Psychische Störungen bei geistig behinderten Menschen und die Methode der Rehistorisierung

Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Referat
Releaseinfo: Das folgende Referat wurde bei der Fachtagung "Psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung" im Hessischen Diakoniezentrum Hephata, 34613 Schwalmstadt/Treysa am 29.2.00 gehalten.
Copyright: © Wolfgang Jantzen, Nicole Mertens 2000

1. Psychische Störungen bei geistig behinderten Menschen

"Every person with a mental handicap is a human being enjoying the right to respect for his human dignity. All mentally handicapped persons have the same fundamental, civil and political rights as other human beings."

(Inclusion International: Fundamental Principles of Inclusion, Principle 1; Lachwitz 1998, S. 9)

"Welche Entscheidung wir auch immer treffen, sie wird solange ungerecht sein, wie wir der Ansicht des Opfers nicht uneingeschränkt Rechnung tragen und seiner Stimme nicht volles Gewicht verleihen. Weniger zu tun, ist nicht nur unfair, sondern politisch gefährlich."

(Judith Shklar 1992, S. 203)

Ab den 60er Jahren hat sich das Bild von geistiger Behinderung gravierend verändert. Im Kontext neuer theoretischer und praktischer Zugänge (Lurijas neuropsychologische Theorie der geistigen Behinderung, lerntheoretische bzw. verhaltenstherapeutische Modelle, Normalisierung) löste sich das klassische Bild nahezu unbeeinflußbarer Intelligenzdefizite verkoppelt mit spezifischen Formen "moralischen Schwachsinns" in eine eher entwicklungsbezogene Sichtweise auf. Eine bedeutende Rolle spielte hierbei die durch Inhelder (1968) erfolgte Anwendung der konstruktivistischen Intelligenztheorie Piagets auf das Gebiet der geistigen Behinderung. Innerhalb zahlreicher empirischer Forschungen kristallisierte sich heraus, daß geistig behinderte Menschen die Piagetschen Niveaus in gleicher Reihenfolge, jedoch verlangsamt durchlaufen. Diese Sicht wurde zunehmend differenziert durch das Aufspüren bereichsspezifischer (domain-specific) Differenzen zwischen verschiedenen Untergruppen geistiger Behinderung und im Verhältnis zur Entwicklung nicht geistig behinderter Menschen. So bestehen beim Williams-Syndrom deutliche Einschränkungen der räumlichen Analyse und Synthese, beim Down-Syndrom bilden Langsamkeit und gestörter Grammatikerwerb Kernzonen bereichsspezifischer Beeinträchtigung, bei Autismus ist es die eingeschränkte Fähigkeit der Herausbildung einer "theory of mind", d.h. der Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.

Im Kontext derartiger Forschungen und einer gesellschaftlichen Praxis, die auf Integration zielte, hat sich zunehmend das vorher statische und defektbezogene Bild geistiger Behinderung verändert. Dies bezieht sich auch auf den von den Anfängen an immer gleichzeitig mit der Intelligenzminderung betrachteten Bereich sozialer Kompetenz. Entsprechend beinhalten heutige diagnostische "Krankheitsurteile" (z.B. entsprechend DSM III R und IV; vgl. APA 1989, 1994) sowohl Aussagen zum intellektuellen Rückstand als zu gleichzeitigen Defiziten bzw. Beeinträchtigungen der sozialen Kompetenz. Ist beides vor dem Alter von 18 Jahren eingeschränkt, so ist geistige Behinderung zu diagnostizieren. Auch die im Bereich sozialer Kompetenz gegebenen Einschränkungen wurden zunehmend als das Resultat von Entwicklung begriffen (vgl. Holtz 1994). Schwerer fiel es und fällt es ersichtlich bis heute, psychopathologische Einschränkungen wie aggressive und autoaggressive, depressive und hyperaktive, zwanghafte und psychotische Zustände in eine Entwicklungsperspektive aufzunehmen. Waren es doch diese, die neben dem Bild der Rückständigkeit das Bild des moralischen Schwachsinns und der psychopathischen Minderwertigkeit hervorgebracht hatten, und damit eine hinter dem Deckmantel der intellektuellen Einschränkung immer präsente Perspektive auf geistige Behinderung (vgl. Jantzen 1980). Moralischer Schwachsinn, später übersetzt in "psychiatrische Störungen" bzw. psychische Auffälligkeiten, galt als unmittelbarer Ausdruck eines harten und kaum beeinflußbarer Kern jener Naturprozesse, welche zu Idiotie, Imbezillität und Debilität führten.

Erst die Veränderbarkeit problemhaften Verhaltens durch die Verhaltenstherapie fing an, jenen harten Kern von naturgegebener Devianz in Frage zu stellen, der ebenso wie die intellektuelle Einschränkung mit der Hirnschädigung schicksalhaft einhergehe. Trotzdem sollte es noch lange dauern, bis konstruktivistische Sichten auf den Entstehungsprozeß von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen Einfluß zu gewinnen begannen, und wo sie dies taten, bis heute keineswegs immer auf dem Stand jener theoretischen Diskussion, die außerhalb des Gebietes der "geistigen Behinderung" vorzufinden ist. Immerhin, ab Mitte der 80er Jahre ist die Rede von notwendiger dualer Diagnose. Dies bedeutet, über die bisherige doppelte Diagnose von intellektuellem Rückstand und sozialer Kompetenz hinaus auch eine psychiatrische Diagnose zu stellen.

Dabei sollte nicht übersehen werden, daß die Ausgliederung dieser Diagnose auf ärztlicher Seite vor allem auch der differentiellen Anwendung von Psychopharmaka Rechnung tragen sollte, also eher einer Ausdehnung des medizinischen Modells auf den Bereich der Verhaltensstörungen bei geistiger Behinderung Rechnung trug, als sich an einer psychodynamischen Theorie psychischer Störungen zu orientieren[1].

Einen Wendepunkt stellte die mit Unterstützung des "Presidental Commitee on Mental Retardation" 1985 durchgeführte und 1988 publizierte Konferenz zu "Mental Retardation and Mental Health" dar (Stark u.a. 1988). In ihrem Kontext und durch sie angeregt erhält nicht nur die gleichzeitige Diagnose von psychischen Auffälligkeiten und geistiger Behinderung wesentliche Impulse. Die dort nachlesbare Auseinandersetzung zwischen verhaltenstherapeutischen und eher psychodynamischen Ansichten bricht auch die bisherige Dominanz verhaltenstherapeutischer Strategien.

Trotzdem ist damit noch längst nicht die Naturalisierung psychischer Störungen im Sinne von unmittelbaren Folgen eines Defektes beendet. Ersichtlich fällt es schwer (1) anzuerkennen, daß all jenes, was bisher als Folgen eines hirnorganischen Defektes gedacht wurde, psychische Konstruktion in einem veränderten Verhältnis zu den Menschen und zur Welt ist. Denn wie Blindheit oder Gehörlosigkeit verändert auch ein spezifischer Defekt des ZNS radikal die Verhältnisse zu den Menschen und zur Welt. Und (2) ist es ersichtlich noch schwerer anzuerkennen, daß diese für geistig behinderte Menschen andere Welt unter den Bedingungen ihrer größeren Verwundbarkeit auch dann schon eine Welt voller Gewalt wäre, wenn nicht Hospitalisierung, Unterwerfung unter medizinische, therapeutische und pädagogische Programme, Unterbringung in Sondereinrichtungen, Entzug von Bezugspersonen usw. in gravierender Weise hinzukäme.

Beginnt man in diesem Kontext geistige Behinderung als ein Verhältnis zur Welt zu begreifen, das unter den Bedingungen größerer Verwundbarkeit einerseits und größerer gewaltsamer Einwirkung andererseits entsteht, so verändert sich die Sicht radikal (vgl. z.B. Jantzen 1999 a).

