betrifft: integration 4/98

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Integration: Österreich / Verein Gemeinsam leben - Gemeinsam lernen (Hrsg.): betrifft: integration Nr. 4/1998, Herold Druck- und Verlagsges.m.b.H., Wien betrifft: integration (4/98)
Copyright: © betrifft: integration 1998

Editorial zur Internet-Ausgabe

RECHTSgemäßer Rückblick

INTEGRATION : ÖSTERREICH zieht Bilanz. 1998 - das Jahr der Menschenrechte und der EU-Präsidentschaft mit bitterem Nachgeschmack. Denn die Umsetzung dieser beiden Schwerpunkte hat einmal mehr aufgezeigt, daß österreichische Politik widersprüchlich betrieben wird.

Pädagogische Unzulänglichkeiten

An zahllosen Hauptschul- und AHS-Klassen gelingt integrativer Unterricht nicht einmal im Ansatz. Die Unterrichtsministerin scheint das nicht zu berühren. Statt Hilfe zu organisieren, wie es ihre gesetzliche und verfassungsmäßige Pflicht ist, schaut sie bloß tatenlos zu.

Forumtreffen ´99

Ankündigung des bundesweiten Treffens von Integration : Österreich, das vom 23. - 24. April 1999 an der Pädagogischen Akademie in Linz stattfindet.

Liebe Leserin, lieber Leser / Meinungen

Indirekt erhielt diese Ausgabe, durch die Reaktionen auf den Kommentar - Lokalaugenschein im Institut Keil - von Petra Flieger (in betrifft:integration Nr. 3/98), eine Schwerpunktsetzung zum Thema Integration und Therapie. Um Ihnen keine Informationen vorzuenthalten, haben wir unter der Rubrik MEINUNGEN sowohl den Brief von Frau Keil an die Autorin Frau Flieger als auch die anwaltliche Gegendarstellung von der Leiterin des Instituts Keil veröffentlicht.

Problemfeld Therapie und Literaturempfehlungen

Für die Therapie von behinderten Menschen gibt es derzeit weder qualitative Standards noch gesetzliche Richtlinien und Kontrollen. In diese Grauzone - Therapie formuliert Volker Schönwiese, auf dem aktuellen Stand fachlicher Erkenntnisse, Fragen und nennt Thesen, die den "Mythos Therapie" auf eine reale Beurteilungsgrundlage stellen.

Streit um Therapie für autistische Kinder

"Bánffys Reha-Stätten" - ein trauriges Beispiel dafür, daß verschiedene therapeutische Einrichtungen nach wie vor einen defizitorientierten, methodisch-technizistischen oder manipulativen Ansatz verwenden oder dulden, der vor allem an der Anpassung und Korrektur behinderter Menschen orientiert ist.

Menschenwürdig leben

Statt der Giftspritze fordert die Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen in Österreich eine umfassende Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter Menschen. Den Begriff Selbstbestimmung im Zusammenhang mit der Tötung eines Menschen zu verwenden ist angesichts der überwiegend unwürdigen Lebensbedingungen behinderter Menschen nicht nur zynisch, sondern stellt vor allem einen Mißbrauch des Begriffes dar.

Internationaler Integrationskongreß

Ein Bericht von Volker Rutte vom 12. Integrationskongreß, veranstaltet von "Inclusion International".

Eltern beraten Eltern

Allen Fortschritt verdanken wir denen, die sich nicht anpassen. Ein Teilnehmer gibt Einblicke in das Pilotprojekt von Integration : Österreich.

Blitzlichter vom Zweiten Integrationsball

Artikel 7 der österreichischen Bundesverfassung muß mit Leben erfüllt werden. Deshalb fordern wir ein Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen. Dies war die Botschaft des zweiten österreichischen Integrationsballs, die mit Hilfe von 20 Brieftauben entsandt wurde.

FREAK-RANDSTEIN

Franz-Joseph Huainigg sinniert über ein uneingeschränktes "Ja" zur Integration und vom Recht, etwas leisten zu dürfen.

RECHTsgemäßer Rückblick

Zum Ende eines Jahres wird üblicherweise Bilanz gezogen. Auch wir wollen uns dem nicht ganz entziehen und blicken zurück.

1998 - das Jahr der Menschenrechte und EU-Präsidentschaft.

Zwei Schwerpunkte, die behinderte Menschen ein Stück aus dem gesellschaftlichen Out in unsere Mitte bringen könnten. Immerhin setzt die EU auf Gleichstellung behinderter Menschen. Sei es mit einem europaweiten Gleichstellungstag, sei es mit verschiedenen Programmen, wie Sokrates, Leonardo oder dem Helios-Nachfolgeprogramm sowie den Grundlagen des European Disability-Forums. Eine Herbsttagung in Salzburg widmete sich dann auch dem Thema "Behinderte Menschen".

Andererseits hatte das Jahr der Menschenrechte den Zusammenschluß mehrerer Vereine, sogenannten NGO´s zum Netzwerk Menschenrechte zur Folge. Sozusagen machten erstmalig NGO´s, die sich mit Themen wie Armut, Asyl, Behinderung, Rassismus, Homosexualität und Frauenfragen auseinandersetzen, gemeinsame Sache. Menschenrechte sind unteilbar. Der große "Abschluß" des Menschenrechtsjahres findet mit einem Festakt in der Hofburg statt.

Allerdings hat die Umsetzung dieser beiden Schwerpunkte einmal mehr aufgezeigt, daß österreichische Politik widersprüchlich betrieben wird. Daß die im Menschenrechtsjahr eingebrachten Änderungen des Asylgesetzes eine massive Einschränkung des Asylrechtes und damit der Menschenrechte mit sich bringen. Daß verabsäumt wurde, für die besonders schutzbedürftige Personengruppe der Kinderflüchtlinge Betreuungs- und Unterstützungsmöglichkeiten (wie sie in der Kinderrechtskonvention gemäß Artikel 22 von den Vertragsstaaten gefordert werden) einzurichten. Daß behinderte Menschen in der inhaltlichen Vorbereitung der europäischen Veranstaltung "behinderte Menschen" nicht einbezogen, aber bei der Veranstaltung über sie diskutiert wurde. Daß Homosexuelle keinen Ausstellungsraum beim großen europäischen Abschlußfestakt bekommen sollen, und so weiter und so fort.

Mühelos lassen sich in diese Liste der zwiespältigen Handlungen die Erschwernisse des gemeinsamen Unterrichts, durch die im Sommer verabschiedete Gesetzesnovellierung, einreihen. Sie enthält keine integrativen Modelle für das neunte Schuljahr, im Gegenteil die Stellung der Sonderschule wird weiter gestärkt.

Auch in vielen anderen Bereichen besteht eine Kluft zwischen "öffentlichen Schönfärbereien" und der Realität der Betroffenen. Letztendlich werden behinderte Menschen in Österreich noch immer diskriminiert. Der der Verfassung zugefügte Artikel 7 "Niemand darf aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden" muß erst mit Leben gefüllt werden. Dies anerkannte das Bundeskanzleramt indem es eine Arbeitsgruppe zur Überprüfung der Rechtsordnung auf diskriminierende Bestimmungen gegenüber Menschen mit Behinderungen einrichtete. In vier Arbeitsgruppen wurden bestehende Gesetze auf ihren Inhalt überprüft. Besonders kooperativ war die Zusammenarbeit mit dem Justizministerium und dem Bundeskanzleramt in der Arbeitsgruppe Rechtsschutz. Die dort erarbeiteten Unterlagen wurden zum Qualitätsstandard erhoben. Die Unterarbeitsgruppen mit dem Sozial-, dem Unterrichts- und dem Verkehrs- bzw. Wissenschaftsministerium bekamen ihre Hausaufgaben zurück und müssen nun Verbesserungen vornehmen.

Das in diesen Arbeitsgruppen vermißte Grundrechtsverständnis behinderten Menschen gegenüber hat Integration : Österreich im "Weissbuch Integration" herausgearbeitet. In einer Bestandsaufnahme zur Situation behinderter Menschen in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt werden die Probleme aufgezeigt. Neben einer Mängelanalyse ist auch ein Wegweiser zur Umsetzung der Integration in Österreich enthalten.

Eines wird sehr deutlich: zwar gibt es Gesetze für Integration, das Asylrecht, den Kinderschutz, ... zwar haben wir eine Verfassung, die alle Menschen gleichwertig definiert, aber die Realität ...

Themenbereich: Integration und Politik:

René Schindler: Pädagogische Unzulänglichkeiten

An zahllosen Hauptschul- und AHS-Klassen gelingt integrativer Unterricht nicht einmal im Ansatz.

Alleingelassene Lehrerinnen reiben sich und die Schülerinnen auf - bis wechselseitige, sinnlose Aggressionen überhand nehmen. Die Unterrichtsministerin scheint das nicht zu berühren. Allein in der ersten Oktoberwoche wird INTEGRATION : ÖSTERREICH dreimal alarmiert: Lehrerin dreier Hauptschulklassen (einmal Tirol; zweimal Burgenland) haben beschlossen: Ein behindertes Kind darf die Schule nicht länger besuchen; es ist untragbar - ab in die Sonderschule! Überflüssig zu sagen, daß derartiges natürlich gar nicht beschlossen werden kann!

Das Schulpflichtgesetz sichert den Eltern die Entscheidung, ob ihr behindertes Kind die Volks- bzw. Hauptschule/AHS oder die Sonderschule besucht. Eine "Sonderschuleinweisung" ist nicht möglich. Aber erstens wissen das viele Eltern nicht - und außerdem: Möchten Sie Ihr Kind weiter in eine Schule schicken, deren Lehrerinnen einen solchen Beschluß gefaßt haben?

Wie kann es, derart gehäuft, zu solchen Problemen kommen?

Integration behinderter Kinder funktioniert in praktisch allen Volksschulen doch ganz hervorragend! Leider entstehen an Hauptschulen/AHS immer folgende zusätzliche Schwierigkeiten: Statt einer Lehrerin ist eine große Gruppe von Fachlehrerinnen tätig, die nur wenige Stunden in der Klasse halten. Diese Lehrerinnen sind, auch wegen der Fülle von Lehrstoff, an Frontalunterricht gewöhnt.

Das "Blocken" von Unterrichtseinheiten ist kaum gängig. Die zusätzlich eingesetzte Sonderpädagogin ist da chancenlos. Im 1:1 Volksschulteam dauert es nicht lange, bis das sonderpädagogische Wissen weitergegeben wurde und alle Kinder von beiden Lehrerinnen in einer offenen Lernsituation betreut werden. Bei 10 bis 12 Fachlehrerinnen ist das kaum, oder erst binnen Jahren denkbar. Der "Zusatzlehrerin" wird daher rasch die Aufgabe zugewiesen, die behinderten Kinder allein zu unterrichten, ja im Grunde schlicht "ruhig zu halten" damit für alle anderen der gewohnte Frontalunterricht erfolgen kann. Sie ist ohnedies ein Fremdkörper an der Schule. Aber "ruhigstellen" lassen sich viele behinderte Kinder - gottlob - nicht; sie rebellieren auf ihre Art, werden "auffällig", manchmal aggressiv, auch gegenüber Mitschülerinnen, weil sie die Situation nicht mehr ertragen.

