche, institutionelle und personelle Rahmenbedingungen. Viele wesentliche Grundvoraussetzungen wurden bereits genannt, wie zum Beispiel Ausbildung, angemessener Betreuungsschlüssel, ressourcenorientiertes Behinderungsbild, Reflexionsfähigkeit oder Schaffung einer entwicklungsfördernden Umgebung. Das Suchen und Finden von alternativen Maßnahmen beansprucht Zeit von BetreuerInnen, vom HelferInnensystem und von Familien. Dies verlangt, sich die nötigen Stunden dafür zu nehmen und die Wünsche und Bedürfnisse des/der Einzelnen im Tagesablauf zu berücksichtigen. In einem sogenannten Arbeitsbündnis können Gutachterin und Institution gemeinsam Alternativen andenken und erarbeiten. Eine weitere Grundvoraussetzung ist sicherlich auch die Bereitschaft des Betreuungsteams, am Bestehenden etwas zu ändern. Auf struktureller Ebene geht es dabei vor allem um die Klärung der Verantwortlichkeit und darum, wie Kommunikation und Gerichtswesen funktionieren.

11.8 Kritik an Einrichtungen und Ursachen von Freiheitsbeschränkungen

Die vier Gutachterinnen kommen auch immer wieder auf generelle Probleme in der Behindertenarbeit zu sprechen und darauf, was ihrer Meinung nach die Ursachen von Freiheitsbeschränkungen sein könnten. Von einer Sachverständigen (G1) wird die strukturelle Gewalt in Institutionen, welche Aggression von Menschen mit Behinderung produzieren kann, angesprochen. Überforderung durch schwierige KlientInnen, Unwissenheit über die Lebensgeschi chte und Gewordenheit, schlechte Grundausbildung, kein entwicklungsorientiertes Behinderungsbild und fehlende pädagogische Konzepte sind kritische Aussagen über Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Als Ursache für Freiheitsbeschränkungen wird auch der Schutz vor Schmerz von G1 angesprochen. Alternativen zur Freiheitsbeschränkung bedeuten demnach auch immer, den Schmerz auszuhalten und nicht zu verdrängen, einerseits für den Menschen mit Behinderung selbst und anderer seits für dessen Familien und das HelferInnensystem.

11.9 Bereitschaft seitens der Einrichtung

Institutionen zeigen sich in den meisten Fällen eher kooperativ gegenüber den Gutachterinnen, obwohl die Bereitschaft, am Bestehenden etwas zu ändern, von Institution zu Institution sehr unterschiedlich ist. Auf der einen Seite sind Einrichtungen froh und dankbar über die fachliche Kompetenz und Empfehlungen von alternativen Maßnahmen zur Freiheitsbeschränkung und probi eren die Vorschläge gerne aus. Durch das HeimAufG konnte aus Sicht der Gutachterinnen die Situation bezüglich der Rechtssicherheit klar verbessert werden. Die rechtliche Rahmenbedingung bringt für Einrichtungen mehr Sicherheit, denn freiheitsbeschränkende Maßnahmen können nach einer Unzulässigkeitserklärung schlechter befürwortet werden. Auf der anderen Seite gibt es Institutionen, die stur an der Meinung festhalten, dass auf die freiheitsbeschränkende Maßnahme unmöglich verzichtet werden kann.

11.10 Schwierigkeiten, Probleme und Scheitern von Alternativen

Die Gutachterinnen sprechen einige Hindernisse bei der Umsetzung von pädagogischen Alternativen an. Schwierigkeiten bestehen, wenn Einrichtungen dem Gutachten nichts Positives entnehmen können und die Freiheitsbeschränkung erneut gesetzt wird. Alternativen werden nur ausprobiert, weil es von der Institution verlangt wird, und es gibt keine Einsicht und intensive Auseinandersetzung mit der Problematik. Freiheitsentziehende Maßnahmen werden befürwortet und gerechtfertigt aufgrund des fehlenden Wissens über mögliche Alternativen. Weiters spielen Ängste über rechtliche und persönliche Konsequenzen des Personals eine Rolle. Auch interne Teamkonflikte führen zum Scheitern von pädagogischen Alternativen, wenn Probleme der BetreuerInnen auf KlientInnenebene ausgetragen werden. Werden länger verwendete freiheitsentziehende Maßnahmen von heute auf morgen aufgehoben, kann dies zur Eskalation von Situationen führen und eine pädagogische Alternative scheitert. Eine Freiheitsbeschränkung ist nicht nur eine körperliche Begrenztheit, sondern kann vor allem aufgrund jahrelanger Gewohnheiten den betroffenen Menschen mit Behinderung auch Sicherheit und Geborgenheit bieten. Ein alternativer Weg in der Betreuung bedeutet demnach auch, etwas Vertrautes aufgeben zu müssen. Weitere Probleme und Schwierigkeiten können sich ergeben, wenn der Mensch mit Behinderung nur scheinbar in den Entwicklungs- und Diagnostikprozess mit einbezogen wird; das heißt, wenn der Mensch mit seinen Wünschen und Bedürfnissen nicht wahrgenommen und gehört wird. Ein Beispiel wäre, wenn der Mensch mit Behinderung sich klar gegen eine freiheitsentziehende Maßnahme ausspricht, dies jedoch vom Personal ignoriert wird.

