Behindertenpädagogik und Behindertenhilfe

im Spannungsfeld zwischen alten Mustern und neuen Wegen

Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Beitrag in: Heimo Halbrainer/ Ursula Vennemann: Es war nicht immer so.: Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute. CLIO Verein f. Geschichts- & Bildungsarbeit, 2013, Seite 189-211
Copyright: © Flieger, Schönwiese, Wegscheider

1. Einleitung

Die historischen und auch aktuellen gesellschaftlichen Herangehensweisen an Menschen mit Behinderungen sind vielfältig. Dabei können alltägliche und wissenschaftliche Blicke auf Menschen mit Behinderungen, Eugenik sowie die Entwicklungsdynamik der Behindertenhilfe und ihrer Institutionen nicht voneinander getrennt betrachtet werden. In diesem Beitrag setzen wir uns nicht mit angenommenen oder tatsächlichen Beeinträchtigungen und dazu entwickelten (heil-) pädagogischen Maßnahmen auseinander, sondern wir erläutern gesellschaftspolitische Strategien und pädagogische Konzepte im Umgang mit Behinderung und speziell mit Menschen mit Lernschwierigkeiten. Wir konzentrieren uns dabei historisch auf die Zeit nach dem Nationalsozialismus bis heute und arbeiten unterschiedliche gesellschaftspolitische Strömungen heraus, die in der pädagogischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen wirksam sind.

Den Ausgangspunkt bildet ein kurzer Blick auf internationale und nationale Entwicklungslinien in der Behindertenpolitik. Internationale Entwicklungen, besonders jene in Deutschland, beeinflussen die pädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderungen in Österreich. Daran anschließend folgt eine Darstellung der Entwicklung der (pädagogischen) Versorgung in Österreich. Den Abschluss macht ein Blick auf die aktuelle Situation der Behindertenhilfe in Österreich. Anhand zweier konkreter Beispiele aus der Praxis beschreiben wir das Spannungsfeld, innerhalb dessen sich aktuell die Behindertenhilfe und die pädagogische Praxis der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen in Österreich abspielen.

2. Internationale und nationale Entwicklungslinien

Nationale pädagogische Strategien in der Versorgung von Menschen mit Behinderungen können nicht abgekoppelt von internationalen Entwicklungen betrachtet werden. Im Folgenden wird es darum gehen, diese Entwicklungslinien im Überblick darzustellen und dabei vor allem die institutionelle Verankerung unterschiedlicher pädagogischer Ansätze in der österreichischen Behindertenhilfe zu veranschaulichen. Dabei soll auch die Frage nach der Rolle von Menschen mit Behinderungen in den verschiedenen pädagogischen Herangehensweisen erörtert werden.

2.1. Neue Strömungen und die schrittweise Verankerung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen

Die Anerkennung der Würde jedes Menschen und seiner gleichen und unveräußerlichen Rechte wurde 1948 in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (United Nations Organization, kurz UNO) festgeschrieben.

International befasst sich die UNO seit Ende der 1960er Jahre speziell auch mit den Menschenrechten von Menschen mit Behinderungen und fördert die Festschreibung von Antidiskriminierungsrechten. In der Folge begann langsam die Umsetzung und Festschreibung der Grundwerte für behinderte Menschen in mehreren Dokumenten und Verträgen der UNO . Ein Impuls für die Weiterentwicklung kommt aus der De-Institutionalisierungsbewegung, die ihre Wurzeln im Normalisierungsgedanken, einem vom Dänen Niels Erik Bank-Mikkelsen und dem Schweden Bengt Nirje in den 1950er Jahren entwickelten Konzept[1] für die pädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderungen, hat. Nicht zuletzt beeinflussten, ausgehend von den USA, die Independent Living und die Bürgerrechtsbewegung, die von Studierenden und Vietnamveteranen, von Männern und Frauen mit Behinderungen getragen waren, die internationale Entwicklung.

Im Jahr 1971 nimmt die Generalversammlung der UNO die Erklärung über die Rechte von geistig behinderten Personen an, in der u.a. festgehalten wird, dass Personen mit Lernschwierigkeiten unter so normalen Bedingungen als möglich leben sollten. 1979 tagt in Wien die Internationale Liga der Gesellschaften für Personen mit geistiger Behinderung. Erstmals stellt dort eine Gruppe von jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten den Anspruch, nicht an der für teilnehmende Eltern organisierten Tagesbetreuung, sondern am Kongress selbst teilzunehmen. Diese Erfahrung führt in der Liga zur Einrichtung einer Arbeitsgruppe, die sich mit der aktiven und effektiven Partizipation von Betroffenen in der Arbeit und den Gremien der Liga befasst, und diese langfristig auch verankert.[2] 1981 findet weltweit das «Internationale Jahr der Behinderten» statt, es steht unter dem Motto «volle Partizipation und Gleichberechtigung». In Deutschland und Österreich formieren sich AktivistInnen, die durch Proteste öffentlichkeitswirksam Aufmerksamkeit für ihre Forderungen nach barrierefreier Umwelt, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung erregen.[3]

1990 wird in der Kinderrechtskonvention grundlegend verankert, dass alle Maßnahmen für Kinder mit Behinderungen, egal in welchem Gesellschaftsbereich, an der größtmöglichen Teilhabe und Inklusion ausgerichtet sein sollen.[4] 1993 werden Standardregeln für die Erreichung der Chancengleichheit und Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen beschlossen. Auf der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 wird festgehalten und bestätigt, dass alle Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten universell sind und deshalb auch Menschen mit Behinderungen vorbehaltlos zustehen.

Schließlich nimmt im Jahr 2006 die Generalversammlung der UNO die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen an, da die vorangegangenen Dokumente aufgrund ihrer Unverbindlichkeit nicht den erhofften Erfolg brachten. Dieser völkerrechtliche Vertrag entsteht unter maßgeblicher Einbindung der NGO s von Menschen mit Behinderungen in den Jahren 2002 bis 2006.[5] Er konkretisiert die Menschenrechte, auch in Bezug auf bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, adaptiert auf die Lebenssituation behinderter Menschen und versucht, die gleichberechtigte Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu regeln. Dieser Schritt war nicht zuletzt deshalb notwendig, weil die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte gezeigt hatten, dass die Menschenrechte von Mädchen und Buben, Frauen und Männern mit Behinderungen besonders konsequent und häufig missachtet und verletzt werden. Die Formulierung von Menschenrechten für Menschen mit Behinderungen und die daraus folgenden Gleichstellungsgesetze stehen nicht im luftleeren Raum, sondern wurden vor allem durch die Forderungen und Proteste und auch durch die inhaltliche Mitarbeit behinderter Menschen, die kontinuierlich stattfindet, eingeleitet, gefördert und gestaltet.[6] Diese internationalen Entwicklungen beeinflussten neue Ansätze in der Behindertenpolitik und in der pädagogischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen. Sie wurden im deutschsprachigen Raum zumeist mit zeitlicher Verzögerung von einigen Jahren und in Österreich mit einer für das hiesige System adaptierten Weise umgesetzt.[7]

2.2. Die Entwicklung der Behindertenhilfe und der pädagogischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen in Deutschland

Die Ausgestaltung der Behindertenhilfe in Österreich und Deutschland ist durch das vorherrschende konservative Gesellschafts- und Wohlfahrtsstaatsmodell[8] geprägt. Gerne orientiert sich Österreich am deutschen Nachbarn. Neuere Betrachtungen konstatieren, dass sich dort ein „gut ausgebautes Rehabilitationssystem mit einer Vielzahl an differenzierten Leistungen für Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen in allen Lebensphasen entwickelt“[9] hat. Die Entwicklung der Behindertenhilfe und damit auch die Strömungen in der pädagogischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen skizziert Ulrich Hähner[10] grob in drei Phasen:

Von 1945 bis in die 1970er Jahre ist die Verwahrung das vorherrschende Modell in der Behindertenhilfe. Menschen mit Behinderungen werden körperlich versorgt, gepflegt und geschützt, typischerweise in großen, abseits gelegenen Anstalten oder psychiatrischen Krankenhäusern. Behinderung wird mit Krankheit gleichgesetzt und Menschen mit Behinderungen werden daher als PatientInnen behandelt. In diesem Ansatz stellt die Medizin die leitende Fachdisziplin dar. Sie wird dabei mit karitativ motivierter pflegerischer Versorgung kombiniert.

