Statistische Rechenspiele im gemeinsamen Unterricht

Autor:in - Monika Haider
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschien in: schulheft 94/1999; Behinderung - Integration in der Schule: Positionen, Praxis, Zukunft
Copyright: © schulheft 1999

Erfahrung Nr. 1 und Interpretation Nr. 1

Die jahrelangen Erfahrungen von SchulpsychologInnen z.B. belegen, daß rund 10 % aller SchülerInnen "erhöhten Förderbedarf" besitzen. Sie benötigen über einen anschaulichen, handlungsorientierten Unterricht hinaus eine Stütze, eine Begleitung in ihrem persönlichen Lernprozeß. Das Ministerium handelt nicht mit diesen Zahlen, sondern rechnet mit einem Schlüssel von 2,7% aller Kinder mit spF. Sonderpädagogischer Förderbedarf bedeutet dann, daß eine Behinderung psychischer und physischer Art vorliegen muß. Von dieser Grundhaltung ausgehend müssen Kinder eingestuft, Ressourcen verteilt werden. Die Kluft zwischen der Einschätzung der SchulpsychologInnen und dem Berechnungsschlüssel des Unterrrichtsministeriums läßt sich nicht zur Gänze mit dem zusätzlich vom System her zur Verfügung gestellten Stützen, wie Begleit- und BeratungslehrerInnen, beheben. Das läßt den Schluß zu, daß eine nicht verschwindend große Anzahl von Kindern nicht zu der Förderung kommt, die sie benötigt.

Zu Erfahrung Nummer 1 die Interpretation Nr. 2

Die Erfahrungen der SchulpsychologInnen decken sich nahezu mit den Erkenntnissen aus der Vorschulerziehung. Rund 20.000 Kinder mit Behinderungen besuchen in Österreich einen Kindergarten, das sind 9,4% aller Kindergartenkinder. Wenn mit Schulbeginn nur mehr 2,7% aller schulpflichtigen Kinder vom Ministerium her eine Behinderung, also sonderpädagogischen Förderbedarf haben, erzielt der Kindergarten offensichtlich präventive Wirkung. Das ist wirklich erfreulich. Bleibt nur die Frage, wohin jene Kinder einzustufen sind, deren "Behinderung" erst im Laufe ihrer Schullaufbahn ersichtlich wird. Darunter fallen eine große Anzahl von Lern-, Wahrnehmungs- und Entwicklungsstörungen.

Zu Erfahrung Nummer 1 die Interpretation Nr. 3

Mit der Verabschiedung der Gesetze für den gemeinsamen Unterricht in der Volksschule (1993) wurde eine Begriffsveränderung vorgenommen. An die Stelle von "Sonderschulbedürftigkeit" trat der "Sonderpädagogische Förderbedarf (spF)". Während das Ministerium weiterhin vom Schlüssel 2,7 % aller SchülerInnen nun mit spF ausgeht, sehen LehrerInnen in der Praxis über die Neudefiniton endlich einen Weg, Ressourcen für jene Kinder zu ordern, die bisher unter dem Rost fielen. Möglicherweise sind das jene Kinder, die die Spanne zwischen Ministeriumsschlüssel und jenem der SchulpsychologInnen ausmachen. Tatsache ist, daß mit Einführung der Integrationsgesetze die Anzahl der Kinder mit spF enorm gestiegen ist.

Bei genauem Abwiegen läßt sich jeder dieser Überlegungen etwas abgewinnen, und das Ministerium hat seit der Gesetzgebung 1993 mit einem explosionsartigen Anstieg an Kindern mit spF zu kämpfen.

Wenden wir uns daher objektiveren Bereichen zu, wo Zahlen eine Hilfe sind und eingesetzt werden können, z.B. wenn es um Bestandsaufnahmen geht, u.a. wie viele Kinder mit spF österreichweit Integrationsklassen besuchen. Senkt sich die Anzahl der Kinder mit Behinderungen in Sonderschulen? Verringert sich daher die Anzahl der Sonderschulklassen? So können Schülerströme erkannt und Rückschlüsse auf die Gesetzgebung gezogen werden.