Diese doppelte Problematik zeigt sich auch in der Debatte um psychische Störungen bei geistig behinderten Menschen und ihrer Therapie. Christian Gaedt, wesentlicher Protagonist der Debatte um duale Diagnose im deutschsprachigen Raum, markiert jenen Punkt, wo zur Anerkennung der veränderten Weltkonstruktion vorgedrungen wird, nicht aber zur Anerkennung der spezifischen und besonderen transaktionalen Verhältnisse von offener und struktureller Gewalt, welche aus unserer Sicht Basis der gesellschaftlichen Konstruktion von geistiger Behinderung sind. So ist es für Gaedt Wesen der geistigen Behinderung, "daß der geistig behinderte Mensch mit der gegebenen gesellschaftlichen Umwelt nicht kompetent umgehen kann. Er hat nicht die Fähigkeit, sich in diesen komplexen Strukturen eigenverantwortlich seinen Lebensraum seinen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten, seine für ihn bedeutsame, von ihm also verstandene Umwelt zu organisieren" (1987, S. 139). Die entscheidende Frage, in welcher Weise die Fähigkeiten dieser Welt gegenüber den von ihrer konstruierten Normalität differenten Menschen eingeschränkt sind, wird nicht gestellt. Von fehlender Integrationsfähigkeit ist die Rede, nicht aber von sozialem Ausschluß. Ganz anders hier die Position der englischen Psychoanalytikerin Valerie Sinason, die psychische Störungen bei geistiger Behinderung als Resultat des Lebens in einer Welt sieht, die geistig behinderte Menschen in rassistischer Perspektive nicht nur als minderbemittelten Volksstamm (tribe) sieht, sondern darüber hinaus als Stamm, dessen Ausrottung auf der Tagesordnung steht (Sinason 1992).

Sofern diese in den Menschen unserer Gesellschaft habitualisierte und institutionalisierte Disposition, so würden wir dies mit der Soziologie Bourdieus bezeichnen, nicht reflexiv gebrochen wird, ist das Vernichtungsbegehren, das Wegwünschen, das unsichtbar machen wollen, das für peinlich erklären ständig und überall in der sozialen Welt geistig behinderter Menschen ihnen gegenüber präsent. Und nur allzu oft geschieht dies im Mantel der wohlmeinenden Fürsorge, so wäre hinzuzufügen (Jantzen 1998a)

Vertieft bestimmt Dietmut Niedecken, ebenfalls in psychoanalytischen Traditionen stehend, geistige Behinderung nicht als individuelle Eigenschaft sondern als soziale Institution, die erst durch spezifische Prozesse der Beschädigung von "bestimmten Interaktionsformen" im sozialen Verkehr zur subjektiven Konstruktion wird. Bestimmte Interaktionsformen[2] sind Handlungsprodukte, die im interpersonalen Austausch zwischen Kind und primärer Bezugsperson entstehen und die Möglichkeit künftiger sicherer Interaktion sichern. "Gelungene Interaktionsprodukte zeichnen sich dadurch aus, daß sie als symbolische jederzeit bewußt verfügbar sind, vom Subjekt in seiner Auseinandersetzung mit der Welt spielerisch und reflektierend gebraucht werden können, während beschädigte Interaktionsformen sich hinter dem Rücken des Subjekts und nicht selten gegen seine bewußte Intention mit scheinbarer Zwangsläufigkeit durchsetzen" (Niedecken 1998 a, S. 28). Dies geschieht aufgrund der subjektiven Vergesellschaftung der Bezugspersonen und des weiteren gesellschaftlichen Umfelds in der "Institution geistige Behinderung". Diese Institution wird durch drei Organisatoren hervorgebracht:

1. Die Diagnose, welche als "Einbetonierung" von Selbst- und Fremdwahrnehmung in der frühen Mutter-Kind-Beziehung wirkt und zugleich Schuldentlastung gewährleistet wie gesellschaftliche Mordtendenzen (Wegwünschen usw.) ins Unbewußte transformiert (a.a.O., S. 29).

2. Gesellschaftliche Phantasmen, die in der mütterlichen Phantasie die Entwicklung des Kindes bestimmen, z.B. die Wirkung des Phantasmas "mongoloides Kind", das als "Monster" die Wahrnehmung bestimmt, das eigene Kind sei doch (nicht) so "mongoloid", und damit als Dimension von Wunsch und Furcht alle Handlungen überlagert (a.a.O., S. 30; vgl. auch Niedecken 1998b, S 25).

Und 3. "dienen Behandlungstechnologien schließlich dazu, die Realität der Therapierten noch perfekter so einzurichten, wie Diagnose und Phantasmen uns sie wahrzunehmen erlauben" (1998 a. S. 30).

Geistige Behinderung, so können wir aus Niedeckens Sicht festhalten, ist eine gesellschaftliche Institution, die zu pathologisierenden Veränderungen im Austausch zwischen Kind und Welt führt, als deren Resultat intellektuelle Rückständigkeit, soziale Einschränkungen und psychische Störungen resultieren.

Damit ist nicht behauptet, die Biologie spiele keine Rolle, vielmehr geht sie durch das durch sie bedingte veränderte Verhältnis zu den Menschen und zur Welt ebenso konstitutiv in diesen Prozeß ein wie die je wirkenden sozialen Verhältnisse.

Niedeckens Überlegung zu einer Institution "geistige Behinderung", welche es verhindert, in adäquater Weise den dialogischen, den sozialen- und den Lernbedürfnissen des Kindes zu entsprechen und zugleich diesen Prozeß unsichtbar macht, markiert nicht nur den Ansatzpunkt für ein angemessenes psychodynamisches Agieren und Verstehen. Mit der Identifizierung der Institution geistige Behinderung wird auch der soziale Ort sichtbar, in dessen radikaler Negation sich rehistorisierende Diagnostik bestimmt.



[1] Wir verkennen nicht die Notwendigkeit, unter bestimmten Umständen auf Medikamente zurückzugreifen. Die gängige Praxis ist allerdings nach wie vor äußerst grobschlächtig und undifferenziert, vergleicht man dies mit dem Stand der differenzierten wissenschaftlichen Diskussion (vgl. z.B. Ratey 1991).

[2] Dieser Begriff entstammt Alfred Lorenzers psychoanalytischer und materialistischer Sozialisationstheorie; vgl. Lorenzer 1973.

2. Einige Bemerkungen zum Problem der Rehistorisierung

Rehistorisierende Diagnostik ist ein Verfahren, das von uns in den Traditionen von Alexander Lurija entwickelt wurde (vgl. Jantzen 1994, 1998 b, 1999 b, c; Jantzen und Lanwer-Koppelin 1996, Jantzen und Schnittka 1999). Die Hauptfrage ist nicht die nach dem Defekt, sondern nach der Rolle des Defekts in der Entwicklung der Persönlichkeit. Entsprechend wird die verdinglichte Defektdiagnose verflüssigt in die Syndrombetrachtungsweise, wie dies sehr schön in den neurologischen Geschichten von Oliver Sacks (1987, 1995) zum Ausdruck kommt: Was sind die Spezifika des veränderten Mensch-Welt-Verhältnisses, oder mit Vygotskij ausgedrückt, was ist die andere soziale Entwicklungssituation, welche aus der Einwirkung des Defektes resultiert? Die Anwendung dieser Syndrombetrachtungsweise auf die Lebensgeschichte leistet ein doppeltes: sie entschlüsselt die Defektdiagnose als verdinglichendes Krankheitsurteil, Konstruktion eines medizinischen Körpers losgelöst von der historischen Existenz des behinderten Menschen, und macht damit den Weg frei für die dialektische Entschlüsselung des Lebensprozesses. Hierfür ist gediegene Theorie vonnöten, wobei wir uns eines theoretischen Instrumentariums bedienen, das zwar in vielen Punkten zu mit der Psychoanalyse vergleichbaren Auffassungen gelangt, sich in anderer Hinsicht jedoch deutlich unterscheidet (vgl. Jantzen 1987, 1990).

