Qualitätssicherung in einer Großeinrichtung

Autor:in - Wolfgang Jantzen
Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Entnommen aus: Wolfgang Jantzen - De-Institutionalisierung (http://bidok.uibk.ac.at/library/jantzen-de-institut-index.html). Materialien zur Soziologie der Veränderungsprozesse in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe. (aus W. Jantzen, W. Lanwer-Koppelin und Kristina Schulz: Qualitätssicherung und Deinstitutionalisierung. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Berlin: Ed. Marhold 1999)
Copyright: © Wolfgang Jantzen 1999

Qualitätssicherung in einer Großeinrichtung

"Wenn nämlich die Zielsetzung der Anstalt nicht ausdrücklich die Figur des "Kranken" ist, dann verliert die gesamte Institution jeden Sinn, den sie allerdings zurückgewinnen kann, sobald dem Kranken eine Rolle zuerkannt wird. Unter diesem Gesichtspunkt ist der erste unvermeidliche Schritt die Verkürzung der Distanz, die ihn von allen anderen trennt - eine Verkürzung, die auf ihn als Symbol für die Anerkennung des eigenen Wertes wirken soll"

(BASAGLIA 1974, S. 10)

1. Vorbemerkungen: Zur Situation von Großeinrichtungen

Großeinrichtungen arbeiteten bisher im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips. Seine Wurzeln liegen im Liberalismus und in der katholischen Soziallehre. Einerseits sollen in einer säkularisierten Gesellschaft christliche Überlieferungen gewahrt werden, andererseits wird "ein Vorrang für die Tätigkeit nicht hoheitlicher, nicht staatlicher Organisationen festgelegt" (MÜNDER 1998, S. 3). Allerdings ist das Subsidiaritätsprinzip, umkämpft in den Jahren 1961 bis 1967 und abschließend vom Bundesverfassungsgericht korporatistisch eingeschränkt (BVerfG 1967, 22 180 ff), nie in reiner Form zur Anwendung gekommen. Unter möglichst wirtschaftlicher Verwendung der zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Mittel entstand ein "körperschaftliches Zusammenwirken" öffentlicher und privater Träger. Dieses System sah sich ab Ende der 70er Jahre der Forderung nach "inhaltlicher Subsidiarität" ausgesetzt. In dieser Sicht haben Organisationen den Vorrang, die den betroffenen Bürgern ein hohes Maß an Entscheidungsrechten einräumen, Handlungsspielräume ermöglichen, Eigeninitiative gewährleisten. Insbesondere kleine und flexible Organisationsformen sind es, die in diesem Kontext neben die Großorganisationen treten (vgl. MÜNDER a.a.O.).

Natürlich erreichen die außerhalb der Großeinrichtungen gewonnenen Erfahrungen, insbesondere nach subjektorientiertem Umgang mit BewohnerInnen, auch diese selbst, zerschellen dort jedoch allzu leicht an der lediglich als schwer beeinflußbare Natur der InsassInnen wahrgenommenen institutionellen "Natur" der Großeinrichtungen.

Wie alle anderen Institutionen im Bereich der Eingliederungshilfe sollen sie sich nun "am Markt" bewähren. Dies stellt aber gerade Großeinrichtungen vor eine Reihe von schwerwiegenden Problemen der Umorganisation der inhaltlichen Arbeit und der Neugestaltung des Managements, auf die im einzelnen hier einzugehen aufgrund ihrer Komplexität unmöglich ist. Ich beschränkte mich daher auf m.E. hauptsächliche Probleme.

Unternehmen, die dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet bisher im wesentlichen das System der Großeinrichtungen für Behinderte aufrecht erhalten haben, funktionieren nach anderen Gesichtspunkten als Unternehmen in der freien Wirtschaft. Gegen die marktwirtschaftliche Ökonomie akzentuieren sie das Soziale, meist im Mantel von in Form des brüderlichen Tauschs "verklärten Modellen" der familialen Ökonomie. Sie gehören nicht nur dem ökonomischem Universum an, über das sie in Überlappung mit dem sozialpolitischen und staatsbürokratischen Feld ihre finanziellen Ressourcen rekrutieren. In Form religiöser und weltanschaulicher Prinzipien gehören sie zugleich "anti-ökonomischen Subuniversen" an, funktionieren als Unternehmen also nur, indem sie sich als Unternehmen verneinen. Sofern sie religiöser Art sind - aber nicht nur dann - werden sie im wesentlichen nach Prinzipien geführt, "die der Analyse der vorkapitalistischen Ökonomie zu entnehmen sind" (vgl. BOURDIEU 1998, S. 186 f).

Dies bedeutet jedoch auch, daß die inneren Beziehungen im Prinzip nach einem Modell gebildet sind, das andere Menschen als Brüder behandelt oder zu behandeln vorgibt, aber zugleich die interne Überprüfung dieses Handelns nicht gestattet [1]. Wo Brüderlichkeit Betriebsprinzip ist, schickt es sich nicht, weder von Geld noch von Herrschaft noch von der Weitergabe von Gewalt gegenüber behinderten und psychisch kranken Menschen zu reden, obwohl andererseits insbesondere die Großeinrichtungen für Behinderte - aufgrund des hohen Anteils von gesetzlicher Betreuung (früher Vormundschaft) unterliegenden Menschen - ganz eindeutig ausgestaltender Teil des "besonderen Gewaltverhältnisses" sind (HERZOG 1984, S. 122). Als Teil dieses Gewaltverhältnisses grenzen sie gesellschaftliche Unvernunft aus (und definieren dies meist in Naturnotwendigkeit und Schicksal um)[2]. Im Unterschied zu dieser "Hinterbühne" (GOFFMAN) demonstrieren sie auf der "Vorderbühne" Brüderlichkeit, Dienst am Gemeinwohl und an den ihnen überantworteten Menschen, ein Dienst, der aber bisher am Einzelfall nicht überprüfbar war und überprüft wurde. Denn im seltsamen Gegensatz zur "Eingliederungshilfe", mit der ökonomisch die entsprechenden Ressourcen bereit gestellt wurden, fand meist wenig nachweisbare Eingliederung statt[3].

An Stelle des Einzelnachweises von Eingliederung war die Gewährleistung der Finanzierung an die jährlichen Pflegesatzverhandlungen der Gesamteinrichtung gebunden (etatistisch-korporatistische Finanzierung)[4]. Die Einheitsschlüsselzahlen wurden dann innerhalb der Einrichtung differenziert, wobei "leichter behinderte Menschen die Versorgung der schwerer behinderten Menschen subventionieren" (AWIISZUS-SCHNEIDER und HOLLMANN 1998, S. 17). Verbunden mit der Enthospitalisierung leichter behinderter Menschen erhöht sich in den Einrichtungen der Anteil schwerer behinderter Menschen (GAEDT 1992 spricht von der Gefahr von "Schwerbehindertenzentren"), für die nicht nur diese "Subventionierung" sich zunehmend verschlechterte. Je schwerer die Behinderung, desto seltener eine angemessene Diagnostik und um so häufiger eine den behinderten Menschen unangemessene pädagogische und therapeutische Situation, dies ist die andere Seite einer bis heute nicht hinreichend erfolgten Professionalisierung (vgl. auch THURNBULL 1988). Und um so größer ist auch die Gefahr, daß mit dem Übergang zum Markt eine nicht unbeträchtliche Gruppe sehr schwer behinderter Menschen aus der Eingliederungshilfe hinaus und in die Pflegeversicherung hinein definiert wird. Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, daß "Gruppenmodelle" (vgl. METZLER 1998) Aussagen über Hilfebedarfe von Aussagen über Störungen oder Aktivitäten trennen und entwicklungsbezogen (Gesamtplan gem. BSHG § 46) artikulieren.[5]

