Deinstitutionalisierung

Autor:in - Wolfgang Jantzen
Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Entnommen aus: Wolfgang Jantzen - De-Institutionalisierung. Materialien zur Soziologie der Veränderungsprozesse in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe. Referat am 22.4.1997 in Hilpoltstein bei der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft Evangelische Behindertenhilfe in Bayern.
Copyright: © Wolfgang Jantzen 1999

1. Vom Krieg als Gesellschaftszustand

Die Berührung mit dem Schwerte verursacht immer dieselbe Besudelung, ob man das Heft ergreife oder ob einen die Spitze treffe.

(Simone Weil: Schwerkraft und Gnade, München 1981, S. 89)

In seinem Vortrag zur Eröffnung der Wehrmachtsausstellung in München formuliert JanPhilipp Reemtsma (1997 a, S. 60): "Nur die Wiedererlangung eines moralischen Differenzierungsvermögens kann in der Erinnerung Ordnung schaffen und schließlich - vielleicht auch ohne den Umweg über Idyllen und Selbstlegenden - zur Wahrheit führen, die darin besteht, die Tatsachen zu akzeptieren und sich damit abzufinden". Um das Akzeptieren welcher Tatsachen geht es? Es geht um die Tatsache, daß Krieg ein Gesellschaftszustand ist , "der fortdauert, der hineinwirkt in die Gesellschaft, auch wenn diese nach außen hin an keiner Front mehr kämpft. Krieg formiert und deformiert Gesellschaften. Und wenn ein Krieg die traditionellen Grenzen zwischen erlaubt und unerlaubt derart radikal außer Kraft setzt wie dieser Krieg es getan hat, braucht es eine Kraft von außen, sie wieder zu ziehen und zu garantieren, und es braucht Zeit, bis die internen gesellschaftlichen Regelsysteme, die über diese Grenzen wachen, wieder einigermaßen funktionieren" (ebd. S. 59). Was hat dies mit unserem Thema zu tun? Geben Sie mir einen Augenblick Ihrer Aufmerksamkeit, um meinen ungewöhnlichen Zugang zum Thema zu begründen.

Reemtsma argumentiert (1997 a, b), die fehlende Auseinandersetzung in 50 Jahren Geschichte mit den Wehrmachtsverbrechen habe, obwohl sie moralisch nicht akzeptabel sei, zugleich ihr gutes. In dieser Zeit habe der Übergang zu zivilisierten Formen gesellschaftlichen Umgangs stattfinden können, wie sich heute in der öffentlichen Aufnahme dreier Debatten erweise: Die Goldhagen-Debatte (und damit die Frage nach den psychologischen Voraussetzungen in der deutschen Bevölkerung, welche den Holocaust erst ermöglicht haben); die Debatte um die Wehrmachtsausstellung und schließlich das große öffentliche Interesse an den Tagebüchern von Victor Klemperer. Alle drei Debatten zeigen die Normalität ausgrenzenden und menschenverachtenden Denkens im NS-Staat auf, die potentielle Bereitschaft großer Teile der deutschen Bevölkerung, an Verbrechen sowohl aktiv teilzuhaben, als sie auch passiv zustimmend zu dulden. Der Übergang zur zivilisierten Gesellschaft wäre nach Reemtsma also dort zu konstatieren, wo die Anerkennung von Unrecht ohne wenn und aber möglich ist, und wo folglich der Übergang von der Fortdauer des Krieges in einen anderen Zustand erfolgt.

Krieg kommt jedoch nicht aus heiterem Himmel, er wird systematisch materiell und ideologisch vorbereitet und existiert folglich als Gesellschaftszustand, wenden wir Reemtsmas Gedanken nun analytisch an, bereits im Vorfeld seines Ausbrechens. Und genauso wenig, wie die Psychologie des ersten Weltkriegs erklärt werden kann ohne Chauvinismus und Franzosenhaß, so kann die Psychologie des zweiten Weltkrieges nicht ohne die "Schmach von Versailles" einerseits sowie Chauvinismus und eliminatorischen Rassismus andererseits erklärt werden. Kriege sind demnach vor ihrem Ausbruch sich entwickelnder und nach ihrem Ende lange nachhallender Gesellschaftszustand: Auch nach ihrem Ende gibt es "die Bereiche, in denen noch Markierungen der Deformation durch die Barbarei kenntlich sind. Die Bereiche, in denen der Krieg fortdauert", so nochmals Reemtsma (1997 a, S. 60).

Es sieht so aus, als treffe dies wie für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche auch für die Behindertenbetreuung zu. Nazi-"Euthanasie" im "Altreich" und in den eroberten Gebieten können zurecht als "Krieg gegen die psychisch Kranken", so der Titel eines von Klaus Dörner u.a. (1980) herausgegebenen Buches, und als 'Krieg gegen die Behinderten' betrachtet werden.

In der Negierung der Menschen- und Bürgerrechte von behinderten Menschen, in ihrer teilweisen Gleichsetzung mit Monstern und Teufeln, so schon bei Luther, aber auch in der Namensgebung für die medizinische Lehre von den Miß- und Fehlbildungen: Teratologie, was übersetzt die Wissenschaft von den Monstern bedeutet, in den zahlreichen menschenverachtenden Kennzeichnungen der vorgeblich gierigen, geilen, unbeherrschten und moralisch defekten Insassen der Idiotenanstalten, wie sie die Denkweise des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts und der Weimarer Republik bezogen auf die sog. "Imbezilen" strukturierte, in all diesen Debatten finden wir überdeutliche Parallelen zum Rassismus und Antisemitismus. Und wie die fachinterne ebenso wie die öffentliche Debatte der Weimarer Republik nur zu deutlich zeigt: keineswegs frei von Tötungsgedanken bis hin zum öffentlichen Aufruf zum Mord.

Das Kriegsende ist auch hier nicht mit der Beendigung von Krieg als Gesellschaftszustand gleichzusetzen: Erinnern Sie sich, wie lange es gedauert hat, bis die Lebenshilfe für geistig Behinderte sich von der faschistischen Vergangenheit ihrer Gründungsväter Villinger und - hier nur mit Einschränkung - Stutte distanziert hat, wie lange es auch gedauert hat, bis die Evangelische Kirche sich zur Mitschuld an menschenverachtenden Denk- und Praxisweisen gegenüber behinderten Menschen in der Weimarer Republik und in der Nazizeit selbst geäußert hat.

Auf der anderen Seite sehen wir in der radikalen Auseinandersetzung mit den Thesen Peter Singers, NorbertHoersters und anderer 'praktischer Philosophen' ebenso wie in der Aufnahme des Antidiskriminierungsartikels 3.3 in das Grundgesetz, der Durchsetzung von Integration und Enthospitalisierung höchst deutliche Anzeichen für die Beendigung des Krieges gegen Behinderte als Gesellschaftszustand, zumindest im Sinne der aktiven Weigerung, ihn fortzuführen. Dies aber ist nicht so einfach, denn die Spuren und fortexistierenden Verhältnisse sind überall, wie es nicht nur die potentielle Freigabe behinderter Menschen für wissenschaftliche Forschung und Organentnahme durch die Bioethik-Deklaration des Europarates zeigt: Nein, die Rechnungen, welche die Menschenwürde negieren und den Wert eines behinderten Menschen als Preis bestimmen, dessen Zahlung sich nicht rechne, sind allgegenwärtig.

Und zudem, so hat dies Klaus Dörner eindrucksvoll in seinem Buch über "Tödliches Mitleid" (1989) gezeigt, sind wir alle nicht frei von den herrschenden Gedanken unserer Epoche, in denen immer noch Behinderung als Auswirkung eines Defektes gesehen wird und nicht als soziales Verhältnis, innerhalb dessen personale Integrität und Menschenwürde höchst zerbrechlich und häufig höchst reduziert garantiert werden. Und schließlich ist da immer noch der gewöhnliche Rassismus, in dem wir groß geworden sind, und der im ersten Blick immer anders aussehende oder sich verhaltende Menschen dissoziiert, ablehnt, von unserer Empathie abspaltet. Anders als Mephisto in Fausts Studierzimmer sind wir nicht im Ersten frei und im Zweiten Knechte, sondern im ersten Gedanken Kind unsere Kultur, also Knecht, und nur im zweiten Gedanken, also reflexiv, zur Befreiung von Behindertenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Sexismus in der Lage.