Diese ideologische und dialektische Entschlüsselung der psychopathologischen Geschichte des anderen ist jedoch, Basaglia (1973) folgend, nur die eine Seite der Wahrnehmung der Realität des psychisch kranken bzw. behinderten Menschen. Unabdingbar gehört hinzu die zweite Seite, daß er ein Ausgeschlossener, ein Geächteter ist. Oder sagen wir es in Termini der Soziologie von Bourdieu, daß er im jeweiligen "Feld der Macht" so nahe am Pol der Ohnmacht steht, daß er Teil einer totalen Institution ist, innerhalb derer seine Menschen- und Bürgerrechte nicht mehr oder nur höchst eingeschränkt zur Geltung gebracht werden können. Niedeckens Analyse der Institution "geistige Behinderung" zeigt deutlich, daß ein derartiges Verhältnis im "Feld der Macht" konstitutiv für geistige Behinderung ist, und keineswegs nur in Großeinrichtungen entsteht (vgl. auch Jantzen 1997, 1998 a, 2000). Psychische Störungen würden aus dieser Sicht dort und genau dort entstehen, wo soziale Auseinandersetzungen in einem "Feld der Macht" erstarren und bei gleichzeitigem Zerbrechen des Dialogs psychische Lösungen erfordern, welche das Subjekt in Situationen der Destabilisierung restabilisieren. In dieser Hinsicht sind psychopathologische Konstruktionen jeweils Konstruktionen, die einer veränderten sozialen Entwicklungssituation durch Aufrechterhaltung des Selbst Rechnung tragen. Sie sind insofern systemhaft und sinnvoll. Gleichzeitig, aber, so René Spitz (1992) in seiner psychologischen Feldtheorie der Ichbildung, führen sie zu luxurierenden, d.h. in sozialen Dialogen nicht eingebundenen Ichkernen, auf die bei Not zurückgegriffen wird [3], z.B. im Sinne von Autoaggression oder Aggression. Je mehr durch Verschiebungen im "Feld der Macht" dieser Rückgriff die einzige Alternative wird, desto mehr tritt er auf und wird sozial bestärkt, wie dies Goffman (1972) an den entsprechenden "looping"-Prozessen in totalen Institutionen herausgearbeitet hat.

Wenn wir also von Ausschluß und Ächtung sprechen, haben ebenso die Mechanismen von offener und struktureller Gewalt Berücksichtigung zu finden, wie jene Dimensionen der Gewalt, die in den Konstruktionen des Selbst in Psyche und Körper der Unterworfenen überdauern.

Rehistorisierende Diagnostik würde ihr Anliegen verfehlen, würde sie sich nicht Behandlungstechnologien verweigern, welche über die Herstellung des Objektcharakters des anderen ständig wieder Gewalt in das soziale Verhältnis geistige Behinderung importieren. Immer ist Rehistorisierung die Einheit von Negation der Gewalt durch Anerkennung und Dialog und einer Denkbewegung, welche die Realität des psychisch kranken und behinderten Menschen als Ausdruck einer eigentümlichen psychopathologischen Geschichte unter den Bedingungen von Gewalt wieder im Denken verflüssigt, und damit Verstehen ermöglicht. Auf den Prozeß des Verstehens, der an anderer Stelle ausführlich dargestellt wurde (vgl. insb. Jantzen 1999 c) gehen wir hier jedoch nicht ein

Vielmehr interessiert uns die Einheit von Diagnostik und dialogischem Handeln.

Da aus meinem Arbeitszusammenhang gerade ein Bericht von Dagmar Meyer zur Problematik "Dissoziation und geistige Behinderung" erschienen ist (Meyer 2000), die Geschichte einer Rehistorisierung unter Bedingungen von Aggressivität, Zerstörung, Autoaggressivität und "Autismus" in nächster Zeit erscheint (Jantzen und Schnittka 1999), haben wir uns hier für die Darstellung einer Rehistorisierung im Kontext von schwerer Depressivität entschieden.

Dies ist auch deshalb von besonderem Interesse, als depressive Zustandsbilder einen wesentlichen Teil der bei geistig behinderten Menschen diagnostizierten Störungen ausmachen. So ergaben sich bei einer Regionaluntersuchung im Bereich Braunschweig-Helmstedt-Wolfenbüttel von 1619 geistig behinderten Personen bei 50 % deutliche psychische Auffälligkeiten. Bei zum größten Teil gegebenen Mehrfachnennungen sind es mit 26% gut die Hälfte aller psychisch auffälligen, geistig behinderten Menschen, deren Verhalten als "Depressives Verh., Passivität, Rückzug" klassifiziert wird; (Gaedt u.a. 1993, S. 152). Darüber hinaus liegt in Gaedts Konzeption des psychiatrischen und psychotherapeutischen Vorgehens bei "depressiven Inszenierungen", verbunden mit einer Theorie und Praxis "struktureller Betreuung" sowie dem "Orte-zum-Leben-Konzept", eine zu unserer Vorgehensweise alternative theoretische und praktische Auffassung vor, von deren ontologischer Grundannahme (s.o.) wir uns deutlich unterscheiden (vgl. auch Jantzen 1999 d). Auf diese Konzeption werden wir im folgenden jedoch nicht eingehen (vgl. die ausführliche kritische Auseinandersetzung durch Cheong 1999), sondern lediglich unsere eigene Vorgehensweise darstellen.



[3] Spitz (1972) spricht von der Regression zu Fixierungsstellen, die dort vorhanden sind, wo das Auseinanderfallen von Wahrnehmung, Denken und Affekt bei gleichzeitig zerbrochener dialogischer Situation auf einem entsprechenden Organisationsniveau individuell bereits einmal bewältigt wurde.

3. Syndromanalyse von Depressionen

Neuere Arbeiten zur Neuropsychologie der Depression legen nahe, daß die alte Trennung von reaktiver bzw. neurotischer und endogener Depression keine Berechtigung mehr hat. (Aldenhoff 1997). Das Kernproblem bei Depressionen scheint in grundlegenden Veränderungen des Streßbewältigungsmechanismus zu liegen, für welchen die Achse Hypothalamus, Hypophyse, Nebennierenrinde (HHN-Achse) die Hauptrolle spielt. Bei Depressionen, aber auch bei Postraumatischem Psychosyndrom, kommt es zu spezifischen Änderungen der Streßbewältigungsmechanismen dieser Achse (vgl. auch Graham u.a. 1999, Post u.a. 1998). Dabei ist der Zustand der großen Depression durch eine Überfunktion des Kortikotropin (ACTH) freisetzenden Hormons CRH gekennzeichnet (CRH-Overdrive). Dies entspricht einer Überfunktion der Phase 1 der Streßbewältigung entsprechend dem Modell von Selye, der Aktivierungsphase. Gleichzeitig ergibt sich eine pathologische Veränderung in Phase 2, der adaptiven Streßreaktion, durch die reduzierte Fähigkeit zur adaptiven Anpassung an Streßbedingungen. Der Übergang in diese Phase findet durch die Bildung von Kortisol statt. Es ist zur Bildung von Kortikosteroiden erforderlich, die zum Abbau der CRH-Überproduktion führen. Bei Depression werden Kortikosteroide deshalb nicht ausgeschüttet, weil es zur Reduktion spezifischer Rezeptoren, der Glukokortikoid-Rezeptoren im Hippokampus kommt. Dieses Gebiet ist von großer Bedeutung für die Wahrnehmung der eigenen Situation in der Welt und damit für den Aufbau des biographischen Gedächtnisses (vgl. Squire und Kandel 1999).

Aus den Veränderungen in Phase 1 resultiert, daß in der Depression schwache Stressoren als starke Stressoren wirken, wodurch sich Furcht erhöht. Gleichzeitig kommt es durch die Veränderung der Glukokortikoid-Rezeptoren zu deutlichen kognitiven Defiziten. Entsprechend wird vermutlich die eigene Situation als Hilflosigkeit wahrgenommen, was wiederum die Streßbelastung erhöht. Dies ist eine Sackgasse, aus der mit eigenen Mitteln nicht zu entkommen ist.[4].

Untersucht man nun andere Störungen der HHN-Achse, so fällt als erstes das Postraumatische Psychosyndrom (PTSD) auf. Bei ihm finden wir eine zur Depression inverse Verteilung der Funktionen: Das CRH-System zeigt keinen "overdrive", sondern vielmehr eine Dämpfung des Kortisolsystems bei gleichzeitiger Zunahme der Glukokortikoid-Rezeptoren. Streßtheoretisch bedeutet dies die Veränderung vorher starker Stressoren in schwache Stressoren mit einer gleichzeitig höheren Adaptationsleistung. Es entspräche dies der bei PTSD vorzufindenden Verhaltenstrias von Hyperaktivität, verbunden mit Dissoziation, d.h. emotionaler Neutralisierung noxischer Ereignisse, sowie dem Prozeß der Intrusion, dem unerwarteten Wiedererleben in Form von Flashbacks, die reaktiver oder Autonomer Natur sein können (vgl. Herman 1993, Putnam 1997). Post u.a.(1998, S. 830) vergleichen sie als emotionale Anfälle mit den epileptischen Krampfanfällen des motorischen Systems. Sie finden auf einem veränderten neuroadaptiven Hintergrund von Übererregung auf der einen und Depression, Verwirrung und Stumpfsinn auf der anderen statt.

