Schulische Integration und Reproduktion sozialer Ungleichheit

Autor:in - Gabriele Lener
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: schulheft 94/1999; Behinderung - Integration in der Schule: Positionen, Praxis, Zukunft
Copyright: © schulheft 1999

1. Der Habitus als Garant der Reproduktion sozialer Ungleichheit

Reproduktion sozialer Ungleichheit geschieht nicht nur über äußeren Zwang - das würde ihr die Legitimität abgraben und sie anfällig für Veränderung machen. Sie hat subtile Wirkungsweisen, die in die Subjekte selbst eingeschrieben sind - die Reproduktion der Strukturen vollzieht sich durch die Erzeugung angepasster Praktiken. Es bilden sich Habitusformen in Abhängigkeit von der sozialen Stellung heraus und die Ordnung kann somit ohne äußeren physischen Zwang allein durch Selbstdisziplin und Selbstzensur aufrechterhalten werden. Die soziale Stellung des Individuums ergibt sich aus seinem Anteil am ökonomischen, symbolischen, kulturellen und sozialen Kapital, wobei "zwar jedes Feld über seine eigene Logik und interne Hierarchie verfügt, die Rangfolge zwischen den verschiedenen Kapitalsorten wie auch die statistischen Beziehungen zwischen den Aktiva sich jedoch als tendenzielle Dominanz des ökonomischen Feldes auswirken".[1] Innerhalb ihrer sozialen Stellungen entwickeln Individuen Praxisformen und Vorstellungen, einen "Sinn für die eigene soziale Stellung als Gespür dafür, was man sich erlauben darf und was nicht, (das) schließt ein das stillschweigende Akzeptieren der Stellung, einen Sinn für Grenzen, (...) für Distanz, für Nähe und Ferne, die es zu signalisieren, selber wie von seiten der anderen einzuhalten und zu respektieren gilt".[2] Der Habitus disponiert Praktiken so, dass AkteurInnen in ihren sozialen Stellungen verharren, indem sie wissen und wollen, was sie sollen/was ihnen zusteht. Dies geht aber nicht (immer) reibungslos, vielmehr ist jedes Feld auch "Schauplatz (...) eines mehr oder minder offen deklarierten Kampfes um die Definition der legitimen Gliederungsprinzipien des Feldes".[3]

Erlernt wird der primäre Habitus im Herkunftsmilieu, massenwirksam verfestigt oder modifiziert als sekundärer Habitus in der Schule. Damit reproduziert die Schule Klassenverhältnisse, wobei sie aber ihre eigenen Bedingungen hinter dem Mantel der Neutralität verbirgt. Auch im polit-ökonomischen Ansatz geht man davon aus, dass die vom Staat veranstaltete Schule "die Massenloyalität zur bestehenden politischen und ökonomischen Ordnung unter Verdeckung der gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte zu schaffen und zu bekräftigen"[4] hat. Schule bindet die Aneignung des kulturellen Erbes an Fähigkeiten, die mit den Habitusformen klassenmäßig unterschiedlich verteilt sind. Durch die klassenmäßige Verteilung kulturellen Kapitals besitzen nicht alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen den für die Entschlüsselung symbolischer Güter notwendigen Code, was dazu führt, dass "das Erbe der akkumulierten und von früheren Generationen hinterlassenen Güter real (wiewohl formal allen dargeboten) nur denen gehört, welche die Mittel besitzen, es sich anzueignen".[5] Schule orientiert sich dabei an der Mittelschicht und ihren Habitusformen. Gelernt werden im Zuge der Aneignung eines Habitus nicht nur die Codes zur Aufschlüsselung/Aneignung kulturellen Erbes, sondern ebenso "die negativen Positionen gegenüber der Schule, die zur Selbsteleminierung der meisten Kinder der kulturell unterprivilegierten Klassen oder Klassenfraktionen führen - z.B. die Selbstunterschätzung, die Entwertung der Schule und ihrer Sanktionen oder das sich Abfinden mit dem Scheitern und dem Ausschluss - als Antizipation der Sanktionen (...), welche die Schule objektiv den Klassen oder Klassenfraktionen vorbehält, die kein kulturelles Kapital haben, - eine Antizipation, die auf der unbewussten Einschätzung der objektiven Erfolgsaussichten gründet".[6] So betrachtet ist eine sich-selbst-erfüllende Prophezeiung kein psychologisches Problem, sondern ein sozial entstandenes Wissen um die eigene Stellung und die damit verbundenen Möglichkeiten.