Den Krieg zu beenden, indem wir die Vergangenheit, welche in die Gegenwart ragt, ohne wenn und aber akzeptieren, ist demgemäß leichter, als einen friedlichen Zustand aufzubauen und zu garantieren. Nicht nur im Kleinen, also in Prozessen der Integration, Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung in unserem Arbeitsbereich, sondern auch im Großen, wie dies ein Blick auf Südafrika oder den Israel-Palästina-Friedensprozeß nur zu deutlich machen.

Von beidem soll in der Folge die Rede sein: Wie kann Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung stattfinden als Beendigung von Krieg als Gesellschaftszustand und zugleich als Aufbau friedlicher Verhältnisse. Ich werde dies an einem praktischen Beispiel aufzeigen. Dies auch deshalb, weil allgemeine und theoretische Überlegungen zwangsläufig von besonderen Verhältnissen abstrahieren müssen:

Aber nur in diesen besonderen Verhältnissen, also in diesem Fall in den besonderen Verhältnissen im Kontext Bremen/ Niedersachsen, in einer niedersächsischen diakonischen Einrichtung der Behindertenhilfe vor den Stadtgrenzen Bremens, findet das Einzelne statt. Wer diese Dialektik von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem nicht beachtet, ist zum Scheitern verurteilt, denn für Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung gibt es zwar selbstverständlich Grundideen und Grundanforderungen, aber sie muß von Menschen unter besonderen historischen, sozialen, geographischen und persönlichen Umständen realisiert werden und bleibt dadurch dem Einzelnen verhaftet. Würde ich nur das Allgemeine herausstellen, so würde ich Sie in Versuchung führen, das für Rezepte zu halten, was lediglich reflexives Wissen ist, und damit auch geschichtsbezogenes Wissen, um mit uns selbst in der Praxis Zwiesprache halten zu können.

Ob wir unser Handeln, so wie wir handeln, verantworten können und wollen, ist immer ortsgebunden und hier von persönlichen und sozialen Prozessen abhängig. Ich berichte Ihnen daher im folgenden von der Arbeit in einer Großeinrichtung, d.h. der Diakonischen Behindertenhilfe in Lilienthal bei Bremen. Zunächst werde ich Ihnen einige Rahmendaten darstellen, um die Besonderheit des Ortes und meiner Art der Kooperation zu skizzieren. Danach werde ich versuchen, in drei Aspekten Allgemeines und Besonderes am Einzelnen zusammenzuführen, Ihnen also an unserer Arbeit demonstrieren, wie wir versuchen, mit bestimmten Problemen umzugehen. Dies sind im wesentlichen die drei folgenden, aus der Institutionsanalyse hinreichend bekannten: 1. Wie können wir erreichen, daß die behinderten Menschen, auf die wir unsere Arbeit beziehen, nicht mehr Objekt unserer Tätigkeit sondern Subjekt ihrer selbst werden können? 2. Wie können wir alle MitarbeiterInnen erreichen und insbesondere auch Hoffnungslosigkeit, Abstumpfung, Gefühle der emotionalen Ausbeutung usw. so überwinden, daß ein Neubeginn möglich ist? 3. Welche Strukturen können und müssen aufgebaut werden, um Organisation und Institution so zu verändern, daß die Lebensqualität der behinderten BewohnerInnen im Mittelpunkt steht? Wie also sind insbesondere Bürokratisierung und Reglementierung rücknehmbar bei gleichzeitiger Erhöhung der Qualität der Arbeit?

2. Kurze Skizze zur Situation der Diakonischen Behindertenhilfe in Lilienthal

Die Diakonische Behindertenhilfe ist Teil des Evangelischen Hospitals Lilienthal und nach einer schweren finanziellen, konzeptionellen und moralischen Krise, die in den Jahren 1992 und 1993 die Öffentlichkeit bewegte, als gemeinnützige GmbH als eigenständige Gesellschaft aus diesem hervorgegangen. Hier lebten bis zu dem Zeitpunkt der organisatorischen Selbständigkeit ca. 300 größtenteils schwerstbehinderte BewohnerInnen. Im Rahmen von Auflagen des Niedersächsischen Sozialministeriums im Zusammenhang der Sanierung war eine Reduktion auf 270 Plätze erforderlich, welche durch nach dem Prinzip der Freiwilligkeit organisierte Umzüge in etwa erreicht ist. Für den Zeitraum bis Ende 1998 wurden im Rahmen einer Sondervereinbarung die vergleichbar höchsten Pflegesätze in Niedersachsen vertraglich abgesichert. Bis zu diesem Zeitpunkt sollen die nahezu alle Häuser umfassenden Umbau- und Sanierungsmaßnahmen so abgeschlossen sein, daß alle BewohnerInnen dann in z.T. verändert zusammengesetzten Gruppen an ihren neuen Wohnorten auf dem großflächigen Gelände am Rande der Kleinstadt Lilienthal leben. Einige von ihnen leben in Apartments, ein Bewohner bereits im Bereich des betreuten Wohnens außerhalb. Andererseits gab es kontinuierlich seit Gründung der Behindertenabteilung im Jahre 1956 als 'harten Kern' von Hoffnungslosigkeit eine große Gruppe schwerstbehinderter Menschen, untergebracht in einem eigenen Haus, dem Haus 16. Von der Aufnahmestrategie nahm Lilienthal vor allem schwerstbehinderte Kinder auf, die niemand sonst haben wollte. Es war sozusagen, sarkastisch gesprochen, für die Länder Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Westberlin und Bremen eine Art Müllabladeplatz, Entsorgungsdeponie.

Im Einzugsbereich Bremens gelegen und von dort aus mit Wechselwirkungen aus der Sozialpsychiatrie (ich erinnere an die Auflösung von Kloster Blankenburg) ebenso wie mit dem ab 1975 an der Universität existierenden Studiengang Behindertenpädagogik konfrontiert, gab es immer wieder von MitarbeiterInnen initiiert die unterschiedlichsten Bewegungen, Reformen anzustrengen, die sich immer wieder im institutionellen Gefüge festliefen. Galt zu Beginn der 80er Jahre Lilienthal als Ort, wo versucht wurde einen qualifizierten Aufbruch zu initiieren, so galt es Ende der 80er/Beginn der 90er als Einrichtung mit ausgesprochen schlechtem Ruf. Ein Gutachten des Psychiaters Dr. Mauthe aus Königslutter, Anfang der 90er Jahre aus Anlaß der Krise verfaßt, hält dem entsprechend schwerste Motivationsdefizite der MitarbeiterInnen fest.

Zu diesem Zeitpunkt wurde für die offizielle seit 1981 existierende Eltern- und BetreuerInnenvertretung, die Unhaltbarkeit der Zustände sichtbar. Ich selbst warVormund und später dann Betreuer eines Bewohners dieser Einrichtung und habe mich damals, Ende 1992, zu einer aktiven Mitarbeit im Eltern- und BetreuerInnenbeirat wider alle Hoffnung, denn da war ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrungen zutiefst pessimistisch, breitschlagen lassen. Das Resultat unserer Auseinandersetzungen war das im Februar 1993 vorgelegte "Lilienthaler Memorandum", erarbeitet in Kooperation mit prominenten Vertretern der praktischen Diskussion im Bremer Raum aus Sozialpsychiatrie, Lebenshilfe usw.. Es erhob aufgrund ausführlicher Analysen einerseits massive Vorwürfe bis hin zur Anwendung von Wolfensbergers (1991) Begriff des 'Neuen Genozids', daß also durch entwürdigende soziale Umstände in der Einrichtung das 'Totmachen' bereits begonnen habe. Andererseits wurden differenzierte inhaltliche Vorschläge dargestellt, auf deren Basis wir uns einen Neuanfang vorstellen konnten. Bis dies möglich war, dauerte einige Zeit. Aus einem Prozeß der Zurücknahme von Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit wurde dann in Zusammenarbeit mit einer geänderten Leitung der Einrichtung die Bereitschaft, zu kooperieren.