Ab den 1960er Jahren tauchen verstärkt pädagogische Ansätze auf, die vor allem therapeutisch ausgerichtet sind (z.B. Krankengymnastik und Ergotherapie). Auch beginnen sich einige Eltern gegen die Unterbringung ihrer Kinder mit Behinderungen in Anstalten zu wehren. Die Förderung und therapeutischen (Dauer-)Behandlungen werden vor allem in stationären Sondereinrichtungen wie auch Sonderkindergärten und Sonderschulen angeboten. Menschen mit Behinderungen werden als defizitäre bzw. defekte Wesen betrachtet, die mit konsequenter Förderung und Therapie geheilt oder angepasst werden können.

Ab Mitte der 1980er Jahre taucht in der deutschen Behindertenhilfe erstmals im Zusammenhang mit Menschen mit Lernschwierigkeiten die Idee der Selbstbestimmung auf. Menschen mit oder ohne Behinderungen wird die Fähigkeit und das Recht zur selbstbestimmten Lebensgestaltung zugesprochen. Behinderung wird inzwischen immer mehr als soziales und umweltbezogenes Phänomen verstanden. Es entstehen Ansätze der Entpädagogisierung in der Behindertenarbeit, wobei sich Konzepte in der dialogischen, gleichberechtigten Begleitung und der selbstbestimmten Erwachsenenbildung anstatt lebenslanger Förderung herausbilden. Sondereinrichtungen werden immer vehementer kritisiert. Es werden auch integrative Modelle in Kindergärten und Schulen sowie ambulante und stark individualisierte Wohn- und Arbeitsformen entwickelt, die an der Teilhabe und Gleichstellung von Menschen mit allen Formen von Beeinträchtigungen in allen Bereichen der Gesellschaft orientiert sind.

Nichtdestotrotz dominieren in der Versorgung von Menschen mit Lernschwierigkeiten und/oder sehr hohen und komplexen Unterstützungsbedarfen stationäre Sonderarrangements mit noch immer viel zu großen Einrichtungen, deren pauschales Hilfsangebot diametral der Idee von Selbstbestimmung und Inklusion entgegensteht. Vor diesem Hintergrund lässt sich in Deutschland eine erhebliche Diskrepanz zwischen den pädagogischen Zielperspektiven der selbstbestimmten Lebensführung und der gesellschaftlichen Teilhabe einerseits und der tatsächlichen Entwicklung des (stationären) Hilfssystems und Leistungsangebots andererseits feststellen. Professionelle Vollversorgung in Sonderwelten verhindert das Lernen von lebenspraktischen Fertigkeiten und den Aufbau von sozialen Netzwerken. Durch föderale Zuständigkeiten sind aber im Leistungsangebot und in der -ausgestaltung regionale Unterschiede festzustellen.[11] Wie sich diese groben Entwicklungslinien in der Praxis manifestieren können und welche Rolle Menschen mit Behinderungen einnehmen, lässt sich durch einen genaueren Blick auf reale Lebensumstände darlegen. Dazu beleuchten wir im nächsten Schritt die österreichische Situation anhand von Beispielen genauer.



[1] Walter Thimm, Das Normalisierungsprinzip – Eine Einführung, Marburg 1995 (= Kleine Schriftenreihe Band 5). Anschließend wurde das Normalisierungsprinzip in den USA und in Kanada von Wolf Wolfensberger weiterentwickelt (Wolf Wolfensberger, Die Entwicklung des Normalisierungsgedankens in den USA und in Kanada. In: Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. (Hg.): Normalisierung – eine Chance für Menschen mit geistiger Behinderung, Marburg 1986, S. 45 – 62). Das Normalisierungsprinzip wird in der pädagogischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen auch kritisch betrachtet.

[2] Vgl. Spudich, Helmut, „In their best interest“. How Self-Advocacy came about in the ILSMH. In: Dybward, Gunnar / Bersani / Hank, New Voices. Self-Advocacy by People with Disabilities, Cambridge (Massachusetts), 1996, S. 69 – 74.

[3] Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten (1982), Befreiungsversuche und Selbstorganisation. In: Rudolf Forster/Volker Schönwiese (Hg.), BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Wien 1982, S. 377-390. Unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/initiativgruppe-befreiungsversuche.html#id2835659, 15.07.2013.

[4] Petra Flieger, Inklusion weltweit. In: Behinderte Menschen 2 (2013), S. 6 – 7

[5] In Österreich trat der Vertrag samt Fakultativprotokoll (das die Einrichtung eines unabhängigen Monitoringausschusses vorsah) am 26. Oktober 2008 mit der Ratifizierung durch den Nationalrat in Österreich in Kraft. Die in Österreich gültige deutsche Übersetzung weicht stellenweise begrifflich und inhaltlich vom Originaltext ab.

[6] Sharon Barnartt/Richard Scotch, Disability protests. Contentious politics 1970-1999. Washington 2001. Angela Wegscheider, Politik für Menschen mit Behinderung am Beispiel Österreichs. Zur Analyse und Kritik von Innovationsprozessen. Diss. Linz 2010.

[7] Wegscheider, Politik für Menschen mit Behinderung am Beispiel Österreichs, S. 186f.

[8] Gøsta Esping-Andersen, The three worlds of welfare capitalism, Cambridge 1991. Michael Maschke, Behindertenpolitik in der Europäischen Union. Lebenssituation behinderter Menschen und nationale Behindertenpolitik in 15 Mitgliedstaaten, Wiesbaden 2003.

[9] Zit. Grudrun Wansing, Teilhabe an der Gesellschaft. Menschen mit Behinderung zwischen Inklusion und Exklusion, Wiesbaden 2005, S. 147.

[10] Ulrich Hähner, Von der Verwahrung über die Förderung zur Selbstbestimmung. Fragmente zur geschichtlichen Entwicklung der Arbeit mit „geistig behinderten Menschen“ seit 1945. In: Ulrich Hähner/Ulrich Niehoff/Rudi Sack/Helmut Walther, Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung, Marburg 1997, S. 25 – 51.

[11] Wansing, Teilhabe an der Gesellschaft, S. 149-155.