Enttäuschungen

Auch die Lehrerinnen halten das - zu Recht - nicht aus. Leider sind sie zu wenig gewohnt, Probleme im Team zu lösen. Jede für sich versucht das Unmögliche - Frontalunterricht und Integration geht nicht. Einzelne behinderte Kinder "stören", der Frust steigt. Den anderen Einzelkämpferinnen geht es nicht anders; man "beschließt", daß die störende Schülerin weg muß. Enttäuschungen auf allen Seiten. Die Lehrerinnen haben doch irgendwie das Gefühl versagt zu haben, dabei sind sie mit soviel gutem Willen und Elan an die Aufgabe herangegangen.

Die Eltern erleben ohnmächtig, wie wenig Wert Recht und Gesetz in der Praxis haben. Ein behindertes Kind wird nach jahrelangem, gemeinsamen Leben und Lernen mit seinen nicht behinderten Freundinnen abgeschoben, für untragbar erklärt - eine negative Prägung fürs Leben. Und das passiert nicht einmal, nicht zehnmal sondern hundertmal in diesem Land! Und es könnte so einfach vermieden werden!

Zum Beispiel - Offener Unterricht:

Den brauchen nicht behinderte Kinder gerade so notwendig wie behinderte! Aber daß jede Mathe-Lehrerin alle Formen der Vermittlung z.B. des pythagoräischen Lehrsatzes genial entwickeln und ausführen sollte, ist einfach unsinnig und undurchführbar. Möglich und notwendig wäre es, daß solche Materialien für den offenen Unterricht offiziell entwickelt und den Lehrerinnen kostenlos angeboten werden (nicht wie derzeit als Geheimtip zu zum Teil horrenden Preisen und nur für "Insiderinnen"). Oder daß Teams von im Regelfall maximal fünf Lehrerinnen pro Klasse gebildet werden. Einer solchen Gruppen kann das sonderpädagogische Wissen um einzelne Schülerinnen leicht und schnell weitergegeben werden. Sie wird problemlos Unterrichtseinheiten blocken und damit effizientes offenes Lernen ebenso möglich machen, wie wechselseitige Hilfe beim Loskommen vom Frontalunterricht.

Oder daß speziell für jene Lehrerinnen, von denen ja schon im Frühjahr feststeht, daß sie im Herbst gemeinsam eine Integrationsklasse führen werden, eine einschlägige Fortbildung angeboten wird. Auch damit sie sich an die ungewohnte Arbeit im Team gewöhnen können. Von der überfälligen Reform der Ausbildung an Pädagogischen Akademien bzw. der Lehramtsausbildung an den Universitäten ganz zu schweigen! Dort wird noch heute, über ein Jahrzehnt (!!!) nach der Einführung integrativen Unterrichts keine Stunde für dieses Thema verschwendet.

Die Unterrichtsministerin sieht tatenlos zu, wie dutzende, ja hunderte Lehrerinnen und Schülerinnen daran zerbrechen, auf sich allein gestellt, eine an sich einfache und lösbare Aufgabe nicht bewältigen zu können. Statt Hilfe zu organisieren, wie es ihre gesetzliche und verfassungsmäßige Pflicht ist, schaut sie bloß zu. Was muß denn noch alles passieren, ehe klar wird, daß da eine echte Katastrophe vor unser aller Augen abläuft?

Was sofort geschehen muß und kann:

  • Keine Leistunsgruppen in I-Klassen

  • Teams von maximal fünf Lehrerinnen pro Klasse

  • Vorbereitungsseminare für I-Klassen-Lehrerinnen

  • Geblockte Unterrichtsstunden

  • Gezielte Entwicklung und Verbreitung von Materialien für den offenen Unterricht

  • Berufsorientierter Unterricht in allen Fächern auch an HS und AHS

FORUMTREFFEN von Integration : Österreich und PRAKTIKERFORUM 1999

19.-24. 4. 1999/Linz

Die Pädagogische Akademie veranstaltet gemeinsam mit dem Pädagogischen Institut des Bundes in OÖ , dem Verein Miteinander und mit INTEGRATION : ÖSTERREICH das 5. Praktikerforum mit dem Titel:

10 Jahre Integration in Oberösterreich Erfahrungen - Ergebnisse - Perspektiven

In diesem Rahmen veranstaltet INTEGRATION : ÖSTERREICH sein erstes Forumtreffen für 1999.

Geboten wird unter anderem:

  • Ein didaktischer Weg, der die Besucherinnen durch alle Bereiche integrativen Unterrichts führt.

  • Einblicke in die Integrationspraxis vor Ort, durch den Besuch in Integrationsklassen.

  • Präsentation verschiedener Ergebnisse unterrichtlicher Arbeit.

  • Referate, Erfahrungsaustausch, Podiumsdiskussion und Arbeitskreise zu Themen, wie: Individualisierung und Differenzierung im Unterricht, Perspektiven der Sonderpädagogik, Europäische Erfahrungen zur Integration, Leistungsbeurteilung in I-Klassen, Berufsvorbereitung, Lehrerinnenausbildung, SPZ - Drehscheibe der Sonderpädagogik, Integration in der AHS.

Liebe Leserin, lieber Leser/ Meinungen

Lokalaugenschein im Institut Keil - so lautete in betrifft:integration Nr. 3/98 ein Kommentar von Petra Flieger, der eine Welle von Leserinnenbriefen und einen Anwaltsbrief von der Leiterin des Instituts Keil zur Folge hatte. Darin wurde INTEGRATION : ÖSTERREICH zu einer Gegendarstellung aufgefordert. Da die Auseinandersetzung so etwas wie ein Methodenstreit ist, und uns Meinungsvielfalt und -äußerung wichtig sind, kommen wir dem Wunsch nach Veröffentlichung gerne nach.

Der zusätzlich geforderte Entschädigungsbetrag von ATS 109.000,-- entbehrt aber jeder Grundlage. Frau Keil dürfte diese Meinung teilen, indem sie sich in ihrem Brief an Frau Flieger sogar für die unfreiwillige PR bedankt.

Prinzipiell ist zu sagen, daß es nicht unsere Intention war, Frau Keil und ihr Institut in "verspottender, beleidigender und verächtlich machender Art und Weise" darzustellen oder "kreditschädigende Äußerungen" zu tätigen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung ist uns hingegen sehr recht, während wir das Befassen von Gerichten in pädagogischen Fragen nicht als zielführend sehen.

Das Verhältnis von Therapie und Integration bewegt sich auf sensiblem Terrain, wir versuchen eine Annäherung mit dem Beitrag von Volker Schönwiese.

MEINUNGEN

Sehr geehrte Frau Flieger!

Gestatten Sie mir, zu Ihrem "Lokalaugenschein im Institut Keil" folgendes zu bemerken:

  1. Erstens gratuliere ich Ihnen zu Ihrer brillanten Beobachtungsgabe, aber vor allem zu Ihrer Fähigkeit, aus diesen augen-scheinlichen Eindrücken insgesamt so viele messerscharfe Schlüsse und Vermutungen ziehen zu können! Wirklich beachtlich! Auch Ihre profunde journalistische Recherchearbeit, vor allem aber Ihr launiger Stil sind unnachahmlich. Ich hingegen kann nur stümperhaft kopieren, um (vermutlich) in Ihrer Sprache zu antworten.

  2. Daß Sie aus unserer Einladung, unser neues Lokal und unsere Arbeit zu besichtigen einen Lokal-Augen-Schein machten, spricht sehr für Ihre Unvoreingenommenheit, Toleranz und echtes menschlich-fachliches Interesse. Das schätzen wir an Journalisten besonders!

  3. Zwar habe ich nicht gesagt, daß sich generell alle Jugendlichen "nicht von uns trennen wollen", sondern ich sprach von einer Gruppe schwer behinderter, jugendlicher Menschen, die dies nicht wollen - aber so genau "nehmen mir´s halt nicht" und überdies muß man "diese Menschen/ oder deren gesetzliche Vertreter ohnedies nicht so ernst nehmen", man kann ja zynisch über deren Bedürfnisse hinweg polemisieren. Wenn es aber tatsächlich eine Gruppe schwer und großteils mehrfachbehinderter junger Erwachsener gibt, die die Fortsetzung der Förderung und Betreuung in der "Keil´schen Art" wünschen, so ist dies für eine wütende Integrationsfanatikerin wohl ein rotes Tuch. Besser ist es wohl, wenn die Eltern dieser Klienten still und leise zusammenbrechen.

  4. In diesem Zusammenhang gratuliere ich Ihnen zu Ihrem besonders intelligenten Schluß, nämlich daß es bald notwendig sein wird, ein "Keil´sches Altersheim" zu gründen. Es gibt tatsächlich eine Gruppe von 15-20 schwer körperlich und/oder mehrfachbehinderten Menschen, welche tatsächlich täglich eine 24-stündige Betreuung benötigen und die demnächst nicht mehr von ihren erschöpften Familien gepflegt werden können. Um dies zu verifizieren rate ich Ihnen, auch 3 schwerst mehrfachbehinderte Menschen 4 Jahre lang in Ihrer eigenen Wohnung zu beherbergen, mit ihnen zu leben und sie zu fördern. Dieses Unternehmen hat mir nämlich den Schwung gegeben, für meine vielen übermütigen Tages- und Wohntrainingsprojekte, die Sie ja auch anführen. Sicher würde es auch Ihnen guttun, sich einmal dergestalt - zumal es ja auch entsprechend integrativ ist - als Pflegemutter zu gebärden.

  5. Zum 5. Punkt muß ich Ihnen, sehr geehrte Frau Flieger, wieder ein besonderes Kompliment machen. Ich zitiere: "...eine behinderte Person muß (muß zwar nicht, aber kann tatsächlich) so selbständig wie möglich werden, damit sie unabhängig von der Umwelt wird". Das haben sie wieder einmal toll erfaßt, besonders als Pädagogin muß man da Ihre Sicht der Dinge hervorheben: Wie Sie da die individuellen Entwicklungschancen der Kinder sehen und wie Sie vor allem den jahrelangen therapeutischen Trainingsansatz der Kinder und Eltern und deren beider Erfolge würdigen! Wirklich aufbauend. Da haben Sie wieder vielen Menschen Mut gemacht! Die relativ bequeme und oberflächliche Einstellung "das bewegungsgestörte Kind in den Rollstuhl und gemma, gemma integrieren auf Teufel komm raus" ist ja hoffentlich wieder passe´? Das hoffen Sie doch auch - ODER???