Als Resultat dieses Prozesses übernahm ich Ende 1994 für zwei Jahre den Vorsitz des Eltern- und BetreuerInnenbeirats. Auf meinen Vorschlag ebenso wie auf Wunsch und im Einvernehmen mit der Leitung versuchte ich eine Bestandsaufnahme der Probleme aus MitarbeiterInnensicht. Zwischen Ende Dezember 1994 bis März 1995 führte ich Gespräche mit allen dreißig Wohngruppen sowie jeweils zusammenfassend mit den fünf Wohnbereichen, ständig in Diskussion mit einer leitenden Mitarbeiterin der Einrichtung. Der ersten Diskussionsrunde folgte eine zweite mit den verschiedenen sozialen Diensten in der Einrichtung, den Ärzten, der Seelsorge, der Verwaltung usw. In zwei zusammenfassenden Vorträgen "Reform ist möglich" wurde dies im April 1995 den MitarbeiterInnen vorgetragen, die zunächst meiner Initiative nicht besonders wohlwollend gegenüberstanden. Für die einen war ich der, der die Einrichtung 'mit Dreck' beworfen hatte, für die anderen der, der sie nun 'im Stich' ließ und mit der Leitung zusammen arbeitete. Und die meisten waren nach wie vor resignativ und ohne allzu große Hoffnungen. Den damaligen Zustand habe ich für mich mit dem Titel des Kaspar-Hauser-Filmes "Jeder für sich und Gott gegen alle" zusammengefasst. Entsprechend hatten auch die schriftlich nachgearbeiteten Möglichkeiten der Reform zunächst relativ wenig Nachhallbei den MitarbeiterInnen, weitaus mehr Nachhall und Wirksamkeit erreichte die nun folgende zweite Etappe meiner Tätigkeit.

Auf Wunsch einzelner Wohnbereiche und Gruppen begann ich mit bewohnerbezogenen Rundtischgesprächen in Form von Fachberatungen. Die dort realisierte rehistorisierende Diagnostik machte BewohnerInnen aus ihrer Geschichte verständlich. Allerdings nicht so, daß den MitarbeiterInnen sofort ein neues Handeln möglich war, dazu mußten ebenso die vorherrschende Resignation wie anfangs noch viele Mißverständnisse überwunden werden. Immerhin: die erste Fachberatung fand am 9.6.95 statt, seitdem erfolgten bis zum heutigen Zeitpunkt 66 Fachberatungen von jeweils zwei Stunden zu insgesamt 44 BewohnerInnen. Bereits nach wenigen Monaten konnte ich es erreichen, daß die BewohnerInnen selbst an den Fachberatungen teilnahmen, was mittlerweile Standard der Einrichtung ist (an mindestens einer der 65 Beratungen haben von den 44 BewohnerInnen 32 (an insgesamt 50 Beratungen) teilgenommen. Bei einer Reihe von Fachberatungen wirkten unterdessen auch Eltern oder BetreuerInnen mit. Und unsere bisher vom Personenkreis umfangreichste Beratung umfaßte über 50 Personen, neben der Betroffenen selbst und den KollegInnen ihrer Wohngruppe Personen aus der Nachbarschaft sowie aus den Schwestergesellschaften der Diakonischen Behindertenhilfe, der Diakonischen Altenhilfe und dem St-Martins-Krankenhaus.

Schwerpunktmäßig fanden die Beratungen in den meisten Fällen dort statt, wo aus MitarbeiterInnensicht nicht lösbare Krisen vorlagen. Darüber hinaus habe ich in insgesamt sechs Gruppen mit besonders komplizierten Problemlagen jeweils einmal eine Frühschicht von 6.00 - 14.00 Uhr mitgearbeitet und mit der Gruppe ausgewertet.

Daneben erfolgte eine Unterstützung der Einrichtung zu fachlichen Fragen. Zum einen durch regelmäßigen Austausch mit der Leitung, zum anderen durch zwei Arten des Importes von Wissen. Da die Universität nur 6 km von der Einrichtung entfernt liegt, biete ich nunmehr im vierten Semester eine universitäre Lehrveranstaltung in der Einrichtung gemeinsam für StudentInnen und MitarbeiterInnen an. Dies war über zwei Semester das Thema 'Rehistorisierende Diagnostik', also eine Diagnostik in den Traditionen von Alexander Lurija, wie Sie diese sicherlich aus den Büchern von Oliver Sacks kennen. Ich habe zusammen mit anderen diese Diagnostik auf das Gebiet der schweren Behinderungsformen bezogen weiterentwickelt und auch in einer Buchpublikation dokumentiert (Jantzen und Lanwer-Koppelin 1996). Es folgte eine Veranstaltung über Sprache, Sprachentwicklung und Sprachstörungen, da der weitaus größere Teil der BewohnerInnen faktisch nicht-sprechend ist. Diese Veranstaltungen wurden jeweils von ca. 30- 35 StudentInnen und 40 - 50 MitarbeiterInnen besucht und entwickelten sich zu einem sozialen Ort im Einrichtungsleben.

Daneben fanden verschiedene Fachvorträge statt, mit denen ich mich in die Reihe eingeladener ReferentInnen einreihte. Ich selbst führte zwei Kurse zur Neuropsychologie der geistigen Behinderung durch und hielt Impulsreferate zur Problematik der Förderung durch Arbeit sowie unlängst zur Thematik der strukturellen Gewalt. Daneben wurde eine umfangreiche Fortbildung durch verschiedene ReferentInnen eingeworben, von denen einer, Herr Dr. Kutscher auch regelmäßig als Fachberater tätig ist.

Schließlich wurde die Arbeit durchStudentinnen und Studenten unterstützt: In Form von Laienhilfe (ca. 10 Personen) einmal wöchentlich, von Halbjahrespraktika (bisher 5) und in einzelnen Fällen durch Mitarbeit an diagnostischen Fragen sowie durch auf Honorarbasis abgesicherten Betreuung einzelner BewohnerInnen. In diesem Kontext wurde mittlerweile ein weitgehendes Umdenken erreicht, in dessen Zentrum jetzt die sog. schwerstbehinderten und schwerstverhaltensgestörten Menschen stehen, die nunmehr als schwerst Hospitalisierte begriffen werden. Entsprechend steht z.Z. die Auflösung des Hauses 16 auf der Tagesordnung und mit ihm verbunden alle sogenannten homogenen Zusammenballungen von besonders schwer behinderten Menschen in entsprechenden Gruppen.

Da ich Sie über diese Hintergründe ggf. durch das "Lilienthaler Memorandum" ebenso informieren kann wie durch einen Vortrag über 'Enthospitalisierung und verstehende Diagnostik' (Jantzen 1997a), den ich im Herbst letzten Jahres auf einer Tagung in Magdeburg gehalten habe, breche ich hier die Schilderung meiner Kooperation mit der Einrichtung ab (vgl. auch die Vorträge ind er Arbeitsgruppe 'Geschlechterverhältnisse und Subjekt/ Objektverhältnisse in der Enthospitalisierung' in Jantzen 1997 b).