[1] Bourdieu, 1985, S.11

[2] Bourdieu, 1985, S.18

[3] Bourdieu, 1985, S.27

[4] Preuss-Lausitz, 1981, S.57

[5] Bourdieu, 1973, S.96

[6] Bourdieu, 1973, S.106

2. Soziale Stellung lernbehinderter SchülerInnen als Grundlage für die Herausbildung eines SchulerversagerInnenhabitus

Das Hauptaugenmerk werde ich im Folgenden auf sog. lernbehinderte Menschen richten, da sie nicht nur die größte SonderschülerInnengruppe darstellen, sondern hier auch die Argumentation am eindeutigsten ist.

Neuere Unteruchungen zeigen einen kaum veränderten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen.[7] Dies wird besonders deutlich, verwendet man nicht alte Schichtmodelle, sondern Modelle sozialer Räume bzw. Milieus. Armut und Sonderschulbesuch weisen einen hohen Zusammenhang auf. Die Herkunftsfamilien sind in Randschichten der ArbeiterInnenklasse angesiedelt. "In die Hilfsschule kommen nicht einfach nur Unterschicht- oder Arbeiterkinder. Vielmehr ist jene Bandbreite der Arbeiterklasse vertreten, die von der aktiven Armee bis zur Reservearmee einschließlich der pauperisierten und lumpenproletarischen Gruppen geht. Dies gilt von der Herkunft der Hilfsschüler und in noch stärkerem Maß in Hinblick auf ihre eigene Zukunftsperspektive".[8] Die Eltern lernbehinderter SchülerInnen befinden sich zumeist in niedrigen beruflichen Stellungen. Je restriktiver die Arbeitsbedingungen der Eltern, um so zurückhaltender erziehen sie ihre Kinder, was sich wiederum negativ auf deren Schulerfolg auswirkt. Sie verfügen nur über beengten Wohnraum, geringe Schulbildung, sind sehr kinderreich, etc..[9] Aus dem Zusammenwirken dieser Umstände ergibt sich ein familiäres Milieu der SonderschülerInnen, in dem Erziehung arm an Anreizen ist. Es ist eine Lebenswelt, die überwiegend aus Ereignislosigkeit besteht. Diese wird ertragen und hingenommen, sie erscheint als Teil einer nicht hinterfragbaren Ordnung. Durch das Gefühl des Ausgeliefertseins an das Schicksal entsteht Perspektivlosigkeit. Das Gefühl der Unveränderbarkeit drückt sich bei den von Hofmann[10] interviewten Müttern sogar darin aus, dass sie leiser, monotoner und langsamer sprechen als RegelschülerInnenmütter. Erinnerungen an Marienthal werden wach. Ansätze zur Veränderbarkeit werden von vornherein dadurch unterbunden, dass Gefühle und Gedanken gar nicht erst artikuliert werden, und wenn, dann nur in sehr allgemeinen Phrasen. Durch die starke Einschränkung desAktionsradius von SonderschülerInnen, versuchen diese in der Folge selbst, Aktivitäten zu umgehen. "Die psychischen Verfassungen der untersuchten Schüler weisen eine (...) Unfähigkeit zu entwicklungsfördernder Auseinandersetzung auf. Auf diesem Hintergrund zeigt Lernbehinderung sich nicht als ein - durch welche Faktoren auch immer - unabänderlich festgeschriebener Defekt oder konstitutioneller Mangel und auch nicht als bloßes andersartiges Verhalten, sondern als ein je aktuelles Produkt eines Prozesses permanent misslingender Daseinsbewältigung, die u.a. eben auch zur Folge hat, dass eine angemessene Auseinandersetzung mit Lernsachen nicht gelingen konnte und nicht gelingen kann".[11] Bedenkt man, dass Lernen ohne Veränderung unmöglich ist, da ja per definitionem Lernen darin besteht, dass sich der Gegenstandsaufschluss erweitert, daher auch verändert, so wird der Zusammenhang von primärem Habitus und Schulversagen klar.