  6. Obwohl sie uns im 3. Absatz wieder falsch zitiert haben - so genau wollen wir ja nicht sein - haben sie wieder die Oberfläche eines Phänomens hervorragend erfaßt - das ist wirklich eine Ihrer Stärken, nämlich daß eine Handlung (d.h. eine für das Subjekt sinnvolle Tätigkeit) sich besser, ökonomischer, zielsicherer und koordinierter ausführen läßt, wenn diese gedanklich und sprachlich begleitet und auch mental vorausgeplant und vorbereitet wird. Also vorher denken und dann möglichst autonom und gedanklich begleitet handeln - ist das Motto, das die nach dem "Petö-System" geförderten Kinder zum Großteil ganz allgemein verwirklichen lernen - dies ist für Menschen, die weder vor noch während einer Handlung denken allerdings schwer zu begreifen. Da können diese Menschen tatsächlich viel von unseren Kindern und Jugendlichen lernen!!! (Nachzulesen unter "Rhythmisch Kontinuierliches Intendieren, in der am Ende angeführten wissenschaftlichen Literatur)

  7. Daß Sie das "kollektive Pinkeln" bei c.p. Kleinkindern nicht mögen, bestürzt mich sehr - weil es nämlich a) den Kindern Spaß macht und viele tatsächlich "sauber" werden und b) den Eltern und Betreuern, und später den Kindern selber, das Leben erleichtert, wenn sie kontinent sind. Ich habe eine persönliche Bitte an Sie: Vielleicht könnten sie uns für das therapeutisch-pädagogische Setting beim Kontinenztraining bei c.p. Kleinkindern und Kindern aber auch bei schwer und mehrfachbehinderten Jugendlichen und Erwachsenen einige weniger "absurde" Tips geben! Wäre toll! Praktische Erfahrungen könnte ich Ihnen gerne bei uns vermitteln.

  8. Ihre intelligente Vermutung, daß "nur leicht behinderte Kinder, das sind jene die gehen können" integriert werden stimmt nur insofern, als diese Kinder den größten Teil des Tages in einer integrativen Montessori-Kindergartengruppe verbringen und ebenso in einer Kleingruppe täglich Therapie erhalten. Zu Ihrer weiteren Vermutung, daß alle anderen möglicherweise "Pech gehabt" haben, darf ich Sie auf Infoschriften und unser Buch "Schritt für Schritt.." verweisen, wo sie über verschiedene, sehr differenzierte, individuell abgestimmte Integrationsmöglichkeiten bei uns nachlesen können (würde ca 20 Minuten Gedankenarbeit Ihrerseits benötigen!).

  9. Daß Sie zu Tobsuchtsanfällen und Verzweiflung neigen, bedaure ich übrigens sehr!

  10. Ja und die "bösen, bösen" Sonderfahrtendienste, die die Kinder in ganz Wien "herumkarren" - genau, über die müssen wir doch auch mal richtig herziehen! Super, daß Sie Sich das endlich getrauen! Und vor allem die bösen Eltern, die bösen Therapeuten und vor allem die bösen Kindergartenpädagoginnen, die alle die armen Babies, Kleinkinder und Kinder aus ihrer "vertrauten Wohnumgebung" reißen - sagen wir´s doch denen mal richtig rein! Fein! Und gehen wir statt dessen rasch im Krätzel integrieren. Muß doch möglich sein, daß ein c.p. Kleinkind in einer integrativen Gruppe seine tägliche physio-, ergo-, musiktherapeutische und logopädische Behandlung erhält und daß es weiters seinen besonderen Bedürfnissen entsprechend besonders pädagogisch (= methodisch-didaktisch abgestimmt) gefördert wird. Oder geschieht das alles einfach von selbst durch die Gruppe der Nichtbehinderten, oder sollen das dann einfach die Eltern so zwischen 17 und 22 Uhr zu Hause erledigen? Ist ja alles denkbar, nicht?! Also her mit Ihren konstruktiven Vorschlägen - wir werden sie schon alle zur Räson bringen, die oben angeführten "Bösen"!

  11. Wenn Sie wollen, können Sie übrigens mit einigen Eltern oder Jugendlichen, die für sich selbst sprechen können, diskutieren, wie die "Nicht-Behinderten-Expertinnen" im hierarchisch organisierten Institut Keil mit Ihnen umgegangen sind.

Mit den besten Wünschen für ihre menschliche, berufliche aber vor allem geistige Entwicklung verbleibe ich

Helga Keil

P.S. Danke übrigens für diese unfreiwillige PR. Auf Ihren Artikel meldeten sich mehrere Interessenten - man scheint Sie in der Szene bereits entsprechend einzuschätzen.

GEGENDARSTELLUNG

  1. Sie schreiben in der Septemberausgabe betrifft:integration unter der fett gedruckten Überschrift Lokalaugenschein im Institut Keil: "Vor kurzem lud in Wien das Institut Keil zum Tag der offenen Tür. Seit 30 Jahren werden hier Kinder und Jugendliche mit spastischer Behinderung nach der ungarischen Petö-Methode therapiert. Die Therapie an sich folgt einem überholten, defektorientierten Konzept: Eine behinderte Person muß so selbständig wie möglich werden, damit sie unabhängig von der Umwelt wird. Wie praktisch, dann braucht sich ja die Umwelt nicht mehr auf besondere Bedürfnisse einzustellen." Diese Tatsachenbehauptung ist unvollständig bzw. unrichtig. Vielmehr richtig ist. Daß die Petö-Methode vom Institut Keil zur konduktiv mehrfach therapeutischen Methode weiterentwickelt wurde. Diese beinhaltet physio-, ergo-, sprach- und musiktherapeutische Elemente und eine dem Entwicklungsalter entsprechende subjektorientierte Pädagogik. Damit soll eine systematische Entwicklung und Förderung der Gesamtpersönlichkeit durchgeführt werden mit dem Ziel, die eigenen Potentiale des Behinderten so weit wie möglich auszuschöpfen. Dazu gehört natürlich auch, daß die behinderte Person so selbständig wie möglich werden soll, mit dem Primärzweck, das Selbstbewußtsein des Behinderten und seine Lebensfreude zu steigern und systematisch weiterzuentwickeln und nicht, um primär die Allgemeinheit zu entlasten.

  2. Sie schreiben weiters: "Während der Therapie liegen die Kinder auf Pritschen, alle machen gleichzeitig dieselben Übungen, sie sind ja von vornherein auf Schweregrad ihrer Behinderung fein säuberlich in entsprechende Gruppen sortiert. Charakteristisches Element der Petö-Therapie ist monotoner Singsang, der die Bewegungen begleitet, wie etwa: "Ich strecke meine Arme, ich strecke meine Arme, ich rolle auf die Seite, ich rolle auf die Seite, ich liege ganz richtig, ich liege ganz richtig." Diese Tatsachenbehauptung ist unvollständig. Richtig ist, daß es Gruppenzuteilungen nach Alter, Art der Behinderung und Lernzielen gibt. Eine individuelle Förderung kann nur dann gewährleistet sein, wenn mehrfach Schwerbehinderte nicht mit Leichtbehinderten in einer Gruppe therapiert werden, da es unterschiedliche Fähigkeiten und damit unterschiedliche Lernziele gibt. Charakteristikum der Petö-Methode ist, über Sprache Bewegungen anzuregen und zu erlernen (rhythmisch kontinuierliches Intendieren). Der Lernvorgang wird dabei von gleichbleibendem Gesang bzw. Sprechen begleitet und damit Bewegungen koordinierter und zielgerichteter durchgeführt und damit allgemein die Konzentration und Selbststeuerung gesteigert.

  3. Sie schreiben weiters: "Der Gipfel der Absurdität ist im kollektiven Pinkeln erreicht: Damit die Kinder lernen, ihre Blase zu kontrollieren, müssen sie zu gewissen Zeiten alle auf dem Topf sitzen und singen: "Tropf, tropf, tropf, es tropft in meinen Topf." Von Frau Keil am besagten Besuchstag persönlich dem Publikum vorgetragen. Dem ist nichts hinzuzufügen." Diese Tatsachenbehauptung ist unvollständig bzw. unrichtig. Richtig ist, daß Kleinkinder sich im Rahmen des Kontineztrainings sich gemeinsam auf den Topf setzen. Da das Blasentraining vor allem bei Cerebralparetikern einer gleichbleibenden Regelmäßigkeit und vor allem auch psychischer Entspannung und Konzentration bedarf, ist auch dieser Lernvorgang besonders pädagogisch gestaltet.

  4. Sie schreiben weiters: "Das Institut Keil integriert nur leicht behinderte Kinder, das sind jene die gehen können. Ob und welches Konzept hinter dieser Richtlinie steckt, bleibt im Dunkeln. "Pech gehabt!", hören wohl all jene, die das Gehen später oder nie lernen. Aber sie dürfen ja einmal pro Woche mit ihren nichtbehinderten Altersgenossen spielen. " Diese Tatsachenbehauptung ist unrichtig.Tatsächlich werden im Institut Keil auch mittelschwere und schwerstbehinderte Kinder integriert. Je nach Art der Behinderung spielen, leben und lernen manche Behinderte täglich, andere wiederum einmal oder mehrmals die Woche mit Nichtbehinderten. Dahinter steckt, daß nicht jede Integrationssituation für jedes behinderte Kind hinsichtlich Inhalt und Dauer in jeder Lebensphase gleich sinnvoll ist. Das Credo des Institut Keils ist: Integration soll behinderungsspezifische Intensiv-Therapie und Förderung nicht verhindern und umgekehrt, sondern bei jedem Kind ein mit seinen Eltern abgesprochenes sinnvolles Ganzes ergeben.

Themenbereich: Integration und Therapie

Volker Schönwiese: Problemfeld Therapie

A.o.Univ.Prof.Dr. Volker Schönwiese

Wie in der letzten Sondernummer von betrifft:integration - dem Weißbuch Integration - schon kurz beschrieben, gibt es in Österreich bedeutsame quantitative und qualitative Probleme in der therapeutischen Versorgung von behinderten Kindern in Österreich.

Eltern von behinderten Kindern sind ja durchwegs in der verzweifelten Lage, sich um Therapie und verschiedenste Hilfen für Ihre Kinder intensiv bemühen zu müssen. Es gehört zur "normalen" Entwicklung des Lebens mit behinderten Kindern, nach der richtigen Therapie zu suchen und ganz viel Hoffnung in Therapie zu setzen. Hier die richtige Entscheidung zu treffen und auch den richtigen Zeitpunkt, ist für Eltern sehr schwer. Es ist meist so, daß Eltern in dieser Zwangslage auf lokale Angebote zurückgreifen, aber zusätzlich immer wieder lange Wege der Suche und der Erprobung verschiedenster Therapien auf sich nehmen, was mit großem Zeit- und Geldaufwand verbunden sein kann. Das Gefühl unter Umständen mögliche Förderung zu versäumen, löst viel Hektik aus; das Gefühl Therapiemöglichkeiten schon versäumt zu haben, Schuldgefühle. Dabei ist es sehr schwer, sich in dem großen und nicht überschaubaren Feld der Therapieangebote zurecht zu finden. Neben einigen Standard-Angeboten, wie z.B. Physiotherapie nach Bobath, ist das Angebot an Therapieformen für Laien nicht überschaubar und auch nicht einschätzbar. Von sehr seriös erscheinenden Angeboten bis zu Wunderheilern ist alles zu finden.