11.11 Betreuung ohne freiheitsentziehende Maßnahmen

Ob derzeit eine Betreuung ohne Freiheitsbeschränkung möglich ist, daran zweifeln alle vier befragten Interviewpartnerinnen. Es wird ihrer Ansicht nach immer wieder Krisensituationen oder Momente geben, in denen eine Freiheitsbeschränkung zum Schutz für alle Beteiligten notwendig ist. Nach G2 müsste viel differenzierter und reflektierter an das Problem herangegangen werden und die Notwendigkeit und Dauer einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme müssten mehr hinterfragt werden. G1 geht davon aus, dass derzeit nur ein rechtlicher Konsens über das Thema Freiheitsbeschränkung herrscht. Ihrer Meinung nach fehlt es jedoch an der gesellschaftlichen Nichtakzeptanz di eser Form der Betreuung von Menschen mi t Behinderung. Es fehlt die Auseinandersetzung damit, was überhaupt eine Freiheitseinschränkung ist bzw. bedeutet. Das HeimAufG deckt noch lange nicht alle Bereiche ab. Die Gutachterinnen haben dennoch klare Vorstellungen, wie freiheitsentziehende Maßnahmen auf ein Mindestmaß reduziert werden könnten. Wesentlich angesprochene Voraussetzungen sind ein bestmöglich ausgebildetes Personal, die Bereitschaft und Fähigkeit, das eigene Tun zu hinterfragen, gut funktionierende Betreuungsteams, diagnostisches Know-how, Angebote von Fallberatungen und Fallsupervision und Veränderungen in der Organisationsstruktur. Institutionen sollen mit ressourcenorientierten pädagogischen Konzepten arbeiten, um Entwicklungsprozesse zu ermöglichen. Dazu gehört, dass Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung auch Risiken mit sich bringen können. Eine Gutachterin (G3) spricht auch von Holding- und Containing-Funktionen, die Institutionen für ihre MitarbeiterInnen und Leitenden übernehmen sollen.

11.12 Rolle und Zeitmanagement als Gutachterin

Die Interviewpartnerinnen geben an, dass ihres Wissens nur ein einziger Fortbildungslehrgang zur Zertifizierung für GutachterInnen vor Einführung des HeimAufG in Wien stattgefunden hat. Die drei Wiener Sachverständigen haben den Universitätslehrgang besucht, jedoch drang 2005 die Information über diese Schulung nicht nach Westösterreich vor. Die Rolle als Gerichtssachverständige sehen die befragten Gesprächspartnerinnen sehr ähnlich. Es wird immer wieder betont, dass sie ihre Arbeit als eine beratende Tätigkeit im Rahmen eines Gutachtenspr ozesses sehen. Durch ihr Fachwissen geben sie Empfehlungen pädagogischer Art an Institutionen weiter, doch für die Umsetzung ist dann ein Betreuungsteam verantwortlich. Als Gutachterinnen haben sie die Aufgabe, dem/der RichterIn bei seiner/ihrer Entscheidungsfindung behilflich zu sein. Der Gutachtensauftrag endet nach der Verhandlung und offiziell dürfen die Gutachtensfälle nicht weiterverfolgt werden. Zwar wird immer wieder die knappe Zeitbemessung bei der Gutachtenserstellung angesprochen, aber für alle befragten Gutachterinnen scheinen die wenigen Tage ausreichend zu sein, um die Gutachtenstätigkei t nach offiziellen und rechtlichen Vorschriften erfüllen zu können. Die Zusammenarbeit mit den Einrichtungen wird während der Befunderhebung gewünscht und teilweise auch umgesetzt, jedoch wird gleichzeitig bestätigt, dass innerhalb dieser kurzen Zeit eine umfassende und gemeinsame Erarbeitung von Alternativen unmöglich ist bzw. eher selten passiert. Der offizielle Auftrag und Einschätzungen über mögliche alternative Maßnahmen gelingen in dieser kurzen Zeit, jedoch keine umfangreiche Diagnostik. Kritische Anmerkungen sind bezüglich der Form von Gutachten gemacht worden, dass diese nicht geeignet seien, um die MitarbeiterInnen einer Institution zu motivieren, sich mit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung auseinanderzusetzen und diese nach gründlichen Überlegungen und Ei nigung im Betreuungsteam auch u mzusetzen.