Ich behaupte nun keineswegs, daß derartige Strukturen überall und in gleicher Weise in den Großeinrichtungen vorhanden sind, sondern nur, daß sie es sind. Das Problem ist, daß sie es gegenwärtig verhindern, diese "vorkapitalistischen" Unternehmen nun binnen kürzester Zeit so zu modifizieren, daß sie als Unternehmen mit Dienstleistungen entsprechend den bisher vertretenen humanistischen Ansprüchen an den Markt gehen könnten. Folglich ist die Reaktion auf die Modifikationen der §§ 93 ff BSHG auch recht unterschiedlich. Statt in Anbetracht der zunehmenden ökonomischen Bedrohung die eigenen humanen Aufträge präziser und politischer zu bestimmen, sind eine Reihe von Einrichtungen und Verbänden bereits auf dem Wege der vorwegnehmenden Anpassung. Und soweit sie es nicht nach außen hin tun, werden unter der Hand bereits alle entsprechenden Alternativen behandelt, zwar mit einer Billigversorgung, aber immerhin am Markt (!) zu überleben. Daß einzelne Verbände auf Landes- und Bundesebene die Schlacht nicht geschlagen geben, macht Mut. Daß sie auch für einzelne Einrichtungen nichts verloren ist, und durchaus Chancen bestehen unter bestimmten Voraussetzungen sich am Markt mit hochqualifizierten Dienstleistungen zu behaupten, davon handeln die folgenden Ausführungen.

An diesem Wendepunkt, der einerseits zu einer "sozialen Euthanasie" (WOLFENSBERGER 1991) führen wird, insbesondere durch Billigversorgung für schwer und sehr schwer geistig Behinderte bzw. durch eine für die öffentlichen Kassen von Gemeinden und Ländern kostengünstigere Verschiebung in die Pflegeversicherung, steht andererseits die konsequente Artikulation von Qualitätssicherung als Deinstitutionalisierung[6]. Ihr Herz bildet die Annahme, das jeder Mensch entwicklungsfähig ist, und folglich auch und gerade schwere und sehr schwere geistige Behinderung einen Anspruch auf Eingliederungshilfe begründet. Diese Annahme läßt sich heute verknüpfen mit ihr entsprechenden Verfahren der Diagnostik, Pädagogik und Therapie und einer ihnen entsprechenden Qualitätssicherung. Diese ist jedoch nur möglich, wenn sich die innere Organisation der Einrichtungen entsprechend diesen Notwendigkeiten gravierend ändert. Auf dem Erfahrungshintergrund der mehrjährigen Beratung einer Großeinrichtung mit ca. 270 Plätzen und einer überproportionalen Belegung mit schwer und sehr schwer behinderten Menschen, greife ich im folgenden die notwendige Abstimmung interner qualitätssichernder Maßnahmen heraus[7].



[1] Dies paternalistische Modell, in welchem eine Institution beansprucht, die wohlverstandenen Interessen der von ihr "betreuten" Menschen auf bestmögliche Weise zu vertreten, muß geradezu zum Postulieren von "humanitären" Idealen nach außen und zu einer anderen Wirklichkeit nach innen führen, es sei denn, mögliche Gruppen von KritikerInnen sind an der institutionellen Basis so stark korporationsrechtlich eingebunden, daß ein Wandel durch innere Kritik erfolgen kann. Exemplarisch nenne ich die veränderte Haltung der BV Lebenshilfe zu einer Reihe von pädagogischen Fragen aufgrund der starken Mitgliedschaft von Eltern, die eine Auseinandersetzung über Integration behinderter Kinder erzwangen.

[2] Nach außen hin zeigen sich die genannten vorkapitalistischen Verhältnisse auch noch in dem von Diakonie und Caritas nach wie vor zur Geltung gebrachten Tendenzschutz. Hinzu kommt ein in diesem Gebiet immer noch vergleichsweise geringer Professionalisierungsgrad auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Derartige Praxen, die auf die unmittelbare pädagogische und therapeutische Arbeit "am" behinderten Menschen orientieren und häufig Mitbestimmung und Mitgestaltung der MitarbeiterInnen nicht wünschen oder wesentlich erschweren, führen u.a. auch zu einer Entpolitisierung. MitarbeiterInnen sind geradezu gehalten, die Hilfsbedürftigkeit des Einzelnen, nicht aber den sozialen und sozialpolitischen Kontext ihrer Arbeit wahrzunehmen und lernen dies zudem meistens auch nicht in ihrer Ausbildung. Beides zusammen: fehlende Mitbestimmung und fehlende Professionalisierung sind jedoch erhebliche Hindernisse für eine den Marktanforderungen entsprechende "corporate identity".

[3] "Die heilpädagogische Institution kann ihren Auftrag ohne Verpflichtung zur Veränderung der Zustandsbilder erfüllen, mit denen sie sich beschäftigt" (HERZOG 1984, S. 121).

[4] Entsprechend lesen sich die jährlichen "Entwicklungsberichte", die, soweit überhaupt vorhanden, keine finanzierungsrelevanten Nachweise zu führen haben, auch eher als Beschreibungen von - meist wohlmeinend dargestellten - unverstandenen, naturhaften Abläufen in der Entwicklung von BewohnerInnen trotz der Sisyphusarbeit der MitarbeiterInnen.

[5] Die Bestimmungen des § 46 BSHG existierten schon vor der Novellierung der §§ 93 ff, wurden jedoch "in der Praxis in den zurückliegenden Jahren kaum genutzt; soweit Hinweise dazu vorliegen, beschränkte sich der Gesamtplan vielfach - entgegen seiner Intention - auf formale Verwaltungsregularien" (METZLER 1998, S. 14).

[6] Deinstitutionalisierung hat vor allem auch, solange sie noch existieren, in den Großeinrichtungen selbst zu erfolgen (JANTZEN 1997). Die Mißachtung dieser Notwendigkeit führt zur "Enthospitalisierung" von Menschen mit geringeren Störungs- und Auffälligkeitsraten bei gleichzeitiger Ballung von schwer und sehr schwer behinderten Menschen in Großeinrichtungen.

[7] Daß ich mich hierbei auf meine Erfahrungen bei der Diakonischen Behindertenhilfe Lilienthal beziehe (vgl. auch SCHULZ 1997, JANTZEN 1997, JANTZEN und SCHULZ 1998a) bedeutet keineswegs, positive Ansätze anderer Einrichtungen zu schmälern (vgl. z.B. AWIISZUS-SCHNEIDER und HOLLMANN 1998 für den Bereich der Rotenburger Werke bzw. GAEDT 1990, GAEDT u.a. 1993 für die Evangelische Stiftung Neuerkerode).

2. Qualitätssicherung und sozialepidemiologische Instrumentarien

Qualität in Einrichtungen für Behinderte kann sich nur als Deinstitutionalisierung bestimmen. Dies meint: Die Institution ist in Frage zu stellen; die Handlungen von BewohnerInnen sind, prinzipiell aus ihrer Lebensgeschichte begründet, als vernünftig anzusehen; es ist zu konstatieren, daß sie durch diese Lebensgeschichte in Vernunftfallen geraten sind, deren wesentlicher Teil die Institution selbst ist. Behindertenpädagogische Arbeit bedeutet auf diesem Hintergrund: 1) Durch Assistenz dialogische, kommunikative und soziale Isolation abzubauen; 2) soziale Diskriminierung zu verhindern; 3) anzuerkennen, daß Geschichten von Behinderung vorwiegend Geschichten von Gewalt sind und 4) emotionale Absicherung auch dann zu geben, wo üblicherweise Vernunft abgesprochen wird und "Be-Handlung" statt Assistenz beginnt (vgl. meine Ausführungen zu geistiger Behinderung als sozialer Tatbestand).