Die soziale Herkunft der SonderschülerInnen führt zur Ausbildung eines SchulversagerInnenhabitus. Die beschriebenen Milieus haben ihre eigene soziale Position betreffend resigniert und erwarten auch von ihren Kindern keinen sozialen Aufstieg. Die "Lebensbedingungen der typischen Familie am Rande der Lohnarbeiterschaft zwingen diese, im konkreten Überlebenskampf der Familie weitergehende Perspektiven zu ignorieren".[12] Dies ergibt sich auch aus dem Konzept der restriktiven Handlungsfähigkeit (versus verallgemeinerte) der Kritischen Psychologie als unmittelbare Bedrohungsabwehr im Rahmen von Unterdrückungsverhältnissen. "Die Erweiterung der Bedingungsverfügung/Handlungsfähigkeit schließt ja immer das Aufgeben eines (wenn auch als unzulänglich erfahrenen) gegenwärtigen Standes relativer Handlungsfähigkeit und der darin gegebenen erprobten Weisen der Bewältigung der unmittelbaren Lebenspraxis/Positionsrealisierung ein";[13] d.h. mit dem Ins-Auge-Fassen einer weiterreichenden Perspektive ist immer auch die Gefahr des Verlusts der abgesicherten Seiten des status quo verbunden - ein Risiko, das man sich nicht leisten kann, wenn man sich ohnehin in sozialer Randständigkeit befindet und gerade noch über Wasser hält. Kinder aus sozial randständigen Familien werden demnach bereits bei der Aneignung ihres primären Habitus nicht auf weitreichende Perspektiven der schulischen Laufbahn als Disposition für ihr künftiges Lern- und Schulverhalten orientiert, sondern wissen,was ihnen zusteht und bilden dies im Sinne restriktiver Handlungsfähigkeit im Zuge der Aneignung ihres sekundären Habitus weiter aus. Verbunden mit dieser Selbsteliminierung als Vorwegnahme der objektiven Möglichkeiten sind Selbstunterschätzung sowie Entwertung der Schule bzw. Indifferenz gegenüber der Tatsache der (Hin)aussonderung aus der Regelschule. Folge des Mangels an qualifizierten Bildungsabschlüssen sind Nachteile am Arbeitsmarkt. SonderschulabgängerInnen sind sich beruflicher Benachteiligungen aufgrund ihrer geringen schulischen Qualifikation und sozialen Etikettierung durchaus bewusst, was sich auch im Erwartungsniveau hinsichtlich ihrer voraussichtlichen beruflichen Tätigkeit bemerkbar macht und sich in einer Tendenz zum subjektiv vorweggenommenen Verzicht auf eine Ausbildung zeigt.[14]Selbstselektion wird - zusätzlich zur auf der Arbeitsmarktseite vorhandenen Zugangsselektion - wirksam (insbesondere bei Frauen). Dies deckt sich mit dem insgesamten Trend schlechterqualifizierter Personengruppen, Weiterbildungsangebote weniger in Anspruch zu nehmen, als besserqualifizierte Personengruppen. D.h. Ausbildung und Weiterbildung sind kumulativ, nicht kompensatorisch, Ungleichheiten und damit verbundene Benachteiligungen werden im Laufe eines Lebens nicht ausgeglichen, sondern verstärkt.[15]