Wer hilft Eltern, die "richtige" Therapie zu finden?

Wie verläßlich sind Ratschläge von Ärztinnen, Psychologinnen, Frühförderinnen, Ratschläge aus Büchern, Ratschläge von anderen Betroffenen, von Bekannten und Verwandten usw.? Gesetzlich gibt es überhaupt keine Standards, von Fachleuten überregional erarbeitete Richtlinien gibt es kaum oder nicht, Richtlinien von den Bundesländern, welche Therapien aus welchen Gründen nach den Landesbehindertengesetzen finanziert werden, ebensowenig. Vielfach sind Amtsärzte und Beamte die entscheidenden Personen, daß bestimmte Therapieformen akzeptiert und bezahlt werden. So etwas wie eine Pflicht zur fachlichen Überprüfung (Evaluation), die nicht nur ärztliche Gutachten beinhaltet, sondern mehrere Fachbereiche umfaßt, gibt es nicht.

Es kann von einer weitgehenden Medizinisierung der Begründung und der Überprüfungs-Verfahren von Therapie gesprochen werden. Pädagogik, oder gar Integrationspädagogik hat dabei kaum einen Stellenwert. Multidisziplinarität dient bestenfalls als Überweisungs- und Gutachtensmaschinerie, ist aber nicht als Zusammenarbeit bekannt. Es ist oft zu bemerken, daß dort, wo konsequent Therapie betrieben wird, auch eine Integrations-Gegnerschaft vorherrscht. Der Einsatz für Integration kann, wenn er fachlich begleitet ist, langandauernde Therapie ersetzen. Dem stehen jedoch oft Eigen-Interessen von Institutionen und Standesinteressen entgegen.

Auf Seiten der Einrichtungen werden mit Therapie beträchtliche Geldmengen umgesetzt, was sehr für eine bessere fachliche Kontrolle sprechen würde und dafür, daß das Angebot des "Supermarkts" an Therapien nicht einfach den Einrichtungen überlassen werden soll. Therapien sind üblicherweise auch Aushängeschilder für gute Einrichtungen oder anders gesagt, viele Einrichtungen legitimieren sich über ihr Therapieangebot, so nach dem Prinzip: je mehr Therapien angeboten, desto besser muß wohl die Einrichtung sein.

Zusätzlich gibt es ein beobachtbares Problem, daß es bei Familien mit behinderten Kindern viel Entlastungsbedarf gibt, der durch Therapieeinrichtungen unter Umständen in einen Therapiebedarf umgedeutet wird. Die Abgrenzung eines Bedarfs an integrativer Pädagogik, an Familienentlastung oder an Therapie mag manchmal nicht so leicht möglich sein. Im Zweifel darf aber nicht für die Therapie und für eine Therapeutisierung des Alltags entschieden werden.

Es gilt also den "Mythos Therapie", der - von verschiedensten Profis gefördert - sowohl bei den Eltern vorhanden ist, als auch von vielen Einrichtungen gepflegt wird, auf eine reale Beurteilungsgrundlage zu stellen und der so lange vorherrschenden Vorstellung wie "je mehr Therapie, um so besser" entgegenzutreten.

Für Psychotherapie gibt es eine gesetzliche Regelung über das Psychotherapiegesetz, um Standards zu setzen, zu kontrollieren und Mißbrauch zu unterbinden. Warum gibt es das nicht für Therapie mit behinderten Personen? Dieser Zustand muß für Eltern und Behinderte unbefriedigend sein, es gibt politischen Handlungsbedarf.

Thesen für Beurteilungsgrundlagen

Um hier Beurteilungsgrundlagen zu schaffen, müssen auf dem aktuellen Stand der fachlichen Erkenntnisse Fragen gestellt und zu folgenden Themenbereichen Diskussionen geführt werden, die nun als Thesen formuliert werden sollen:

  • Wie weit werden immer noch rein defizit-orientierte, methodisch-technizistische oder manipulative Therapie-Ansätze verwendet oder geduldet, die vor allem an der Anpassung und Korrektur der behinderten Kinder orientiert sind (z.B. Festhaltetherapie, Vojta-Therapie, Therapie nach Doman-Delacato usw.). Solche veraltete heilpädagogische Ansätze mißachten die Unterstützung der Stärken und Kompetenzen eines Kindes und seiner Bezugspersonen - im Sinne einer Begleitung und Unterstützung der Motivation und Eigentätigkeit der beteiligten betroffenen Personen, wie sie die Integrationspädagogik fordert. Die mögliche Eigentätigkeit, Selbstbestimmung oder Autonomie bzw. die Kompetenz im Umgang mit den eigenen Problemen steht oft nicht im Mittelpunkt von Therapie und wird einem meist uneinlösbaren Mythos der Heilung/ Besserung geopfert.

  • Defizitorientierung, wie sie bei den meisten üblichen Therapien als zumindest heimlicher Lehrplan weiterhin zu bemerken ist, bewirkt bei den Betroffenen eine permanente Untergrabung des Selbstwertgefühls und schafft ein negatives Selbstbild vom eigenen Körper. Udo SIERCK (in Mürner/Schriber 1993, S. 127) berichtet: "Über Jahre habe ich in der Beschäftigungstherapie der Sonderschule zu lernen versucht, mir die Schuhe selbst zu schnüren. Alle fanden diese Übung sinnvoll. Ich habe in der Zeit gelernt, was ich nicht kann. Über Jahre habe ich in der Krankengymnastik gelernt, relativ gerade und unauffällig - ein Hauptanliegen dieser Disziplin - zu stehen. Ein beachtlicher Fortschritt, meine Therapeutin und Eltern beschulterklopften sich. Ich habe gelernt, daß meine ursprünglichen und zu mir gehörenden Körperhaltungen negativ zu bewerten sind. Über Jahre durfte ich in einem Sonderraum innerhalb der Sonderschule selbständig - und das hiess sauber - essen lernen. Das Ergebnis dieser eingehenden Behandlung: Ich habe gelernt, daß Kleckern eine Schande, jedenfalls unausgesprochen peinlich ist."

  • Wie weit wird in dem oben genannten Zusammenhang durch Therapie das Körpergefühl negativ beeinträchtigt, indem der Körper immer als ein zu korrigierender aufgefaßt wird. Dabei werden oft Schmerzen absichtlich toleriert oder für ein Hinbiegen auf die richtige Norm verwendet. Wie soll bei solcher Therapie der eigene Körper lustvoll und begehrenswert empfunden werden, wenn durch die Therapie permanent das Gegenteil vermittelt wird? Was hat das langfristig für Folgen für die Beziehungsfähigkeit von behinderten Menschen? Wird hier nicht wieder einmal - projektiv über Therapie - nichts als die übliche Ablehnung von Behinderten transportiert?

  • Der "Therapeutische Mythos" von der unteilbaren Notwendigkeit der Heilung bzw. der kausalen Einflußnahme auf die Behinderung muß gründlich in Frage gestellt werden. Bezogen auf verschiedenste (hypothetische) Störungen des Zentralnervensystems (Schädigungen oder Dysfunktionen des Gehirns) wird oft von einer nur sehr beschränkt richtigen Theorie der "Plastizität des Gehirns durch Übungen" ausgegangen und das soziale Beziehungsumfeld und die Motivation des Kindes vernachlässigt. Dies läßt sich auch durch empirische Analysen aus dem Bereich der Medizin zur Effektivität von Frühförderung und Therapien mit behinderten Kindern belegen.

SCHLACK (1994) hat in einer Literaturanalyse Bewertungen der kausalen Wirksamkeit verschiedener Therapieformen durchgeführt. Er schreibt: "Zur Wirksamkeit der Krankengymnastik bei infantilen zerebralen Bewegungsstörungen gibt es zwei Meta-Analysen über neun bzw. 17 Studien. Sie stimmen darin überein, daß insgesamt, zumindest mit den bisher publizierten Beurteilungsmethoden, ein eindeutiger Effekt nicht objektiviert werden kann. Je strenger die in den einzelnen Studien angelegten methodischen Kriterien waren, desto eher kamen die Untersucher zu einem negativen Ergebnis. Diese Aussagen betreffen im übrigen die angewandten Methoden (z.B. Bobath oder nach Vojta) ohne signifikanten Unterschied...

Günstiger sind die Ergebnisse (früher Interventionen) bei Kindern mit mentalen Entwicklungsstörungen aus anderen, z.T. nicht näher bestimmbaren Gründen. Dabei fällt auf, daß die Interventionsformen mit den besten Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder ihren Schwerpunkt in elternzentrierten Maßnahmen hatten...

Am eindrucksvollsten sind die Ergebnisse früher Intervention bei Kindern, deren Entwicklungsstörungen in erster Linie durch ungünstige soziale Verhältnisse bedingt sind. Die Effekte werden durch signifikante Verbesserung der Entwicklungs- bzw. Intelligenzquotienten belegt. Die vor allem in den USA durchgeführten Programme sind überwiegend pädagogisch orientiert ...".

Der Autor zieht folgende Schlußfolgerung: "Die Folgen angeborener organischer Hirnschädigungen sind therapeutisch offenbar nur in engen Grenzen zu beeinflussen. (...) Wie spezifisch sich die Behandlungstechnik der einen oder anderen Methode auswirkt, ist schwer zu beurteilen. Jede therapeutische Intervention impliziert einen ganzen Komplex von Variablen, wobei die Person des Therapeuten vermutlich eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielt, wie seine Behandlungstechnik.

Die Sorge um die psychosozialen Bedingungen, in denen ein entwicklungsgestörtes oder behindertes Kind aufwächst, ist kein schmückendes karitatives Beiwerk, sondern ein essentieller Teil einer rationalen Vorgehensweise. Ein Konzept, das auch bei organisch bedingten Entwicklungsstörungen therapeutische Interventionen auf der psychosozialen Ebene in den Mittelpunkt stellt, wird von den Ergebnissen der vorliegenden empirischen Studien besser gestützt als eine Therapietheorie, die in erster Linie das Training beeinträchtigter Funktionen als kurativen Faktor bewertet."

Im Klartext bedeutet das, daß die üblichen therapeutischen Übungsverfahren bei Kindern mit geringen oder größeren Hirnschädigungen keinen Besserungseffekt haben. Verbesserung in der Entwicklung der Kinder sind dort zu erwarten, wo den Eltern geholfen wird, besser mit der Situation fertig zu werden und dort, wo eine Therapeutin zu dem behinderten Kind eine gute Beziehung herstellen kann.

Diese Schlußfolgerungen könnten noch in dem Sinne weiter interpretiert werden, daß die zahlreichen Therapietechniken und -methoden für behinderte Personen vielleicht nur eine untergeordnete Rolle spielen und die therapierende Person in ihrer Fähigkeit den Dialog herzustellen und Beziehungsarbeit zu leisten, die größte Bedeutsamkeit im Therapieprozeß hat. Dies könnte sich auch mit Erfahrungen decken, die sich mit psychotherapeutischen Richtungen (ganz unabhängig von Behinderung) machen lassen.