Sie zeigt die Besonderheiten, unter denen wir Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung betreiben: Nähe zu einem Ort der Reform (Bremen) bei gleichzeitig langer Abschottung (bis zu Beginn der 90er Jahre). Krisenhafte Ausgangssituation mit enormen Problemen und mit einer bezogen auf den Gesamtprozeß demotivierten, zurückhaltenden und resignierten Mitarbeiterschaft. Unverantwortliche Zusammenballung und langjährige Hospitalisierung von schwerstbehinderten und schwerstverhaltensgestörten Menschen einerseits, andererseits Nähe zur Universität, Bereitschaft einer Leitung, die unter diesen Bedingungen über sich hinauswuchs, zum Zuhören und Wachsenlassen auch unter schwierigen Bedingungen, gewachsene soziale und fachliche Austauschstrukturen in Bremen. Nichts an Konkretem ist hiervon übertragbar. Sehr wohl aber sind einige reflexive Prinzipien und Überlegungen zu gewinnen, die überall nützen können. Von ihnen will ich im folgenden reden.

3. Rehistorisierende Diagnostik als Zugang zum Verstehen der Hospitalisierten

In ihrem Buch "Narben der Gewalt", das sich mit Extremtraumatisierten beschäftigt, schreibt die amerikanische Psychiaterin und Psychoanalytikerin Judith Herman: "Erst wenn die Wahrheit anerkannt ist, kann die Genesung des Opfers beginnen. Doch sehr viel häufiger wird das Schweigen aufrechterhalten, und die Geschichte des traumatischen Ereignisses taucht nicht als Erzählung auf, sondern als Symptom" (1994, S. 9)

Rehistorisierende Diagnostik bedeutet nun nichts anderes, als dieses Schweigen zu brechen, eine Geschichte erzählbar zu machen, die erstmalig das Verstehen ermöglicht und damit die Ausgrenzung beendet. Eine solche Geschichte hat alle wissenschaftlichen Möglichkeiten zu berücksichtigten, bleibt aber trotzdem Erzählung. Sie bedarf der Bestätigung der sich aus dem Verstehen ableitenden Folgen für das eigene Handeln durch die betroffene Person. Behinderte oder psychisch kranke Menschen werden in dieser Sichtweise jene, die das entscheidende Wort über die Adäquatheit der von uns rekonstruierten Geschichte zu sprechen haben. Dies entspricht Franco Basaglias (1973, S. 151, 1974, S. 15) mehrfach geäußerten Grundgedanken, daß wenn der psychisch kranke bzw. behinderte Mensch die einzige Realität ist, auf die wir uns zu beziehen haben, wir uns auf beide Seiten der Realität zu beziehen haben: zum einen darauf, daß es um kranke bzw. behinderte Menschen mit einer eigentümlichen psychopathologischen Problematik geht, die dialektisch und ideologisch entschlüsselt werden muß, und daß es sich 2. um Ausgeschlossene, Geächtete, Opfer von Gewalt handelt. Ich demonstriere Ihnen im folgenden unser Vorgehen im Rahmen dieser Diagnostik an praktischen Beispielen und erhelle damit zugleich die Definition Basaglias.

Was verbirgt sich unter dialektischer Entschlüsselung? Im wesentlichen das, was Oliver Sacks uns in seinen Büchern zur Anwendung der Lurijaschen Syndromanalyse verdeutlicht: Nicht der Defekt interessiert, sondern die Auswirkung des Defektes auf die Entwicklung der Persönlichkeit. Persönlichkeit ist jedoch eine Konstruktion des Individuums in sozialen Verhältnissen. Und für Menschen mit biologischen Schäden/Defekten sind diese Verhältnisse tiefgreifend verändert: Genauso wie Blindheit oder Gehörlosigkeit entscheidend die Beziehungen zu den Menschen und zur Weltverändern, so gilt dies auch für die unterschiedlichen Formen von zentralen Störungen. Für alle anderen Menschen scheinbar angemessene Kommunikations- und Verkehrsformen sind nun mit einem Schlage unangemessen. Und natürlich erfolgt diese tiefgreifende Änderung in den sozialen Verhältnissen in anderer Weise, wenn Defekte schon vor oder mit der Geburt auftreten, als wenn sie erst im Erwachsenenalter wirken.

Eine erste Geschichte verdeutlicht den Aspekt der dialektischen Entschlüsselung:

Frau F., 31 Jahre alt, lebt seit 26 Jahren in der Einrichtung. Aufgrund der von der Gruppe immer wieder berichteten Aggressionen finden Fachberatungen statt. Insbesondere Frauen greift sie an und krallt sich so in deren Haare, daß dies höchst schmerzhaft ist. Obwohl die KollegInnen in der Gruppe, welche als höchst schwierig gilt, schon erhebliches geleistet haben, sind sie hier hilflos.

Frau F. selbst gilt als Einzelgängerin. Sie sammelt Murmeln hinter dem Bett, ebenso Puppen, denen sie die Köpfe abreißt. Die Schule für geistig Behinderte hat sie besucht, täglich arbeitet sie vier Stunden im Gewächshaus. Noch bis vor sechs Jahren wogen Autoaggressionen vor, heute stehen Aggressionen im Zentrum. Die Durchsicht der Akten ergibt folgendes: Frau F. hatte eine Hirnschädigung unter der Geburt durch Asphyxie (Sauerstoffmangel der zur Vergiftung durch CO2 führt). Sie ist in einer armen Familie geboren, kommt in ein Säuglingsheim, wo sie schwer vernachlässigt wird, wie dies die Narben schwerer Furunkulose dokumentieren. Entsprechend zeigt sie alle Verhaltensauffälligkeiten schwer hospitalisierter Kinder. Sprache entwickelt sie nicht richtig und nur mühsam.

Von der Gruppe aufgenommene Videosequenzen dokumentieren heute ein recht hohes Regulationsniveau. Die Videoaufnahmen und die Akten legen nahe, daß Frau F. es schwer fällt, sich schnell umzuorientieren. Eine Art von Nicht-Ansprechbarkeit, Passivität einerseits und eine adäquate Orientierung andererseits wechseln sich ab. Dies steht im Einklang zu entsprechenden EEG-Mustern im Bereich wacher Wahrnehmung. Die nach der Geburt damals noch als Littlesches Syndrom definierte Grundstörung beinhaltete neuropsychologisch im wesentlichen eine Störung des feed-forward-Systems des Gehirns, führt also zu einer Erschwerung des Übergangs von der Wahrnehmung zur Orientierung. Dies hallt ersichtlich bis heute nach. Gleichzeitig zeigen zwei alternierende EEG-Rhythmen im Alpha-Band, der langsamere hochrhythmisiert, Korrelate im Sinne von selbststimulatorischem Verbleiben in der bloßen Wahrnehmung.

Unter diesen Bedingungen ist Frau F. auf präzise und auf sie abgestimmte soziale Orientierung verwiesen, an ihr Vorbeireden, nicht Beachten oder ängstliches Ausweichen hilft ihr weder aktuell, noch bearbeitet eine solche Vermeidungsstrategie die ersichtlich situativ auftauchenden Erinnerungen. Diese Erinnerungen führen dann relativ verselbständigt zu aggressiven Akten. Der drohende Orientierungsverlust ist demnach ontogenetisch der Grund für die Aggressionsneigung. Folglich müßte in latent aggressiven Situationen Rückgewinnung von Orientierung die Aggression vermeiden können.

Wie dem auch sei: Zumindest zeigt die kleine Episode auf dem Flur in einer Beratungspause, daß die Überlegungen nicht ganz aus der Luft gegriffen sind. Frau F. ist schon ganz auf eine gruppenfremde, leitende Mitarbeiterin orientiert, deren schöne Haare sie anziehen. Ich spreche sie auf ihre eigenen, kurz geschnittenen Haare an, ob sie beim Friseur gewesen sei. Sie orientiert sich um. Es ist unsicher, ob sie "aggressiv" werden wird. Ich biete ihr meine Haare an: "Ich war auch beim Friseur, möchtest Du mal meine Haare anfassen". Frau F. faßt meine Haare an. Ich frage dann, ob ich auch ihre Haare anfassen und bewundern darf. Dies darf ich. Dann sagt sie "Hund". Ich frage nach, was dies bedeutet, sie erneuert "Hund". Ich sage: "Ach so, daß die Haare so kurz sind wie beim Hund" Sie ist zufrieden und entfernt sich sichtlich entspannt.