Qualität kann aber nicht gesichert werden, wenn es keine Instrumentarien gibt, sie zu dokumentieren, und keinen Zwang, sie nachzuweisen.

Unter diesem Aspekt ist die Veränderung der §§ 93 ff des BSHG durchaus zu begrüßen. Wie aber soll Qualität dargestellt und dokumentiert werden? Obwohl es wichtig ist, bisherige Tatbestände der gesellschaftlichen Ausgrenzung auch diagnostisch zu klären, so beinhaltet die Anwendung von ICD-10, aber auch von ICIDH (oder, was z.T. ebenfalls möglich wäre, DSM-IV) noch keinerlei Ansätze, die über die bloße Beschreibung von Tatbeständen hinausführen. Im Gegenteil: Die ICD-Klassifikation suggeriert nach dem "medizinischen Modell" die unmittelbare Zuordnung entsprechender sozialpädagogisch/pflegerischer Einheiten zu dem reduktionistisch beschriebenen "Defekt". Die Anwendung der ICIDH, auch in ihrer neuen Variante der ICIDH-2, ist in gleicher Weise der Gefahr ausgesetzt, lediglich in einer "bottom-up"-Strategie gelesen zu werden: Nicht nur Impairment führt zur Zuordnung von Ressourcen, sondern nun auch Disability und Handicap, wobei letztere jedoch immer noch in Abhängigkeit von dem Impairment gesehen werden. Um den Fallen zu entkommen, die das medizinische Modell aufwirft, muß demgemäß in einem sozialwissenschaftlichen Modell eine "top-down"- Strategie verfolgt werden. Handicap bedeutete ursprünglich im Sport einen Ausgleich für den Schwächeren, indem diesem (z.B. beim Pferderennen oder beim Schachspiel) ein Vorsprung eingeräumt wird. Das Nichteinräumen dieses Vorsprungs, ja die massive Benachteiligung, die jede geschädigte (impaired) Person vom Zeitpunkt der Schädigung an erfährt, sind aus dieser Sicht die entscheidenden Bedingungen, die durch entsprechende Ressourcen überwunden werden sollen. Sollen wir also erneut den alten Gegensatz des medizinischen und des sozialwissenschaftlichen Modells betonen und den "Krieg" (HOLLENWEGER 1998, S. 1) zwischen beiden Betrachtungsweisen fortsetzen? Denn auch die Einführung der ICIDH-2 löst dieses Problem nicht, da sie lediglich - wenn auch hoch komplexes - Beschreibungswissen auf drei verschiedenen Niveaus (biologisch, personbezogen, sozial) bereitstellt (vgl. auch WADE 1996 zu den ungeklärten Wechselbeziehungen der systemisch unterschiedenen Ebenen).

"Vertikale Koaktionen oder Interaktionen sind reziprok. Sie können daher die Organisation sowohl von den niedrigeren zu den höheren (bottom-up) als auch von der höheren zu den niedrigeren Ebenen (top-down) eines sich entwickelnden und verändernden Systems beeinflussen" (HOLLENWEGER a.a.O., S. 6). Dies erinnert bemerkenswert an LEONT'EVs (1979, Kap. 6) Feststellung über die Wechselbeziehung von biotischer, psychischer und sozialer Ebene: Die je niedere Ebene sichert die Existenz der je höheren, ist aber von dieser abhängig. Und zudem verändert sich diese Abhängigkeit in einem spiralförmigen Prozeß der Entwicklung so, daß die je höheren Ebenen in der Individualgeschichte zunehmend den entscheidenden Einfluß übernehmen. Gerade weil die dialogische, kommunikative und soziale Isolation von schwer und sehr schwer geistig behinderten Menschen so lange und massiv stattgefunden hat, ist ihre Entwicklung gegenüber sozialen Veränderungen so resistent: Die sozialen Verhältnisse haben sich tief in die (veränderte) Biologie eingeschrieben und diese weiter verändert.

Gerade weil die Biologie immer die Entwicklung sichert und das Soziale immer Voraussetzung der Entwicklung ist, kann Pathologie weder auf das Soziale noch auf das Biologische reduziert werden. Vielmehr liegt ein System von Entwicklungspfaden in die und in der Pathologie vor. Lediglich seine Oberfläche wird durch sozialepidemiologische Instrumentarien wie ICD-10, ICIDH-2 oder DSM-IV sichtbar.[8] Weitere Rückschlüsse auf Entwicklungsdimensionen sind von hier aus nicht unmittelbar möglich. Zu diesem Zweck muß Pathologie selbst als Entwicklung zum Zwecke der weiteren Existenz begriffen werden. Nicht nur ein empirischer Populationsbezug, so in Form der Diagnosen nach ICD, ICIDH oder DSM-IV ist vonnöten, sondern ein theoretischer: Um welchen Entwicklungspfad[9] handelt es sich, auf dem sich ein Mensch befindet? Welches sind die organischen Benachteiligungen, die ihn in ein anderes Verhältnis zu den Menschen und der Welt gesetzt haben? Welches sind die sozialen Reaktionen in dieser Situation? Und wie ist der Aufbau des Psychischen unter diesen Bedingungen möglich und erfolgt? Erst die Beantwortung dieser Fragen im Einzelfall, also die Subjektivierung des entsprechenden Menschen (dies ist die Aufgabe rehistorisierender Diagnostik; vgl. JANTZEN und LANWER-KOPPELIN 1996, JANTZEN 1997, 1998a), ermöglicht erneut die Objektivierung als "Fall von", diesmal aber von Entwicklung und Entwicklungsmöglichkeiten. Auf dieser Ebene haben wir versucht, das baden-württembergische Gruppenmodell (Fachverbände Behindertenhilfe 1997) zu einem Instrument der rehistorisierenden Qualitätssicherung (RQ-Instrument; JANTZEN und SCHULZ 1998b) umzuwandeln, indem nunmehr auch Charakterisierungen der Pflegestufen 4 und 5 in Termini von möglichen Entwicklungspfaden erfolgen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen:

Bei den Hilfen zur individuellen Lebensgestaltung heißt es dort (Fachverbände Behindertenhilfe 1997)für Stufe 5 u.a.:

"wenn alle dialogisch lebenspraktischen Tätigkeiten stellvertretend ausgeübt werden müssen";

im RQ-Instrument hingegen "wenn alle praktischen Tätigkeiten dialogisch/kooperativ ausgeübt werden müssen".

Auf der darüber liegenden Stufe 4 hält das Fachverbändemodell fest: "wenn nur in intensiver Einzelzuwendung elementarste lebenspraktische Fähigkeiten vermittelt werden können";

wir schreiben: "wenn elementare kooperative und praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten nur durch weitgehende ständige individuelle Verfügbarkeit von Assistenz und emotionaler Absicherung aufbaubar sind".

Die Differenzen sind mehr als semantischer Art:

Wir reden vom Dialog und Kooperation, also von Transaktionen, wo das Fachverbändepapier von "Stellvertretung" (oder etwas später von "intensiven Angeboten") spricht bzw. auf Stufe 4 statt von "Einzelzuwendung" (was schwer überprüfbar ist) von "individueller Verfügbarkeit von Assistenz und emotionaler Absicherung" (vgl. auch die Darstellung von SCHULZ in diesem Band).