[7] Vgl. z.B. Blossfeld, Shavit, 1993; Ditton, 1993; Mayer, 1991

[8] Preuss-Lausitz, 1981, S.22

[9] Vgl. z.B. Forster, 1981

[10] Vgl. Hofmann, 1982

[11] Westphal, 1976, S.208

[12] Preuss-Lausitz, 1981, S.152

[13] Holzkamp, 1985, S.371

[14] Vgl. Forster, 1981

[15] Vgl. z.B. Becker, 1991; Mayer, 1995

3. Die Reproduktion lernbehinderter Arbeitskräfte

SonderschülerInnen bringen entsprechend ihrer sozialen Herkunft einen primären Habitus in die Schule mit, der sie dort zu Opfern der Selektion macht. Zwecks Legitimation dieser Selektion wird ihnen in der Schule ein sekundärer Habitus vermittelt, der sie in eben den sozialen Positionen festhält, aus denen sie kommen und in die sie zwecks ungestörter sozialer Reproduktion gehen sollen. Die schulische Selektion ist aber nur wirksam, wenn sie durch entsprechende Sanktionen des Arbeitsmarktes bestätigt wird, da erst damit eine vollständige soziale Reproduktion gelungen ist.

Im polit-ökonomischen Ansatz, der sich vornehmlich mit der reformpädagogischen Bewegung der 70er Jahre herausbildete, wird Behinderung als systematisch verminderte Möglichkeit aufgefasst, mit der ein Individuum seine Arbeitskraft am Arbeitsmarkt der Klassengesellschaft verkaufen kann. Lernbehinderte sind demnach Arbeitskräfte minderer Güte, BesitzerInnen einer Arbeitskraft mit Makel, womit sich für Lernbehinderte eine reduzierte Geschäftsfähigkeit ergibt, die seitens des Arbeitgebers als reduzierte Ausbeutungsbereitschaft wahrgenommen wird; "fehlende Ausbeutungsbereitschaft, insofern das objektive Nichtvorhandensein von Arbeitsfähigkeit wie das subjektive Verweigern gegenüber der Normalität der bürgerlichen Gesellschaft (...) in den Augen des Kapitals als nichtgegebene Bereitschaft erscheint, sich der Mehrwertproduktion zu unterwerfen".[16]

Die Ausbeutungsbereitschaft der SonderschülerInnen zu erhöhen, ist von Anfang an Aufgabe der Sonderschulen, sie beinhalten immer neben der Selektionsfunktion auch Elemente der Reproduktion von Arbeitskraft (Qualifikationsfunktion). Diese Aufgaben beschränken sich nicht darauf, die SchülerInnen auf konkrete Arbeitstätigkeiten vorzubereiten - dafür benötigte Qualifikationen werden vielmehr erst nach der Schule im konkreten stofflichen Arbeitsprozess erworben. Schule zielt v.a. darauf, den SchülerInnen prozessunabhängige Zirkulationsfähigkeiten zu vermitteln. Erst auf deren Basis werden die SchulabsolventInnen auf bestimmten Arbeitsplätzen anwendbar und können sich dort prozessabhängige Produktionsqualifikationen aneignen. Da der Arbeitgeber nicht die Katze im Sack kaufen will, wird er sich bei der Entscheidung, wen er in seinen Betrieb aufnimmt und an der Herausbildung von Produktionsqualifikationen teilhaben lässt, daran orientieren, welche Zirkulationsfähigkeiten er bei der jeweiligen Arbeitskraft - gemessen an der Höhe ihres Schulabschlusses - voraussetzen kann. Er nimmt also die mit dem jeweiligen Schulabschluss voraussichtlich verbundenen Zirkulationsqualifikationen als Indikator für den Gebrauchswertder Arbeitskraft. Der Arbeitgeber kann damit eine Annahme darüber treffen, wie sehr sich der/die SchulabsolventIn den disziplinierenden Anforderungen der Schule unterworfen hat und kann dadurch auch darauf schließen, mit welcher Ausbeutungsbereitschaft der Arbeitskraft zu rechnen sein wird. Demgemäß müssen SonderschulabsolventInnen von vornherein mit geringeren Chancen als RegelschulabsolventInnen rechnen. Obwohl mit weniger Qualifikationen ausgestattet, unterliegen sie am Arbeitsmarkt dem Konkurrenzkampf zwischen den Arbeitskräften, in dem sie kaum bestehen können. Darauf wird aber von staatlicher bzw. sozialpolitischer Seite keine Rücksicht genommen - sobald Lernbehinderte die Sonderschule verlassen, haben sie als gleichberechtigten KonkurrentInnen auf dem sog. freien Arbeits- und Lehrstellenmarkt zu funktionieren.