Da Rehistorisierungen dieser Art als dialektische Entschlüsselung den oder die andere als vernünftiges und vernunftfähiges Subjekt setzen, aber natürlich gemeinsame Handlungsalternativen noch nicht entwickelt sind, entsteht Angst. Und selbstverständlich hatte ich Angst in dieser Situation. In der Anfangsphase von Beratungsprozessen wird die aus der Umorientierung entstehende Angst oft verdrängt, oder aber gefangen zwischen neuer Einsicht und alten Lösungsmustern wird sie für die MitarbeiterInnen bedrohlich und blockiert ihr Handeln. Der Gedanke an alte Lösungsmuster durch Verhaltensreglementierungen oder Vergabe von Psychopharmaka tritt erneut ins Bewußtsein. Solche Interventionen sind in der Regel mit Etikettierungen verbunden. Auffälligkeiten und Abnormitäten - was immer das ist - erscheinen insbesondere in der klassisch-psychiatrischen Sicht als Folge einer Hirnschädigung. Daher kommt der ideologischen Entschlüsselung des psychopathologischen Syndroms eine besondere Bedeutung zu. In meiner nächsten Geschichte ist hiervon die Rede:

Herr P. ist 37 Jahre alt lebt seit seinem 6. Lebensjahr in der Einrichtung. Er zählt hier zu den sog. schwer pflegebedürftigen Menschen. Er ist infolge seiner durch frühkindlichen Hirnschaden veränderten Lebenssituation 'geistig behindert', ist blind, spricht nicht, sein Rücken ist stark verkrümmt, so daß er nur in nach vorn gebeugter Hockstellung bzw. kriechend sich bewegen kann. Herr P. gilt als schwer autoaggressiv. Die geplante Fachberatung findet im Dienstzimmer statt, das durch eine Gittertür vom Flur getrennt ist. Herr P. ist entgegen unseren bisher in der Einrichtung durchgesetzten Absprachen nicht im Zimmer. Ich frage nach. Die MitarbeiterInnen reagieren fast panisch: Wenn man Herr P. mit in das Zimmer nehme, werde er sich schlagen und selbst verletzen, er sei überfordert. Ich antworte den KollegInnen geduldig, bitte um ihre Toleranz für das Unternehmen, betone, daß ich selbst die notwendige Verantwortung sehe und denke, sie übernehmen zu können. Da sie mich aus vorangegangenen Fachberatungen sowie aus der gemeinsamen Arbeit in einer Frühschicht bereits kennen, lassen sie sich mit zitternden Knien auf das Unternehmen ein.

Herr P. ist also während des Gespräches über ihn anwesend. Seine gesetzliche Betreuerin stößt etwas später hinzu. Wir tauschen uns über die Erfahrungen der Gruppe mit Herr P. aus, der ca. die Hälfte der Fachberatung auf dem Boden sitzend ersichtlich aufmerksam den Ereignissen folgt. Dann kriecht er auf die Tür zu und scheint sich an den Kopf zu schlagen Sollten die MitarbeiterInnen recht gehabt haben? Nein, Herr P. schlägt sich nicht richtig, er deutet das Schlagen an, um vermutlich darauf aufmerksam zu machen, daß die Tür geöffnet werden soll. Wir öffnen sie und er verläßt das Zimmer. Gelernt haben wir, daß Herr P. über die elementaren Fähigkeiten der Kooperation beim Anziehen und Essen hinaus, von denen die Akte spricht, zum Symbolgebrauch in der Lage ist, sich also vermutlich auch in der gesprochenen Sprache gut orientieren kann, soweit sie ihm zugänglich gemacht wird und er auf Grund seiner höchst beschränkten Lebenserfahrung die Inhalte verstehen kann.

Worin lag die ideologische Entschlüsselung? Autoaggresivität wurde als sinnvolles Verhalten und nicht mehr ideologisch als defektive Folge von geistiger Behinderung interpretiert. Daher war es unproblematisch, eine gemeinsame Beratung mit Herr P. zu führen, solange wir ihn und seine Bedürfnisse gleichberechtigt im Auge behielten. Und seine Bedürfnisse sind die aller Menschen: nach gleichberechtiger Teilhabe an Gemeinschaft, Kommunikation, sozialem Verkehr.

Sie sehen: Unsere Ängste verhindern oft den notwendigen gleichberechtigten und Prinzipien der Humanität entsprechenden Umfang mit BewohnerInnen. Durch ideologische Entschlüsselung erkennen wir, daß zahlreiche Etikettierungen nosologischer Art Resultate unseres fehlenden Begreifens sind. Verzichten wir auf solche Etikettierungen, beginnt sich die Situation zu ändern, neue Erfahrungen werden frei und neue Kompetenzen werden sichtbar: So bei Herr P., daß er in der Situation bleiben konnte und daß er zur elementaren symbolischen Verständigung in der Lage war. Wie aber entsteht dievon uns bei ihm wahrgenommene Realität von schwerster Behinderung, Autoaggression, Aggression usw., wenn nicht zwangsläufig als Folge des Defektes? Ersichtlich ist es die Anstalt mit ihren Akten der Gewalt, ist es überhaupt Gewalt in der Lebensgeschichte, welche jene Folgen produziert, die wir zunächst leichthin dem Defekt zuschreiben.

Goffmans Analyse totaler Institutionen, unter dem Titel "Asyle" , erstmals 1961 erschienen, seit 1972 in deutscher Sprache zugänglich, zeigt, daß es zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den Eigentümlichkeiten geistig behinderter Menschen in Einrichtungen und dem von anderen Insassen totaler Institutionen gibt: Seien dies psychiatrische Anstalten, Kasernen, Internate u.a.m.

Einrichtungen dieser Art sind vor allem durch eine spezifische Art innerer Reglementierung, eine Hausordnung gekennzeichnet, in der sich die InsassInnen einzurichten haben. Anderenfalls drohen Sanktionen. Entsprechend den in seinen Felduntersuchungen vorgefundenen Verhaltensformen unterscheidet Goffman folgende Strategien von Insassen:

  • Rückzug aus der Situation bis hin zu Knastpsychose und Stumpfsinn;

  • kompromißloser Standpunkt: Der Insasse bedroht die Institution absichtlich, indem er offenkundig die Zusammenarbeit mit dem Personal verweigert;

  • Kolonisierung: Der Insasse nimmt die Anstalt für das Ganze und baut sich unter den reduzierten Bedingungen eine stabile, relativ zufriedene Existenz auf;

  • Konversion: er macht sich das amtliche Urteil zu eigen und versucht die Rolle des perfekten Insassen zu spielen (S. 65 ff)

All diese Strategien sowie ihre zahlreichen Verknüpfungen und Variationen betrachtet Goffman als höchst normale und für die Insassen sinnvolle Resultate des Einrichtens in einer Welt der extremen Beschränkungen.

Wir haben demnach grundsätzlich das Thema der Gewalt zu reflektieren, daß in Basaglias Definition der doppelten Realität psychisch kranker und behinderter Menschen als sozialer Ausschluß und soziale Ächtung aufscheint. Ersichtlich ist es ein Dilemma der traditionellen Sicht unseres Faches, daß unter dem Mantel der Fürsorge vielfältige Formen institutioneller Reglementierung und Gewalt sich versteckt haben und verstecken. Nicht immer sind die Ursprünge dieser Gewaltsituation der Einrichtung geschuldet, wie die folgende Geschichte zeigt. Sie zeigt aber auch, daß Einrichtungen sehr oft erfahrene Gewalt nicht nur nicht wahrnehmen, sondern die Narben der Gewalt durch eigenes Handeln massiv vergrößern. Eine Rehistorisierung ist jedoch nur dann möglich, wenn die Wahrheit der Gewaltausübung anerkannt und verändert wird.