Voraussetzung zu dieser Sicht ist eine Qualitätssicherung im Einzelfall. Sie muß sich jedoch im nächsten Schritt in einer Hilfebedarfsgruppierung zum Zweck der Abstimmung von Einzelmaßnahmen und Ressourcenbindung wiederfinden, in welcher durchgängig Entwicklungsräume angegeben werden können. Dies haben wir versucht, mit dem RQ-Instrument zu entwickeln.

Ein Beispiel für diesen Zusammenhang: Die Fachberatung bei Claudia H. einer sehr schwer geistig und mehrfachbehinderten Frau (Rechtshemisphärensyndrom, keine sprachliche oder gestische Artikulation; sie sitzt im Rollstuhl, mit dem linken Arm wird eine Cola-Flasche umklammert, die rechte Hand kneift und knetet diffus alles an belebter Umgebung, was in der Nähe ist) ergibt, daß am Ende der Transaktionen zwischen ihr und mir ein Austausch von rhythmischem Händeklatschen mit ihrer beweglichen Hand möglich ist. Dies wiederum stellt die Basis für elementare soziale Austauschprozesse dar, deren unterste Stufe (Stufe 5 bei Hilfen bei der sozialen Lebensgestaltung) wir mit der noch notwendigen Entwicklung individueller Kommunikationsmittel kennzeichnen. Sobald diese in den ersten Ansätzen vorhanden sind, würde in die nächste Stufe eingetreten.

Auch hierfür ein Beispiel: Ich wiederhole die Schaukelbewegungen des auf dem Flur stehenden Bewohners Karsten B. Nach einiger Zeit stoße ich ihn mit der Schulter an, er stößt zurück und grinst. Das Stoßen und Zurückstoßen mit der Schulter ist als simultane Überlagerung des ursprünglichen dialogisch-kooperativen Austauschs (Schaukeln) bereits zeichenvermittelte Kommunikation (deren symbolischen Charakter er erkennt, wie das Grinsen belegt), wenn auch noch nicht konventionalisiert. Seine beginnende Konventionalisierung (z.B. mit einer Gebärde, einem Bliss-Symbol oder einem Wort wie z.B. "Hallo" oder "Na Du") würde uns in dieser Dimension auf Stufe 3 führen.



[8] Nach CLARK u.a. (1995) widerspiegelt das DSM-IV erstens einen Interessenkompromiß, dessen erstes Ziel klinische Gültigkeit ist, der andere Interessen jedoch hintanstellt. Auch bei der ICD existieren zwei Versionen: eine für Kliniker und eine für Forscher. Und zweitens beschreibt das DSM-IV eine Sammlung von Störungen, nicht aber ein integriertes System der Psychopathologie. Gleiches gilt, so HOLLENWEGER a.a.O. auch für die ICIDH-2: "A classification system does not and cannot describe all the events, dynamics and processes leading to a specific condition documented in such a classification."

[9] Vgl. die entsprechenden Diskussionsbeitäge in den letzten Jahrgängen der Zeitschrift "Development and Psychopathology" sowie als Beschreibung von Entwicklungspfaden im Sinne eines Syndroms meine Arbeiten zu Down-Syndrom und Rett-Syndrom (JANTZEN 1998 b,c)

3. Qualitätssicherung im Einzelfall: Diagnostische und soziale Voraussetzungen

Klassische sozialepidemiologisch-diagnostische Instrumentarien wie ICD-10, ICIDH-2 und DSM-IV behalten in unserer Vorgehensweise ihre Bedeutung. Sie liefern einen Überblick über Problemverteilungen in Großeinrichtungen (aber nicht nur da). Insbesondere die ICIDH gestattet es über eine Reihe von differenzierten Zustandsbeschreibungen (vgl. zu deren Erfassung auch WADE 1993), Meßpunkte für Entwicklung (vorher/nachher) vorzuhalten. Die Entwicklung selbst muß jedoch subjektorientiert und ressourcenorientiert geplant werden. Diesen Prozeß, der zwischen der Statuserfassung und der Einordnung in ein auf Entwicklung angelegtes Gruppenbildungsmodell liegt, soll im folgenden unter verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt werden. Es sind dies im einzelnen: Rehistorisierende Diagnostik, Transaktionen innerhalb und außerhalb des Beratungsgesprächs und ihre gezielte Dokumentation, Entwicklungshemmnisse in der Situation der Wohngruppen (materiell und personell) sowie der begleitenden Dienste. In einem abschließenden Kapitel behandele ich die Probleme des Ausbaus von pädagogischer und therapeutischer Qualität auf der Basis der in diesem Kapitel skizzierten diagnostischen Qualität.

3.1. Rehistorisierende Diagnostik

Bei der rehistorisierenden Diagnostik handelt es sich um ein in den Traditionen von LURIJAs diagnostischem Vorgehen entwickelten Verfahren. Es führt zum Verstehen, ohne auf Erklärung zu verzichten. In Form von LURIJAs (1991) Studie "Der Mann, dessen Welt in Scherben ging" sowie den verschiedenen neurologischen Geschichten von Oliver SACKS (z.B. 1987, 1995) ist es den deutschsprachigen LeserInnen auf dem Gebiet der Behindertenpädagogik unterdessen in der Regel vertraut. Schädigungen des Gehirns werden in dieser Tradition als Einwirkungen auf die Beziehungen zu den Menschen und zur Welt betrachtet. Denn es sind, so LURIJA, die gesellschaftlichen Formen der Tätigkeit, die das Gehirn organisieren und neue funktionelle Systeme hervorbringen. Folglich verändern funktionelle Störungen des Gehirns die äußeren und inneren sozialen Beziehungen. Hirnschädigungen zwingen je nach ihrem Ausmaß und ihrer Genese - in gleicher Weise wie dies Blindheit oder Gehörlosigkeit tun - zu anderen psychischen Konstruktionen, um sich in der bisher vertrauten Welt erneut zurechtfinden zu können. Andererseits ist diese vertraute Welt durch die Hirnschädigung nicht mehr gegeben, sofern sich die Umwelt entsprechend den Dialog-, Kommunikations- Kultur- und Arbeitsbedürfnissen der betroffenen Individuen nicht so modifiziert, wie es ihrer nun veränderten Situation angemessen ist. Impairment ist aus dieser Sicht ein Prozeß der primären Kompensation der Pathologie unter gegebenen sozialen Bedingungen, Disability (Aktivitäten) und Handicap (Partizipation) würden Kompensationsprozesse höherer Ordnung unter den je gegebenen sozialen Bedingungen und Austauschprozessen beschreiben (vgl. JANTZEN 1998d, VYGOTSKIJ 1993).

Während LURIJA und SACKS Geschichten von erwachsenen Menschen berichten, besteht für uns das Problem, uns in dem meisten Fällen auf sehr früh wirkende Syndrome beziehen zu müssen, die unter sehr früh wirkenden sozialen Konstruktionen der Umgebung ihre vektorielle Ausrichtung eher in die "Normalität" oder eher in die "Abweichung" erhalten". Bei Anstaltsgeschichten (aber nicht nur dort) liegt regelhaft eine soziale Entwicklung in die und in der Abweichung vor, die insbesondere als Wirkung struktureller Gewalt begriffen werden kann. Dies beginnt mit der frühen mangelnden Realisierung von Bindung und Sicherheit für später schwer und sehr schwer (geistig) behinderte Säuglinge, setzt sich über ein reduziertes Angebot des Aufbaus konventionalisierter Zeichensysteme für aktive (und passive) Kommunikation fort bei gleichzeitig nur geringer Fähigkeit, Sprache auf oral-auditivem Wege aufzubauen, setzt sich fort über Einschränkungen in zahlreichen Handlungsbereichen, die sozial nicht hinreichend kompensiert werden, und mündet in mehr oder wenige tiefgreifenden Prozessen fehlender Enkulturation, also in Dekulturation. Diese Prozesse verlaufen in der Regel sozial verdeckt, da sie nicht den Austauschbeziehungen mit der sich selbst als normal betrachtenden Umwelt zugeschrieben werden, sondern der defektiven Natur des Kindes. Und diese "Natur" wird in der Regel (in spezifischen Formen der Ideologien eingebettet) mehr oder weniger als schicksalhaft gegeben betrachtet.