  • Dennoch haben Therapietechniken einen wichtigen Stellenwert. Sie müssen allerdings danach bewertet werden, wie weit sie als Technik manipulativ sind oder "Spielräume" eröffnen und dabei Eigentätigkeit, Erfahrung und Dialog ermöglichende Rahmenbedingungen schaffen. Hier könnte als ein äußerster Pol die von Jirina PREKOP so propagierte Festhaltetherapie genannt werden, die durch erzwungenes Festhalten Eigentätigkeit des Kindes, Dialog und Beziehungsarbeit nahezu völlig ausschließt. Den anderen Pol könnte die Psychotherapie mit behinderten Personen darstellen, die ausschließlich auf dialogisches Verstehen und Beziehungsarbeit aufgebaut ist. Dazwischen gibt es eine Fülle von Therapieformen, die mit unterschiedlichen Techniken, Handlungsformen, Gegenständen und Instrumenten mehr oder weniger korrektiv oder dialogisch und Entwicklungsraum gebend orientiert sind. Ob Therapieformen dialogisch gebraucht oder manipulativ mißbraucht werden, liegt wiederum weitgehend an der fachlich und selbstreflexiv gebildeten persönlichen Kompetenz der Therapeutinnen.

  • Gerade weil die Beziehung zu dem Kind so entscheidend ist, muß folgende These besonders ernst genommen werden: Es muß nach der oft heimlichen Funktion (dem heimlichen Lehrplan) von Therapie gesucht werden. Dies beinhaltet auch die tiefenpsychologische Frage, wie weit therapeutische Qualifizierung, die Therapietechniken im Mittelpunkt hat, nicht als ein Mittel der Distanz, zur eigenen Abgrenzung, zum Selbstschutz des Therapeuten, zu seiner Angstabwehr dient. Die scheinbar genaue Eingrenzung von Problemen dient wahrscheinlich öfter den Therapeuten dazu, mit der für die eigene Identität bedrohlichen Therapiesituation fertig zu werden, denn den Therapierten.

  • Eine wichtige Frage ist auch, welche theoretische Entwicklungsvorstellung hinter Therapieformen steht. Auch hier erscheint es so, daß noch vielfach veralteten Vorstellungen angehangen wird, wie, daß eine "normale" Entwicklung eine gerade Linie hat, die von einer Funktionsentwicklung zur nächsten, von einer (Trotz-) Phase zur logischen nächsten fortschreitet. Eltern werden ja damit oft geängstigt, daß ihre Kinder nicht zum "richtigen Zeitpunkt" all das können, was von normalen Kindern erwartet wird. Neuere Entwicklungsvorstellungen gehen aber davon aus, daß Entwicklung viel "chaotischer" funktioniert und Diagnosen wie "zu langsam" oder "zu schnell" keinen so bedeutsamen Stellenwert haben. Folgendes Zitat kann dazu vielleicht einen Hinweis geben. HUSCHKE-RHEIN schreibt (in Lüpke/Voss 1994, S. 34f): "Die bisherige Entwicklungspsychologie war vorwiegend an den linearen, berechenbaren, voraussagbaren, kontinuierlichen, meßbaren und erwartungskonformen Verläufen interessiert.... Den von der Chaostheorie bzw. der Allgemeinen dynamischen Systemtheorie her denkenden Modellen liegen radikal neue wissenschaftstheoretische Vorstellungen zugrunde. Die hier angenommenen Systeme sind indeterminiert, nichtprognostizierbar, sie werden nicht von 'Faktoren', sondern von 'Attraktoren' ... beeinflußt, die eine längerfristige gleichsam 'magnetische' Wirkung auf bestimmte Systembereiche ausüben, meist aber nicht im Voraus als solche erkennbar sind und also auch nicht berechenbar sind. Solche Systeme sind darum auch nicht direkt von außen 'steuerbar', sie 'fluktuieren' vielmehr, d.h. sie folgen den eigenen, autonomen, internen Bewegungen. Ihr Kennzeichen ist eine extrem hohe Komplexität.... Widersprüche, Krisen, Paradoxien, starke Gleichgewichtsschwankungen - diese zunächst mathematischen Parameter von chaotischen Systemprozessen sind zugleich auch Beschreibungsgrößen für die Entwicklung psychischer Systeme. Kreativität ist gar nicht ohne solche Begriffe beschreibbar, und wir können darüber nachsinnen, ob nicht alle Kinder, solange sie psychisch 'lebendig' sind, mit solchen Begriffen beschrieben werden sollten." Kurz: Psychische Lebendigkeit ist wichtiger, als nach irgend einem Beurteilungsschema nicht in der Norm zu sein.

  • Eine wichtige Frage zur Beurteilung von Therapien ist noch, ob Übertragbarkeit der "Therapie" zur Bewältigung von Problemen des Alltags möglich ist. Bei den üblichen Übungstechniken ist ein Abhängigwerden von der Therapie zu beobachten. Therapie wird keine Grenze gegeben, das Beenden von Therapie ist als Ziel nicht vorgesehen (außer es entsteht "Heilung"), lebenslange Therapiebedürftigkeit wird angenommen. Es ist anzunehmen, daß die vielfach jahrelang und stereotyp durchgeführten Therapien die für behinderte Kinder besonders schwierigen Ablösungsprozesse innerhalb der Familie behindern, die immer zum Eigenständig- und Erwachsenwerden zentrale Bedeutung haben. "Normale" Kinder erkämpfen sich ihren Raum, indem sie sich beginnen von den Eltern zu lösen. Für die Pubertät ist das bekannt und es gibt dafür ein bestimmtes Verständnis. Bei behinderten Kindern wird leicht aus sorgenvoller Zuwendung jedes Zeichen von Loslösung als Problem gesehen und oft als Teil der Behinderung interpretiert, die mit Therapie "bekämpft" werden muß. So entstehen lebenslange Abhängigkeiten. Behinderte Jugendliche und Erwachsene, die immer noch im Ehebett schlafen, lebenslang bei den Eltern wohnen, sind die sichtbarsten Folgen von nicht gelungenen Ablösungsprozessen, bei denen Therapie statt Eigenverantwortung und Integration im Vordergrund gestanden sind.

  • Zuletzt noch ein Beispiel aus der Therapiepraxis, das an der therapeutischen Begleitung von behinderten Kindern und ihrer Eltern - ohne dem "Mythos Therapie" anzuhängen - orientiert ist. Monika ALY (in Lüpke/Voss 1994, Seite 118-119): "Kinder, die eine Verzögerung in ihrer Entwicklung haben, brauchen in erster Linie Zeit und Ruhe, um überhaupt eigene Interessen für die Umwelt zu entwickeln. In seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt nimmt sich das Kind zunehmend selbst als Person wahr. Das geschieht im Kontakt und in der Kommunikation mit anderen Personen und im Kontakt zu seinem Körper - zum Beispiel beim An- und Auskleiden. In der Therapiesituation sind Kinder (...) ebenso wie zu Hause darauf angewiesen, möglichst konstante räumliche und zeitliche Strukturen wiederzufinden. Mit dieser Sicherheit können sie anfangen, von sich aus mit Gegenständen zu experimentieren. Das Angebot sollte sich in jeder Therapiestunde neu nach dem Interesse und den Bedürfnissen des Kindes ausrichten, das bedarf einer großen Flexibilität des Therapeuten. Das Spielangebot sollte dem Kind Lust zum Spielen machen, die Wahl bieten, gleichzeitig aber auch die Freiheit, es ablehnen zu dürfen. Das Kind - nicht der Therapeut - sollte aktiv sein. Gleichzeitig darf das Kind auch inaktiv sein dürfen. Jeglicher Handlungsplan schränkt die Möglichkeit ein, wirklich offen für das zu sein, was geschehen könnte. Dennoch braucht der Therapeut genaue Vorstellungen über Fähigkeiten und Grenzen des Kindes. Der Therapeut macht Vorschläge, das Kind nimmt sie vielleicht an, modifiziert sie und stellt neue Fragen. Dadurch entsteht ein Dialog mit einem offenen Ende, der sich spiralförmig nach oben entwickelt, mit immer wieder neuen Verbindungen und Übergängen, gleich einem Dialog mit immer wieder neuem gegenseitigen Fragen. Die Probleme können so niemals die gleichen bleiben, da ständig neue Anregungen und Bedürfnisse dazukommen. Das Kind lernt dabei, sicherer im Umgang mit sich selbst und seinen Problemen zu werden. Kinder mit Entwicklungsstörungen (...) brauchen mehr eine Begleitung, eine Beobachtung als eine Behandlung. Diese Begleitung brauchen vor allem auch die Eltern, um die Schwierigkeiten ihrer Kinder besser verstehen zu können. Die Therapiestunden, die nur für einen begrenzten Zeitraum sinnvoll sind, sind eine Möglichkeit, dem Kind Anregungen und Ideen zu geben, um in einer "geschützten" Situation Bewegungs- und Spielerfahrung zu sammeln.

´Es sollte darum gehen, Menschen nicht für etwas interessieren zu wollen, sondern zu spüren, für was sie sich bereits interessieren´ (Jacoby)".

Literatur

ALY, Monika: Das Sorgenkind im ersten Lebensjahr. Frühgeboren, entwicklungsverzögert, behindert - oder einfach anders? Ein Ratgeber für Eltern. Berlin (Springer Verlag) 1998 (Ende das Jahres)

FERRARI, Adriano/ CIONI, Giovanni (Hrsg.): Infantile Zerebralparese. Spontaner Verlauf und Orientierungshilfen für die Rehabilitation. Berlin (Springer Verlag), 1998

LÜPKE, Hans von/VOSS, Reinhard (Hg.): Entwicklung im Netzwerk (http://bidok.uibk.ac.at/library/luepke_voss-netzwerk_einleitung.html) (Stand: 16.06.2010 Link aktualisiert durch bidok)., Link aktualisiert durch bidok). Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung (Pfaffenweiler - Centaurus Verlag - 1994).