3 Behindertenhilfe und pädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderungen in Österreich

In Österreich verläuft die Entwicklung in ähnlicher Weise, mit regionalen Unterschieden in den Bundesländern und - vor allem im internationalen Vergleich - deutlich verlangsamt sowie mit vielen Widersprüchen und Widerständen, ab. Aufgrund der Zuständigkeit der Länder entwickelt sich in jedem Bundesland eine eigene Angebotspalette, die stark von regionalen Traditionen, aber auch von lokalen Initiativen abhängig und geprägt ist. Ein detaillierter, möglicherweise auch vergleichender historischer Überblick über die Entwicklung der Behindertenhilfe in allen österreichischen Bundesländern fehlt. Für Nord- und Südtirol haben Volker Schönwiese und Sascha Plangger einen Abriss der Entwicklung verfasst, auf diesen Text beziehen sich die folgenden Ausführungen an vielen Stellen.[12]

3.1 Geschichte und Entwicklungsphasen

3.1.1 Versorgung in Anstalten

Bei der Versorgung von Menschen mit Behinderungen kehrte man nach einer kurzen Periode der formalen Distanzierung von den Geschehnissen während des Zweiten Weltkriegs schnell wieder zu einem „business as usual“ zurück. Nach 1945 knüpften die Strukturen der Behindertenhilfe wieder an die Konzepte einer medizinisch-heilpädagogisch bzw. karitativ motivierten pflegerischen Verwahrung der Vorkriegsjahre an. Auch blieb die traditionelle Psychiatrisierung und Medikalisierung von Menschen mit Behinderungen bestehen. Die Versorgung erfolgte in eigenen Anstalten und in sogenannten Behindertenabteilungen in großen psychiatrischen Einrichtungen. Bis weit in die 1970er Jahre gab es keine Alternativen zwischen einem Leben in der Herkunftsfamilie oder in einer (Groß-)Einrichtung. Fast alle Behinderteneinrichtungen standen unter der Leitung von konfessionellen Trägerorganisationen oder von Gruppierungen der christlichen Laienbewegung. Das Projektionsfeld karitativer Nächstenliebe stellt zugleich ein staatlich gefördertes und damit ökonomisch sicheres Betätigungsfeld für Dienstleistungsunternehmen dar. Nur die psychiatrischen Krankenhäuser, in denen eine nicht zu übersehende Anzahl an Menschen mit Behinderungen dauerhaft untergebracht war[13], werden in den Bundesländern von der öffentlichen Hand getragen. In der Steiermark betrieben die Barmherzigen Brüder bereits seit 1882 eine Pflegeeinrichtung, wo auch die Versorgung von psychisch kranken und behinderten Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen und fortgesetzt wird. Die meisten Einrichtungen versuchen wie auch schon vor dem Krieg, den BewohnerInnen eine Heimat bis hin zum Tod anzubieten. Wobei die sozialstaatlichen Sonderwelten neben der Wohnmöglichkeit in Gemeinschaftsschlafsälen auch Beschäftigungs- und Freizeitangebote sowie jährlich wiederkehrende Rituale (z.B. Weihnachts- und Sommerfeste) und eine Orientierung am religiösen Jahresablauf bereithalten. Nicht zuletzt verstärkte die historische Ausrichtung an der Armenfürsorge die Wahrnehmung behinderter Menschen als Objekte der Barmherzigkeit und fremdbestimmter Fürsorge wie auch die defizitorientierte und hierarchische Perspektive auf Behinderung. Die Binnenlogik und Organisationsstruktur von Behinderteneinrichtungen ähneln der von Goffman beschriebenen totalen Institution, die darauf abzielt, „den Tagesablauf einer großen Zahl von Menschen auf beschränktem Raum und mit geringen Mitteln zu überwachen“[14]. Sie will neben den offiziellen sozial und gesellschaftlich anerkannten Zielen sämtliche Lebensbereiche der BewohnerInnen allumfassend regeln und kontrollieren, um einen möglichst störungsfreien und effizienten Betriebsablauf zu gewährleisten.[15] Die meisten BewohnerInnen versuchen sich mit den Regeln der Einrichtung eine ruhige und relativ zufriedene Koexistenz aufzubauen, eine „mehr oder minder opportunistische Kombination von sekundären Anpassungen, Konversion, Kolonialisierung und Loyalität gegenüber der Gruppe der Insassen.“[16] Viele der Anstalten wurden durch die Fortschritte in der Medizin und Technik ab der 1960er zu großen Institutionen mit einem vielfältigen pädagogischen und therapeutischen Leistungsangebot umgebaut und erweitert, wobei sie gegenüber neuen emanzipatorischen Entwicklungen von außen stets skeptisch blieben.

3.1.2 Kritik an der Unterbringung in Heimen

Während vor allem in den skandinavischen Ländern bereits in den 1950er Jahren umfassend fachliche Kritik an großen Behindertenheimen geübt wurde, gab es in Österreich erst gegen Ende der 1970er Jahre erste kritische Aktionen. Sie waren vor allem auf kleine, selbstorganisierte und lokal agierende Initiativen von erwachsenen Männern und Frauen zurückzuführen, die sich als Teil der internationalen Selbstbestimmt Leben Bewegung verstanden. Unter dem Schlagwort „Wer will ins Heim?“ bezog sich ihre Kritik auf die Fremdbestimmung und die Lebensbedingungen in Einrichtungen, die ein selbstbestimmtes Leben und gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft unmöglich machten. Diese Emanzipationsbestrebungen irritierten die Gesellschaft, denn mit Behinderung assoziierten viele Menschen Dankbarkeit und Demut, „Objekte für karitatives und betreuerisches Handeln und die Rolle des passiven Dulders“[17].

In Österreich blieb diese Kritik vorerst ungehört, so wurde z.B. noch 1978 das Behindertendorf Altenhof in Oberösterreich eröffnet. Regional bzw. in Fachzeitschriften gab es immer wieder kritische Berichterstattung zu den menschenunwürdigen Lebensbedingungen in Großheimen, 1980 etwa über das Pflegeheim in Kainbach[18] oder 1982 über das St. Josefs-Institut in Mils[19] und 1983 über das Institut Hartheim[20]. Diese punktuelle, durchaus skandalisierende Berichterstattung führte aber nicht zu grundsätzlichen Debatten über die Frage der zeitgemäßen Betreuung von Menschen mit Behinderungen - immerhin betont Hähner für Deutschland, dass das Selbstbestimmungs-Paradigma bereits in den 1980er Jahren auch im Bereich der Hilfen für Menschen mit Lernschwierigkeiten Beachtung fand - , sondern vor allem zu qualitativen Verbesserungen innerhalb der Großeinrichtungen. Plangger und Schönwiese konstatieren für Nord- und Südtirol: „Nicht nur die Heimträger, sondern auch die HeilpädagogInnen, sowie Landespolitik und Landesfachabteilungen der Landesregierungen, hielten an der Einstellung fest, dass Behindertenheime als adäquate Schutz- und Schonräume die bestmöglichen Lebensumgebungen für behinderte Menschen darstellen, innerhalb derer man die ‚speziellen‘ Bedürfnisse der InsassInnen optimal fördern kann.“[21] An der grundsätzlichen Problematik der Versorgung von Menschen mit Behinderungen in Großeinrichtungen mit der Ausrichtung des individuellen Lebens an den Bedürfnissen in Gruppen und der Organisationsstruktur der Einrichtung, dem damit zusammenhängenden Anpassungsdruck und den Abhängigkeiten sowie der Übermacht der BetreuerInnen änderte sich nichts. Auch heute existieren in Österreich sehr große Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, näheres dazu im Abschnitt 3.2. 3.1.3 Rehabilitation, Förderung, Therapie und Betreuung in Sondereinrichtungen