Aus diesen Gründen reicht es für unsere Frage nicht aus, über qualifizierte Syndromanalyse (welche Bedeutung hat die Gehirnorganisation unter Bedingungen von Down-Syndrom oder Rett-Syndrom für die Weltwahrnehmung der Kinder?) psychische Konstruktion und neuronale Schädigung zu verbinden. Trotzdem bleibt die Syndromanalyse der erste Schritt eines rehistorisierenden Vorgehens. Denn durch die Zuordnung der vorgefunden Zustände von BewohnerInnen zu einem Syndrom wird uns ein Schlüssel zur Übersetzung von deren Lebensgeschichte als die Geschichte von "meinesgleichen" geliefert. Um diesen Schlüssel jedoch benutzten zu können, müssen wir die Lebensgeschichte von behinderten Menschen als Geschichte struktureller Gewalt lesen können und ideologische Verkürzungen, die diese Geschichte als Entäußerung von Defekten zu lesen versuchen, zurückweisen. Wir sind mit jener doppelten Realität von psychischer Krankheit und Behinderung konfrontiert, auf die Franco BASAGLIA (z.B. 1974. S. 15) mehrfach aufmerksam gemacht hat. Wenn wir uns auf die Realität behinderter Menschen beziehen wollen, so ist dies eine doppelte Realität: Zum einen sind sie Ausgeschlossene, d.h. gesellschaftlich Gebrandmarkte, zum anderen sind sie Menschen mit einer eigentümlichen psychopathologischen Problematik (also auf einem spezifischen Entwicklungspfad), welche es ideologisch und dialektisch zu entschlüsseln gilt. Ideologische Entschlüsselung bedeutet das notwendige Verwerfen von Theorien, die Behinderung auf Schicksal, Natur und Unvernunft reduzieren, dialektische Entschlüsselung jedoch den Weg weiterzugehen, dessen erster Schritt die Syndromanalyse ist.

Was soll nun aber unter der Aussage verstanden werden, daß das Syndrom (als Gewinnung einer "verständigen Abstraktion"; vgl. JANTZEN 1994 in Anlehnung an LURIJA) den Schlüssel zum Verstehen liefert? Nehmen wir die neurologischen Erzählungen von Alexander LURIJA und Oliver SACKS: Die dort erzählen Geschichten erscheinen als Geschichten von unseresgleichen, weil wir die Auswirkung eines Syndroms so zu verstehen beginnen, daß wir uns selbst probeweisen in die Situation des betreffenden Menschen versetzen können Wir müssen demnach eine "theory of mind" des jeweiligen Menschen entwickeln, uns also vorstellen, in der gleichen Situation wie er oder sie zu sein[10]. Hierzu müssen wir die syndromanalytische Zuordnung und Entschlüsselung in den jeweiligen Lebenskontext versetzen.

Noch einmal: über die Sydnromanalyse erfahren wir, daß es sich um eine "Geschichte von" handelt; z.B. von Down-Syndrom, Fragiles-X-Syndrom, perinatale Schädigung mit cerebralparetischen Anteilen (früher Little'sches Syndrom), Epilepsie usw. Durch diese empirische Zuordnung, die im Einzelfall valide und reliabel erfolgen muß (vgl. LURIJA und Artem'eva 1992), wird gleichzeitig ein theoretischer Populationsbezug eröffnet. Was sind die typischen Geschichten unter diesen Entwicklungsbedingungen in der gesamten Bandbreite von Möglichkeiten. Der jeweilige eigene Entwicklungspfad (z.B. wie entwickeln sich Menschen mit Down-Syndrom innerhalb und außerhalb von Einrichtungen, früher und heute, in der Jugend und im Alter usw.) wird damit zur Bezugsgröße einer möglichen vektoriellen Änderung: Denn der Entwicklungsvektor soll sich, bezogen auf den jetzt ausgedrückten Grad der Abweichung, in günstigere Richtung ausrichten (vgl. zur mathematischen Modellierung derartiger Prozesse ZIMPEL 1994).

Mit diesem theoretischen Populationsbezug tauche ich erneut in die konkrete Geschichte ein und rekonstruiere sie als Geschichte, warum eine BewohnerIn so ist wie sie ist. Dies ist unter Anstaltsbedingungen immer und notwendiger Weise eine Geschichte von ideologischer Abwehr der realen Entwicklungsbedürfnisse durch die bisherigen wissenschaftlich-psychiatrischen Diagnosen (vgl. BASAGLIA 1974, HERZOG 1984) ebenso wie durch die Alltagsdiagnosen des Personals (vgl. GOFFMAN 1972, FENGLER und FENGLER 1994) und es ist eine Geschichte von struktureller, oft aber auch von offener Gewalt.

3.2 Transaktionen innerhalb und außerhalb des Beratungsgesprächs

Eine solche Aufdeckung ("Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten") birgt Gefahren in sich: Sie destabilisiert die Beteiligten, denn Gewalttaten verschweigt man besser. "Wer versucht, die Greuel in Worte zu fassen, die er gesehen hat, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Wer über Greueltaten öffentlich spricht, zieht unweigerlich das Stigma auf sich, das dem Opfer immer anhaftet", so die amerikanische Psychiaterin Judith HERMAN (1993, S. 10) in ihrem bemerkenswerten Buch "Die Narben der Gewalt", das die Pathologie und Psychotherapie von traumatischen Erfahrungen behandelt.

Aufdecken von Gewalt führt notwendigerweise zu Gegenübertragungen und damit zu übersteigerter Empathie (Betroffenheit statt Berührung) oder zur Abwehr von Empathie (FARBER 1995). Zumal dann, wenn die beteiligten MitarbeiterInnen als Angestellte einer Einrichtung, welche ein besonderes Gewaltverhältnis realisiert, sich immer auch als selbst als Opfer und Täter gleichzeitig wahrnehmen müssen. Es ist für sie schwer, die nun erreichte Konkretion einer "theory of mind" des anderen zu akzeptieren, und noch schwerer, diese Konkretion nicht wieder zu verlieren, also ihm oder ihr, auch wo wir an unsere Grenzen geführt werden, nicht Devianz, also bösen Willen und Provokation, oder Krankheit im Sinne bloßer Defektivität zu unterstellen. Dieses Verbleiben im Konkreten zu sichern, ist die weitere Aufgabe rehistorisierender Diagnostik zu späteren Zeitpunkten des Qualitätssicherungsprozesses.