11.13 Herangehensweise an die Erarbeitung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung

Nach der Analyse der Interviews hinsichtlich der Kategorien bzw. Themenschwerpunkte aus dem Interviewleitfaden wird der nächste Schritt die Verbindung zur rehistorisierenden Diagnostik und den Wesentlichkeiten bei der Entwicklung von alternativen Maßnahmen in der Betreuung von Menschen mit Behinderung darstellen.

Die rehistorisierende Diagnostik stellt nur für G1 und G4 einen inhaltlichen und theoretischen Schwerpunkt bei der Befunderhebung dar. G2 und G3 arbeiten hingegen nach psychoanalytisch-pädagogischen Theorien. G2 spricht im Interview G4s theoretischen Zugang zu Gutachtensfäll en an und kommt zu folgender Erkenntnis. "Wann immer wir gemeinsam mit Fällen zu tun gehabt haben, war mein Erstaunen darüber, dass ihre [gemeint ist G4] Art und Weise, Dinge einzuschätzen, die ganz einen anderen theoretischen Hintergrund als jetzt meiner, sich jetzt letztendlich gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Wir haben andere Hypothesen, dass wir Situationen jeweils anders einschätzen. ... Das war jetzt meine Erfahrung immer wieder einmal. .. Es unterscheidet sich gar nicht so sehr voneinander". Die Gutachterinnen betonen immer wieder, dass es bei der späteren Umsetzung des Betreuungsteams von empfohlenen Alternativen nicht darum geht, mit welcher Theorie gearbeitet wird, sondern darum, anhand pädagogischer Theorien zu arbeiten. "Es ist nur wichtig, dass man eines hat .. auf deren Grundlage man arbeitet", so G4. Im Laufe der Interviews wurde immer sichtbarer, dass die Grundelemente einer verstehenden Diagnostik im Sinne der rehistorisierenden Diagnostik eine gute Herangehensweise an die Auseinandersetzung mit pädagogi schen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung bieten.

Alle Interviewpartnerinnen versuchen, zu Beginn der Befunderhebung das Krankheitsbild und die Verhaltensweise zu entschlüsseln. "Das Verhalten, das zu dieser Freiheitsbeschränkung führt, in einem ersten Schritt zu verstehen oder zu schauen, was oder wie kann das denn entschlüsselt werden oder was steckt dahinter" (G3). Dieses erste Herantasten kann nach Jantzen (1996, 2005) als "das Aufsteigen im Abstrakten" verstanden werden. Für ihn kann die aktuelle und konkrete Lebenssituation erst verstanden werden, wenn das Syndrom unter Bedingungen der Lebensgeschichte begriffen wird. Das Wissen über die Grundstörung gibt Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung der sozialen Entwicklungssituation und ist die Ausganglage dafür, um die Welt des Menschen mit Behinderung verstehen zu können.

Der zweite Schritt stellt für die befragten Gutachterinnen die Hypothesenbil dung dar. Durch die Befunderhebung vor Ort, den Kontakt mit den MitarbeiterInnen einer Institution und dem betroffenen Menschen mit Behinderung, die Beobachtung von Interaktionssituationen, das Dokumentationsstudium und die Rekonstruktion der Lebensgeschichte wird versucht, das Entwicklungspotenzial einzuschätzen. Durch die Analyse des selbst- oder fremdgefährdenden Verhaltens wird der Fokus auf die Wirkung des Syndroms in Verbindung mit der frühen und späteren Lebensgeschichte und aktuellen Lebenssituation gebracht. Nach Jantzen (1996, 2005) wäre dies "das Aufsteigen vom Abstrakten ins Konkrete". Die Bestimmung des "Kerns der Retardation" geschieht nie defektorientiert, sondern das Augenmerk liegt hier ganz klar auf den Überlebensstrategien und Kompensationen, auf die der Mensch mit Behinderung zurückgreifen muss, weil alternative Ausdrucksmöglichkeiten fehlen. Jantzen spricht in diesem Zusammenhang "dramatisch eingegrenzte Lebenserfahrungen" und "langjährige schwere Hospitalisierungserfahrungen" an. Darunter fallen definitiv auch Freiheitsbeschränkungen, die Autoaggressionen und Fremdgefährdung beim Menschen mit Behinderung verursachen. G1 geht davon aus, dass strukturelle Gegebenheiten in Institutionen Aggressionen auslösen können, die wiederum etwas "Kommunikatives" bedeuten. G3 spricht das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen für den Menschen mit Behinderung an. Der Abschied von Symptomen und Verhaltensweisen bedeutet auch, etwas Vertrautes aufgeben zu müssen aufgrund fehlender Wahlmöglichkeiten. Auch G4 spricht die Problematik bezüglich mangelnder Alternativen an, weil der Mensch mit Behinderung nicht weiß, wie er anders mit Bewegungseinschränkungen umgehen soll .