In den 1960er Jahren entstehen in allen Bundesländern außer im Burgenland regionale Vereine der Lebenshilfe. Wohn- und Arbeitsangebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten sowie Frühförderangebote werden sukzessive in ganz Österreich aufgebaut. In Tirol wird z.B. der Verein „Lebenshilfe für das entwicklungsbehinderte Kind“ gegründet, der zuerst Beschäftigungstherapien, dann auch Wohnmöglichkeiten für Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen anbietet.[22] Typisch sind zu dieser Zeit Einrichtungen, in denen Wohn- und Arbeitsplatz unter einem Dach organisiert werden, was der Gründer der Lebenshilfe Tirol, Karl Winkler, rückblickend kritisch sieht: „Es war nur das Stockwerk zu wechseln, um vom Wohnbereich in den Arbeitsbereich zu gelangen. Weder Kleidung noch Schuhe mussten gewechselt werden, mit den Patschen konnte man gehen. Unsere Behinderten mussten nicht einmal die Straße queren. Sie wussten tagelang nicht, welches Wetter draußen ist, sie nahmen weder Wind, Sonne, noch Schnee und Regen wahr, auch keine anderen Menschen begegneten ihnen auf dem Weg von und zur Arbeit. Das alles bedeutet eine Einschränkung, eine Reduzierung von Eindrücken auf ein Minimum. Sie konnten sich nicht abreagieren, aufgestaute Aggressionen und Probleme wurden vom Arbeitsbereich in den Wohnbereich und umgekehrt getragen.“[23] Rehabilitation, Förderung, Therapie und Betreuung rund um die Uhr stehen im Mittelpunkt der pädagogischen Aktivitäten. Ab den 1980er Jahren werden aber auch vermehrt kleinere und überschaubarere Einrichtungen gegründet. Die Umstrukturierung des Wohnbereichs wurde in den 1990er Jahren zur Haupttätigkeit der Lebenshilfe. Die Konzeption orientierte sich an den angenommenen Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungsfähigkeiten von behinderten Menschen. Damit folgte die Lebenshilfe einem traditionellen sonderpädagogischen Konzept der Trennung von behinderten Personen nach (diagnostizierten) Schweregraden von Behinderung, wie sie auch in den Sonderschulen erfolgt.

Die Heilpädagogik war in Österreich bis in die 1980er Jahre von Pädagogen und Medizinern geprägt, die aktiv medizinisch-defektologische Ansätze vertraten und damit auch die Behindertenhilfe nachhaltig prägten.[24] Zu nennen sind hier Hans Asperger, Franz Wurst, Andreas Rett oder Walter Spiel. Letzterer stellte beispielsweise noch 1991 fest: „Das Problem der Geistigbehinderten ist ein medizinisches, weil ja letztlich der Körper krank ist.“[25] Die AktivistInnen der emanzipatorischen Behindertenbewegung bezeichnete er als „Demonstrationskrüppel“, er unterstellte ihnen, von linksradikalen Parteien finanziert zu werden.[26] Dementsprechend vehement setzten er und seine Kollegen sich entgegen aller fachlichen Entwicklungen für den Fortbestand von Sondereinrichtungen ein, allerdings mit verstärktem Augenmerk auf Förderung und Therapie. International waren Selbstbestimmung, Gleichstellung, Partizipation, Inklusion und De-Insitutionalisierung längst zu den entscheidenden Prinzipien in der Ausgestaltung von Unterstützungskonzepten für Menschen mit allen Formen von Beeinträchtigungen geworden.

Unter dem Förder- bzw . Rehabilitationsparadigma wird Behinderung noch immer vorrangig als ein individuelles Merkmal der Person verstanden, dass durch Fleiß, konsequente Rehabilitation, Förderung und Therapie überwunden werden kann. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene sind einem lebenslangen Förderanspruch unterworfen, dessen Ziel es ist, mehr Selbständigkeit im Sinne von Unabhängigkeit von Unterstützung zu erreichen, damit die Integration in die Gesellschaft möglich wird. Auch dieser Ansatz versteht Behinderung als Schädigung, Abweichung und Defizit der einzelnen Person. Theunissen betont darüber hinaus, dass in diesem Kontext „Betroffene als inkompetent und unfähig [gelten], Schwächen oder Fehlleistungen aus eigener Kraft zu überwinden. Folglich sind es die professionellen Helfer, denen die Aufgabe obliegt, für Menschen mit Behinderungen einen Rehabilitations- oder Förderplan zu entwickeln und für eine gewissenhafte Durchführung Sorge zu tragen.“[27]

1991 trat in Österreich das sogenannte Unterbringungsgesetz in Kraft. Es regelt, dass Menschen mit Behinderungen weder zwangsweise noch dauerhaft in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht sein dürfen. Bundesweit löste dieses Gesetz enormen Handlungsbedarf aus, weil zu diesem Zeitpunkt in fast allen Bundesländern Menschen mit Behinderungen in großen, geschlossenen Abteilungen von psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht waren.[28] Sie wurden in vielen Fällen auf verschiedene bestehende (Groß-)Einrichtungen der Behindertenhilfe aufgeteilt, ohne dass diese grundsätzlich geändert wurden. An der Richtigkeit von Großheimen wurde weiterhin festgehalten, obwohl es lokal – abhängig vom Engagement einzelner Initiativen und von der Landespolitik nur halbherzig unterstützt – zum Aufbau von Wohn- und Unterstützungsmodellen kam.[29]

Neue Impulse erhoffte man sich durch das Pflegegeldgesetz und die Pflegevorsorge-Vereinbarung (Pflegereform) von 1993. Dieses sieht zum einen mehr Selbstbestimmung in der Pflege vor und schreibt zum anderen den flächendeckenden Aus- und Aufbau von individualisierten und am Gemeinwesen orientierten sozialen Diensten fest. Nicht zuletzt wurde bei Neu- und Zubauten von Behinderteneinrichtungen vereinbart, dass sie gemäß „dem Kriterium der Überschaubarkeit zu errichten und in familiäre Strukturen zu gliedern“ sind, wie auch „möglichst in die Gemeinde integriert sein“[30] sollen. Diese Pflegereform forderten behinderte Menschen und sie beteiligten sich auch intensiv an der Formulierung der Inhalte und den politischen Entscheidungsprozessen.[31] Eine Roadmap zur Schließung der nicht mehr zeitgemäßen Großheime konnte nicht vereinbart werden. Die Schließung der Psychiatrischen Abteilungen für Personen mit Behinderungen blieb bislang der einzige bundesgesetzlich geregelte Bruch mit traditionellen Verwahrsystemen. Auf der Ebene der Bundesländer gibt es bis heute keine entsprechenden landesgesetzlichen Regelungen, die konsequent den Abbau von stark institutionalisierten Betreuungsformen zum Ziel hätten.