Derartige Prozesse führen gleichzeitig zur Zerstörung von Zellsubstanz im Hippokampus, ein Prozeß der auch bei früher kindlicher Deprivation festzustellen ist[5], wo sich die Verhältnisse auf der HHN-Achse allerdings ähnlich der Depression und nicht der PTSD darstellen.. Es kommt hier zu Reduktion von CRH-Rezeptoren bei unveränderter CRH Ausschüttung, was ebenfalls zur Wahrnehmung von schwachen Stressoren als starke Stressoren führt. Auf dieser Basis entstehen "biologische Narben", welche nach dem Depressionsmodell von Aldenhoff die Vulnerabilität für spätere Noxen erhöhen. Diese Auffassung ist weitgehend durch die empirische Literatur gestützt. Früh deprivierte Kinder zeigen auch lange später massive Bindungsprobleme (attachment), z.T. unterschiedlich zu Hause und in der öffentlichen Kleinkinderziehung bei gleichzeitigen Koordination bzw. Diskoordination der Ausschüttungsrhythmen von Kortisol (Graham u.a. 1999, S. 558).

Aldenhoff geht daher davon aus, daß frühe Traumata und Depressionen biologische Noxen herbeirufen (erhöhte Verwundbarkeit kann auch genetisch oder durch Virenerkrankungen u.a. bedingt sein). Dieses "biological priming" kann nach einer Latenzphase reaktiviert werden durch soziale Ereignisse wie Deprivation, Trauer, Verlust und bei einer mangelnden emotional-kognitiven Verarbeitung nach einer neuen, zweiten Latenzphase zur Trennung emotional-vegetativer und kognitiver Anteile kommen, zu psychobiologischen Streßsituation aufgrund der Wahrnehmung der eigenen Hilflosigkeit und schließlich zur großen Depression.

Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen wird man insbesondere in der Population von Behinderteneinrichtungen, gerade dann, wenn sie die entsprechenden Menschen schon als kleine Kinder aufnehmen, aufgrund der massiven Deprivationserscheinungen und Gewalterfahrungen eine relative hohe Rate von Störungen der Streßverarbeitung im Sinne von Depression oder PTSD erwarten dürfen. Aufgrund der Überlegungen von Niedecken und den Erfahrungen mit Enthospitalisierung, daß die Verkleinerung von Einrichtungen nicht zwangsläufig Deinstitutionalisierung bedeutet, sind entsprechende Raten jedoch auch außerhalb dieses Bereichs zu erwarten.

Die folgende Geschichte, die aus dem Kontext der Beratung einer Großeinrichtung stammt, liest sich wie eine Illustration des bisherigen. Beide AutorInnen waren in unterschiedlicher Weise involviert: Wolfgang Jantzen durch eine entsprechende Fachberatung im Frühjahr 1997, Nicole Mertens als Honorarkraft ab Juni 1997 mit wöchentlich 2 x 3 Std. in der Gruppe von Herrn M., von dem nun die Rede ist.



[4] Sowohl Antidepressiva als auch psychotherapeutische Kurztherapien zeigen höchst deutliche Wirkungen, wobei bei Psychotherapien psychophysiologisch nachweisbare Veränderungen auftreten. Da gleichzeitig angenommen werden muß, daß genetische Faktoren für den Aufbau von erworbener Hilflosigkeit prädisponierend sein können, ergibt sich die Situation, daß die psychische Ebene auf die Organische zurückwirkt, ebenso wie die organische Ebene bereits genetisch prädisponierend im Sinne größerer Verwundbarkeit sein kann (Aldenhoff a.a.O.).

[5] Allerdings gibt es Möglichkeiten zur Regeneration auch noch im Erwachsenenalter, wie die neuere Forschungsliteratur eindrucksvoll belegt, sofern eine entsprechende Aufarbeitung traumatischer Situationen erfolgt bzw. stabile Bindungsprozesse durch die Umgebung neu aufgebaut werden (Post u.a. 1998, S. 839f)

4. Phantasmen und rehistorisierende Diagnosen am Beispiel von Paul M.

Herr M. gehörte zum Zeitpunkt der Fachberatung immer noch zu den von der Einrichtung selbst geschaffenen "Monstern". Geb. 1961, in der Einrichtung ab 1965, traten ab Mitte der 70er und zunehmend in den 80er Jahren immer wieder Eskalationen auf wie Weglaufen, Zerstören der Zimmereinrichtung, Autoaggressionen, so daß 1994 eine Verlegung in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie erfolgte. "Hier mußte er nach drei Tagen abgeholt werden, weil er keine Bekleidung an sich ließ und im Beruhigungsraum angefangen hatte, sich massiv selbst zu verletzen, indem er sich Wunden zugefügt hatte. Zurück in der Einrichtung reduzierte sich sein Verhalten sofort wieder auf die bisher bekannten Verhaltensmuster", so ein Entwicklungsbericht vom August 1996. Die Probleme eskalierten erneut, wobei die Zerstörung einer denkmalgeschützten Toilette in der Nachbarschaft ohne Zweifel der öffentliche Höhepunkt war[6].

Die Lektüre der Akten ergab folgendes Bild:

Paul M. stammt aus einer sozial schwachen Familie, später ist in der Akte einmal von der Mutter als "schwachsinnig" die Rede. Mit 1 ¾ Jahren kommt er in ein niedersächsisches Säuglingsheim des DRK, mit rachitischen Zeichen und im Zustand der Unterversorgung, "ein überaus ruhiges und desinteressiertes Kind". Mit etwas über 2 Jahren sitzt er frei und steht mit Unterstützung. Mit 2 ½ Jahren hat er sich kaum verändert, liegt stundenlang auf dem Fußboden und "heult"; mit 3 Jahren hat sich das viele Weinen wieder gegeben. "Er ist jetzt munter und meist fröhlich". Trotzdem wird gleichzeitig mit der Diagnose eines Cerebralschadens und eines mittleren Schwachsinns beim Kostenträger eine anderweitige Unterbringung beantragt. Kurz darauf erfolgt die in der fortlaufenden Akte mit Ausrufezeichen markierte Diagnose "Debil!". Danach finden sich nur noch wenige Eintragungen zur Entwicklung. Mit 3;7 Jahren (Anfang 1965) "läuft jetzt allein, spricht einige Worte nach", Mitte 1965 "liegt oder sitzt auf dem Boden und wackelt hin und her". In einem Schreiben an den Kostenträger heißt es kurz vorher: "Im Zusammenspiel mit anderen Kindern erweist er sich als völlig unfähig, verharrt halbstundenlang in schweren monotonen Bewegungen" und kurz vor der Abgabe an die Großeinrichtung "ist jetzt wieder lebhafter und spielt mit den anderen Kindern". Während des gesamten Zeitraumes im Säuglingsheim hat er deutliches Untergewicht.

Bereits hier liegt ein untrennbares Gefüge von schwerer Deprivation, Rückzügen depressiver Verstimmtheit und einer stark hospitalisierenden Umgebung vor, innerhalb derer Paul typische Symptome des Hospitalismussyndroms produziert.

In der Großeinrichtung kommt er in seiner Gruppe als "der Kleine" eine besonders günstige Situation und wird von den MitarbeiterInnen verwöhnt. Ein Aktenvermerk im Alter von 6 ½ Jahren spricht davon, daß sich Stereotypien und Autoaggressionen sowie früher eher autistische Verhaltensweisen weiter abgebaut haben, dies spricht für eine wesentlich tiefergehende Störung, als sie in den laufenden Notizen des Kinderheims zum Ausdruck gekommen war. Ein IQ-Test im Alter von etwas über 7 Jahren ergibt einen Wert von 50, die genaue Betrachtung der Aufgabenlösungen zeigt, daß er von zehn Aufgaben der Altersstufe V noch fünf richtig löst. Schwerpunktmäßig versagt er bei allen Aufgaben, die für kulturelle Deprivation besonders sensibel sind. Eine Schule besucht er übrigens nie, jedoch eine Reihe von einrichtungsinternen Fördermaßnahmen sowie im Alter von 30 Jahren eine zweijährige, von der Volkshochschule realisierte Maßnahme der Erwachsenenbildung für Einrichtungsbewohner ohne Schulbesuch.