Im Sinne einer rehistorisierenden Diagnostik besagt der dritte Schritt, dass der Mensch mit Behinderung in den Rekonstruktionsprozess mit einbezogen wird. Er wird "als Persönlichkeit mit einer eigenen Subjektlogik" anerkannt (Kutscher in Jantzen 2001, S. 245). Nur durch die Mithilfe des betroffenen Menschen mit Behinderung können Entwicklungsmöglichkeiten entworfen und es kann die Lebensgeschichte erklärt und verstanden werden. Nach Jantzen (1996, 2005) setzt der Akt des Verstehens die Anerkennung und Würde des Menschen mit Behinderung voraus und nur so kann ein entwicklungsorientierter Dialog zwischen dem/der DiagnostikerIn und dem betroffenen behinderten Menschen stattfinden. Der letzte Schritt, "das Aufsteigen ins Konkrete" setzt voraus, dass Erklärungswissen vorhanden ist, um die Lebensgeschichte deuten und verstehen zu können. Jede Tätigkeit ist sinnvoll und systemhaft. Gleichzeitig wird seine/ihre Geschichte nicht auf "Natur und Schicksal, Pathologie und Devianz reduziert" (Jantzen 2005, S. 152). Auch diese Vorgehensweise wurde von den Gutachterinnen während der Befunderhebung als zentraler Bestandteil bezeichnet. Alle Interviewpartnerinnen beziehen den Menschen mit Behinderung je nach zeitlicher Möglichkeit in den Gutachtenspr ozess ein. "Das denk ich mir, macht auch anders nicht Sinn", meint G3. Alle vier Gutachterinnen sehen selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten als "Kommunikationsmittel" und "etwas Wollen von jemand anderem" oder als Folge des ständigen Missverstanden-Werdens durch Personen, die in Kontakt mit dem Menschen mit Behinderung stehen. G4 spricht in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit von Selbstbestimmung und Stimmrecht bezüglich Entscheidungen das eigene Leben des behinderten Menschen betreffend an. Die wechselseitige dialogische Anerkennung im Sinne einer rehistorisierenden Diagnostik ist ihrerseits sehr ratsam.

Die Gutachterinnen versuchen, innerhalb der kurzen Zeit einen Überblick über die Situation zu bekommen, jedoch bleibt wenig Zeit für eine umfassende und ausführliche Diagnostik. Nach G2s Auffassung geht es hauptsächlich um den "Bereich der Mitarbeiter und gar nicht mehr so sehr um den geistig behinderten Menschen". Während der Befunderhebung nimmt sie Kontakt zum betroffenen Menschen mit Behinderung auf, aber ihrer Meinung nach muss sich ein Betreuungsteam verändern und das eigene Handeln reflektieren und nicht der/die KlientIn selbst. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten als Gutachterin arbeitet sie vermehrt mit den Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, damit eine freiheitsentziehende Maßnahme "differenzierter und reflektierter" hinterfragt werden kann. G4 ergänzt, dass die Befunderhebung vor Ort circa drei Stunden dauert. "Das heißt, je nachdem, wie viel Kommunikation und wie viel Austausch möglich ist, ist das zwischen einer halben Stunde und Stunde, wo die Kontaktaufnahme zu den Betroffenen ist". Neben dem persönlichen Kontakt mit dem Menschen mit Behinderung sind Gespräche mit dem Personal und Angehörigen unbedingt nötig, damit das Wissen zur dokumentierten Lebensgesichte in der Einrichtung ergänzt werden kann.

Alle befragten Gutachterinnen kommen auch immer wieder auf mögliche Ursachen von Freiheitsbeschränkung zu sprechen. Ihre Aussagen bestätigen die Ausführungen in der Fachliteratur diesbezüglich. Genannte Ursachen der Interviewpartnerinnen waren zum Beispiel Personalmangel, Konflikte im Betreuungsteam, Überforderung mit Situationen, Versagensängste in der Betreuung, Machtausübung durch freiheitsentziehende Maßnahmen, wenig Rücksichtnahme auf Menschen mit Behinderung, fehlendes Wissen über Alternativen, mangelnde pädagogische Konzepte und die Organisation einer Einrichtung. Der Hauptgrund für freiheitsbeschränkende Maßnahmen ist nach G4 Personalknappheit. "Das ist ein ganz häufiger und dass di e Aussage wär , wenn wir mehr Personal hätten, dann wär das [gemeint ist hier eine freiheitsentziehende Maßnahme] nicht notwendig". Im Rahmen der Tagung "Freiheitsbeschränkungen " bei Personen mit einer geistigen Behinderung und/oder psychischen Erkrankung (ÖKSA 2005) wurde Personalmangel ebenso als Ursache für Freiheitsbeschränkungen angegeben, aber gleichzeitig wurde betont, dass eine Personalerhöhung nicht das Verhalten des Menschen mit Behinderung verändert. Es geht vielmehr um die Schaffung von Betreuungskonzepten und Veränderungen der Philosophie in Institutionen. Besonders G2, G3 und G4 sprechen immer wieder das fehlende pädagogische Denken und mangelnde Wissen über pädagogische Konzepte in der Betreuung von Menschen mit Behinderung an.