Obwohl die Pflegereform ausdrücklich die selbstbestimmte Lebensführung von Menschen mit Behinderungen zum Ziel hatte, führte sie langfristig betrachtet zum massiven Ausbau institutionalisierter Betreuungsangebote in besonderen Einrichtungen.[32] Die Trägerorganisationen der freien Wohlfahrt verstanden es, die Neuordnung der Pflegefinanzierung für sich zu nutzen. Dabei führte die sozio-ökonomische Eigendynamik der professionellen Anbieter von Dienstleistungen dazu, dass sie - anstatt sich zu verändern und am Gemeinwesen orientierte, individualisierte Unterstützungsangebote zu entwickeln - , den Erhalt bestehender stationärer und fremdbestimmender Strukturen betrieben. Einmal geschaffene Strukturen, Institutionen und Finanzflüsse entwickeln eine eigene Dynamik mit ngeativen Effekten, die auf dern ersten Blick oft nicht zu erkennen sind. Leistungsabhängige Finanzierungsformen und -kontrollen wie auch die zunehmende Konkurrenz durch andere private Anbieter führen dazu, dass die (Groß-)Einrichtungen der Behindertenhilfe inzwischen straff nach betriebswirtschaftlichen Kriterien geführten Unternehmen ähneln.

Österreich verfügt über ein gut ausgebautes, aber ordnendes und differenzierendes Förder- und Rehabilitationssystem mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Leistungen für Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen. Die spezifischen Hilfen decken spezifische Bedürfnisse ab. Es entwickelte sich aber auch ein spaltendes Sondersystem, das Menschen aufgrund von von außen zugeschriebenen Leistungs- und Sozialisierungsunfähigkeiten differenziert (Creaming), wobei auch soziale Schichtzugehörigkeit eine entscheidende und oft unterschätze Rolle spielt. Jene Menschen, von denen angenommen wird, dass sie der Gesellschaft nicht zumutbar sind, werden in abgeschlossenen (Groß-)Einrichtungen verwahrt, vor allem auch dann, wenn ihre Angehörigen kein ausreichendes soziales und kulturelles Kapital besitzen bzw. nach Bildung, Einkommen und sozialem Status benachteiligten Bevölkerungsgruppen angehören. Es sind zwar Initiativen im Ausbau von gemeindenahen Wohnangeboten zu verzeichnen, das Angebot ist aber weder flächendeckend noch ausreichend. Lange Zeit dominierte jene konservative Ausprägung des Integrationsgedankens, die auch noch heute wirkt - die Ausbildung und Beschäftigung behinderter Menschen in Sondereinrichtungen sei die beste Form der „Integration“ „nämlich als Integration Behinderter unter Behinderten“[33].

3.1.4 Human Enhancement durch medizinisch-technischen Fortschritt

Unter dem Sammelbegriff Human Enhancement werden alle Möglichkeiten verstanden, um Körper auf natürlichem oder medizinisch-technischem Weg zu verbessern. Durch Lernen oder körperliches Training hat der Mensch schon immer an seiner Selbstverbesserung gearbeitet, hinzugekommen in den Selbstverbesserungsversuchen sind die medizinisch-technische Komponente und die daraus abgeleiteten Möglichkeiten in Bezug auf Behinderung, aber auch das Bestreben zur Vermeidung von Körperformen und Fähigkeiten, die als nicht erstrebenswert gelten. Eugenische Bestrebungen sind nach 1945 nicht verschwunden, sondern fanden in neuem Gewand Eingang in Wissenschaft und Praxis. Medizinisch-technische Untersuchungs- und Heilungsverfahren beanspruchen für sich, den Körper noch besser beherrschen zu können, was auch Gefahren und Risiken für das Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen mit sich bringen kann.[34] In der Praxis führen vorgeburtliche Untersuchungsverfahren in der medizinischen Betreuung von schwangeren Frauen dazu, dass schon bei dem geringsten Verdacht auf eine Behinderung über eine Abtreibung nachgedacht wird. In Österreich ist es gesetzlich möglich, ein Kind bei Verdacht auf Behinderung bis zur Geburt abzutreiben. § 97 Abs . 1 Z 2 Fall 2 StGB (Strafgesetzbuch) besagt, dass ein Schwangerschaftsabbruch bis unmittelbar vor der Geburt straffrei ist, wenn „[…] eine ernste Gefahr besteht, daß das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde […].“ Die Möglichkeit der Abtreibung nach Ende der Frist von drei Monaten nach Beginn der Schwangerschaft wird von KritikerInnen als Sterbehilfe gesehen und bekämpft.[35] In Österreich gilt das Verbot für Sterbehilfe. Hingegen haben die Niederlande, Belgien oder die Schweiz die Euthanasie in unterschiedlichem Ausmaß legalisiert. Unter Sterbehilfe oder Euthanasie, so eine aktuelle Auffassung, werden alle Fälle verstanden, in denen durch aktives Tun (Tötung) oder Unterlassen (Sterbenlassen) der „sanfte“ Tod herbeigeführt werden soll. Dabei wird beim Euthanasiebegriff per definitionem ein Leidenszustand vorausgesestzt von dem die Person erlöst werde.[36]

In Österreich fanden eugenische Maßnahmen in Bezug auf Menschen mit Behinderungen Anwendung. MedizinerInnen setzten Medikamente zur Unterdrückung des Sexualverhaltens ein (z.B. die umstrittene Tiroler Kinderpsychiaterin Maria Nowak-Vogel) oder forderten gar die systematische Sterilisation von behinderten Frauen (Andreas Rett, Kinderneurologe). Rett empfahl die Abtreibung und anschließende Sterilisation bei schwangeren Frauen mit einem Intelligenzquotienten von unter 75. Er stellte auch fest, dass es fast nur junge Frauen aus der Unterschicht betreffe. Er lehnte sexualpädagogische Begleitung und Unterstützung von Partnerschaften ab.[37] Rett hatte bedeutenden Einfluss auf die österreichische Behindertenpolitik und seine Auffassungen wurden breit rezipiert, wie z.B. ein Zitat aus einem bis in die 1990er Jahre gängigen und weit verbreiteten Lehrbuch für SonderschullehrerInnen und PädagogInnen von Fritz Holzinger veranschaulicht: "Der Aufbau einer Schlafhygiene (medikamentöse Bekämpfung von Einschlafstörungen, hartes Lager, Vermeidung sexuell erregender Erlebnisse vor dem Einschlafen) wirkt der Onanie am Abend entgegen; durch ständige Beschäftigung und medikamentöse Reduktion sexueller Spannungen mittels gefahrloser Androgene wie Epiphysan wird dies während des Tages erreicht. [...] Die Sterilisation ist der einzige Weg der Empfängnisverhütung, da andere Mittel wegen Indolenz oder Mangel an Verständnis kaum zielführend sind. Das Recht auf Sexualität bei Behinderten zu propagieren ist sinnlos und gefährlich."[38]

Nicht zuletzt haben die Ökonomisierung des Lebens und des Sozialen[39] und auch die immer knapper und knapper werdenden Ressourcen in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen Einfluss auf die stetige Suche nach Verbesserung, Leistungs- und Effizienzsteigerung des menschlichen Körpers. Die Ziele in den Verbesserungsstrategien seien, so Rehmann-Sutter, aber keinesfalls Privatsache, sondern sie sind in einen gesellschaftspolitischen Diskurs eingebunden, der sich u.a. mit Fragen eines guten Körpers und Aussehens und schlussendlich eines guten Lebens befasst. Dabei geht es um die in Österreich viel zu wenig diskutierten moralischen und gesellschaftspolitischen Fragen, nach individueller Entscheidungsfreiheit über den eigenen Körper und welches Leben in welchen Körperformen und mit welchen Fähigkeiten, mit welchen Grenzen als erstrebenswert und wünschbar gelten kann.[40]