Bildungsökonomisch ist die Funktion von Sonderschule demnach die Reproduktion der HilfsarbeiterInnenschaft und industriellen Reservearmee. Deren Mitglieder verfügen nach der Sonderbeschulung über genügend Zirkulationsqualifikationen (Sockelqualifikationen), um nötigenfalls in die aktive ArbeiterInnenarmee eingegliedert werden zu können, sind aber andererseits sozial randständig, womit sich insbesondere in Verbindung mit dem Begabungskonstrukt eine Legitimation dafür ergibt, im Nichtbedarfsfall entweder überhaupt andere Arbeitskräfte vorzuziehen, oder SonderschülerInnen als HilfsarbeiterInnen einzusetzen. Das Abschieben ehemaliger SonderschülerInnen in die Reservearmee muss auch aus dem Blickwinkel eines Verdrängungsprozesses[17]nach unten gesehen werden. Das (Aus)bildungsniveau ist im Zuge der Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte angestiegen, woran sich die beruflichen Eintrittschancen angepasst haben; d.h. für jeweils vergleichbare Jobs werden zunehmend höhere Bildungsabschlüsse verlangt. Damit findet eine Verdrängung der Schlechterqualifizierten durch die Höherqualifizierten statt. Mit zunehmender (Jugend)arbeitslosigkeit sind es also gerade ehemalige SonderschülerInnen, für die sich die Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden, stark verengen.

Folglich entsteht eine Deckungsgleichheit von sozialer Herkunft und sozialer Zukunft der SonderschülerInnen: der Sozialstatus reproduziert sich über die Generationen, und zwar über die Mechanismen von Selbstselektion und Zugangsselektion.



[16] Jantzen, 1981, S.16

[17] Vgl. z.B. Blossfeld, 1985; Hurrelmann, 1988

4. Hat schulische Integration Einfluss auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit?

Fraglich ist nun, ob die Reproduktion der sozialen Position Lernbehinderter durch schulische Integration (im Gegensatz zur ASO) tendenziell eine Aufhebung erfährt. Sonderbeschulung trägt zur Reproduktion sozialer Ungleichheit bei, indem sie den primären Habitus, den sozial randständige Kinder in die Schule mitbringen und der nicht den mittelschichtorientierten schulischen Normen entspricht, nicht zu einem sekundären umformt, der auch diesen Kindern die Aufschlüsselung kulturellen Kapitals in zumindest durchschnittlichem Ausmaß ermöglichen würde. Folglich bewirkt Sonderbeschulung im Rahmen selektiver Vergabe von Bildungsabschlüssen, dass SonderschülerInnen am Arbeitsmarkt mit geringeren Chancen rechnen müssen als NormalschülerInnen, was sich in Krisenzeiten durch Verdrängungsprozesse noch verschärft. Sonderbeschulung leistet damit bruchlos ihren Beitrag zur sozialen Reproduktion randständiger, subproletarischer Schichten. Wird nun in I-Klassen der primäre Habitus vom sekundären eher durchbrochen, während er in der ASO eher bestätigt wird?