Bei der Fachtagung wurden auch strukturelle Gegebenheiten wie zum Beispiel Organisation, Stadt/Land oder Wohneinheiten, als Gründe für freiheitsentziehende Maßnahmen genannt (vgl. ebd.). Auch die befragten Gutachterinnen sehen strukturelle Gegebenheiten von Einrichtung für Menschen mit Behinderung als Ursachen einer Freiheitsbeschränkung. Freiheitsbeschränkungen werden sowohl in der Fachliteratur als auch bei den Interviews als Form der "Problemlösung " dargestellt. Es kann demnach angenommen werden, dass die Verhältnisse zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen führen und nicht das Verhalten an sich (vgl. Hofinger et al. 2007). Besonders G2 kommt immer wieder auf die Unwissenheit über mögliche Alternativen zu sprechen. "Letztendlich haben sie [Institutionen] keine Idee, keinen blassen Schimmer davon, wie sie anders tun könnten". Ihrer Ansicht nach werden Freiheitsbeschränkungen "aus der Not heraus, weil sie ja wirklich nicht wissen, wie anders tun" gesetzt. G4 spricht in diesem Zusammenhang die Annahme, dass ein Symptom zu einer bestimmten Behinderung dazugehört und kaum Veränderungsmöglichkeit bietet, an. "Dann brauche ich [als BetreuerIn] auch therapeutisch nix tun und dann kann i ch nur beschränken".

Aufgrund der bis dato sehr raren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung von Menschen mit Behinderung musste dieses Kapitel im Theorieteil eher knapp gehalten werden. Auch hier gibt es Grundtendenzen, die sowohl in den Interviews, aber auch in der Fachliteratur immer wieder auftauchen. Laut Leicht orientieren sich Alternativen hauptsächlich an der betroffenen Person selbst sowie an den Zielen und Ressourcen der Einrichtung (vgl. Leicht 2006). Das eigene Tun und Handeln zu reflektieren, der richtige Umgang mit den eigenen Ängsten und Menschen mit Behinderung Anerkennung und Respekt entgegenzubringen, sind weitere wesentliche Aussagen in der Fachliteratur (vgl. Jantzen 2005), ebenso die Schaffung einer Arbeitsumgebung ohne Freiheitsbeschränkung, alternative Maßnahmen im Team zu erarbeiten und der Erwerb von pädagogisch-therapeutischen Fähigkeiten seitens der MitarbeiterInnen einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung (vgl. Sullivan et al. 2005). Alle in der Fachliteratur angesprochenen Themen finden sich in den geführten Interviews mit den vier Sachverständigen wieder.

12 SCHLUSSFOLGERUNGEN UND DISKUSSION DER ERGEBNISSE

Sachverständige haben für die Gutachtenserstellung maximal eine Woche Zeit. "Manchmal sind es auch bloß vier Tage in Wirklichkeit" (G4). Innerhalb dieser wenigen Tage besteht die größte Herausforderung darin, sich rasch ein Bild von der gesamten Situation zu machen. "Das ist ganz, ganz schnell" (G3). Alle Interviewpartnerinnen bestätigen, dass die Zeit ausreichend ist, um den Gutachtensauftrag ausführen zu können und Grundideen zu entwickeln, was alternative Empfehlungen in der Betreuung von Menschen mit Behinderung sein könnten. "Um wirklich für die Person konkret, so wie sie es dann später im Sinne einer rehistorisierenden Diagnostik aus zu entdecken, sind vier Stunden, von denen ich eine für die Person hernehme, einfach viel zu kurz (betont)" (G1). Diese Aussage wird durch G4 bejaht. Ihrer Meinung nach wird der Zweck im Gutachtenspr ozess erfüllt, das heißt, dem/der RichterIn bei seiner/ihrer Entscheidungsfindung behilflich zu sein. "Das [gemeint ist hier die Diagnostik] könnte ich als Gutachterin ja sowieso nicht machen. Ich denk mir, weil dann wär ja eine viel längere Zeitspanne notwendig, wo ich hinfahre und beobachte und in Interaktion trete oder probier, therapeutisch was zu beginnen, und zu schauen, wie das greift". Datler (Datler & Lehner 2006) spricht in seinem Artikel die Beratungstätigkeit von GutachterInnen im Gutachtenspr ozess an. Sachverständige sollen seiner Ansicht nach sehr prozess- und lösungsorientierte Empfehlungen und Vorschläge fachlicher Art an MitarbeiterInnen einer Einrichtung weitergeben. Durch die beratende Rolle als GutachterIn in der Befunderhebung soll ein "diagnostisches Arbeitsbündnis" zwischen Sachverständigen und Institution entstehen. Es stellt sich dabei jedoch die Frage, inwieweit sich dieses sogenannte Arbeitsbündnis in der Realität umsetzen lässt. Besonders G2 kommt immer wieder auf diese Form der Erarbeitung von Alternativen zur Freiheitsbeschränkung zurück. G2 versucht, von Anfang an so etwas wie ein Arbeitsbündnis zwischen ihr und der Einrichtung aufzubauen. "Jetzt mit der Einrichtung zu, also für diese kurze Zeit letztlich auch zu entwickeln, damit dann auch die Bereitschaft von dem, was dann im Gutachten steht. Was dann quasi verhandelt wird, damit da die Bereitschaft steigen kann, von dem was anzunehmen". G1 und G4 zweifeln an der Umsetzung dieser Form der Auseinandersetzung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung, obwohl es deren Ansicht nach sehr empfehlenswert wäre. "So diesen Prozess gemeinsam was zu erarbeiten, den gibt es ja eigentlich fast nicht" (G4). Der Zeitfaktor spielt im Gutachtenspr ozess sicherlich eine bedeutende Rolle. Jede/r GutachterIn muss seine/ihre passende Arbeitsweise bei der Erarbeitung von pädagogischen Alternativen finden. Inwieweit nun wirklich die Einrichtung, aber auch der Mensch mit Behinderung selbst in den Gutachtensprozess mit einbezogen werden kann, bleibt ungewiss.