Meine dritte Geschichte berichtet über das Thema Gewalt:

Frau U. ist zum Zeitpunkt unserer ersten Fachberatung vor ca. 1 3/4 Jahren 30 Jahre alt und lebt seit 24 Jahren in der Einrichtung. Mit dem Übergang in eine neue Wohngruppe, die weitgehend selbständig wohnt, treten gravierende Probleme auf. Frau U. gilt als geistig behindert und verhaltensgestört. Angeblich hat sie als Kind eine Encephalitis gehabt. Sicher kommt sie jedenfalls aus sehr verwahrlosten und armen Familienverhältnissen. Sehr viele ihrer Fragen kreisen um das Thema Gesundheit und Körper. Sie hat lesen gelernt und ist über den Inhalt eines Buches, das über die Organe des Menschen handelt, bestens informiert. Früher hat sie beim Metzger häufig innere Organe aus den Abfällen geholt. Der Besuch in einer Werkstatt für Behinderte wurde abgebrochen, nachdem Frau U. sich einmal bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatte.

Die Fachberatung erfolgt, weil die neue Gruppe wegen nächtlichem Trinken und Weglaufen von Frau U. bereits von Panik infiziert ist und zudem Vorwürfen der alten Gruppe ausgesetzt ist, Frau U. viel zu viel Freiheit zu geben. Die Lektüre der Akten zeigt, daß der Schlüssel zu den vielfältigen Auffälligkeiten ersichtlich im frühen Erfahren sexueller Gewalt liegt. Nur unter dieser Hypothese lassen sich eine Reihe von zum Teil verdrängten und an den Rand des Nachdenkens geschobenen Ereignissen neu interpretieren: Ein Analprolaps durch Manipulationen am After, der Versuch mit einer Schere durch Einführen in die Scheide die Gebärmutter herauszuschneiden, das Überwiegen sexueller Thematik in einer Reihe von Situationen.

Wir unterstellen die Berechtigung der neuen Hypothese, begreifen Frau U. als Gewaltopfer und organisieren zu ihrer Unterstützung wöchentliche Termine mit einer unserer fortgeschrittenen Studentinnen, die sich mit dieser Thematik intensiv beschäftigt hat. Zunächst beziehen wir einen Gruppenmitarbeiter ein, der später aus der Beratung ausscheidet. Die ganze Zeit bis heute verläuft der wöchentliche Beratungstermin immer wieder im Austausch mit der Gruppe.

Es ist als hätten wir ein Faß zum Übersprudeln gebracht: Frau U. muß zunächst lernen, ihren emotional völlig neutralisierten Körper in seinen Gefühlen wahrzunehmen. Sie muß wahrnehmen, daß Bauchschmerzen für Angst stehen usw. Allmählich kristallisiert sich eine völlig andere Problematik als der Alkoholismus heraus. Von geistiger Behinderung kann ohnehin nicht die Rede sein. Borderline-Syndrom, d.h. also Aufspalten zwischen guten und schlechten Erfahrungen und Neutralisierung der letzteren durch Abspaltung bildet unsere neue Hypothese, zumal gemäß der neueren Literatur dieses Syndrom sehr häufig bei Opfern sexueller Gewalt festzustellen ist.

Aber es kommt noch dicker: Schon früher war in der Akte von möglicherweise psychotischen Anteilen die Rede: Frau U. höre Stimmen und rede mit ihnen. Jetzt allmählich wird die Wahrheit sichtbar: Frau U. ist aufgespalten in verschiedene Personen, die für verschiedene Probleme der Auseinandersetzung mit der Welt stehen. Obwohl unterdessen sich vieles stabilisiert hat - die nächtlichen Eskapaden sind seltener, Frau U. erscheint viel lebendiger und aufgeweckter - geraten alle Beteiligten erneut in Ansätze von Panik. In einer Fachberatung, an der Frau U. teilnimmt, spreche ich zum Entsetzen der MitarbeiterInnen den Kern des Problems an: Ihre Angst vor Frau U.s "multipler Persönlichkeit" denn so lautet die neue Diagnose. Ich übersetze das Problem. Frau U. hört ruhig zu und akzepiert die Lösung: Wichtig ist, daß die Mitarbeiter sie als die Person, die sie gerade ist, Birgit, Gerda oder Anna, akzeptieren und gerne haben, trotzdem aber dabei bleiben, daß sie selbst Frau U. immer als Frau U. wahrnehmen.

Seitdem hat sich die Aufregung wieder gelegt, die Arbeit in der Gruppe geht weiter, am Arbeitsplatz sind Probleme erst einmal wieder bewältigt und die Termine mit unserer Studentin laufen weiter.

Was wir daraus gelernt haben ist es, daß nicht das "Öffnen eines Sackes" die Probleme schafft, sondern gerade hierdurch die Probleme einer Lösung zugeführt werden können. Sie hören auf Probleme eines "harten Kerns" zu sein. Sie bleiben selbstverständlich harte Probleme, die unser Einfühlungsvermögen, unsere Empathie und unsere Phantasie immer erneut auf den Prüfstand stellen. Zumindest auf der Ebene der Gesamtleitung und der Gruppenleitung ist dies unterdessen Konsens. Wenn wir Deinstitutionalisierung wollen, so müssen wir anerkennen, daß die institutionalisierten und hospitalisierten Menschen Opfer von Gewalt sind. Seit dem Herbst letzten Jahres in Diskussion befindliche Leitsätze der Einrichtung formulieren dies und halten fest, daß im Zentrum unserer Verständnisses es nicht um schwerbehinderte sondern um schwerhospitalisierte Menschen geht (Anlage 1). Daraus folgert für unsere Überlegungen zur Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle erst einmal festzuhalten, was wir nicht mehr wollen und nicht den vielen unerreichten positiven Zielen, die in der Vergagneheit formuleirt waren, neue hinzuzufügen, die erneut zum Scheitern verurteilt wären, außer jenem: Die Lebensäußerungen und Rechte der BewohnerInnen in den Mittelpunkt zu stellen und "die Würde des (behinderten) Menschen als zentralen Bedeutungsfaktor zu beachten", so die Leitsätze.

Dies ist aber nur möglich, wenn auch die MitarbeiterInnen jenes Maß an Achtung erfahren, das sie in der krisenhaften Vergangenheit oft vermißt hatten.

4. Anerkennung und Unterstützung der MitarbeiterInnen als Schlüssel zur Deinstitutionalisierung

Demotiviert waren die MitarbeiterInnen, entmutigt und resignativ: nicht was den Umgang mit den BewohnerInnen betraf, obwohl sie sich hier allein gelassen und ständig an ihren Grenzen fühlten, sondern vor allem in ihren Glauben an die Reformfähigkeit der Einrichtung. Diesen Eindruck spiegelt das Gutachten von Dr. Mauthe. Und er wiederholte sich für mich bei meinen Gesprächen mit Gruppen und Leitungen im Frühjahr 1995. Vor allem litten die MitarbeiterInnen an der aus ihrer Sicht geringen Wertschätzung ihrer ihrer selbst und ihrer Arbeit. Dies rückt ein Problem ins Zentrum der Betrachtung, das seit der differenzierten Studie von Christa und Thomas Fengler "Alltag in der Anstalt" (1994) sozialwissenschaftlich als Grundproblem zwischen Pflegepersonal und therapeutischem Personal präsent ist. Es läßt sich ausweiten auf die Problematik der Selbstwahrnehmung jener, welche die 'Drecksarbeit' an der 'Front' machen und jenen 'da oben', die nur allzuleicht vom Pflegepersonal als illoyal angesehen werden und werden müssen.. Dies sind in der Studie der Fenglers vor allem die therapeutischen Kräfte, wie Ärzte und Psychologen, die zudem in der untersuchten psychiatrischen Klinik als Träger von Reform auftraten.