Mit 9 Jahren versucht er in der Gruppe aus der Rolle des Kleinen herauszukommen. Knöpfe zumachen, kann er unterdessen, jedoch noch keine Schleifen binden. Mit 10 Jahren beginnt er grammatikalisch richtig in Form von Mehrwortsätzen zu sprechen, allem Neuen steht er ängstlich gegenüber. Mit 11 Jahren kennt er alle Farben, kann sich bei Zuordnungsspielen fehlerlos zurechtfinden, kennt die Zahlen von 1-5, jedoch ohne Zahlbegriff. Im freien Spiel ist er auf einer viel niedrigeren Stufe und "fährt, wenn er sich selbst überlassen ist, mit einem Wagen in stereotyper Weise hin und her oder betastet und befingert eine Quietschpuppe, ohne daß er Ansätze zu einem richtigen Rollenspiel findet".

Er ist also aufgrund frühkindlicher Deprivation und gestörter Bindung weniger im Bereich praktischer Intelligenz als insbesondere im Bereich dialogischer Intelligenz[7], d.h. im Dialog mit sich selbst als anderem, deutlich beeinträchtigt. Oder sagen wir es psychoanalytisch mit Winnicott: Der Aufbau eines sicheren inneren Raumes ist bei ihm erheblich gestört.

Wenig später ist erstmals wieder davon die Rede, daß es, bei fortschreitender kognitiver Entwicklung, immer wieder zu Aggressivität mit Neigungen zu erheblichen Selbstverletzungen kommt. Später mit 13 Jahren und erneut mit 16 Jahren kann er in den einrichtungsinternen Förder- bzw. Arbeitsgruppen beim Laubsägen nicht die Linien beim Aussägen beachten und zeigt auffällig starke Lust, Dinge zu zerstören, obwohl er im Alter von 11 Jahren durchaus imstande war, Linien entlang zu schneiden. Zunehmend entstehen weitere Probleme, die jeweils eng gekoppelt sind an den Wechsel von Wohngruppen. Ab 1970, mit 9 Jahren also, ist er in einer Gruppe mit eher Schwächeren, innerhalb er die dominierende Rolle wahrzunehmen versucht. Da aber dort die Aggressionen und Autoaggressionen zunehmen und er darunter einerseits leidet, andererseits sie selbst übernimmt entstehen zunehmend Probleme. Er versucht in der Gruppe zu dominieren und wird mit drastischen Strafen reglementiert. Seine Aggressionen und Autoaggressionen nehmen gravierend zu; die Situation wird unhaltbar. Ab 1976, nun 15 Jahre alt, kommt er daher in eine leistungsfähigere Wohngruppe, in der er einige "Große" aus seiner ersten Gruppe wiedertrifft und erneut in die Situation des "Kleinen" gerät. Einerseits, so entnehmen wir einem rehistorisierenden Gutachten der Anstaltspsychologin aus dem Jahre 1989, eröffnet dies ihm neue Möglichkeiten, andererseits beengt es erneut seine Entwicklung "zu größerer persönlicher Autonomie und Selbstbehauptung".

Nach einem erneuten Umzug in ein anderes Haus und teilweiser Umbesetzung der Wohngruppe bahnt sich von den MitarbeiterInnen kaum bemerkt ein immer stärkerer Rückzug von Herrn M. an. Um die Jahreswende 1979/80, er ist jetzt 18 ½ Jahre, "liegt er tageweise bewegungslos im Bett und verweigert jede Aktivität. Es wird der Verdacht auf einen beginnenden depressiven Stupor geäußert", so die Psychologin. In den sonstigen Akten ist von einem, einem katatonen Stupor, verbunden mit Essensverweigerung, die Rede, zu dem es in den Jahren darauf immer wieder kommt, der jedoch "medikamentös beherrscht werden kann", so entsprechende Arztberichte bis 1985. Entsprechend dem Entwicklungsmodell von Aldenhoff (1997) heißt dies jedoch, daß nach der zweiten Latenzphase nun über Jahre hinweg immer wieder große Depressionen aufgetreten sind.

Zur ärztlichen Diagnose "katatoner Stupor mit Essensverweigerung" von 1981 kommt 1985 die Diagnose "generalisierte Tics im Sinne eines Gilles de la Tourette-Syndroms" hinzu. Einmal, im Jahr 1983, tritt ein epileptischer Krampfanfall auf, der sich niemals wiederholt. Lediglich das unmittelbar nach dem Anfall abgeleitete EEG zeigt einen Herdbefund links frontal-präzentral und parietal. Dies entspricht vom Ort her der Veränderung kortikaler Funktionen bei depressiven Vorgängen und legt nahe, dieses einmalige Ereignis als Resultat schweren Stresses zu begreifen. Nach erneuten Umzügen 1982 und 1988 ist die Gruppe in Sorge, daß sich der depressive Stupor wiederholen könnte. Die Psychologin schreibt das bereits erwähnte rehistorisierende Gutachten, das weitgehend folgenlos bleibt. Noch wenige Monate arbeitet sie selbst einmal wöchentlich mit Herrn M., danach verläßt sie die Einrichtung.

Die Jahre bis zur erneuten schweren Krise, die zum Rückgriff auf die Psychiatrie führt, werden positiv überbrückt durch die Mitarbeit in der "Lerngruppe" in der Erwachsenenbildung der VHS von Herbst 1990 bis 1992. Gleichzeitig befindet sich die Großeinrichtung zunehmend in einer schweren Krise, die sich auf allen Ebenen widerspiegelt und selbstverständlich bis in die Situation der einzelnen Wohngruppen (vgl. Jantzen 1999 d). Hinzu kommt im Herbst 1993 ein erneuter Umzug der Gruppe aus dem von Herrn M sehr geliebten Haus B (u.a. ist dies der Ort, wo seine langjährige Gruppenleiterin ihren Dienst in der Einrichtung beendet hat). Der Gruppe wird der spätere Rückzug versprochen, was aber wegen Umbaumaßnahmen nicht mehr möglich ist. In der neuen Umgebung eskaliert die Situation zunehmend, nach dem Aufenthalt in der Psychiatrie bestehen die Probleme weiter.

Von auswärts wird 1995 und 1996 zweimal kompetente Fachberatung eingeholt, innerhalb derer erneut und deutlich eine Rehistorisierung versucht wird. Herr M. "kann viel und ausdauernd etwas tun, wenn er weiß, daß er auf einen Menschen zurückgreifen kann. Wenn ihm jedoch niemand zur Verfügung steht, sieht die Situation für Paul entschieden anders aus; denn wenn man außerdem die Annahme hinzunimmt, Paul als manisch-depressiv einzuschätzen zu müssen, kann er sich jeweils wohl und sicher fühlen, wenn andere ansprechbare Menschen greifbar sind", so das Protokoll der Fachberatung von 1996. Und erneut zerrinnt jegliche Anregung zu einer anderen Praxis im Anstaltsalltag, obgleich der Entwicklungsbericht von 1996 behauptet "Das pädagogische Betreuungskonzept wurde umgestellt". Davon ist ein Jahr später in der durch Wolfgang Jantzen durchgeführten Fachberatung, an der Herr M. nunmehr auch selbst teilnimmt, nur noch wenig zu spüren. Erstmals wird zur Kenntnis genommen und im Protokoll festgehalten, was er selbst zu alledem zu sagen hat: "Paul will nicht mehr umziehen". Es ist klar, daß Herr M. in keiner Weise Trennungserfahrungen verarbeiten kann und immer wieder Vergangenheit und Gegenwart verwechselt. In derartigen Situationen reagiert er mit Aggressionen, Autoaggressionen und Zerstörung seines Zimmers. Bemerkenswert ist die Äußerung eines Mitarbeiters aus der Gartengruppe, in der Herr M. regelmäßig arbeitet: "Es seien Paul viele Versprechen gegenüber ausgesprochen worden, die aber nicht eingehalten worden sind" und "Man könne nicht in Einzelaktionen meinen, etwas gut zu machen, was nicht mit den anderen Aktivitäten im Zusammenhang steht".