NIEDECKEN, Dietmut: Namenlos. Geistig Behinderte verstehen (http://bidok.uibk.ac.at//library/niedecken-namenlos.html.) (Stand: 16.06.2010

Link aktualisiert durch bidok).München (Piper Verlag - 1989; erscheint demnächst etwas überarbeitet bei Luchterhand) 1998

PIKLER, Emmi: Laßt mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. München (Pflaum Verlag) 1988

MÜRNER Christian / Susanne SCHRIBER (Hg.): Selbstkritik der Sonderpädagogik? Selbstvertretung und Selbstbestimmung. Luzern (Edition SZH) 1993

SCHLACK, H. G.: Interventionen bei Entwicklungsstörungen (http://bidok.uibk.ac.at//library/schlack-entwicklungsstoerungen.html) (Stand: 16.06.2010; Link aktualisiert durch bidok).in: Monatsschrift für Kinderheilkunde, Nr. 142/ 1994, S. 180-184, auch in: BIDOK

Klappentext zu dem Buch von Monika ALY:

Eltern, deren Baby an einer Entwicklungsstörung leidet oder die Folgen seiner zu frühen Geburt noch nicht verkraftet hat, sind verunsichert und suchen professionellen Rat bei Fachärzten und Therapeuten. Gerade im ersten Lebensjahr sind aber Art, Schweregrad und Verlauf einer vielleicht vorhandenen Entwicklungsstörung meist noch nicht überschaubar, und die Diagnosen und Prognosen bleiben entsprechend unklar. Eltern fühlen sich überfordert, lassen sich vielleicht zu vorschnellen Frühfördermaßnahmen drängen und verlieren zudem viel intuitive Sicherheit, die ihr Kind gerade in dieser Situation besonders dringend bräuchte. Der Ratgeber von Monika Aly hilft den Eltern, Selbstvertrauen und Kompetenz im Umgang mit ihrem Sorgenkind zurückzugewinnen und wichtige Entscheidungen umsichtig und zum richtigen Zeitpunkt zu treffen.

Klappentext zu dem Buch von FERRARI/ CIONI:

Dieses Buch beschreibt neue Perspektiven in der Früherkennung und Rehabilitation der infantilen Zerebralparese (IZP). Genauere Diagnosekriterien ermöglichen heute eine Einteilung der IZP in klar definierte Formen und Varianten, die die Grundlage bilden für

eine differenzierte Prognose des spontanen Verlaufs beim einzelnen Kind und

eine klare Einschätzung der Behandlungsmöglichkeiten.

Die Rehabilitation hat die Förderung aller Ressourcen des Kindes und seine Unterstützung durch Hilfestellungen beim Erreichen optimaler Anpassungsfunktionen zum Ziel. In diesem theoretischen Rahmen bietet das Buch Physio- und Ergotherapeuten, Ärzten, Psychologen, Ortopädietechnikern und allen anderen beteiligten Berufsgruppen Praxisanleitungen zu einer erweiterten Diagnostik - die neben den motorischen Funktionen psychologische und neuropsychologische Aspekte sowie Störungen der Sehfunktion einbezieht - zur physiotherapeutischen Förderung, zu chirurgischen Maßnahmen und zur modernen Hilfsmittelversorgung.

Streit um Therapie für autistische Kinder

(Standard:)

Seit zehn Jahren leitet die Kinderpsychologin Eszter Bánffy die "RehaStätten für autistische, psychotische und wahrnehmungsgestörte Kinder und Jugendliche". Das Jubiläum wird nun durch schwere Vorwürfe vom Innsbrucker Erziehungswissenschafter Volker Schönwiese gestört. Bánffys Therapiemethoden würde nur auf Anpassung abzielen und die psychosoziale Situation der Kinder außer Acht lassen.

Bánffys verhaltenstherapeutische Konzepte seien theoretisch in den 50er-Jahren beheimatet. Die Anweisungen an die von Bánffy selbst ausgebildeten Therapeuten hätten einen technischen Charakter und würden die notwendige Herstellung einer Beziehung Therapeut-Klient nicht beinhalten. Zu den kritisierten Methoden zählt der sogenannte "Sandwich": Ein Kind wird zwischen zwei Matratzen gelegt, obenauf setzen sich mehrere Erwachsene und Kinder. Für Schönwiese eine unverantwortbare Gewaltsituation. Nachdem Bánffy ihre Therapeuten auch unter Studierenden an der Erziehungswissenschaft rekrutiere, habe er diesen nun empfohlen, nicht dort zu arbeiten.

Bánffy verteidigt die von ihr entwickelte "Komplexe Wahrnehmungstherapie". Der angesprochene "Sandwich" gehöre dabei zu den Methoden, die ihr die "höchste Erfolgsquote" beschere. Alle Kinder, die zu ihr in Therapie kommen, hätten spätestens nach drei Monaten weder autoagressive Symptome, noch Panikattacken.

Zu den methodischen kommen aber auch finanzielle Vorwürfe. Der LA Bernhard Ernst (Grüne) verweist auf einen eineinhalb Jahre alten Bericht des Landeskontrollamtes, wonach Bánffys Reha-Stätten dem Land durchschnittlich pro Kind und Jahr 313.000 Schilling verrechnen würden. Demgegenüber habe der Verein Eule, der ein vergleichbares Klientel betreue, nur durchschnittlich 47.000 Schilling erhalten. Ernst wirft Soziallandesrat Herbert Prock (SPÖ) Untätigkeit vor und wird in der nächsten Landtagssitzung eine in 40 Punkte gegliederte Anfrage stellen. Schönwiese kritisierte zudem das Fehlen gesetzlicher Rahmenbestimmungen. (hs)

aus: Der Standard, Rubrik Länder-Berichte: Tirol, vom 27./28. Juni 1998

Wolfgang Mizelli: Menschenwürdig leben

aus: behindert@olymp.wu-wien.ac.at/

Ein Manifest für Selbstbestimmung

Den Begriff "Selbstbestimmung" im Zusammenhang mit der Tötung eines Menschen zu verwenden, ist ein Mißbrauch dieses Begriffes. Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung der Menschen mit Behinderungen in Österreich findet es angesichts der überwiegend unwürdigen Bedingungen, unter denen Menschen mit Behinderungen leben, zynisch den Begriff "Selbstbestimmung" in oben genanntem Zusammenhang zu verwenden. Behinderte Menschen sind auf Grund von Vorurteilen selbst in gesicherten Demokratien akut von Thesen zur aktiven Sterbehilfe bedroht.

Das Vorurteil lautet: "Behinderte Menschen leiden grundsätzlich an ihrem Leben und möchten lieber heute als morgen sterben." Wir müssen in unserem Alltag immer wieder gegen diese Vorurteile ankämpfen. Die Selbsttötungen von Menschen mit Behinderungen, die immer wieder durch die Medien als Spektakel inszeniert werden, tragen noch zusätzlich zu diesen Vorurteilen bei. Das Leiden von Menschen mit Behinderungen resultiert in fast allen Fällen aus einem Mangel an Unterstützung und Hilfen für den Alltag.

Wir fordern daher statt der Giftspritze eine umfassende Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen. Zu diesen Verbesserungen zählen unter anderem:

  • eine bedarfsgerechte Assistenzregelung,

  • eine anständige Hilfsmittelversorgung,

  • der uneingeschränkte Zugang zu allen Lebensbereichen.

Das Recht des einzelnen auf den eigenen Tod zum selbstgewählten Zeitpunkt endet genau dort, wo das Recht anderer auf ein Leben in Würde und Achtung akut bedroht ist. Deswegen lehnen wir auch jede Erlaubnis zur assistierten Selbsttötung und der Beihilfe zur Selbsttötung ab. Unsere tägliche Erfahrung läßt uns hier einfach keine andere Möglichkeit. Wir wissen, daß Menschen schon derzeit immer wieder damit konfrontiert werden, daß ihnen der Tod gewünscht wird, weil ihr Leben angeblich nichts mehr wert ist.

Daß diese Lebensbedingungen, aus denen die Todeswünsche herrühren, von der Gesellschaft produziert werden und daher auch von ihr beseitigt werden könnten, darüber wagt keiner auch nur ein Wort zu verlieren.

Wir vermuten daher, daß hinter der Maske humanistischer Gesinnung, beinhartes ökonomisches Kalkül und Raffgier der Sterbehilfeapologeten steht. Beschwichtigungsversuche, die darauf abzielen, daß das doch gar nicht passieren wird, können wir nicht akzeptieren. Erstens, weil unsere Erfahrung uns anderes lehrt und zweitens, weil die Meldungen aus dem Paradies für Sterbehilfe, Holland, hier keine wirkliche Beruhigung darstellen. Dort gibt es bereits Stimmen, die Euthanasie für Menschen fordern, nur weil sie als "geistig behindert" definiert werden. Drittens zeigt sich in vielen Argumentationsketten der Giftspritzenbefürworterinnen, daß damit der erste Schritt auf dem Weg von der freiwilligen zur nichtfreiwilligen Euthanasie vollzogen wird.

Jedwede rechtliche oder sonstige Regelung zur Erlaubnis der aktiven Sterbehilfe funktioniert aus folgenden Gründen nicht:

  • Die sogenannte freiwillige Zustimmung kann auch aus psychischen Störungen, wie einer Depression resultieren.

  • Die sogenannte freiwillige Zustimmung kann auch erzwungen werden.

  • Eine Willenserklärung, die vor fünf Jahren abgegeben wurde, sagt nichts über den momentanen Willen aus.

  • Die Zustimmung naher Verwandter ist von vornherein problematisch. Sie kann gegen die Interessen des Tötungskandidaten erfolgen.

Man wird uns für grausam halten, ob dieser sehr rigorosen Haltung. Man wird uns Fundamentalismus und Fortschrittsfeindlichkeit vorwerfen wollen. Da wir aber nicht grausam sind, fordern wir parallel zur Ablehnung der Giftspritze eine radikale Verbesserung der Schmerzbekämpfung in Österreich. Dazu gehört auch eine Freigabe wirksamer, aber in Österreich durch das Suchtmittelgesetz verbotener Mittel zur Linderung und Beseitigung von Schmerzen. Dazu gehört auch eine Einbindung der Sterbebegleitung in unser Gesundheitssystem, etwa durch angemessene finanzielle Abgeltung dieser Leistung.

Was die möglichen Vorwürfe des Fundamentalismus und der Fortschrittsfeindlichkeit angeht, stellen wir fest: Wenn es fundamentalistisch ist, sich gegen Angriffe auf das eigene Leben zu wehren und ein Verbot dieser Angriffe zu fordern, dann sind wir fundamentalistisch in diesem Sinn. Wenn Fortschritt eine dauerhafte Bedrohung unserer Würde und unserer Persönlichkeit bedeutet, dann sind wir fortschrittsfeindlich. Wenn der Fortschritt bedeutet, individuelle Rechte zu Gunsten eines wie immer gearteten Gemeinwohls und ökonomischer Interessen aufzugeben, sind wir gegen Fortschritt.

Volker Rutte: Internationaler Integrationskongreß

Der 12. internationale Integrationskongreß, veranstaltet von "Inclusion International", fand vom 23. bis 28. August 1998 in Den Haag statt.

Die einzelnen Tage hatten Leitthemen, die sich in den Titeln der Plenarveranstaltungen spiegelten, wie "Soziale Gerechtigkeit und mehr Miteinander", "Menschenrechte und volle Bürgerrechte", "Familienleben" und "Selbstbestimmung".

Es fiel auf, daß das Thema Integration immer mehr von der Menschenrechtsseite gesehen wird. Präsident Walter Eigner (Österreich) nahm spezifisch auf relevante sozialpolitische Fragen Bezug. Eine Botschaft der Vorsitzenden der UN-Menschenrechtskommission traf ein. Bengt Lindqvist berichtete, die Kommission für Menschenrechte werde nun Behindertenfragen einbeziehen, jährlich werde es einen Bericht des UN-Sekretärs geben.