Wenn wir jedoch den anderen als alleinigen Bezugspunkt nehmen, so würde eine hinter seinem Rücken stattfindende Diagnostik zugleich das Verhältnis struktureller Gewalt, in das er oder sie wie in ein unsichtbares Spinnennetz eingesponnen sind, fortsetzen. Wir haben uns daher für die Lösung entschieden alle BewohnerInnen an Fachberatungen für sie teilnehmen zu lassen, wie schwer sie auch immer "behindert" seien[11]. Dies geschah (von einer kurzen Anlaufphase abgesehen) bei allen von mir in der genannten Einrichtungen durchgeführten rehistorisierenden Beratungsgespräche (mehr als 100 bei mehr als 80 BewohnerInnen in knapp drei Jahren). Die Bedingung ihrer Teilnahme bestand darin, daß sie während der Fachberatung emotional abgesichert und wo immer möglich mit einbezogen wurden. Dies gelang nahezu immer. Zweimal verließen BewohnerInnen die Fachberatung früher, einmal konnte eine sehr schwer geistig behinderte Bewohnerin (Anenzephalie) nur kurze Zeit an der Fachberatung teilnehmen.

Dieses Setting ermöglichte es den MitarbeiterInnen, nicht nur die Diagnosen mit zu erarbeiten: Ihre Erfahrungen standen jeweils im Mittelpunkt des ersten Teils des zweistündigen und durch Aktenlektüre sorgfältig vorbereiteten Fachgespräches. Sie erfuhren (im zweiten Teil des Gesprächs) in Anwesenheit der jeweiligen Bewohnerin auch eine Übersetzung von deren bisher unverständlichen Verhaltensweisen, sehr häufig durch entsprechende Transaktionen der BewohnerInnen bestätigt. Diese Transaktionen haben wir bisher, soweit möglich, im Protokoll der Fachberatung mit festgehalten. Es ist jedoch sinnvoll, diese Protokollierung aufzuteilen: Auf Gesprächsinhalte einerseits und Transaktionen der BewohnerInnen andererseits. Denn mehrfach stellte sich später heraus, daß die erfolgenden und kompetenten Transaktionen (vgl. die o.a. Beispiele), die dann Voraussetzungen weiterer Verifikation der Diagnose waren, nicht hinreichend festgehalten wurden.

Zusätzlich haben wir begonnen, die Möglichkeiten von Videoaufzeichnungen zu benutzen. Dies geschah in der Regel aufgrund der in der Fachberatung aufgeworfenen Fragen. Die entsprechenden Aufnahmen wurden der jeweils nächsten Fachberatung zugrunde gelegt.

Der große Vorteil solcher Aufzeichnungen beruht u.a. darin, daß Transaktionen zwischen MitarbeiterInnen und BewohnerInnen analysiert werden können. Bisherige Überlegungen der MitarbeiterInnen ebenso wie Resultate der Fachberatung können verifiziert oder falsifiziert werden, Entwicklungsdimensionen sind genauer bestimmbar.

So z.B. bei Clara M.. Sie ist blind, gilt als schwer autoaggressiv und versteckt ihre Hände ständig in dem Overall, den sie trägt. Nur zum Essen kommen die Hände heraus und gehen mit großem Geschick und mit Grazie mit dem Essen um. Sprechen tut sie nicht. Die medizinische Diagnose spricht von perinataler Schädigung und Encephalitis, die Familiengeschichte von schwerer Gewalt. U.a. wird das Kind im Alter von 12 Jahren Zuhause in einem Zimmer, dessen Fenster gegen Fluchtversuche vernagelt sind, angebunden vorgefunden.

Das von der Gruppe erstellte Video verweist (indem Frau M. ihr bei Musik initiiertes, rhythmischen Hin- und Herwerfen im Bett mit weiteren rhythmischen Elementen interpunktierend überlagert) auf musikalische Kompetenz; an einzelnen Passagen auftauchende Lautäußerungen "lalilala", "ja, ja, ja, ja" sprechen für in Ansätzen vorhandene aktive Sprache. Die Fachberatung bestätigt diesen Eindruck. In einer sozial auf Clara M. eingestellten Situation mit Musik, die sie mag, sagt sie plötzlich mit hoher Stimme mehrfach "ich singe". Die Analyse des Videoabschnitts, der sich mit der Eßsituation beschäftigt, zeigt, daß alle Eßutensilien aus ihrer Sicht betrachtet "aus dem Blauen" kommen und in dieses wieder verschwinden. Die Mitarbeiterin agiert zu schnell, Rückmeldungen von Clara M. werden nicht abgewartet. Eine Orientierung, woher etwas kommt und was geschehen wird, erfolgt nahezu nicht. Auf der Basis dieser Analyse ist es möglich, die Eßsituation nach blindenpädagogischen Gesichtspunkten neu zu betrachten. Claras hohe Kompetenz, sie braucht zum Teil nicht einmal die zweite Hand, um zu kontrollieren, wo der Löffel ist, verspricht einen kompetenten Umgang mit der Umgebung, wenn diese systematisch nach den von NIELSEN entwickelten blindenpädagogischen Prinzipien strukturiert wird. Dies solle am ehesten unter Nutzung des "kleinen Raumes möglich sein" (vgl. NIELSEN 1993, 1995). Zusätzlich kann das Video als Fortbildungsmaterial benutzt werden, um MitarbeiterInnen, die sich mit vergleichbaren Problemen auseinanderzusetzen haben, Orientierungsmöglichkeiten zu bieten.

Qualitätssicherung bedeutet auf der Basis der bis hier vorgestellten Überlegungen einen Prozeß mehrfacher Rückkoppelung: Sie beginnt mit einer Bestandsaufnahme, für welche die Einführung einer Dokumentation gemäß ICIDH eine wesentliche Verbesserung darstellen dürfte. In der Regel ist der in den zentralen Akten sowie den Aufzeichungen der Wohngruppen vorhandene, deskriptive Bestand recht dürftig. Eine sozialepidemiologische Dokumentation nach ICIDH sichert für die Gesamteinrichtung zugleich die Wahrnehmung von Problemtatbeständen. Sollte in einem Beratungsgespräch ein Problemtatbestand in den Vordergrund treten (wie z.B. Blindheit und schwere Autoaggression), so kann die Bearbeitung dort im einrichtungsinternen Erfahrungsaustausch zu vergleichbaren Problemen in anderen Gruppen rückgekoppelt werden. Interne Fortbildung bzw. Fortbildung durch Einwerben äußerer Kompetenz kann auf diese Weise problemorientiert statt nach dem Gießkannenprinzip stattfinden. Dies ist jedoch nur möglich, wenn in der Einrichtung zunächst einmal ein relativ hoher Anteil an rehistorisierenden Diagnosen erarbeitet wurde, und ein Problembewußtsein für diese Vorgehensweise besteht. Ein derartiger Prozeß kann zunächst durch Einwerben äußerer Kompetenz in Gang gebracht werden, bedarf aber auf Dauer der internen Absicherung durch entsprechende Dienste.

Wir halten in der beschriebenen Einrichtung gegenwärtig eine Lösung für ideal, wo ein besonderer MitarbeiterInnen-Pool im Rahmen der Stabsfunktionen, in Kooperation mit dem Leistungs- und Qualitätscontrolling, dies gewährleisteten könnte. Die Stellen dieses Pools stehen aus der Abschaffung der ehemaligen Wohnbereichsleitungsebene (fünf Funktionsstellen) zugunsten der Stärkung der Gruppenleitungen zur Verfügung. Auf Dauer könnte gedacht werden, aus diesem Pool nicht nur die Weiterführung der erstmaligen internen, rehistorisierenden Beratungsgespräche für jede BewohnerIn zu sichern, und damit die Einstufung in das Gruppenmodell der rehistorisierenden Qualitätssicherung (RQ-Instrument), sondern auch das notwendige, die Arbeit der Gruppen im Sinne von Weiterqualifizierung begleitende On-the-job-Training zu organisieren. Bei gegenwärtig 24 Wohngruppen und einem anzusetzenden Trainingszeitraum von 4-6 Wochen, um in den Gruppen einen verbesserten Arbeitsstandard zu einem spezifischen Problem abzusichern, würde dies einen Zyklus von ca. 2 Jahren bedeuten, innerhalb dessen jede Gruppe einmal in den Genuß einer derartigen Unterstützungsmaßnahme käme. Spätestens an dieser Stelle ist es notwendig, in Kürze auf Entwicklungshemmnisse einzugehen, die bei der Etablierung eine solchen Prozesses zu überwinden sind.