Als Resultat der Fachberatung wird u.a. festgehalten, daß Herr M. die Möglichkeit zur Trauerarbeit benötigt. Daraus resultieren eine Reihe von Hinweisen und Aufgaben für die MitarbeiterInnen.

Erneut würden sie im Sande verrinnen, würde nicht die Gruppe gestützt, sich zu reorganisieren (vgl. auch Jantzen 1999 e, f). Ohne massive zusätzliche inhaltliche und emotionale Unterstützung kann nicht von Wohngruppen erwartet werden, eine andere Praxis zu betreiben. Die Einführung von neuen Betreuungskonzepten durch bloße Fachberatungen oder durch das Festschreiben einer Neuorientierung in Entwicklungsberichten zu erwarten, ist restlos illusorisch. Da es zu den Absprachen von Wolfgang Jantzen mit der Leitung gehörte, in sehr komplizierten Fällen Absolventen des Studiengangs Behindertenpädagogik der Universität Bremen zur Unterstützung von Gruppen auf Honorarbasis einzusetzen, begann Nicole Mertens ab Juni 1997 in der Gruppe zu arbeiten. Trotzdem war die Situation aufgrund von Spannungen zwischen Gruppe und Gruppenleitung über längere Zeit noch problematisch. Symptomatisch für die Situation war es zudem, daß die mehrfach zugesagte gemeinsame Diskussion der Probleme mit der Heimleitung von dieser nicht realisiert wurde. Diese Situation begann sich erst mit einer neuen Gruppenleitung kurze Zeit nach einem letzten Umzug im Oktober/November 1997 zu stabilisieren.

Was heißt nun Rehistorisierung unter den realen Bedingungen einer Großeinrichtung, innerhalb derer jede rehistorisierende Diagnostik immer wieder verschwindet wie Wasser in einem trockenen Schwamm?

Zwar wurde schon in dem psychologischen Gutachten von 1989 und erneut in den Fachberatungen 1995, 1996 und 1997 die Defektdiagnose grundsätzlich in Frage gestellt und begonnen, die Phantasmen in den eigenen Köpfen zu bearbeiten. Diese kehren jedoch im Alltag nur allzu schnell zurück. Der dritte und entscheidende Aspekt, daß Rehistorisierung grundsätzlich bedeutet, das "Feld der Macht" zugunsten des Ausgegrenzten zu öffnen und zugleich eine Situation der wechselseitigen dialogischen Anerkennung zu schaffen, kommt erst ins Spiel durch die radikale Dekonstruktion des dritten Aspektes der "Institution geistig Behinderte", durch die Zerstörung der Behandlungstechnologie.



[6] Ereignisse dieser Art beeinträchtigen in hohem Maß das "symbolische Kapital" einer Einrichtung, zumal wenn sie, wie in diesem Falle, innerhalb einer Kleinstadt liegt.

[7] Vgl. zu diesen von Wallon in die Psychologie eingeführten Begriffen Voyat 1984, Kap. 12.

5. Rehistorisierung als Zerstörung von Behandlungstechnologie

Die Ausgangssituation

Die Arbeit von Nicole Mertens, die wir im folgenden auf der Basis ihres gerade abgefaßten ausführlichen Arbeitsberichtes wiedergeben, begann zu einem Zeitpunkt, als Herr M. sich in sehr schlechter Verfassung befand. Er zerstörte in hohem Maß Glasscheiben innerhalb und außerhalb der Einrichtung, riß Stromkabel aus den Wänden, war stark autoaggressiv und nach Aussage der MitarbeiterInnen durch sein Tun massiv selbstgefährdet. Der Grund seiner Aggressionen war nach Aussage der MitarbeiterInnen selten ersichtlich. Für sie äußerste sich sein Verhalten überwiegend ohne sichtbaren Zusammenhang. Er verließ die Wohngruppe häufig ohne Absprache, machte sich an Gebäuden innerhalb der Einrichtung mit unterschiedlichen Werkzeugen zu schaffen, die er sich auf seinen Spaziergängen besorgte. Paul M. ging außerhalb des Geländes in Privathäuser, häufig in unabgeschlossene Garagen und zerstörte dort unterschiedliche Dinge. Er richtete in kurzer Zeit so hohen Schaden an, daß Maßnahmen zu seiner Unterstützung notwendig wurden.

Eine Krisensitzung kristallisierte heraus, daß einer der wesentlichsten Punkte der Vergangenheit seine intensive Bindung an Wohnhäuser ist, insbesondere zu Haus B. Deutlich wurde, daß er innerhalb der Einrichtung schon häufig umgezogen ist ( bis dahin elfmal, der letzte und zwölfte Umzug erfolgte Ende 1997) und somit immer wieder von Gebäuden, MitarbeiterInnen und BewohnerInnen getrennt wurde, ohne daß eine Trennung entsprechend vorbereitet und bearbeitet wurde.

Diese Trennungen können als Beziehungsabbrüche angesehen werden, die ihn über die Jahre hinweg schwer traumatisiert haben. Paul M. hat nie die Möglichkeit bekommen, Abschied zu nehmen und über einen Umzug oder Weggang von MitarbeiterInnen zu trauern. Er hat es nicht kennengelernt, aktiv Veränderungen nachzuvollziehen, da ihm die Möglichkeit dazu nicht gegeben wurde. Sein Vertrauen in Bezugspersonen und die Sicherheit und das Verlassen auf einen kontinuierlichen Alltag ist immer wieder und über die Jahre zerstört worden. Aufgrund dessen ist Paul M. nur schwer in der Lage, Absagen von MitarbeiterInnen zu akzeptieren, ohne sie als grundsätzliche Ab- und Entwertung seiner Person und als Beziehungsabbruch zu empfinden. Im Laufe der Zeit hat er sich, bedingt durch tiefe seelische Verletzungen, eine Eigenwelt geschaffen, in die er immer wieder abtaucht. Er isoliert sich von der Außenwelt und ist schwer zu erreichen. In seiner Eigenwelt existieren seine Bilder, sein Erleben und seine eigene Sprache. Hilfe von außen ist notwendig, wo er sein Leid transparent macht und Signale setzt, sich in seiner Verzweiflung, durch welchen Ausdruck auch immer, an sein persönliches Umfeld wendet.

Unser Verständnis von Herrn M.s Traumatisierung möchten wir phänomenologisch wie folgt beschreiben:

"Das Trauma hat sich tief eingegraben und sich unserer Seele und Psyche und unseres Körpers bemächtigt. Es hat Narben hinterlassen, die noch nicht verheilt sind und immer wieder aufbrechen können. Wenn sie aufbrechen, kommt das Grauen zu Tage, an die Oberfläche, manchmal klar, häufig verdeckt, verzerrt, in einzelnen schemenhaften Bildern, zerrissen, der Schmerz, ein Gedanke, ein Gesicht, ein Gefühl, das Wiedererleben des Schrecklichen, das Bedürfnis, es nicht mehr zu fühlen, denken und erleben zu müssen, zu wollen, es ruhen zu lassen, vergessen zu lassen, verdrängen, auslöschen, wie nicht gewesen, nicht passiert, und doch, es drängt nach oben, kann nicht begraben werden, bewegt sich aus den tiefsten Tiefen ans Licht, macht sich Luft, will endlich erkannt, benannt und verstanden werden, den Schmerz ausdrücken und loslassen, endlich loslassen und bearbeiten, das Grauen, die Zerstörung, unendlich viel Tränen und Trauer und dann ... ganz werden, heil werden" (Mertens 1996, S. 5).

Zwei Schwerpunkte ergaben sich in der Arbeit: Zum einen war dies die Sichtbarmachung und Aufarbeitung der erlebten Traumata. Wir stellen dies exemplarisch am Abschied von Haus B dar. Zum anderen ging es um die Alltagssituation in der Wohngruppe und in der Einrichtung.