Für unsere Ausgangssituation galt diese Differenzierung nicht ganz so, weil der Hauptriß zwischen Pflege- und Förderpersonal auf der einen Seite und der Administration auf der anderern Seite, insbesondere gegenüber der Heimleitung und der Wohnbereichsleitung, aufgetreten war. Und natürlich war auch ich in diese Differenzierung eingeordnet: Der Theoretiker von der Uni, der zudem noch für die einen die Einrichtung von außen unangemessen kritisiert hatte. Und für die anderen MitarbeiterInnen derjenige, der nun die Seite gewechselt hatte und plötzlich die Leitung unterstützte. Meine Bewegungen und Initiativen in diesem Konflikt sind natürlich nur denkbar auf dem Hintergrund einer Leitung, die Änderungen wollte. Trotzdem lassen sich einige Momente identifizieren, deren Verbindung deutlich geholfen hat, so mit dem genannten Loyalitätskonflikt umzugehen, daß sich MitarbeiterInnen wieder wertgeschätzt und in ihrer Arbeit ernst genommen fühlen und zu beachtlichen Teilen den Reformprozeß mittlerweile aktiv mit voran tragen.

Wichtig war es vor allem, in den Fachberatungen immer wieder die subjektive Perspektive der MitarbeiterInnen ernst zu nehmen, ihre Erfahrungen in den Mittelpunkt zu stellen und dann erst gemeinsam eine mögliche Geschichte zu rekonstruieren, warum die BewohnerIn so ist, wie er oder sie ist. Die MitarbeiterInnen konnten sich dadurch als wertgeschätzt erfahren und der Bestand der Probleme konnte mehr und mehr in den konkreten Fachberatungen so eingeschränkt werden, daß deutlich wurde, was die Gruppe zu leisten vermochte und was nicht.

Diese Diskussion wurde wesentlich unterstützt durch die Auslagerung meiner Lehrveranstaltung in die Einrichtung, die dort jetzt im vierten Semester stattfindet. Durch den Beginn mit der Thematik 'Diagnostik als Rehistorisierung' wurden weitgehende Grundlagen eines Neuverständnisses geschaffen, die es gegen Ende des zweiten Semesters ermöglichten, gemeinsam die Ergebnisse von zwei Fachberatungen zu rekonstruieren und damit zwei Bewohnerinnen zu entstigmatisieren. Durch den Mut zweier Gruppen, uns Videodokumente ihrer Arbeit vorzustellen, konnte erarbeitet werden, daß wir alle Fehler machen und auch machen dürfen, ohne dafür reglementiert zu werden. Die Offenlegung dieser Fehler schafft die Voraussetzung anders zu arbeiten.

Von besonderer Bedeutung war m.E. darüber hinaus meine Mitarbeit in Frühschichten in insgesamt sechs mit großen Problemen beladenen Gruppen. Ich ordnete mich normal in den Dienstablauf ein, half beim Waschen und Anziehen, beim Essen, half u.a. das eingekotete Zimmer eines Bewohners zu säubern usw. und erarbeitete im Verlauf eines Vormittags jeweils einige kleinere Ansätze zu Lösungen, die bisher in der Gruppe nicht gesehen werden konnten. In dieser Beziehung wurde ich dann als Kollege wahrgenommen, dem die WohngruppenmitarbeiterInnen gelegentlich auch einmal versicherten, gerne mit ihm zusammenzuarbeiten.

Und auch die Arbeit der Studentinnen und Studenten in der Einrichtung fand durchaus ihre Beachtung als Unterstützung. Zumindest sind wir unterdessen so weit, daß das Gewaltthema mehr und mehr offen diskutiert werden kann. Der Wohnbereich des Hauses 16, in dem bisher der sogenannte harte Kern an Unveränderbarkeit und Hoffnungslosigkeit als zementiert und nicht auflösbar galt, befindet sich in Auflösung. Die BewohnerInnen dieses Hauses, die jetzt aus Umbaugründen ausgezogen sind, werden nie wieder in dieser Zusammenballung zusammenziehen. Und auch die homogenen Gruppen, die kaum Handlungsalternativen des Personals in diesem Bereich zuließen, werden nicht so bleiben wie sie waren. Was im konkreten folgt wird zur Zeit in einem Prozeß diskutiert, in den alle Gruppen über regelmäßige Diskussionen der Gruppenleitungen mit einbezogen sind. Klar geäußert haben sich die Gruppenleitungen unterdessen zur Gewaltthematik. Sie haben ausführlich erarbeitet, was sie nicht mehr wollen. Dies reicht von Äußerungen wie "Reglementierungen, damit bloß nichts passiert", und "Bewohner verwalten" bis zu konkreten Inhalten, so z.B. "Heiligabend am 23.12." , von "symptomorientiert arbeiten" bis hin zu "Macht ausüben" und "zuviel Bürokratie" usw. (Anlage 2).

Wir sind demnach mitten im Umdenken, haben dabei aber noch bestimmte Probleme von bisheriger Institutionalisierung aufzugreifen und zu verflüssigen, die wir bisher nicht gelöst haben.

Es geht hierbei um die Binnenstruktur der gesamten Einrichtung und mit ihr um die Frage, wie Überorganisation und Bürokratisierung, die aus der Vergangenheit ihre Spuren hinterlassen haben aufgelöst werden und moralische Verantwortung an Stelle technisch-formaler Verantwortung treten kann.

5. Deinstitutionalsierung muß sichern, ...

daß dauerhaft moralische Verantwortung an die Stelle technisch-formaler Verantwortung treten kann

Auch hier geht es um ein zentrales Thema der Sozialwissenschaften bei der Untersuchung der Strukturen, innerhalb derer Gewalt unhinterfragt ausgeübt wird. Der polnisch-englische Soziologe Zygmunt Bauman verweist in seinem Buch "Dialektik der Ordnung" (1992), das sich mit der sozialen Mechanismen der Möglichkeit des Holocaust beschäftigt, vor allem auf bürokratische Abläufe sowie auf die Transformation von moralischer Verantwortung, die immer nur einem konkreten Anderen geschuldet sein kann, in technisch-formale Verantwortung. Bei der Reorganisation einer Anstalt ebenso wie beim Ausbau einer Versorgungskette in der Region ist dies ein Grundproblem, das auch im Rahmen bisher erfolgreicher Enthospitalisierungsprozesse in den unterschiedlichsten Einrichtungen nicht hinreichend befriedigend gelöst wurde.

Wir selbst sind dabei, hier verschiedene Mechanismen zu entwickeln, wie z.B. auch für den Verwaltungsbereich die unmittelbare pädagogisch-theapeutische Arbeit sichtbar zu machen. Dies geschieht in Ansätzen bereits durch Teilnahme von MitarbeiterInnen aus diesem Bereich an den Fachberatungen. Daneben tritt eine gegenwärtig stattfindende völlige Umorganisation des Arbeits- und Förderbereichs, um Lösungsmuster zu etablieren, die jeweils gemeinsam und in Absprache mit den Wohngruppen bewohnerbezogen ansetzen. Außerdem entsteht Stück für Stück eine wesentlich höhere Offenheit, soziale und psychische Mechanismen offen zu diskutieren.

Lasen Sie mich an dieser Stelle meinen Zwischenbericht abschließen, mit dem ich Ihnen zeigen wollte, welche vielfältigen Probleme in der Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung auftreten, wenn wir nicht nur den aus dem "Krieg gegen die psychisch Kranken und Behinderten" noch nachwirkenden Krieg als Gesellschaftszustand beenden, sondern anfangen, friedliche Verhältnisse zu gestalten.