Don't prevent us - include us

Die andere Schiene der Argumentation war die Selbstbestimmung. Das zeigte schon die große Zahl teilnehmender betroffener Menschen. Das für mich größte Erlebnis war diese Mehrheit behinderte Menschen unter denen ich meinen "nichtbehinderten" Status und meine Tradition der Kommunikation neu definieren mußte. Paul Young aus Canada erzählte kritisch von seinem Leben und warb für die "People First" Bewegung. Alex Righolt war Epileptiker und sprach als "Self-advocat". Robert Martin aus Neuseeland war als Vorsitzender zurückhaltend, bescheiden. Er hatte jene knappe Ausdrucksweise, Satz für Satz wurde von ihm gleichsam herausgestossen. Er las vom Manuskript seine ausgezeichnete, aphoristische Darstellung der Probleme. Möglicherweise, dachte ich mir, versteht er als geistig behinderter Mensch nicht alles, aber sein Verhalten würde jeder Politikerin, die oft auch wenig versteht, wohl anstehen.

Gewöhnungsbedürftiges Szenario

Es gab lange Verzögerungen beim Gehen zum Mikro, spontane Emotionen auf dem Podium, unbeabsichtigtes Liedersummen im Lautsprecher. Jemand aus dem Publikum setzte sich auf den Boden, legte sich dann hin. Natürlich gab es auch viele reine Selbstdarstellungen, Rednerszenen. Das sei hier alles ausgesprochen, nicht für eine moralische Bewertung, sondern um die "inneren Bilder" zu schaffen.

Das wichtigste Thema des Arbeitskreises der Self-advocats war Selbstvertrauen, Stolz, Appell zu Solidarität. Der Stolz von M. Campos bei der Aussage "als ich von der Behindertenwerkstatt weggegangen bin" war berührend. Betreffend unsensibler Mitmenschen sagte sie: "Wenn die Leute dich anstarren, mußt du daran denken, wie freundlich die Menschen sind." Betreffend Entscheidungsfähigkeit: "Wenn einem niemand sagt, worum es geht, dann kann man auch keine Wahl treffen." Ja, dachte ich mir, das ist es: Geistig behinderte Menschen können eine Wahl aus gegebenen Angeboten, Ideen, Alternativen treffen.

"Choice" ist das Schlüsselwort

Bei uns in Österreich werden Probleme auch unter behinderten Menschen, meines Wissens, kaum artikuliert, sondern recht urtümlich verdrängt. "Ewige Kindheit" oder ohnmächtiges Abfinden und dumpfe Resignation herrscht häufig unter geistig behinderten Erwachsenen. Kenntnisse über psychische Mechanismen, Kommunikationstechniken und politisches Handeln werden Geistigbehinderten nicht in einer ihnen gemäßen Form vermittelt, zum Teil sicher auch bewußt, damit "sie nicht noch schwieriger werden".

Wim van Empel definierte Mitbestimmung so: Menschen so wertschätzen, daß sichergestellt wird, daß sie nach ihrem Wunsch leben können. Gunnar Dybwad, der große, alte Mann dieser Idee, schilderte in seinem Plenarreferat nur Einzelfälle. Selbstbestimmung hilft behinderten Menschen, erhöht ihren Lebenserfolg, gab unersetzliche Hinweise bezüglich nötiger Maßnahmen. Selbstbestimmung ist etwas anderes für jede Person. Es ist ein Prozeß, Veränderungen unterworfen. Etwa neunhundert Teilnehmerinnen aus aller Welt waren auf der Liste. Es war ein Kongreß mit großem Format.

Kontakt:

Volker Rutte; ZIB, Beratungsstelle des Landesschulrates für Steiermark

E-mail: volker.rutte@lsr-stmk.gv.at

Peter Hecht: Eltern beraten Eltern

gekürztes Referat von Peter Hecht, gehalten am 31.10.1998 bei der Präsentation des Ausbildungskonzeptes EbE von I : Ö in Göppingen/Deutschland

"Allen Fortschritt verdanken wir denen, die sich nicht anpassen."

In der Vorbereitung für dieses Referat habe ich mich bei den Teilnehmerinnen ein wenig umgehört: wie jede von dem Projekt erfahren hat, mit welchen Erwartungen jede in die Ausbildung eingestiegen ist, was sich seit dem Start - zu Beginn des heurigen Jahres so alles getan hat, verändert hat und wie wir die Ausbildung in der Gesamtheit empfinden.

Informationen über das Stattfinden des Projektes Eltern beraten Eltern (EbE) erhielten wir in erster Linie durch die regionalen Vereine, in denen ein großer Teil Mitglied und auch aktiv tätig ist. Weiters durch Ambulatorien/ Therapiestätten, wo unsere Kinder in Betreuung sind, auch durch die Zeitung betrifft:integration wurden einige aufmerksam und natürlich durch puren Zufall.

Die Erwartungshaltung, was denn da so auf uns zukommen wird, war höchst unterschiedlich: Von der Steigerung des Selbstvertrauens, über die Verbesserung der eigenen Situation und Wissenserweiterung, bis zu der Erwartung ein gutes Rüstzeug für die eigene Tätigkeit im Verein zu bekommen, dem Wunsch nach Erfahrungsaustausch mit Gleichgesinnten und einfach offen und neugierig für alles, was da kommen wird. Ja, die dritte Frage, was sich denn seit dem Beginn der Ausbildung alles getan hat und welche Veränderungen eingetreten sind, diese Frage wurde so vielschichtig beantwortet, daß mir beinahe die Folie zur Darstellung zu klein geworden wäre.

Es hat sich einmal bei einigen die Einstellung zu Integration verändert. Der Grundsatz "Integration ist unteilbar" hat sich verankert. Diese Entwicklung liegt vor allem darin begründet, daß viele wie mit Scheuklappen, nur die Behinderung des eigenen Kindes gesehen haben und sich nicht vorstellen konnten, daß auch Kinder mit anderen Behinderungen - vor allem mit geistigen Behinderungen - integrierbar sind. Möglich wurde diese Veränderung durch den Erfahrungsaustausch mit den anderen Kursteilnehmerinnen. Viele können jetzt auch eine größere Toleranz für das Unverständnis der Mitmenschen aufbringen. Die "schiefen Blicke" kommen nicht immer nur aus "böser Absicht" der anderen, sondern meist von ihrer Unsicherheit. Auch über ein besseres Verständnis für das eigene Kind, konnten einige berichten.

Über ein gesteigertes Selbstvertrauen - ganz allgemein, vor allem aber in Fragen der Integration - spricht jede der Teilnehmerinnen. Und so ganz nebenbei wurden viele zu einer Art Anlauf- und Auskunftsstelle für rat- und hilfesuchende Eltern.

Das Projekt Eltern beraten Eltern steht für uns Teilnehmerinnen auf vier Säulen:

  • Die fachliche Ausbildung - Schulgesetze, Pflegegeld, Förderungen etc.

  • Die persönliche Weiterentwicklung - Kommunikationstechniken, Konfliktmanagement etc.

  • Der informelle Teil - Informationsaustausch zwischen den einzelnen Teilnehmerinnen, Aufarbeiten der eigenen Erlebnisse.

  • Und eine authentische Kursleiterin , die durch ihre starke Motivation eine unglaubliche Gruppendynamik auslöst und mit der Auswahl der Referentinnen jedesmal genau den Anforderungen und Bedürfnissen der Gruppe entspricht.

Eine wirkliche persönliche Bereicherung ist es, mit anderen Teilnehmerinnen über die vielen kleinen und großen Probleme zu sprechen, die sich in unserem Alltag abspielen, zu erfahren, wie andere mit ähnlichen Situationen umgehen, das gibt einfach Kraft, das eigene Leben wieder besser in den Griff zu bekommen.

Terminhinweis:

Ein nächster europaweiter Austausch in Zusammenhang mit dem von der EU unterstützen Projekt "Eltern beraten Eltern" findet von 19.-21. Februar in Freudenstadt (D) statt.

Im Seminar "Austausch über den Stand und die Entwicklung der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Europa" sollen die vielfältigen Erfahrungen, die Stärkung des Elternrechtes und das erworbene Fachwissen der Eltern möglichst vielen anderen Eltern zugänglich gemacht werden.

Teilnehmende Länder: Deutschland, Österreich, Dänemark, Luxenburg, Italien, Frankreich und die Schweiz.

Veranstalter: Friedrich Ebert Stiftung in Kooperation mit Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen, LAG Baden Württenberg und INTEGRATION : ÖSTERREICH.

Zweiter Integrationsball

Der Höhepunkt der Wiener Ballsaison

Unter dem Ehrenschutz von Bundeskanzler Viktor Klima , Superintendentin Gertrud Knoll, Stadtrat Peter Marboe und den beiden Nationalratsabgeordneten Maria Schaffenrath und Theresia Haidlmayr tanzten und feierten fünfhundert Besucherinnen in den wunderschönen Räumlichkeiten des Jugendstiltheaters auf der Baumgartner Höhe.

Eröffnet wurde das diesjährige Spektakel durch die Performencgruppe Bilderwerfer, die eindrucksvoll zeigte, daß Tanzen keine Frage der Mobilität ist, sondern eine Ausdrucksform. Brigitte Handlos von Ö3 und Life-Ball Organisator Gery Keszler führten brillant durch das Programm. Einen besonderen Glanz erhielt der Ball durch das Mitfeiern und die Darbietungen prominenter Künstlerinnen. Shlomit Butbul interpretierte gemeinsam mit ihrem Pianisten "Songs in Hebrew". Adi Hirschal und Wolfgang Böck , bekannt aus dem "Kaisermühlenblues", gaben als Mitternachtseinlage einige "Strizzilieder" zum Besten.

Der Kabarettist Gunkl, Günther Paal, hinterließ mit seinen akrobatischen sprachlichen Höchstleistungen trotz später Stunde einen bleibenden Eindruck.

Für Tanzmusik vom Feinsten sorgte die Blue-note-dance-combo und in der Jahrhundertdisco gab es Hits aus den 20er bis zu den 90er Jahren. Ein Ereignis der besonderen Art bot der Verein Blickkontakt, denn er lud in seine "UnsichtBar" zu einem "Drink im Dunkeln".

Wir danken allen, die zum Gelingen dieses Festes beigetragen haben.

Bleibt nur noch zu sagen:

Den Integrationsball 1999 sollten Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen!

Franz-Joseph Huainigg: FREAK - RANDSTEIN

Vom Recht, etwas leisten zu dürfen

"Die Zeiten sind härter geworden", hört man landauf, landab. Die Krankenstände sind in den letzten Monaten drastisch zurückgegangen. Trotz Fieber ins Büro gehen, ist keine Seltenheit mehr. Denn wer fehlt, wer einmal nichts leistet, der wird einfach ausgetauscht.

Michael (38) ging wegen Seh- und Gleichgewichtsstörungen zum Arzt. Die Diagnose "Multiple Sklerose" traf ihn wie ein Schlag. Michael redete mit niemanden darüber, schon gar nicht mit seinem Arbeitgeber, "wenn der das erfährt, bin ich sofort auf der Straße", meinte er damals.