Grundsätzlich beeinträchtigt die Möglichkeit zur Integration die soziale Reproduktion nicht, was auch dadurch abgesichert ist, dass im Zeugnis ausgewiesen wird, wer nach welchem Lehrplan unterrichtet wurde, bei wem also welcher Gebrauchswert der Arbeitskraft zu erwarten ist. Gleichzeitig besteht aber in I-Klassen ev. auch die Chance, dass - durch die weniger auf Homogenisierung ausgerichtete Beschulung - lernbehinderte SchülerInnen sich selbst weniger als außenstehend und anders empfinden, die Vorteile, sich auf expansive Lernprozesse einzulassen, erkennen, damit ihre Selbstselektion reduzieren und sich in der Folge soziale Benachteiligungen weniger resignativ gefallen lassen. Diese Integrationsutopie wird z.T. sogar von marxistischer Seite geäußert, wonach eine nichtseparative Beschulung zumindest eher "fachliche Qualifizierung; bewusstseinsmäßige Aneignung der künftigen Rolle als Lohnabhängiger; psychische Stabilität, Selbstbewusstsein, Angstfreiheit"[18] vermitteln könnte. Die Funktionalität der Schule bleibt zwar unverändert, wird aber ev. widersprüchlicher realisiert. Damit wird die soziale Reproduktion nicht unmittelbar berührt, da die Zugangsselektion sich durch Integration nicht verändert, der sekundäre Habitus der Betroffenen könnte aber eine Verminderung der Selbstselektion erfahren, womit es tendenziell zu einer Zurücknahme der Behinderung der Aneignung kulturellen Kapitals käme. Wieweit diese Hoffnungen sich tatsächlich erfüllen, könnte nur durch empirische Forschungen zum weiterem Berufsweg, zur Entwicklung des Selbstbildes, zur gesellschaftlichen Aktivität usw. von ehemaligen I-Kindern beantwortet werden.

Diese mögliche Widersprüchlichkeit hätte allerdings kaum sehr weitreichende Konsequenzen, da die Reproduktionsmechanismen der Klassengesellschaft damit unangetastet blieben. Das Akkumulationsregime verträgt sich durchaus mit einer Regulationsweise, die in den schulischen Staatsapparaten eine soziale Integration (lern)behinderter Kinder vorsieht - zumindest solange keine gesellschaftlichen Kämpfe begonnen werden, die auch breitere Gruppen umfassen, wofür es aber ausgehend vom Integrationskampf keine Anzeichenn gibt. Innerhalb der Integrationsdiskussion lässt sich vielmehr eine Verschiebung der Diskussion weg von Chancengleichheit hin zu Didaktik und Betonung der individuellen Eigenheiten feststellen. Die Möglichkeit zur schulischen Integration wirkt damit nicht nur kampffördernd, sondern im Gegenteil tw. sogar beschwichtigend, da die Legitimationskrise der Sonderschule eine tendenzielle Aufhebung erfährt, ohne dass das zugrundeliegende Problem, die soziale Reproduktion in Klassengesellschaften, thematisiert würde.

Überhaupt ist zweifelhaft, dass Reformen im Schulsystem einen Einfluss auf die Reproduktion sozialer Ungleichheiten haben können. Z.B. belegen Blossfeld und Shavit in ihrer 13-Länder-Studie[19] empirisch, dass die Expansion der Bildungssysteme und damit verknüpfte Schulreformen in den von ihnen untersuchten fortgeschrittenen Staaten kaum zu einer Angleichung der Bildungsniveaus führten, sondern lediglich die Selektionszeitpunkte und durchschnittlich erreichten Bildungsniveaus nach oben verschoben wurden, die Variationen der Bildungsabschlüsse jedoch unverändert blieben. Eine Angleichung der Bildungsniveaus konnten die Autoren lediglich in Schweden und Holland feststellen. Als deren Ursache sehen sie jedoch nicht diverse Schulreformen, sondern eine Angleichung der sozioökonomischen Lebensbedingungen in diesen beiden Staaten. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass soziale Reproduktion nicht über die Bildung geknackt werden kann, sondern umgekehrt erst eine Veränderung der sozialen Reproduktion durch die Angleichung der sozioökonomischen Lebensbedingungen möglicherweise eine Angleichung der Bildungsniveaus - und damit eine Verminderung der Behinderungen von Lernen - erwirken kann.