Das war lange Zeit für den gemeinsamen Unterricht nicht leicht möglich. Denn die Zahl der Kinder mit spF in "normalen Schulen" war bis vor zwei Jahren kein Abfragekriterium für die österreichische Schulstatistik. Mit dieser Erweiterung an Kriterien ist der mühsame Weg, Zahlen von SchülerInnen aus Integrationsklassen zu erlangen, erleichtert. Wahrlich schweißtreibend gestaltet sich nämlich die Arbeit, den jeweiligen Behörden Zahlenmaterial herauszulocken. Sind dann endlich die Informationen zusammengetragen, ist festzustellen, daß unterschiedliche Behörden mit unterschiedlichen Zahlen hantierten. So gibt es mehrere Ergebnisse aus ein und demselben Bundesland, je nachdem ob die Daten aus dem Ministerium, der Landes-, Bezirksschul- oder Schulbehörde vorort angefordert werden.

Die Realisation von Integration in den Bundesländern in Zahlen ausgedrückt

Ein Versuch, trotz der derzeit noch unterschiedlichen Quellen einen Verlauf sichtbar zu machen. Die unterschiedlichen Quellen sind noch notwendig, da 1996/97 keine diesbezüglichen Daten in der Schulstatistik erhoben wurden und für 1998/99 die österreichische Schulstatistik erst ausgewertet werden muß.

(Quelle Weissbuch Integration, Integration : Österreich)

SchülerInnen mit spF in Sonderschulen und in Regelschulen im Schuljahr 1997/98

(Quelle: österreichische Schulstatistik)

 

Bgld.

Kärnt.

NdÖst.

ObÖst.

Slzbg.

Stmk.

Tirol

Vbg.

Wien

Österr.

ReSch.

58,13

26,23

15,59

30,09

24,72

44,16

15,50

20,84

20,59

25,45

SoSch.

41,87

73,77

84,41

69,91

75,28

55,83

84,50

79,16

79,41

74,55

SchülerInnen mit spF in Sonderschulen und in Regelschulen im Schuljahr 1998/99

 

Bgld.

Kärnt.

NdÖst.

ObÖst.

Slzbg.

Stmk.

Tirol

Vbg.

Wien

Österr.

ReSch.

66,89

47,08

27,48

54,95

34,1

65,79

39,85

21,28

35,22

42,25

SoSch.

33,11

52,92

72,52

45,05

65,9

33,2

60,15

78,72

64,78

57,7

Schon auf den ersten Blick läßt sich der Trend hin zu einem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern erkennen. Wir nähern uns der 50% Grenze. Wahrscheinlich sind bereits im nächsten Schuljahr die Hälfte aller Kinder mit spF in Integrationsklassen anzutreffen.

Die divergierende Größe an IntegrationsschülerInnen kann mit den unterschiedlichen Bemühungen der Landesregierungen und jeweiligen initiierten Landesgesetzen in Verbindung gebracht werden. Dabei spielen auch lokale Bedingungen und Interessensgruppen eine Rolle, und dementsprechend unterschiedlich ist das Ausmaß schulischer Integration in den einzelnen Bundesländern. Es lassen sich drei Gruppen unterscheiden: Mit 66,89% hat das Burgenland die meisten Kinder integriert. Das beruht möglicherweise auf einem unterentwickelten Sonderschulsystem. Schließlich begann in Burgenland aus diesem Grund die Integrationsentwicklung, vor allem Eltern wehrten sich gegen die langen Schulanfahrtswege für ihre behinderten Kinder, die oft mit einer Internatsunterbringung in benachbarten Bundesländern einhergehen mußte. Mit 65,79% liegt die Steiermark an zweiter Stelle. Das läßt sich auf die schulpolitischen Weichenstellung durch den früheren Präsidenten des Landesschulrates Schilcher zurückführen, sowie auf der gegenwärtigen Entwicklungsarbeit der Landesschulinspektorin Petritsch. Die Steiermark kann als das einzige Bundesland bezeichnet werden, das eine Landesschulinspektorin mit eindeutigem Einsatz für die Integration zu verzeichnen hat. In den übrigen Bundesländern teilt die Schulaufsicht wohl paritätisch ihren Einsatz für die Integrations- und Sonderschulentwicklung. Das Mittelfeld bilden Oberösterreich (54,95%) und Kärnten (47,08%). In Oberösterreich wird der Weg zum gemeinsamen Unterricht stringent aufgebaut, während Kärnten vom ehemaligen Schlußlicht aufgestiegen ist.