3.1.5 Selbstbestimmtes Leben und volle gesellschaftliche Teilhabe mit individueller Unterstützung

Gegen die beschriebenen defektologisch-medizinisch bzw. rehabilitativ-therapeutischen Ansätze formulieren nicht nur erwachsene Menschen mit Behinderungen selbst seit Mitte der 1970er Jahre konsequent Kritik, auch professionell Tätige fordern seit den 1980er Jahren vehement integrative Konzepte ein. Im Gegensatz zum medizinischen oder individuellen Modell von Behinderung rücken nun behindernde soziale und gesellschaftliche Bedingungen in den Vordergrund. Nicht mehr der defekte Mensch soll angepasst werden, sondern es gilt Barrieren, die die Teilhabe von Menschen behindern, zu identifizieren und diese abzubauen. Selbstbestimmung sowie die volle und gleichberechtigte Inklusion von Menschen mit Behinderungen sind das neue Ziel. Diesem Ansatz liegt das Verständnis zugrunde, dass jeder Mensch das Recht hat, als vollwertiges und gleichberechtigtes Mitglied anerkannt zu werden, ohne vorher spezielle Fertigkeiten oder Fähigkeiten unter Beweis stellen zu müssen.

Parallel zur Selbstbestimmt Leben Bewegung, die vor allem von Menschen mit Körper- und Sinnesbehinderungen geprägt ist, entstehen auch zunehmend Selbstvertretungsgruppen von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Auch sie beanspruchen „Für sich selbst zu sprechen“ und fordern, das eigene Leben entsprechend den eigenen Wünschen und Bedürfnissen gestalten zu können. Beide Bewegungen vertreten eine Menschenrechtsperspektive. Es geht ihnen nicht darum, Menschen durch Rehabilitation „fit“ für die Gesellschaft zu machen, sondern vielmehr die Gesellschaft so zu verändern, dass die volle wirksame und gleichberechtigte Teilhabe unabhängig vom Schweregrad der Behinderung für alle Betroffenen sichergestellt wird. Die Kritik an der ungleichen Verteilung von Macht in der traditionellen Behindertenhilfe, vor allem auch in Behinderteneinrichtungen, ist zentraler Angelpunkt beider Bewegungen. Bevormundende Betreuungsverhältnisse und die Abhängigkeit von Behinderteneinrichtungen sollen durch Assistenz- und Unterstützungsdienste ersetzt werden, die vorzugsweise von Menschen mit Behinderungen selbst betrieben und geleitet werden.

Handlungsleitendes Prinzip ist, dass sich die Unterstützungsleistungen an der individuellen Person orientieren müssen, statt auf umfassende Versorgung abzuzielen. Die Geldflüsse dürfen nicht mehr über die Einrichtungen der Behindertenhilfe abgewickelt werden, sie sollen der behinderten Person als „persönliches Budget“ zur Verfügung gestellt werden. Ein weiteres Kriterium ist die Trennung von Wohnung und Unterstützung, also eine Absage gegenüber der traditionellen Dienstleistung „Wohnen und Betreuung aus einer Hand“. Es sollen Wohnformen geschaffen werden, die unabhängig vom Anbieter einer Unterstützungsleistung ausgewählt werden können. Menschen mit Behinderung sollen MieterInnen oder EigentümerInnen von Wohnungen sein. Die Personen sollen in allen Bereichen und Lebenssituationen Wahl-, Entscheidungs- und Kontrollmöglichkeiten erhalten. Und eine ganz wesentliche Forderung ist, dass es bei allen Maßnahmen keine Zurückweisung von Menschen mit schwersten Behinderungen bzw. hohem Unterstützungsbedarf geben darf. In diesem Sinne ist Inklusion und Teilhabe als grundlegendes Menschenrecht unteilbar.

3.2 Zur aktuellen Praxis in Österreich

Es gibt für Österreich keine umfassende oder vergleichende Übersicht über die verschiedenen Betreuungs- und Unterstützungsmodelle für Menschen mit Behinderungen, wie sie aktuell praktiziert werden. Es wird angenommen, dass im Jahr 2011 ca. 13.000 Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe Unterstützung und Betreuung erhielten. Davon lebten im Jahr 2011 mehr als 1.800 Personen in Einrichtungen mit mehr als 100 BewohnerInnen, 3.800 Menschen lebten in Einrichtungen mit mehr als 30 BewohnerInnen und fast 5.700 Menschen mit Behinderungen lebten in Einrichtungen mit 11 bis 30 BewohnerInnen. 2.000 Frauen und Männer mit Behinderungen lebten in Einrichtungen mit bis zu 10 BewohnerInnen. Demgegenüber erhielten österreichweit nur knapp 1.000 Personen mobile Betreuung oder Persönliche Assistenz, um in ihrer eigenen Wohnung zu leben. Persönliche Assistenzdienste in nennenswertem Ausmaß gibt es nur in jenen drei Bundesländern (Oberösterreich, Tirol, Wien), in denen sich seit Jahrzehnten Selbstbestimmt Leben Initiativen aktiv politisch einbringen und konsequent Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben einfordern.[41]

Diese wenigen Zahlen machen deutlich, dass die konkrete Praxis der Behindertenhilfe in Österreich eine enorme Bandbreite aufweist: Auf der einen Seite Versorgung und Betreuung von Menschen mit Behinderungen in (sehr) großen Sondereinrichtungen, auf der anderen Seite volle Teilhabe in der Gesellschaft mit stark individualisierter Unterstützung. Zwei Beispiele sollen dieses Spannungsfeld konkretisieren: Das Pflegezentrum Kainbach in der Steiermark einerseits, andererseits die Geschichte einer Frau mit Behinderungen, die selbst schildert, wie sie nach mehreren Jahrzehnten in Behinderteneinrichtungen nun seit vier Jahren mit persönlicher Assistenz in der eigenen Wohnung lebt. 3.2.1 Pflegezentrum Kainbach

Laut einer Anfragebeantwortung des zuständigen Landesrats leben im Jahr 2012 591 Frauen und Männer im Pflegezentrum Kainbach. Es stehen ihnen Stationen mit 20 bis 30 BewohnerInnen oder in Wohngruppen mit zehn bis 20 Personen zur Verfügung. Alleine im Haupthaus leben auf zwölf Stationen über 320 Menschen mit Behinderungen. Das Pflegezentrum Kainbach dürfte damit die bei weitem größte Behinderteneinrichtung in Österreich sein. Um das Pflegezentrum inhaltlich und fachlich genauer zu verorten, untersuchten wir die Texte des aktuellen Internetauftritts der Einrichtung näher[42]. Verschiedene Passagen aus allen Bereichen der Homepage wurden als Datenbasis für eine qualitative Inhaltsanalyse herangezogen, mit Hilfe der wissenschaftlichen Software Atlas-ti codiert und anschließend interpretiert. Die wesentlichen Ergebnisse fassen wir hier kurz zusammen:

Angebot

Das Pflegezentrum Kainbach bietet eine umfassende Versorgung für die BewohnerInnen: „neben medizinischen und pflegerischen Leistungen auch pädagogische Förderungen, Therapien, Angebote zu Arbeit und Beschäftigung, Freizeitaktivitäten, seelsorgliche Begleitung und vieles mehr“[43]. In der Einrichtung befinden sich u.a. eine Zentralküche, eine Apotheke, eine Wäscherei, ein Friseur und eine Fußflegerin, ein Hallenbad, ein Streichelzoo, ein Turnsaal, eine Kegelbahn, ein Kaufhaus für die MitarbeiterInnen und BewohnerInnen, eine Land- und Forstwirtschaft.[44] Für die BewohnerInnen ist es nicht notwendig, die Einrichtung zu verlassen, sie werden rundum versorgt. Wohnen, Arbeiten und Freizeit finden quasi unter einem Dach statt, alles wird von einer Hand organisiert und zur Verfügung gestellt. Damit entspricht das Pflegezentrum dem von Goffman beschriebenen Modell der totalen Institution: Es braucht kein Außen in dieser Einrichtung, weil es innen alles gibt.