Abschied vom Haus B

Wir zitieren aus dem Arbeitsbericht: "Wie bereits oben erwähnt, existiert zwischen Paul und Haus B eine wichtige Beziehung ... Da dieses Haus seit dem Auszug der Wohngruppe im Herbst 1993 leer steht und wahrscheinlich vor dem Abriß steht, sind Paul und ich 1-2 mal in der Woche dort gewesen. Wir haben Werkzeug mitgenommen und Paul fing an, am Ableben des Hauses aktiv mitzuwirken. Er zerlegte Waschbecken, Fensterbänke und Toiletten, hängte Türen aus, riß Fußböden raus, entfernte Nägel und Haken etc. Wichtig war und ist, den Kontakt mit ihm aufrecht zu erhalten und möglichst nicht abreißen zu lassen. Stück für Stück erzählte er im Laufe der Besuche von seinem Leben dort, von Erinnerungen und von damaligen MitarbeiterInnen und BewohnerInnen. Durch gezielte Fragen meinerseits begann er sich immer weiter zu öffnen und seine Traurigkeit und seinen Schmerz zu zeigen. Von zentraler Bedeutung war immer, im Dialog zu bleiben, nicht auszuweichen und sich am Verdrängten zu beteiligen, sondern seinen Schmerz auszuhalten und aktiv mitzutragen. Da Pauls Verhaltensmuster im Abtauchen und im Rückzug liegt, war es wichtig, nicht nur auf der verbalen Ebene Verständnis und Anteilnahme zu vermitteln. Ich habe ihn von Anfang an, indem ich ihn z.B. über den Rücken gestrichen, bei Autoaggressionen seine Hände gehalten, über seine Verletzungen gestrichen und ihm meine Hand als Halt angeboten habe, einen Eigenwert über den Körper vermittelt. Paul ist nicht in der Lage, sich von selber körperliche Zuwendung zu holen, hat es aber immer genossen, körperliche Zuwendung zu bekommen. Wenn er nicht wollte, hat er dies klar geäußert.

Paul freute sich immer sehr auf die Besuche in Haus B. Am Anfang gestaltete sich das Ende des Besuches an dem jeweiligen Tage als schwierig. Er war größtenteils so vertieft in seine Arbeit, daß ich Schwierigkeiten hatte, ihn zum Nachhausegehen zu bewegen. Einige Male fing er dann an, autoaggressiv zu werden (mit dem Fuß aufzustampfen, zu schreien, den Kopf hin und her zu werfen, sich zu schlagen). Er beruhigte sich allerdings sehr schnell, nachdem ich ihm erklärte, daß uns für die Besuche nur eine ganz bestimmte Zeit zur Verfügung steht, die wir einhalten müssen. Ich machte ihm deutlich, daß wir so lange er möchte ins Haus B gehen können. Somit hatte er die Orientierung und Sicherheit der Kontinuität und dem persönlich beteiligt sein an der Aktivität, am Prozeß. Es wurde deutlich, daß er mehr Zeit benötigt, um sich auf den Nachhauseweg einzustellen. Somit fing ich eine halbe Stunde vor dem Ende des Besuches an, ihn darauf vorzubereiten, was sehr gut klappte. Wir brachten einen Fotoapparat mit und hielten seine Aktivitäten fest, da er den anderen BewohnerInnen seine Arbeit zeigen wollte. Er war sehr stolz auf diese Arbeit und betonte immer wieder, daß er mithilft. Die MitarbeiterInnen berichteten mir, daß er viel von unseren Besuchen erzählt und sein eigenes Tun schildert. Paul äußerte nach kurzer Zeit den Wunsch, im Haus B eine "Trauerparty" zu veranstalten. Ich versprach ihm, daß wir eine Möglichkeit finden werden, Haus B zum Abschluß zu bringen. Ende Oktober ging der Prozeß zu Ende. Den Abschied feierten wir mit Milch und Rosinenbrot und Paul ging in jeden Raum und sagte "Tschüs" und legte zum Schluß eine mitgebrachte Blume in sein ehemaliges Zimmer. Insgesamt waren wir von Anfang bis Ende Oktober 1997 1-2 mal pro Woche im Haus B. Paul hat sich das erste Mal bewußt "verabschiedet". Er sagt phasenweise immer wieder voll Stolz, daß die Zeit im Haus B vorbei ist und daß er dabei mitgeholfen hat, den Abriß des Hauses vorzubereiten. Seit dieser Zeit gab es keine Vorfälle von Zerstörung mehr."

Die Arbeit in der Alltagssituation

Parallel zur Arbeit im Haus B ging es darum, Herrn M. im Alltag emotional zu stabilisieren, ihn zu begleiten und eine Atmosphäre in der Wohngruppe herzustellen, die auf Vertrauen, Sicherheit und Akzeptanz basiert. Von zentraler Bedeutung war und ist es, bei den MitarbeiterInnen ein Verstehen seiner Befindlichkeit und seines Verhaltens zu erzeugen.

Auch hier zitieren wir den Bericht: "Die Bindung an die Wohngruppe war zu dem Zeitpunkt meines Eintretens sehr schlecht. Paul kam manchmal pünktlich zum Essen, hin und wieder kam er aber gar nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt. Er entfernte sich immer häufiger ohne Absprache von der Gruppe und mußte in den Abendstunden gesucht werden. Durch den hohen Schaden, den er innerhalb und außerhalb des Geländes anrichtete, durfte er nun nicht mehr ohne Begleitung nach draußen. Paul wurde ein Profi im Entwischen. Er fand Möglichkeiten, die Gruppe zu verlassen, die die MitarbeiterInnen nicht immer eruieren konnten. Wie ein Gefangener fand er systematisch Wege, um aus dem Haus zu kommen. Mit einem Messer baute er den Fensterrahmen aus, besorgte sich den Schlüssel von MitarbeiterInnen, testete jedes Fenster auf Abgeschlossenheit und nutzte jeden Moment, in dem die Haustür nicht abgeschlossen war. Diese Zeit war sehr schlimm für ihn, da er in der Vergangenheit wahrscheinlich sehr häufig mit Freiheitsentzug bestraft wurde und sich dadurch sein starker Drang nach außen erklären läßt.

In der Zeit, in der er auf der Gruppe war, zeigten sich verschiedenste stereotype Verhaltensweisen: Paul zog sich sehr oft in sein Zimmer zurück und fing an, die Einrichtung immer wieder umzustellen. Er zog sich mehrere Male am Tag um, ging immer wieder in kurzen Zeitabständen auf die Toilette, drehte sich um sich selbst, schaukelte seinen Oberkörper vor und zurück, stand beim Essen auf und setzte sich wieder usw., rückte die Stühle hin und her und wiederholte bestimmte Wörter.

Paul zerriß immer wieder seine Kleidung und stopfte sie in die Toilette. Er ging auch in andere Zimmer und nahm dort Kleidung und versteckte oder zerstörte sie. Er zerlegte die Einrichtung seines Zimmers, die Türen und Fenster. Er schlug sich häufig und rutschte in seine eigene Welt ab. Er starrte irgendwo hin und man hatte den Eindruck, daß ihn jemand verfolgt. Blickkontakt konnte Paul nicht halten. Er drückte auf deutlichste Weise seinen Zustand aus, indem er z.B. voller Verzweiflung während seiner Autoaggressionen "ich kann nicht mehr" schrie.

Wir entschlüsselten Stück für Stück sein Verhalten und seine Not und versuchten ihn aus seiner Krise herauszuholen. Ich fragte ihn jedes Mal nach seinen Wünschen für die Zeit, die uns gemeinsam zur Verfügung stand. Wir gingen ins Café, in die "Mausefalle"[8], unternahmen Spaziergänge und Ausflüge nach Bremen, gingen zu Veranstaltungen, gingen essen und besuchten andere Gruppen auf dem Gelände. Bei all den Aktivitäten gab ich ihm eine Rückmeldung über sein Erscheinungsbild. Ermunterte ihn, doch noch einen sauberen Pullover anzuziehen, bevor wir losgingen. Teilte ihm meine Freude mit, wenn er gut aussah und seine Narben im Gesicht verheilt waren. Sagte ihm aber auch, wenn sein Äußeres m.E. noch ansprechender aussehen könnte, ohne ihn dabei persönlich abzuwerten.