Unter dem österreichischen Durchschnitt liegen Wien (39,85%), Niederösterreich (27,48%), Salzburg (34,1%), Tirol (39,85%) und Vorarlberg (21,28%). Auffallend ist die Steigerung an IntegrationsschülerInnen vom letzten zum diesjährigen Schuljahr aus Tirol zu verzeichnen. Möglicherweise ist sie dadurch erklärbar, daß als Grundlage der letzten Erhebung die Meldungen der LandesschulinspektorInnen genommen wurden?

Nicht aus den Daten auszumachen ist die Qualität der Pädagogik in den Integrationsklassen. Wird wirklich integrativer und somit kindgerechter Unterricht geboten, wenn behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden? Die Anzahl an Telefonanrufen verzweifelter Eltern in der Beratungsstelle von Integration:Österreich läßt uns das bezweifeln. Gerade im Sekundarbreich werden vielerorts Leistungsgruppen aufrecht erhalten, Kinder mit spF in einer eigenen "vierten" Leistungsgruppe zusammengefaßt. Es kommt vor, daß in jedem Gegenstand eine andere PädagogIn für Kinder mit Behinderungen die sonderpädagogische Förderung "wahrnimmt". Und - und - und,... Übrigens: der gemeinsame Unterricht in der Sekundarstufe I findet fast ausschließlich an Hauptschulen statt. In nur 9 AHS österreichweit sind Integrationsklassen eingerichtet.

Diesen Zahlen ebenfalls nicht zu entnehmen ist ein der alarmierende Trend der Schülerstromverteilung 1996 zwischen Volksschule, allgemeiner Sonderschule und den zahlreichen Spartensonderschulen. Während, auf ganz Österreich bezogen, die Zahl der Kinder an den Allgemeinen Sonderschulen rückläufig ist, hat sie in den diversen Spartensonderschulen und insbesondere an der "Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder", also der Sonderschule für Kinder mit geistiger Behinderung, zugenommen, und zwar weit über das Ausmaß des allgemeinen Schülerwachstums hinaus.

Diese Schülerstromanalyse legt den Schluß nahe, daß die allgemeine Sonderschule Kinder an die Volksschulen abgibt. Aufgrund der wachsenden Zahl von Kindern mit spF an den Volksschulen und deren Behinderungen ist auch der Schluß zulässig, daß die Spartensonderschulen Kinder an die Volksschule abgeben.

Gleichzeitig aber dürften sie sich als Ersatz für verlorene Schüler Kinder von den Allgemeinen Sonderschulen holen, daher deren klarer Schülerschwund, und das relativ "erfolgreich", so daß die Spezial-Sonderschulen in Summe wachsen, was natürlich den gesetzlichen Intentionen diametral entgegensteht (Quelle : Wahrnehmungsbericht der Lebenshilfe Wien, 1996)

Wir haben bisher keine Daten gefunden, die diese Interpretation widerlegen. Nach wie vor sind mehr Kinder mit spF in Schulen zu finden als vor der Integrationsgesetzgebung, die Anzahl der Spartensonderschulen ist gestiegen. Trotz des SchülerInnenschwunds an der Allgemeinen Sonderschule wissen wir nur von drei Sonderschulen ohne SchülerInnen.

Daraus läßt sich entnehmen, daß das System Schule (noch) Wege weiß, Integration und Sonderschule nebeneinander bestehen zu lassen.

[Ergänzung bidok: "Laut dem STANDARD vom 26.8.1999 ist zu entnehmen, daß die Zahl der SonderschülerInnen gegenüber dem Schuljahr 1998/99 um 5,2 % Prozent auf 14.317 sinken wird. Damit wird der Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die Sonderschulen besuchen, österreichweit vermutlich unter 60 % sinken, der Anteil der SonderschülerInnen beträgt nur mehr 1,2 aller SchülerInnen (zu Beginn der 80er Jahre waren es noch 3 %)." Zitiert nach V. Schönwiese in "Wo steht aktuell die Integrative Pädagogik in Österreich?" schulheft 94/1999]

Ein Ausblick in Zahlen nach der Schule

In Österreich ist in der Altersgruppe der 15-24-jährigen fast jede sechste Person körperlich beeinträchtigt. Ein Drittel der 345.000 ständig behinderten Menschen ist jünger als 60 Jahre. Von den 4,7 Mio. ÖsterreicherInnen im erwerbsfähigen Alter sind 17% körperlich beeinträchtigt. Die Zahl der geistig behinderten ÖsterreicherInnen kann in Anlehnung an internationale Berechnungen auf rund 47.000 geschätzt werden.