[18] Preuss-Lausitz, 1981, S.67

[19] Vgl. Blossfeld, Shavit, 1993

Literatur

BLOSSFELD, Hans-Peter: Bildungsexpansion und Berufschancen. Empirische Analyse zur Lage der Berufsanfänger in der Bundesrepublik; Frankfurt/M., New York; 1985

BLOSSFELD, Hans-Peter; SHAVIT, Yossi: Persistent Inequality. Changing Educational Attainment in Thirteen Countries; Colorado, Oxford; 1993

BOURDIEU, Pierre; PASSERON, Jean-Claude: Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt; Frankfurt/M.; 1973

BOURDIEU, Pierre: Sozialer Raum und Klassen. Lecon sur la lecon; Frankfurt/M.; 1985

BOURDIEU, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft; Frankfurt/M.; 1993

DITTON, Hartmut: Bildung und Ungleichheit im Gefüge von Unterricht, schulischem Kontext und Schulsystem; in: Die Deutsche Schule 35.1993/H.3; S.348-363

FORSTER, Rudolf: Normalisierung oder Ausschließung - über die Berufsfindung und das Lebensschicksal von Sonderschulabgängern; Wien; 1981

HOFMANN, Christiane: Familienalltag. Vergleichende Untersuchungen über mikrostrukturelle Sozialisationsprozesse in Familien von Gesamt-, Grund- und Sonderschülern; Giessen; 1982

HOLZKAMP, Klaus: Grundlegung der Psychologie; Frankfurt/M., New York; 1985

HURRELMANN, Klaus: Schulversagen aus soziologischer Perspektive; in: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 57.1988/H.4; S.327-334

JANTZEN, Wolfgang: Soziologie der Sonderschule. Analyse einer Institution; Weinheim, Basel; 1981

MAYER, Karl Ulrich: Lebensverlauf und Bildung. Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt "Lebensläufe und gesellschaftlicher Wandel" des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung; in: Unterrichtswissenschaft 19.1991/H.4; S.313-332

PREUSS-LAUSITZ, Ulf: Fördern ohne Sonderschule. Konzepte und Erfahrungen zur integrativen Förderung in der Regelschule; Weinheim, Basel; 1981

WESTPHAL, Erich: Lebensprobleme und Daseinstechniken lernbehinderter Schüler; in: Zeitschrift für Heilpädagogik 27.1976/H.3; S.201-210

Über die Autorin:

LENER Gabriele, Mag. Dr., Lehramt für Volks- und Sonderschulen, Studium der Soziologie und Pädagogik an der Uni Wien, Integrationslehrerin in einer Wiener Volksschule, Arbeitsschwerpunkte: integrative und interkulturelle Pädagogik

Weitere Texte aus dem Schulheft finden Sie hier:

Petra Flieger: Editorial zum Schulheft (im Verzeichnis: Rezensionen)

Erich Ribolits, Michael Sertl, Gabriele Lener: Postmoderne Hoffnungen auf eine Wende im Bildungssystem? - Ein Streitgespräch

Monika Haider: Statistische Rechenbeispiele im gemeinsamen Unterricht

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Quelle:

Gabriele Lener: Schulische Integration und Reproduktion sozialer Ungleichheit

Erschienen in: schulheft 94/1999; Behinderung - Integration in der Schule: Positionen, Praxis, Zukunft; AutorIn/Hrsg.: Petra Flieger, Gabriele Lener, Elisabeth Leskovat, Maria Jäger, Johannes Zuber;ISBN 3-901655-14-X

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Stand: 19.04.2005

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