Medizinische Grundausrichtung

Die fachliche Ausrichtung im Pflegezentrum Kainbach ist medizinisch dominiert mit pädagogischen Ergänzungen, wie z.B. an folgende Formulierung deutlich macht: „abhängig von der jeweiligen Diagnose, setzen wir fächerübergreifend individuell abgestimmte Therapien ein, um die Symptome unserer Bewohnerinnen und Bewohner auf möglichst effektive Weise zu mildern“.[45]

An erster Stelle steht die medizinische Versorgung, dann folgen andere Leistungen. Die Leitung der Stationen oder Wohngruppen obliegt in den meisten Fällen diplomierten KrankenpflegerInnen.

Differenzierung nach Beeinträchtigung

Teil der medizinischen Grundausrichtung ist die starke Differenzierung der Wohn- und Beschäftigungsangebote nach der Form der Beeinträchtigung der BewohnerInnen. Jede Station oder Wohngruppe ist einer speziellen Zielgruppe gewidmet, z.B .: „Menschen mit Behinderungen und besonders herausforderndem Verhalten“, „gehörlose Klientinnen und Klienten mit zusätzlicher Beeinträchtigung“, „Menschen mit Mehrfachbehinderungen mit dem Schwerpunkt Pflege“, „Menschen mit Mehrfachbehinderungen bzw. Doppeldiagnosen“.

Behinderte Menschen als Objekte

Menschen mit Behinderungen erscheinen als Objekte der Maßnahmen und Angebote: „Abhängig von der jeweiligen Diagnose, setzen wir fächerübergreifend individuell abgestimmte Therapien ein, um die Symptome unserer Bewohnerinnen und Bewohner auf möglichst effektive Weise zu mildern.“[46] „Seit mittlerweile fast zwei Jahren werden einige unserer Bewohnerinnen und Bewohner auch mittels Training lebenspraktischer Fertigkeiten tiergestützter Pädagogik gefördert“[47]. Es gibt eine eigene Stelle, in die BewohnerInnen verwaltet werden: „Die Bewohnerverwaltung dient als Servicestelle für Angehörige und Sachwalter unserer Bewohnerinnen und Bewohner sowie für Behörden“[48].

Alles ist Förderung

Im Alltag steht sowohl bei Beschäftigungs- als auch bei Freizeitangeboten die Förderung im Vordergrund. Z.B .: „Unsere Bewohnerinnen und Bewohner sorgen außerdem für die Instandhaltung unserer Außenanlagen (Sitzgelegenheiten, Pergula, etc. ). Sie übernehmen aber auch diverse externe Arbeiten wie z. B. die Regalbetreuung und Reinigung in einem Kaufhaus. Dabei unterstützen wir sie in ihrer Entwicklung zu größtmöglicher Selbstständigkeit und Selbstbestimmung.“[49] „Im Vordergrund unserer Theaterarbeit steht der Spaß am gemeinsamen Spiel. Talente werden entdeckt, Selbstbewusstsein, Kreativität und Phantasie der Mitwirkenden gesteigert. Zusätzlich fördert die beim Theaterspielen notwendige Kooperation und Kommunikation soziale Kompetenzen.“[50] „Bei Outdooraktivitäten wie Schi Alpin, Schi Nordisch, Bogensport, Nordic Walking und Radfahren oder verschiedenen Neigungsgruppen (Tennis, Tischtennis, Eiskunstlauf, Schwimmen) schulen wir Ausdauer, Kraft, Koordination, Beweglichkeit, Gleichgewicht und Reaktionsvermögen, wobei verschiedene Konzepte wie z. B. Motopädagogik oder Erlebnispädagogik in unsere Arbeit einfließen.“[51]

Die Betonung der Förderung verstärkt den Eindruck von Menschen mit Behinderungen als defizitäre Objekte. Auch alltägliche Bedürfnisse oder Tätigkeiten werden als Training oder Förderung gesetzt, z.B .: Esstraining, Toilettentraining, Sozialtraining, Förderung der Sozialkompetenz, Wahrnehmungsförderung, kognitives Training, Förderung der Feinmotorik.

Paternalistische und Infantilisierende Darstellung von Menschen mit Behinderungen

Die erwachsenen Frauen und Männer mit Behinderungen, die im Pflegezentrum Kainbach leben, werden auf der Homepage konsequent als „unsere“ Bewohnerinnen und Bewohner bezeichnet. Das verstärkt nicht nur ihre Zuschreibung als Objekte, sondern vermittelt auch ein infantilisierendes Bild: Die BewohnerInnen sind keine eigenständigen Personen oder Individuen, es sind „unsere“ BewohnerInnen. Die BewohnerInnen treten auf der Homepage nicht als autonom handelnde Personen auf, im Vordergrund steht die Institution.

Entsexualisierung

Die Themen Sexualität, Partnerschaft und Elternschaft tauchen auf der gesamten Homepage des Pflegezentrums Kainbach überhaupt nicht auf. Dies lässt eine starke Tendenz zur Entsexualisierung der Frauen und Männer mit Behinderungen in der Einrichtung vermuten und erinnert an das zölibatäre Leben im Kloster. Träger des Pflegezentrums Kainbach ist eine Ordensgemeinschaft.

Nach innen gerichtetes Integrationskonzept

Beschäftigung in Werkstätten auf dem Areal des Pflegezentrums wird als Teilhabe am Arbeitsleben bzw. als Integration bezeichnet: „Durch Montage- und Verpackungsarbeiten für externe Kooperationspartner ermöglichen wir unseren Bewohnerinnen und Bewohnern ganztägig oder stundenweise eine Teilhabe am Arbeitsleben.“[52] „Von Montag bis Freitag sind fast alle unserer Klientinnen und Klienten tagsüber in eine Tagesstätte integriert.“[53] Integration außerhalb der Einrichtung findet im Urlaub oder in der Freizeit statt: „Ausflüge und Urlaube im In- und Ausland haben einen festen Platz im Alltagsleben unserer Bewohnerinnen und Bewohner und sind ein Schritt in Richtung Normalität und Integration.“[54] Allerdings ist ein eigenes Ferienhaus im Besitz der Einrichtung, das bevorzugt als Urlaubsdestination verwendet wird: „unser Hubertusheim“.

Zusammenfassend legt die Analyse der Texte der Homepage des Pflegezentrums Kainbach nahe, dass es sich um eine aussondernde, in weiten Zügen an die von Goffman beschriebene totale Institution erinnernde Einrichtung handelt. Es wird ein stark medizinisch orientiertes Förder-und Rehabilitationskonzept praktiziert, und in Verbindung mit strukturellen Rahmenbedingungen dieser Großeinrichtung liegt die Vermutung nahe, dass hier Menschen mit Behinderungen isoliert vom Rest der Gesellschaft zu fremdbestimmten Objekten des Handelns von Menschen ohne Behinderungen werden.