In den letzte zehn Jahren ist auch in Österreich eine Zunahme der Behindertenarbeitslosigkeit zu verzeichnen. Betrug der Zugang von vorgemerkten behinderten Menschen im Arbeitsmarktservice 1993 58.644 Personen, stieg der Zugang von psychisch, physisch, geistig und sinnesbehinderten Personen im Jahr 1996 bereits auf 76.309 an. Diese Entwicklung ist charakterisiert durch eine Verschlechterung der Arbeitsmarktchancen von behinderten Arbeitslosen vor allem in der Gruppe der 15 bis 24-jährigen. Darüber hinaus nimmt die Zahl von langzeitarbeitslosen behinderten Menschen zu. (Quelle: Bundessozialamt)

Wer heutzutage einen Arbeitsplatz finden möchte, muß gute Qualifikationen vorlegen können. Eine Qualifikation reicht selten aus, um im Berufsleben bestehen zu können. Jeder muß bereit sein sich weiterzubilden. Jugendliche mit spF haben derzeit nur die Möglichkeit, höchstens 2 Jahre über die allgemeine Schulpflicht die Sonderschule zu besuchen oder nach 9 Pflichtjahren die Integrationsklasse zu verlassen. Bis zur 8. Schulstufe gibt es die Integrationsgesetze, das 9. Schuljahr ist nur dann möglich, wenn der Jugendliche das Glück hat, eine integrative Polytechnische Schule im Schulversuch gefunden zu haben. Diese jungen Männer und Frauen erhalten über die neun Schulstufen hinaus keine schulische Qualifikation und bringen zu wenig Voraussetzungen mit, um in der Arbeitswelt bestehen zu können. ....Aber die Bundesregierung bemüht sich ja ... denken wir an den Nationalen Aktionsplan für Beschäftigung Österreich.

Statistik hin, Statistik her. Aus den Zahlen lassen sich zumindest Trends ableiten. Der Trend zum gemeinsamen Unterricht ist unübersehbar. Daß nach der Pflichtschule erst integrative Lebensbereiche aufbereitet werden müssen, auch.

Literatur:

* 2 Jahre gemeinsamer Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder - Wahrnehmungsbericht an den Nationalrat, Aktion Menschenrechte für Staatsbürger mit geistiger Behinderung, 1996

* Meldungen der LandesschulinspektorInnen für Sonderpädagogik, BMUkA, 1998

* "Miteinander für alle" - Integration im Kindergarten und in anderen Kinderbetreuungseinrichtungen, 1999, Integration : Österreich,

* Österreichische Schulstatistik, BMUkA und Österreichisches Statistische Zentralamt, 1997/98

* "Weissbuch Integration", Erziehung heute Heft 3, 1998, betrifft : integration, Sondernummer 3b, 1998

Über die Autorin

HAIDER Monika, Mag., Sozialpädagogin, 9 Jahre Tätigkeit am Bundesinstitut für Gehörlosenbildung, Studium der Pädagogik/Sonder- und Heilpädagogik, seit 1992 hauptberuflich in der "Integrationsbewegung" tätig, 6 Jahre lang Lehrtätigkeit am Institut für Sozialpädagogik, Lehrauftrag an der Universität Innsbruck

Weitere Texte aus dem Schulheft finden Sie hier:

Petra Flieger: Editorial zum Schulheft (Stand: 18.04.2005, Link aktualisiert durch bidok) (im Verzeichnis: Rezensionen)

Gabriele Lener: Schulische Integration und Reproduktion sozialer Ungleichheit (Stand: 18.04.2005, Link aktualisiert durch bidok)

Erich Ribolits, Michael Sertl, Gabriele Lener: Postmoderne Hoffnungen auf eine Wende (Stand: 18.04.2005, Link aktualisiert durch bidok) im Bildungssystem? - Ein Streitgespräch

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Quelle:

Monika Haider: Statistische Rechenspiele im gemeinsamen Unterricht

Erschienen in: schulheft 94/1999; Behinderung - Integration in der Schule: Positionen, Praxis, Zukunft; AutorIn/Hrsg.: Petra Flieger, Gabriele Lener, Elisabeth Leskovat, Maria Jäger, Johannes Zuber;ISBN 3-901655-14-X

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.04.2005

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