Ende 1997 zog die Wohngruppe ein letztes Mal um und es stand an, diesen Umzug aktiv zu gestalten. Vor dem Umzug sind wir einige Male zum neuen Haus gegangen und haben uns alles angesehen. Am Tag des Umzuges sind Paul und ich mit dem Bollerwagen losgezogen und haben den Teil seiner Einrichtung, den er auf den Wagen packen konnte, gemeinsam in die neue Gruppe gebracht. Er bekam somit die Möglichkeit, das erste Mal einen Umzug aktiv mitzuerleben. In der neuen Gruppe durfte er sich die Farbe seines Zimmers selbst aussuchen und wir fuhren los und kauften Möbel für das Zimmer, die er selbst aussuchte.

Bisher hatte Paul kein Verhältnis zu Eigentum, weder zu Kleidern noch zu persönlichen Einrichtungsgegenständen.

Im Laufe der Zeit zerstörte er in Krisensituationen zwar immer wieder seine Dinge, lernte aber mit der Zeit anders damit umzugehen.

Nach kurzer Zeit in der neuen Behausung wechselte die Gruppenleitung. Es entwickelte sich ein positives Umgehen mit den BewohnerInnen und das Gruppenklima verbesserte sich zunehmend. Das ganze Bezugssystem stabilisierte sich, so daß sich auch Paul stabilisierte und seinen Stand in der Gruppe finden konnte."

Soweit der Bericht über die erste Zeit der Arbeit. Wie sieht es nun heute, zwei Jahre später aus?

Autoaggressive Verhaltensweisen treten im Alltag nicht mehr auf. Ganz selten stampft er noch mit dem Fuß auf, wenn er etwas nicht bekommt. Durch entsprechendes Umgehen mit ihm läßt sich diese Situation aber sofort auflösen. Herr M. hat sich sehr seinem Umfeld gegenüber geöffnet. Er zeigt seine Freude und hält Blickkontakt und wendet sich hin und wieder von selbst an die MitarbeiterInnen, wenn er Hilfe benötigt. Er darf wieder ohne Begleitung nach draußen und hält sich meistens an Absprachen. Mit Absagen kann er wesentlich besser umgehen. Er bezieht sie nicht mehr zwangsläufig auf seine Person und erlebt sie somit nicht mehr zwangsläufig als Ab- und Entwertung. Herr M. achtet inzwischen sehr auf sein Äußeres, und sein Bezug zu Dingen, die ihm gehören, hat sich positiv verändert. Weihnachten 1999 hat der das erste Mal seine Wohngruppe als "zu Hause" bezeichnet.

Würden wir auf Grund dieses glücklichen Ausgangs nun einfach aufatmen, weil wir die richtige Diagnose gestellt haben und vorher die falsche dominierte, so würden wir erneut in ein verdinglichtes Verhältnis von Diagnose, Phantasma und Behandlungsmethode zurückfallen. Die "richtige Diagnose" hätte das Phantasma scheinbar verscheucht, aber der Gedanke, daß Paul ein "Monster" gewesen ist, wäre immer noch in allen Köpfen und kehrte zurück, sobald es ihm wieder einmal schlecht ginge. Spätestens dann würde sich unsere Vorgehensweise erneut als doch nicht so angemessen dechiffrieren.

Und in dieser Betrachtung würde sie, zur bloßen Behandlungsmethode geschrumpft, zum Mittel der Abwehr unseres eigenen Schmerzes über unser Versagen. Aber all dies hätte nichts mehr mit Rehistorisierung zu tun



[8] Freizeitheim und Disco für die BewohnerInnen der Einrichtung.

6. Rehistorisierung bedeutet den Verzicht, Menschen in Sachen zu verwandeln

Rehistorisierung erfolgt innerhalb der "Institution geistige Behinderung", deren Teil wir sind, und innerhalb von gesellschaftlichen Institutionen, die zum Umgang mit gesellschaftlicher "Unvernunft" geschaffen wurden (vgl. Basaglia u.a. 1980). Ihr Gegenstand ist nicht das jeweilige Individuum am Pol der Ohnmacht, sondern die soziale Situation, innerhalb der dieses Individuum zum Pol der Ohnmacht verlagert und zum Objekt verdinglicht wird.

Insofern ist es der Kern jeder rehistorisierenden Vorgehensweise, das "Feld der Macht" offen zu halten und den vorher Internierten selbst die Möglichkeit für die Wahrnehmung ihrer Menschen- und Bürgerrechte zu verschaffen. Dies ist der Grund, warum rehistorisierende Diagnostik von Anfang an die Internierten mit in den Dialog einbezieht und ihre Antworten zum Ausgangspunkt der eigenen Denkens macht. Rehistorisierende Vorgehensweise bedeutet das "Feld der Macht" zu öffnen und es in einer Perspektive von "Entkolonisierung" (Dörner 1999, S. 37 ff) offenzuhalten. Dörner (1998, S. 519) formuliert in dieser Hinsicht probeweise eine Art "beziehungsethischen Imperativ": "Handle in deinem Verantwortungsbereich so, daß du mit dem Einsatz deiner immer begrenzten Ressourcen an Passivität, Tragfähigkeit, Substitution, Kraft, Zeit, manpower, Aufmerksamkeit und Liebe stets beim Schwächsten beginnst, bei dem es sich am wenigsten lohnt. Dies ist - wohlgemerkt - eine Norm, die nur in dem Wissen wirksam wird, daß kein Mensch sie zu Lebzeiten stets erfüllen kann".

Auf Herrn M.. bezogen schließt der Arbeitsbericht:

"Im täglichen Umgang mit Paul sind stabile und verläßliche Beziehungen unerläßlich. Er benötigt eine Struktur und eine Konstanz auf allen Ebenen. Da er ein introvertierter Mensch ist, braucht er die Ansprache von außen. Es ist wichtig, mit ihm in Kontakt zu bleiben und zu erkennen, wann er Unterstützung braucht. Krisen werden an bestimmten Punkten, wenn mehrere Geschehnisse zusammenkommen, wieder auftauchen. Wichtig ist, ihn dann nicht alleine zu lassen, sondern die Krise gemeinsam durchzustehen. An dieser Stelle möchte ich betonen, daß Paul sehr viele Schritte getan hat und sein Leid sich verändert hat. Es ist sehr wichtig dies anzuerkennen und nicht der Angst zu verfallen, daß sich seine alten Verhaltensweisen wiederholen, wenn eine Krise auftaucht. Ein Trauma verschwindet nicht einfach, auch, wenn sich viel verändert hat und man in seiner Entwicklung vorangekommen ist. Wenn Paul vermittelt bekommt, daß er sich auf Bezugspersonen auf jeden Fall verlassen kann, die ihn nicht absondern sondern aufwerten, die ihn achten und sein Verhalten akzeptieren, die ihn respektieren und denen es nicht egal ist, wie es ihm geht, dann werden Krisen immer seltener und kürzer werden. Je mehr Selbstbewußtsein und Selbstwert Paul erlangt, desto seltener wird er auf Stereotypien und Autoaggressionen zurückgreifen."

Was kann man aber gegen die eigenen und gesellschaftlichen Phantasmen tun, die immer wieder einen chronischen unbehandelbaren "harten Kern" suggerieren? Wir können nur jene Antwort wiederholen, die Antonio Slavich 1983 in Wuppertal auf der Tagung der DGSP über den "Mythos vom harten Kern" gegeben hat: "Ich glaube, man muß vor allem die Kraft haben, die Angst selbst zu ertragen, daß die dauernden Probleme eines Menschen, der vom therapeutischen Prozeß betroffen ist, auch lebenslang andauern können, ohne daß er als "chronisch" definiert wird" (Slavich 1983, S. 36).

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Quelle:

Wolfgang Jantzen, Nicole Mertens: Psychische Störungen bei geistig behinderten Menschen und die Methode der Rehistorisierung.

Das folgende Referat wurde bei der Fachtagung "Psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung" im Hessischen Diakoniezentrum Hephata, 34613 Schwalmstadt/Treysa am 29.2.00 gehalten.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.05.2010

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