3.3 Entwicklungshemmnisse im Einrichtungsalltag

Wie überall ist auch in der DBH Lilienthal der Einrichtungsalltag durch fehlende materielle und personelle Ressourcen gekennzeichnet. Sofern man nicht die eigene Arbeit schicksalhaft nur von der Gewährung neuer Stellen abhängig machen will (dies ist vor allem die von Mitarbeitervertretungen eingenommene Position), bleibt nur sparsames Wirtschaften, reibungsfreiere Nutzung der eigenen Ressourcen und permanente interne Weiterbildung. Dies wirft eine Reihe von Problemen eines systemischen Management auf, die ich hier nicht behandele (vgl. SIMON u.a. 1998). Vor allem aber verlangt es, daß Mittel gebündelt und für die pädagogischen Belange der Wohngruppen und der ihnen zuarbeitenden Dienste schnell zur Verfügung stehen (eine Videokamera war schnell zu beschaffen, bis das Material von Lilli NIELSEN für eine angemessene blindenpädagogische Arbeit endlich vorhanden ist, dies nachzuerzählen, heißt in eine unendliche Geschichte einzutreten). Bei knappen materiellen Mitteln müssen jedoch die für die Qualitätssicherung in den Gruppen unabdingbaren Materialausgaben erste Priorität haben. Dies gilt für die Gruppen selbst, dies gilt aber auch für den Sozialdienst und das Controlling, wo die notwendigen Ressourcen an Software für die erforderliche sozialepidemiologische (ICIDH) und qualitätssichernde Dokumentation aufgebaut werden müssen, sowie der Zugriff auf externe Quellen (Fachbibliothek, Fachvideothek, Internet-Anschluß) gesichert sein muß.

Was die personellen Ressourcen betrifft, so sind flexible, einrichtungsinterne Umstrukturierungen nötig, die ein Arbeiten zentraler Dienste (tagesstrukturierende Maßnahmen, Arbeitsbereich, psychotherapeutische Intervention) in möglichst dichter Abstimmung mit den Wohngruppen und z.T. in sie hineinreichend ermöglicht. Soweit wie möglich sollten die WohngruppenmitarbeiterInnen durch die äußeren Dienste unterstützt werden, im Alltag entsprechende Leistungen auch selbst vorzuhalten (z.B. emotionale Absicherung in Notsituationen, Einbezug der BewohnerInnen in im Bereich der Gruppe anfallende Arbeiten, z.T. mit äußerer Unterstützung der Mitarbeiter aus den zentralen Diensten usw.).

Ein besonderes Problem innerhalb von Großeinrichtungen stellen die Gegenübertragungen der MitarbeiterInnen auf allen Ebenen dar. Frei flottierende Zyklen von Empathievergabe und Empathientzug strukturieren immer wieder den Alltag derartiger Einrichtungen (vgl. MICHELS u.a. 1990, S. 59 ff). Gegenübertragungen lassen sich letztlich jedoch effektiv nur dann bearbeiten, wenn nicht mehr Krankheit oder Devianz zugeschrieben werden (vgl. FENGLER und FENGLER 1994), sondern die Entwicklung von BewohnerInnen wahrgenommen werden kann. Über rehistorisierende Diagnostik und rehistorisierende Qualitätssicherung entstehen hierfür äußere Instrumente, die jedoch nur dann ihre Wirksamkeit entwickeln, wenn die Gruppen selbst in Form von Teamarbeit diesen Entwicklungsbezug dauernd wieder aufgreifen können[12]. Unter diesen Bedingungen, so zeigen dies einschlägige Untersuchungen zur Teamarbeit (vgl. z.B. BUSCH und MANNHAUPT 1994), kommen positive Rückkoppelungen ins Spiel. Der bewohnerInnenbezogene Beratungsanteil nimmt zu während der administrative Anteil abnimmt. Zugleich muß ein Gespür für Belastungsgrenzen der Gruppen entwickelt werden und mit flexiblen Organisationsformen im Sinne von deinstitutionalisierenden Maßnahmen hierauf reagiert werden. Eine temporäre Kleingruppe für sehr schwer "verhaltensgestörte" Menschen (vgl. AWIISZUS-SCHNEIDER und HOLLMANN 1998) könnte einer dieser Wege sein, sofern er nicht zu einer Dauerlösung erstarrt. Erst unter solchen Bedingungen einer bewohnerInnenbezogenen Arbeit wird es in größerem Umfange möglich sein, Gegenübertragungen zu bearbeiten. Immerhin zeigen unsere Erfahrungen, daß, einhergehend mit den Fachberatungen und weiteren Kooperationsformen, eine in die Einrichtung verlagerte Vorlesung im fünften fortlaufenden Semester "Gewaltverhältnisse in er Behindertenpädagogik"[13] artikulieren konnte, deren Existenz von den MitarbeiterInnen nun als real akzeptiert werden konnte. Die Richtlinien der Leitung, sowie ein Arbeitspapier der Gruppenleitungen (vgl. JANTZEN 1997), die jeweils die Abschaffung von Gewalt als zentrales Prinzip der Deinstitutionalisierung benennen, zeigt, daß zumindest eine Entwicklung in diese Richtung bereits sehr früh möglich ist.

Ohne hier auch nur entfernt die soziologische Komplexität dieses Unternehmen aufzeigen zu können, abschließend einige Bemerkungen zu zentralen pädagogischen und therapeutischen Fragen auf dem Gebiet der Qualitätssicherung.



[10] Die Einschränkungen autistischer Menschen beim Herausbildung einer "theory of mind" sind heute in differentialpsychologischer Hinsicht eines der wichtigsten Diagnosekriterien bei dieser Störung. Insofern verhalten wir uns gegenüber geistig behinderten Menschen in der Regel "autistisch".

[11] Die Einrichtung nahm aus dem norddeutschen Raum ab 1957 im Vergleich zu anderen Institutionen schwer und sehr schwer geistig behinderte Menschen sehr früh auf (meist als Kleinkinder). Aus einer Untersuchung im Jahre 1992 (MAUTHE) ergeben sich u.a. folgende Kennwerte für die damals um ca. 10% höhere Anzahl von BewohnerInnen: Verhaltensstörungen 93% (autoaggressiv 91%; eine derartige Verhaltensweise: 19%, zwei: 48%, drei und mehr: 24%); aktives Sprachvermögen: nicht oder wenig 87% (nicht: 68,5%, wenig: 19,5%); Sprachverständnis: nicht oder etwas 84% (nicht: 18%, etwas: 66%); Anfallsleiden 65%, blind 14%, rollstuhlbedürftig 10%.

[12] In der schlechtesten Position ist in dieser Hinsicht der bisher noch von den Wohngruppen weitgehend getrennt organisierte "Förderbereich", der durch eben diese Organisation eine Reihe von entwicklungsbezogenen Rückkoppelungen nicht erhalten kann. Als vor langen Jahren eingerichtetes "therapeutisches Zentrum" führt er tagesstrukturierende Maßnahmen außerhalb der Wohngruppen durch, die zu Zeiten der Strukturkrise der Einrichtung Anfang der 90er Jahre nur in völlig unbefriedigendem Umfang den Belangen der Wohngruppen selbst Rechnung trugen.