Der Zeitfaktor beeinflusst nicht nur die Einschätzung von und die Auseinandersetzung mit pädagogischen Maßnahmen zur Freiheitsbeschränkung, sondern wirft auch die Frage auf, ob unter diesen vorherrschenden Bedingungen Einrichtungen dazu motiviert werden können, ihre Art der Betreuung und Begleitung von Menschen mit Behinderung mehr zu hinterfragen. Alle vier Gutachterinnen sprechen ihre Zweifel bezüglich der Umsetzung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung aus. "Ich glaube, dass Gutachten nicht wirklich ... geeignet sind, um Menschen zu motivieren, dass sie sich Alternativen überlegen" (G1). G2 nimmt immer wieder Bezug auf die Bereitschaft, den Betreuungsalltag verändern zu wollen, seitens der Institutionen. "Also, sich schon auf gewisse Weise auf die Finger schauen zu lassen und vielleicht auch in bestimmten Punkten angreifen zu lassen oder auch sich angegriffen zu fühlen. Es geht ja immerhin auch um eine Gerichtsverhandlung mit allen Fantasien dazu". Auch G3 bestätigt, dass "kostenlose Fachfrauen" bzw. Fachmänner im Rahmen einer Befunderhebung nicht immer erwünscht sind und Einrichtungen teilweise gar keine Unterstützung und Beratung in Anspruch nehmen wollen. G4 ergänzt, dass das eigentliche Ziel eines Gutachtens die Weiterentwicklung und Verbesserung des Betreuungsalltags für Menschen mit Behinderung sein soll. "Ich denk mir, eigentlich soll es ja so sein, dass die Institution irgendeine Idee kriegt, was man weitermachen könnte und dafür ist es knapp. Und dafür ist es auch sehr formell, weil es ist dann eine Verhandlung und da werden Sachen entschieden, die oft gegen das sind, was die Institution will".

Ein Gutachten hat für Institutionen und deren MitarbeiterInnen immer rechtliche Konsequenzen und die dort geleistete Arbeit mit den Menschen mit Behinderung wird kritisiert und bemängelt. Ein Gerichtstermin ist mit Sicherheit nicht angenehm und eventuell auch mit Angst verbunden aufgrund der Seltenheit im normalen Alltag. Die Startbedingungen für einen Umdenkprozess sind unter Umständen nicht die besten. Auf der einen Seite gibt es Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, die diese Rechtssicherheit und eine Unzulässigkeitserklärung durch den/die RichterIn brauchen, um freiheitsbeschränkende Maßnahmen endgültig aufheben zu können. Auf der anderen Seite kann eine Geri chtsverhandl ung zu mehr Verunsicherung und Überforderung führen. Innerhalb einer Woche wird durch das Gericht entschieden, ob eine Freiheitsbeschränkung aufgehoben werden soll oder nicht. Gleichzeitig wird die Betreuung kritisiert und Fachkräfte aus dem Bereich der Sonder- und Heilpädagogik raten zu einem Umdenken in der pädagogischen Arbeit. Wird dann eine freiheitsentziehende Maßnahme für unzulässig erklärt, müssen die vorgeschlagenen Alternativen ausprobiert und umgesetzt werden. Das muss dann ohne fachliche Beratung von Exper tInnen dur ch das Betreuungsteam passi eren. Das heißt, unter Umständen wird ein Betreuungsteam mit dem Problem alleingelassen und Hilflosigkeit macht sich bemerkbar. Datler und Lehner sprechen in diesem Zusammenhang an, dass sich ein Betreuungsteam "nach solch einem Verhandlungsausgang gekränkt, geringgeschätzt und vielleicht auch gedemütigt fühlt" (Datler & Lehner 2006, S. 62). Unter anderem können MitarbeiterInnen einer Behinderteneinrichtung auch verärgert oder neidisch auf GutachterInnen sein, zum Beispiel auf die fachliche Kompetenz und einflussreiche Position vor Gericht als Sachverständige/r oder über die Beurteilung der Betreuung, ohne dabei in der täglichen Arbeit involviert zu sein (vgl. ebd.).