Seit der ersten Diagnose ist ein Jahr vergangen. Schubweise meldete sich die Krankheit, schubweise ging Michael auf Urlaub.

Derzeit geht es ihm wieder besonders schlecht: Michael liegt im Bett und kann sich kaum noch fortbewegen. Einen Rollstuhl anfordern oder sich gar beim Bundessozialamt als "Behinderter" einstufen zu lassen, will Michael auf keinen Fall. Denn dann gehört er ja der Randgruppe der "Behinderten" an, der "Minderleister" oder wie manche auch sagen, der "Sozialschmarotzer".

Die Statistik weißt auf einen gängigen Behinderten-Reflex hin: 14.848 Dienstgeber müßten rund 69.000 Pflichtstellen mit Behinderten besetzen. 27.000 zahlen aber lieber die Strafe von ATS 2.010,-- pro Monat. Derzeit sind 38.614 Behinderte arbeitslos.

Daß es auch anders sein kann , zeigt die Pädagogische Buchhandlung in Wien. Vor nunmehr neun Monaten beschloß die Buchhändlerin einen 17-jährigen Burschen mit Down Syndrom anzustellen. Nicht unbedingt zur Freude der, gegenüber diesem Vorhaben sehr skeptischen, fünf Mitarbeiterinnen. Unter der Mithilfe von einem Arbeitsassistenten gelang es Dieter jedoch, durch seine Arbeitskraft das Team stark zu unterstützen. "Er hat viel dazugelernt und auch seine Persönlichkeit entwickelt", meint die Buchhändlerin heute.

Neue Wege

Noch auffälliger ist für sie die Veränderung der übrigen Mitarbeiterinnen: Der Teamgeist ist stärker geworden und aus der einstigen Skepsis wurde durch viele kleine Erfahrungen im alltäglichen Zusammenleben ein uneingeschränktes "Ja" zur Integration.

Das Österreichische Behinderteneinstellungsgesetz ist heute zahnloser denn je. Die Strafen bei Nichterfüllung der Einstellungsquote scheinen längst zu niedrig, das Kündigungsverbot schreckt wiederum viele Betriebe vor einer Anstellung eines Behinderten ab. Seit Jahren ist man im Richtungsstreit zwischen "mehr überzeugen" oder "mehr strafen" hängengeblieben. Die Zeit hat diese Diskussion jedoch überholt.

Paradigmenwechsel gefordert:

Weg vom "Social Welfare" hin zur ganzheitlichen Wirtschafts- und Sozialentwicklungsberatung von Betrieben, wie sie etwa in Holland praktiziert wird.

Theresia Haidlmayr, Grün-Abgeordnete im Rollstuhl, fordert bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ein "Antidiskriminierungsgesetz". Mit dessen Hilfe, so hofft sie, sollen dann endlich auch Bund, Länder und Gemeinden ihre Einstellungspflicht erfüllen. Haidlmayr ist bislang die einzige selbst betroffene Behindertensprecherin im Parlament.

Gerade stellen die Parteien Kandidatinnenlisten zur nächsten Nationalratswahl zusammen. Wenn sich darauf behinderte Menschen fänden, wäre das mehr als erstaunlich.

Denn üblicherweise werden solche Jobs nur an Nichtbehinderte vergeben.

NOTIERT

Thomas Rottenberg: Recht auf Bildung?

aus: FALTER, 11/1998

Obwohl immer mehr Abgängerinnen aus Integrationsklassen nach der achten Schulstufe vor verschlossenen Türen stehen, ist an eine Fortsetzung des gemeinsamen Unterrichts nicht gedacht. In der Novemberausgabe der Zeitschrift Falter, fordert Gerhard Tuschel, Landesschulinspektor im Stadtschulrat für Wien, Elisabeth Gehrer auf, aktiv zu werden.

"Wir haben das Ministerium schon mehrmals darauf hingewiesen, daß hier ein Problem auf uns zukommt." "In zwei Jahren", warnt Tuschel, "sind wienweit 70 Integrationsklassen in der achten Schulstufe. Das heißt, daß man sich schön langsam überlegen muß, ob man den Behinderten aus diesen Klassen nicht auch andere Bildungsmöglichkeiten öffnet." Integrationsklassen dürfen derzeit nur an Polytechnischen Schulen eingerichtet werden, die laut Tuschel bereits jetzt schon als Restschulen gelten. "...in anderen Bundesländern wird sich diese Frage spätestens zwei, drei Jahre später stellen."

Bislang zeigt das Unterrichtsministerium in dieser Frage wenig Handlungsbereitschaft. Über die - zumindest teilweise - Öffnung von berufsbildenden höheren Schulen für Behinderte wird nicht einmal ansatzweise diskutiert. Zudem verlautbart das Ministerbüro folgendes: "Erstens lassen wir uns die Polytechnische Schulen vom Stadtschulrat für Wien nicht zu Restschulen schlecht reden - und zweitens stellt sich das Problem höchstwahrscheinlich nicht so. Schließlich haben die meisten behinderten Kinder in der achten Schulstufe ohnehin schon das neunte Schuljahr absolviert."

Und somit besteht dann kein Recht auf Bildung mehr!

Bildungspolitische Rückständigkeit der ÖVP/NÖ

aus: Kremser Protokolle, Nr. 2/98, Bildung - Leitlinien für die Zukunft, ÖVP/ NÖ

In ihren Empfehlungen für die Zukunft der Bildung kann man folgende Absurdität nachlesen:

" ... Durch verschiedene Rahmenbedingungen und Gegebenheiten hat sich das Regelschulwesen bei seiner täglichen Arbeit auf die Bedürfnisse des breiten Durchschnitts der Schüler eingestellt.

Dies hat dazu geführt, daß Schüler überfordert, aber auch unterfordert werden.

Für überforderte Schüler wurden in den letzten Jahren mit hohen Anstrengungen erhebliche Fördermaßnahmen eingerichtet. Diese reichen vom Förderunterricht über Stütz- und Förderkurse bis zum Schonraum unserer Sonderschulen, in denen unter geeigneten Rahmenbedingungen mit ganz besonderen Arbeitsmethoden die Schüler im Sinne einer pädagogischen Intensivstation umfassend betreut werden..."

Buchtip

Inhaltsverzeichnis

Behindern Behinderte?

Integrativer Unterricht auf der Sekundarstufe I

Ewald Feyerer

Studienverlag 1998

Dieses Buch versteht sich als Beitrag zur Versachlichung der Diskussion von Vor- und Nachteilen der segregativen und integrativen Beschulung behinderter Kinder und gibt einen differenzierten Einblick in die Problematik.

Es liefert zudem eine umfassende Darstellung der Integration in der Sekundarstufe I in Österreich und arbeitet wesentliche bildungspolitische Aspekte für das Gelingen der Integration im allgemeinen Schulwesen heraus. Die Integration behinderter Kinder stellt sich nämlich auch in der Sekundarstufe I als Motor der Schulentwicklung heraus.

Impressum

Die Blattlinie ergibt sich aus der Zielsetzung von I:Ö, nämlich einerseits die Öffentlichkeit über die Anliegen und Forderungen von Eltern behinderter Kinder/ Jugendlicher und behinderter Menschen zu informieren, andererseits die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen, den einzelnen Initiativen von Eltern und darüber hinaus zu den Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen zu fördern.

Jede Ausgabe beinhaltet einen thematischen Schwerpunkt, in dem Anliegen und Forderungen für ein gemeinsames Leben und Lernen und die dazu notwendigen sozial- und bildungspolitischen Überlegungen vorgestellt werden.

Grundlegende Richtung nach §25/2 Mediengesetz:

Information und Kommentar zu Fragen gesellschaftlicher Integration, insbesondere behinderter und nichtbehinderter Menschen.

betrifft:integration ist der UN-Erklärung der Menschenrechte und der Rechte des Kindes und den UN-Erklärungen über Rechte behinderter und geistig behinderter Menschen verpflichtet.

betrifft:integration ist unabhängig von politischen Parteien und Kirchen und erscheint mindestens viermal jährlich.

Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken.

Verleger und Medieninhaber:

INTEGRATION:ÖSTERREICH, Elterninitiativen für gemeinsames Leben behinderter und nicht behinderter Menschen

Vorstand von I:Ö: Brandl Maria

Vorsitzende; Pröglhöf Ingeborg

Vorsitzende Stellvertreterin; Riegler Kurt

Kassier; Dr. Franz-Joseph Huainigg

Schriftführer; Wita Bernhard

Sitz:Tannhäuserplatz 2/1. Stock, 1150 Wien

Tel.: 01/7891747, Fax: 01/7891746

e-mail: info@ioe.at

http://www.ioe.at/

Bankverbindung: Erste BankKtonr.: 038-47934 BLZ 20 111

Herausgeber:

INTEGRATION:ÖSTERREICH,

Tannhäuserplatz 2/1. Stock, 1150 Wien

Redaktion:

Brigitta Aubrecht, e-mail: brigitta.aubrecht@ioe.at, Tel. 01-7891747-26, Fax. 01-7891746, Tannhäuserplatz 2/1. Stock, 1150 Wien

Layout:

pablo graphics vienna

Druck: Herold Druck- und Verlagsges.m.b.H., Faradayg. 6, 1032 Wien

DVR: 0803936

GZ-Nr.: 02Z032371

Wir freuen uns über Briefe, Informationen, Beiträge und Hinweise auf Veranstaltungen. In dieser Zeitung wird im Zweifelsfall feminin geschrieben! Nicht gekennzeichnete Fotos stammen aus dem Archiv von I:Ö.

Anmerkung zur Internet-Ausgabe

Betrifft: Integration ist der Rundbrief von Integration : Österreich der Zusammenschluß der Elterninitiativen für gemeinsames Leben behinderter und nichtbehinderter Menschen. BIDOK übernimmt diese Zeitschrift mit geringen Anpassungen. Die Anpassungen sind erforderlich aufgrund von technischen, ressourcemäßigen und terminlichen Einschränkungen (z. B. keine Verarbeitung von Photographien, geringe Layout-Gestaltung). Die Erfahrungen mit dieser Form der Veröffentlichung werden kontinuierlich gesammelt, überprüft und adaptiert für die Bedürfnisse unserer Benützerinnen und Benützer.

Die Internet-Ausgabe soll nicht mit der gedruckten Form konkurieren, sondern lediglich dem Internet-Publikum ergänzend zur Verfügung stehen. Wenn Sie als Benützer/Benützerin am Rundbrief interessiert sind, empfiehlt BIDOK die Bestellung von Betrifft : Integration unter folgender Adresse: Integration:Österreich, Tannhäuserplatz 2/1. Stock, 1150 Wien

Quelle:

Integration: Österreich / Verein Gemeinsam leben - Gemeinsam lernen (Hrsg.): betrifft: integration Nr. 4/1998, Herold Druck- und Verlagsges.m.b.H., Wien

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 16.06.2010

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