[13] Dies war möglich aufgrund der räumlichen Nähe der Einrichtung zur Universität Bremen. An den Vorlesungen (zwei Semester "Rehistorisierende Diagnostik", zwei Semester "Schwere Störungen von Sprache und Kommunikation" sowie ein Semester "Gewaltverhältnisse in der Behindertenpädagogik" nahmen MitarbeiterInnen im Rahmen betriebsinterner Fortbildung, StudentInnen der Behindertenpädagogik, sowie auch mehr und mehr einzelne BewohnerInnen teil, die von MitarbeiterInnen regelmäßig mitgebracht wurden, da sonst niemand auf der Gruppe war, oder die selbst zu diesem "sozialen Ereignis" kamen,

4. Pädagogische und therapeutische Herausforderungen

Wie in allen Großeinrichtungen für geistig behinderte Menschen, so findet sich auch in der DBH Lilienthal ein sehr hoher Anteil von Menschen mit "psychiatrischen Auffälligkeiten". Wir sind bisher den Weg gegangen, rehistorisierende Fachberatungen - insbesondere in der ersten Zeit - nach dem "Feuerwehrprinzip" durchzuführen. In einer Reihe von Fällen erreichten wir auf diesem Wege eine Stabilisierung mit einrichtungsinternen Möglichkeiten. In einigen Fällen übernahmen StudentInnen gegen Ende ihres Studiums oder nach abgelegtem Diplom in Behindertenpädagogik auf Honorarbasis eine Einzelassistenz für die entsprechenden BewohnerInnen in Form von mehreren Stunden wöchentlich (vgl. MEYER 1997). Zum Teil war diese Arbeit unmittelbar verknüpft mit dem zweiten großen Problemschwerpunkt: dem hohen Anteil von BewohnerInnen, die über keine oder sehr reduzierte expressive Sprachfähigkeiten verfügen und meist nur über ein deutlich reduziertes Sprachverständnis. Die hier gewonnenen Erfahrungen beginnen wir gegenwärtig systematisch auszuwerten, um sie in die einrichtungsinterne Fortbildung zurückzuführen. Insbesondere könnten hieraus Anregungen für die Verbesserung der Kooperation zwischen dem bisherigen Förderbereich, den Wohngruppen und den für Qualitätssicherung freigesetzten Stabsstellen gewonnen werden. Denn dort muß später, bei Rückzug der äußeren Unterstützung, das entsprechende Know-how liegen.

Stellvertretend für die Art unserer Arbeit in diesem Bereich sei zum Abschluß eine kleine Geschichte erzählt. In ihrem Bericht "Frau S. lernt lesen" berichtet Heike SCHULTE-SASSE auf der ersten Bremer BLISS-Tagung (BECKER u.a. 1991) über eine durch Tetraparese schwer körperbehinderte, nichtsprechende Frau, mit der sie in einer Reihe von Jahren eine hohe aktive Kommunikationskompetenz für BLISS aufgebaut hat. Eine andere Studentin der Behindertenpädagogik führt seit längerer Zeit die wöchentliche Arbeit mit Frau S. fort, die unterdessen über 500 BLISS-Symbole nutzt. Über Honorarvertrag (Frau S. verdient in ihrem Leben erstmalig Geld) wurden beide Frauen zur Unterstützung eines nichtsprechenden Bewohners eingestellt.

Peter R. (Down-Syndrom, keine aktive Sprache, reduziertes Sprachverständis besucht eine WfB in der Nähe, hat dort aber auch in der Wohngruppe immer wieder Probleme, weil er relativ schnell von einem guten in einen aggressiven Verhaltenszustand kippt) ist einer der beiden Bewohner, die vorzeitig eine Fachberatung verlassen haben. Sein Hauptproblem ist unserer Ansicht nach seine fehlende Möglichkeit, auszudrücken, was er möchte. Da er - wie die meisten Menschen mit Down-Syndrom - zur Mißerfolgsmotivation neigt, muß die Einführung der von uns als sinnvoll betrachteten BLISS-Methode so erfolgen, daß Peter R. in jedem Fall den Eindruck gewinnt, daß es dies lernen kann und dies von Nutzen von ihm ist.Eine schwer körperbehinderte Frau als Lehrerin setzt diese Schwelle sehr deutlich herab. Nach ca. zehn Terminen ist er unterdessen höchst interessiert und wartet bereits auf die beiden Frauen vor Anfang des Unterrichts. Er kann unterdessen sieben BLISS-Symbole selbst benutzen und hütet eifersüchtig seine kleine BLISS-Mappe mit diesen und einigen weiteren Symbolen, die er gerade lernt. Wir haben uns nun entschieden, da er diese Mappe in seinem Zimmer versteckt und nicht in die Gruppe oder Werkstatt mitnimmt, den dortigen MitarbeiterInnen jeweils entsprechende Mappen zur Verfügung zu stellen und sie fortzuführen, damit dort mit ihm bezogen auf seine Ausdrucksmöglichkeiten aktiv kommuniziert wird.

Da die Nutzung eines alternativen Kommunikationssystems in jedem Falle auch zum Abbau von Verhaltensstörungen führt (vgl. ADAM 1993), stellt sich spätestens hier die Frage, warum Großeinrichtungen im Rahmen ihrer qualitätssichernden Maßnahmen hier nicht in Zukunft besondere Akzente zu setzen hätten.

Dialogische, kommunikative und kulturelle Isolation, dies ist das Grundproblem der geistigen Behinderung. Qualitätssicherung würde demnach auch für geistig behinderte Menschen zu jener Perspektive führen, mit der VYGOTSKIJs berühmter Vortrag auf dem defektologischen Kongreß 1924 in Moskau (vgl. YAROSHEVSKY 1989, S. 96 ff) bezogen auf die Blinden endet:

"Die soziale Erziehung wird über die Defektivität siegen. Dann wird man uns wahrscheinlich nicht verstehen, wenn wir von einem blinden Kind sagen, daß es defektiv ist, sondern von einem blinden Kind wird man als von einem blinden Kind, von einem gehörlosen Kind als einem gehörlosen Kind sprechen und nichts weiter. Enger heran an die Sehenden. Tiefer ins Leben. Umfassende Kommunikation mit der Welt, die nicht auf dem passiven Studieren, sondern auf der aktiven und handelnden Teilnahme am Leben beruht. Umfassende gesellschaftspolitische Erziehung, die den Blinden aus dem engen Kreis herausführt, den ihm sein Defekt läßt ... das sind die bedeutenden Hebel der Sozialerziehung, mit deren Hilfe es möglich sein wird, gewaltige erzieherische Kräfte frei zu machen und wirksam werden zu lassen" (VYGOTSKIJ 1975, S. 72).

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Bestelladresse des Readers:

Prof. Dr. W. Jantzen

Universität Bremen, Fachbereich 12,

Studiengang Behindertenpädagogik

Postfach 330440

D-28334 Bremen

Email: Basaglia@aol.com

Quelle:

Wolfgang Jantzen, Kristina Schulz: Veränderungen durch Theoriebildung

Entnommen aus: Wolfgang Jantzen - De-Institutionalisierung (http://bidok.uibk.ac.at/library/jantzen-de-institut-index.html). Materialien zur Soziologie der Veränderungsprozesse in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 19.05.2010

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