Das würde wiederum bedeuten, dass es von Vorteil wäre, wenn den Einrichtungen nach einem Gerichtsbeschluss ExpertInnen aus dem Bereich der Sonder- und Heilpädagogik zur Seite gestellt werden, die bei der Umsetzung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung behilflich sind. Die Schaffung von einem neutralen HelferInnensystem, welches auf freiwilliger Basis in Anspruch genommen werden kann, wäre meiner Ansicht nach sehr sinnvoll; wo es nicht um Kritik und Beurteilung von Situationen geht, sondern darum, in einem sogenannten "diagnostischen Arbeitsbündnis" gemeinsam Alternativen zur Freiheitsbeschränkung zu entwickeln. Konkret würde das die Auseinandersetzung mit pädagogischen Konzepten und das Arbeiten im Sinne einer rehistorisierenden Diagnostik bedeuten.

Alle vier Gutachterinnen geben an, dass der Weiterbildungslehrgang "Heimaufenthaltsgesetz - Pädagogische Qualifizierung potentieller Gutachter" nur einmalig im Jahr 2005 in Wien stattgefunden hat. G2, G3 und G4 nahmen an diesem Universitätslehrgang vor Einführung des HeimAufG teil. G1 ist keine beeidete Gutachterin und hat damals auch keine Information über diese dreitägige Schulung in Wien erhalten. G1 hat sich bei ihren zwei Gutachten Unterstützung von einer Kollegin aus dem Osten, die diesen Weiterbildungslehrgang besucht hat, geholt. "Die hat mir dann auch wirklich geholfen, mich in das Ganze auch einzuarbeiten". G1 berichtet nach dem Interview, dass sie sich gerade beim ersten Gutachten überfordert gefühlt habe. Sie war sich unsicher über die formale Gestaltung eines schriftlichen Gutachtens, den Verlauf der Gerichtsverhandlung und darüber, welche Fragen bei der Befunderhebung unbedingt geklärt werden müssen. Die Austauschmögl ichkeit mit einer Kollegin aus Tirol, aber auch einer Gutachterin aus Wien beschreibt sie als "sehr hilfreich". Natürlich taucht die Frage auf, warum in ganz Österreich nur einmal eine derartige Schulung angeboten wurde. Grundsätzlich wäre es schon sehr sinnvoll, eine solide Grundausbildung als Sachverständige/r im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik zu haben. Der Lehrgang wurde, wie bereits im Theorieteil erwähnt, in vier große Themenblöcke eingeteilt, um sich in rechtlichen und pädagogischen Angelegenheiten qualifizieren zu können (vgl. Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien 2005, im Internet). Besonders G3 und G4 beschreiben die Entwicklungsprozesse bei der Erarbeitung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung als "nicht schwer bis schwierig". Beide Frauen haben jeweils über 20 Gutachten verfasst und es besteht sicherlich ein Zusammenhang zwischen theoretischem Wissen über das HeimAufG und Sonder- und Heilpädagogik und der Erfahrung als Gutachterin; insbesondere die Kenntnisse, wie der Gutachtensauftrag schnell und effizient ausgeführt werden kann, ohne si ch dabei überfordert zu fühlen.

Bei der Suche nach potenziellen InterviewpartnerInnen war auffällig, dass sich ausschließlich weibliche Gesprächspartnerinnen auf meine Anfrage gemeldet haben. Leider ist mir nicht bekannt, ob auch männliche Sachverständige im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik tätig sind. Das wäre eine weitere wichtige Fragestellung im Rahmen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Auch wie das Geschlechterverhältnis bei psychiatrischen Gerichtssachverständigen ausschaut und ob die Herangehensweise bei der Erarbeitung von Al ternativen zur Freiheitsbeschränkung in der Befunderhebung ähnlich ist im Vergleich zu GutachterInnen im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik, sollte untersucht werden.