Literaturverzeichnis

BASAGLIA, F.: Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973

BASAGLIA; F.: Was ist Psychiatrie? Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974

BAUMANN, Z: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992

DÖRNER; K. u.a.: Der Krieg gegen die psychisch Kranken. Rehburg-Loccum: Psychiatrie-Verl. 1980

DÖRNER; K.: Tödliches Mitkleid. Gütersloh: van Hoddis 1989²

FENGLER; Christa und FENGLER, J.: Alltag in der Anstalt. Bonn: Psychiatrie-Verlag 1994 (Reprint der Erstausgabe 1980)

GOFFMAN, E.: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972

HERMAN; Judith L.: Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. München: Kindler 1994

JANTZEN; W.: Reform ist möglich!. (Unveröffentlichter Vortrag). Lilienthal: Diakonische Behindertenhilfe 1995

JANTZEN, W.: Enthospitalisierung und verstehende Diagnostik. In: ders.: Die Zeit ist aus den Fugen. Behinderung und postmoderne Ethik -Aspekte einer Philosophie der Praxis. Marburg: BdWi 1997 (i.V.) (a)

JANTZEN; W. (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik - Subjekt/ Objektverhältnisse in Wissenschaft und Praxis. Luzern: SZH 1997 (i.Dr.) (b)

JANTZEN, W. und LANWER-KOPPELIN, W.: Diagnostik als Rehistorisierung. Methodologie und Praxis einer verstehenden Diagnostik am Beispiel schwer behinderter Menschen. Berlin: Edition Marhold 1996

LILIENTHALER MEMORANDUM; Hrsg: Elternbeirat im Behindertenbereich des Ev. Hospital Lilienthal, Bremen 1993

MAUTHE, J.H.: Untersuchung zum Personalbedarf Behindertenbereich. Ev. Hospital Lilienthal e.V., Teil I - III (unveröffentlicht), Königslutter 1992

REEMTSMA, J.P.: Krieg ist ein Gesellschaftszustand.Rede zur Eröffnung der Wehrmachtsausstellung in München. Mittelweg 36 - Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 6 (1997) 2, 55 - 60 (a)

REEMTSMA, J.P.: Die Skala des Scheußlichen ist nach unten offen. Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. Ausgabe vom 14.4.97, S. 7 (b)

WEIL, Simone: Schwerkraft und Gnade. München: Kösel 19813

WOLFENSBERGER, W.: Der neue Genozid an den Benachteiligten, Alten und Behinderten. Gütersloh: van Hoddis 1991

LEITSÄTZE

Die Diakonische Behindertenhilfe gGmbH auf dem weiteren Weg

2. Entwurf, Hans Mencke, Geschäftsführer

Einleitung zum ersten Entwurf

Dieser Entwurf dient dazu, eine Diskussion auf verschiedenen Ebenen anzuregen, um uns gemeinsam an eine neue Zielfindung und -definition für unsere Einrichtung zu begeben

Skizzierte Leitsätze

  • Unser Reformvorhaben kann nur gelingen, wenn wir uns zunächst - im Hinblick auf dieVergangenheit - eingestehen, mit unseren institutionellen Strukturen zur Reglementierung menschlicher Lebenswünsche, -bedürfnisse und -gewohnheiten beigetragen zu haben.

  • Darum wollen wir uns in Zukunft verschiedenen Herausforderungen stellen: Wir werden unser Augenmerk auf isolierende und ausgrenzende Faktoren richten, die die persönliche Entwicklung der Bewohner/innen behindern statt fördern. unsere Aufgabe besteht darin, die persönliche Entwicklung der Bewohner/innen zu sichern, indem ihre humane Anerkennung im Mittelpunkt unserer Bemühungen steht.

  • Eine differenzierte Betrachtung der Lebensbedingungen eines jeden einzelnen Bewohners ist für sie notwendig, um wieder zum Subjekt seiner eigenen Geschichte werden zu können und darüber hinaus für uns hilfreich, sie neu verstehen zu können.

  • So können z.B. sogenannte Verhaltensauffälligkeiten von Bewohner/innen neu gelesen werden als soziale Kompetenz, sich gegen Zustände, die ihre Integrität verletzten, zur Wehr setzen zu können. Dies fordert uns auf, daß Betreuung und Unterstützung vor allem in Formen zwischenmenschlichen Austausches und Miteinander Ausdruck finden muß. Dabei stehen die Lebensäußerungen und Rechte der Bewohner/innen im Mittelpunkt. Dies anzuerkennen heißt, jederzeit die Würde des (behinderten) Menschen als zentralen Bedeutungsfaktor zu beachten.

  • Im Mittelpunkt unserer weiteren Reformschritte stehen die schwerstbehinderten Menschen in der Einrichtung, die bisher an den Rand gedrängt waren und daher nach unseren heutigen Erkenntnissen und Eingeständnissen vielmehr als schwersthospitalisierte Menschen zu kennzeichnen sind.

Konkretion

Als Prüfstein für die Gültigkeit dieser Sätze steht unser Vorhaben, im Haus 16 den hergestellten harten Kern aufzuweichen, d.h. die Zusammenballung von Menschen, die als schwerstmehrfach behindert bezeichnet werden, zu beenden.

Schlußbemerkungen und Ausblick

Die inhaltlich-fachliche Diskussion ist momentan das vorrangige Ziel, um uns einem Neuverständnis des Begriffes von Behinderung anzunähern. nicht zuletzt die Unterstützung von Prof. Dr. W. JANTZEN darin bietet uns die - wissenschaftlich reflektierte - Chance, Altes in Frage zu stellen und Neues wagen zu können.

Mittelfristig wird darüber hinaus eine neue Profilierung und Konkretisierung unseres diakonischen Auftrages diskutiert werden.

Was wollen wir nicht mehr?

Gewalt auf allen Ebenen

  • Bewohner als "Störer" von Vorgängen

  • Regelmentierungen, damit "bloß nichts passiert"

  • Unflexible Arbeitsabläufe

  • Bewohner sollen funktionieren

  • Andere Menschen organisieren (Schichten) Bewohner verwalten

  • STARRES PROGRAMM und damit Programmierung der Bewohner/-innen

  • Nichtbewohnderbezogenes Tun und Handeln

  • Heiligabend am 23.12.

  • Termine, die die (MA) Bewohner unter Druck setzen

  • Fremde, die jederzeit unangemeldet die Gruppe betreten

  • Perspektivlosigkeit für die Menschen (Beispiel 16 A)

  • Reine Pflegegruppen

  • Große Wohngruppen

  • Einheitsgruppen

  • "erziehen"

  • defizitorientiert arbeiten

  • Defizitorientierung

  • Macht ausüben

  • Dem Bewohner sagen, was gut für ihn ist und was nicht

  • Bedürfnisse der Bewohner/innen unterdrücken

  • "ins Loch fallen"

  • unreflektiertes Handeln

  • Scheuklappen im Alltag (fehlendes Hinterfragen der täglichen Routine)

  • in schwierigen Situationen allein gelassen werden

  • daß über/für Menschen gesprochen wird

  • unreflektiertes Anmaßen von Gut und Böse

  • "festgeschriebene Struktur"

  • symptomorientiert arbeiten

  • Bewohner abfertigen und stehen lassen

  • Mängel in der Infrastruktur

  • Gegeneinander der unterschiedlichen Ebenen

  • hauswirtschaftliche Tätigkeiten starre Fördergruppenzeiten

  • zu wenig und unzureichende Arbeitsplätze für Bewohner/innen

  • Türe abschließen

  • einengen durch Zeitmangel

  • Alleine arbeiten

  • Mangelnde Zusammenarbeit aller Bereiche

  • der Verwaltung unterwerfen

  • zuviel Bürokratie

  • formale Entscheidungen Kassenöffnung nur am Vormittag

  • Geldmangel

  • zeitraubende sinnlose Auseinandersetzungen mit Berufsbetreuern führen

Bestelladresse des Readers:

Prof. Dr. W. Jantzen

Universität Bremen, Fachbereich 12,

Studiengang Behindertenpädagogik

Postfach 330440

D-28334 Bremen

Email: Basaglia@aol.com

Quelle:

Wolfgang Jantzen: Deinstitutionalisierung

Entnommen aus: Wolfgang Jantzen - De-Institutionalisierung. Materialien zur Soziologie der Veränderungsprozesse in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.05.2010

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