Abschließend kann gesagt werden, dass die Diagnostik nach Jantzen eine sehr strukturierte und logische Form anbietet, wie Menschen mit Behinderung verstanden werden können. Durch die verschiedenen aufeinander aufbauenden Schritte in der rehistorisierenden Diagnostik können Verhaltensweisen und Lebensgeschichten von Menschen mit Behinderung besser begriffen und nachvollzogen werden. Wie bereits erwähnt finden sich die wesentlichen Grundelemente einer verstehenden Diagnostik nach Jantzen in jedem vorgestellten Gutachtensprozess, wenn es um die Auseinandersetzung mit Alternativen zur Freiheitsbeschränkung geht.

13 SCHLUSSWORT

Das Ziel meiner Diplomarbeit war es, die Praxis der Erarbeitung von pädagogischen Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen im Zuge von Verfahren aufgrund des HeimAufG zu beleuchten. In der Betreuung von Menschen mit Behinderung kann es immer wieder zu Krisensituationen kommen, bei denen eine freiheitsentziehende Maßnahme auf befri stete Zeit unerlässlich ist, einerseits zum Schutz des/der Betroffenen selbst und andererseits für das soziale Umfeld. Es gibt viele unterschiedliche Gründe und Ursachen, warum freiheitsentziehende Maßnahmen in Institutionen verwendet werden. Ich möchte mit dieser vorliegenden Arbeit keinesfalls Einrichtungen für Menschen mit Behinderung generell kritisieren und die dort geleistete pädagogische Arbeit schlechtheißen. In manchen Behinderteneinrichtungen macht es jedoch den Anschein, dass noch viel reflektierter und konkreter an das Thema Freiheitsbeschränkungen herangegangen werden muss. Mein Anliegen wäre in diesem Sinne die Entwicklung von Mut und Selbstvertrauen, damit gemeinsam neue Schritte in der Betreuung und Begleitung von Menschen mit Behinderung gesetzt werden können. Um freiheitsentziehende Maßnahmen bis auf ein Mindestmaß reduzieren zu können, bedar f es gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigen Respekts sowie der Bereitschaft, Risiken einzugehen, um eine entwicklungsfördernde Umgebung für Menschen mit Behinderung zu schaffen.

Die vielen Fallbeispiele aus der Praxis der vier befragten Gutachterinnen zeigen, dass es alternative Methoden in der Betreuung von Menschen mit Behinderung gibt und dass es lohnenswert ist, Zeit und Mühe in die Geschichte jedes und jeder Einzelnen zu investieren. Es gibt immer gelindere Formen zur Freiheitsbeschränkung in der Begleitung von behinderten Menschen und es gilt, Orte zu schafften, wo sich jeder Mensch frei entfalten und verwirklichen kann.

Das Heimaufenthaltsgesetz, welches mit 1. Juli 2005 in Österreich in Kraft getreten ist, regelt die Persönlichkeitsrechte für Menschen mit Behinderung und ist ein entscheidendes Instrument für deren bessere rechtliche Stellung vor Gericht. Seit einigen Jahren gibt es also einen rechtlichen Diskurs über freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Wohn- und Tageseinrichtungen für Menschen mit Behinderung. Dennoch mangelt es zum Teil noch an der gesellschaftlichen Nichtakzeptanz von Freiheitsbeschränkungen. Demnach sind in der Behindertenarbeit die nächsten notwendigen Schritte, die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung zu verbessern und einschränkende Formen der Betreuung intensiver zu hinterfragen und zu überdenken. Ich hoffe, dass mit dieser vorliegenden Diplomarbeit Rahmenbedingungen aufgezeigt werden konnten, die bei der Auseinandersetzung und Entwicklung von pädagogischen Alternativen zur Freiheitsbeschränkung von Nutzen sind. Nicht zuletzt konnten durch meine Interviewpartnerinnen Anleitungen für die Erarbeitung von alternativen Maßnahmen aufgezeigt werden. Weiters wurde bestätigt, dass eine verstehende Diagnostik im Sinne einer rehistorisierenden Diagnostik eine gute Form der Auseinandersetzung mit Alternativen liefert; das heißt, wie Menschen, die aufgrund eines Syndroms in Verbindung mit der frühen und späten Lebensgeschichte und aktuellen Lebenssituation zu dem geworden sind, wer sie heute sind, verstanden werden können. In diesem Sinne wünsche ich jedem und jeder von uns Mut, aufeinander zuzugehen und die Dinge gemeinsam anzupacken. Es wird sich auf alle Fälle lohnen!

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Quelle:

Maritta Gsenger: Alternativen zur Freiheitsbeschränkung in Behinderteneinrichtungen aus Sicht von sonder- und heilpäda gogischen Sachverständigen

Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie; eingereicht bei bei ao. Univ.-Prof. Dr. Volker Schönwiese, Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 19.05.2010

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