3.2.2 Selbstbestimmt leben mit Persönlicher Assistenz

Monika Rauchberger berichtet über ihren Alltag, den sie mit Persönlicher Assistenz gestaltet: „Unter der Woche kommt in der Früh um 7 Uhr eine oder einer von meinen 6 AssistentInnen zu mir. Meistens sage ich gleich zu ihr, was ich zum Trinken und auch zum Essen will. Manche AssistentInnen fragen mich danach, wenn sie in die Wohnung hereinkommen. Die Assistentin macht mir das Frühstück. Anschließend frisiert sie mir die Haare durch und bindet sie mit einem Haargummi zusammen. Die Assistentin richtet mir die Tabletten auf einem Tuch her, dass ich sie nur mehr von dem Tuch nehmen und in den Mund geben muss. Während ich frühstücke, macht sie im Schlafzimmer die Balkontüre auf. Sie schüttelt die Bettdecke aus und richtet sie so her, dass ich mich am Abend nur mehr zudecken brauche. Dann richtet mir die Assistentin ein Mittagessen für die Arbeit. Mittlerweile brauche ich das den AssistentInnen oft nicht mehr zu sagen, weil sie wissen, dass ich ein Mittagessen brauche. Sie fragen nur mehr, welches Essen sie herrichten sollen, und packen es mir in den Rucksack. Wenn ich in der Früh um 6 Uhr die volle Waschmaschine eingeschaltet habe, hängt die Assistentin kurz nach 8 Uhr die Wäsche auf den Wäscheständer. Am Abend sage ich den AssistentInnen, sie sollen mit mir die Waschmaschine mit Buntwäsche oder Kochwäsche oder Wollwäsche vollfüllen. Ich sage ihnen auch, welches Waschmittel und welchen Weichspüler sie in die Waschmaschinenschublade leeren sollen. Wenn in der Früh noch Zeit bleibt, dann sage ich zu der Assistentin, sie soll bitte noch die Böden zusammenkehren. In der Früh machen die AssistentInnen ein oder zwei Stunden bei mir Dienst, am Abend drei bis vier Stunden. Ich leite die AssistentInnen immer an. Am Wochenende habe ich meistens dreieinhalb Assistenzstunden, von 11 Uhr bis halb 3. Ich will am Wochenende nicht so früh aufstehen. Ab und zu habe ich mehr oder weniger Assistenzstunden am Wochenende. Zum Beispiel, wenn ich ein Bocciaturnier habe, dann brauche ich viel mehr Assistenzstunden.“[55]

Frau Rauchberger wurde 1971 geboren und verbrachte den Großteil ihres Lebens in Heimen: Als Kind lebte sie in einem Heim für Kinder mit Behinderungen, dann zehn Jahre lang in einem Heim für erwachsene Menschen mit Behinderungen.[56] In mehreren veröffentlichten Texten berichtet sie über Stationen in ihrem Leben, die ihre Entwicklung und ihren Werdegang gut nachvollziehbar machen: den etappenweisen Auszug von Einrichtungen der Behindertenhilfe in ihre eigene Wohnung, die Beendigung ihrer Tätigkeit in einer Beschäftigungstherapie sowie den Beginn und die Herausforderungen auf einer regulären Arbeitsstelle. Seit 2002 arbeitet Frau Rauchberger bei Wibs, einer Beratungsstellt für Menschen mit Lernschwierigkeiten in Innsbruck[57], seit 2009 ist sie dort Projektleiterin. Für ihre Emanzipation war es entscheidend, dass sie eine reguläre, sozialversicherte Arbeit erhielt, was für eine Klientin der Beschäftigungstherapie sehr ungewöhnlich und mit der Überwindung vieler Widerstände verbunden ist: „Vor drei Jahren bewarb ich mich bei dem EU Projekt von Selbstbestimmt Leben Innsbruck. Meine BetreuerInnen und meine KollegInnen in der Werkstätte rieten mir ab. Sie sagten, dass ich es auf einem richtigen Arbeitsplatz nicht schaffen würde. Sie hatten Angst, weil sie überhaupt keine Vorstellung hatten, was ich an meinem neuen Arbeitsplatz tun musste. Sie glaubten nicht, dass ich mit meinen Einschränkungen, mit meiner Behinderung einen richtigen Job schaffen könnte. Sie hatten Bedenken, dass ich einige Arbeiten nicht alleine machen konnte und dass ich für manche Arbeiten länger als einen Tag brauchte. Sie fragten mich auch, was nach den drei Jahren sein würde, wenn es das Projekt nicht mehr gäbe. Aber ich wollte das Risiko eingehen.“[58]

Rauchbergers Weg vom Wohnen im Behindertenheim bis zur eigenen Wohnung verläuft in Etappen. Zuerst übersiedelt sie in eine Trainingswohnung innerhalb des Behindertenheims: „Ich bin dann in ein Einzelzimmer gekommen und habe meinen Freund kennen gelernt. Der hat auch im Heim gewohnt. Eine Zeit lang war ich nun gerne im Heim. Aber dann ist der Traum aufgetaucht, dass ich mit meinem Freud einmal in eine eigene Wohnung ziehen wollte. Das Heimleben ist mir immer mehr auf die Nerven gegangen. Irgendwann hat der Heimleiter aus einem Stock eine Übergangswohnung gemacht. Übergangswohnung heißt, dass man alles lernt, was man zum Ausziehen in eine weniger betreute Wohngemeinschaft können muss. Ich habe mich für die Übergangswohnung gemeldet. Mein Freund hat sich zum Glück auch dort angemeldet.“[59] Von der Trainingswohnung zieht sie gemeinsam mit ihrem Freund in eine externe Wohngemeinschaft, außerhalb der Behinderteneinrichtung, doch auch dort stellt sich bei ihr Unzufriedenheit ein: „Mit der Zeit hat es immer mehr Konflikte in der Wohngemeinschaft gegeben, und ich bin mit den BetreuerInnen oft sehr schwer ausgekommen. Sie hatten oft eine andere Meinung als ich. Ich wollte mir nichts vorschreiben lassen. Es ist sehr schwer, sich gegen BetreuerInnen durchzusetzen. Also tauchte schon wieder der Wunsch nach mehr Freiheit in mir auf. Und ganz heimlich träumte ich von meiner eigenen Wohnung.“[60] Am liebsten möchte sie mir ihrem Freund gemeinsam in eine eigene Wohnung ziehen, doch das ist nicht so einfach: „Seine Familie hat bestimmt, dass er nicht ausziehen darf. Sie machten sich zu viele Sorgen. Außerdem hat er einen Sachwalter. Das war ein großes Problem.“[61] Frau Rauchberger entscheidet sich dennoch für den Auszug aus der Wohngemeinschaft und beantragt – beraten und begleitet von Wibs und Selbstbestimmt Leben Innsbruck - eine Stadtwohnung, in die sie 2009 übersiedelt. Rückblickend stellt sie fest: „Seit ich in meiner eigenen behindertengerechten Wohnung lebe, weiß ich, was der Unterschied zwischen persönlicher Assistenz und Betreuung ist. (…) Die BetreuerInnen in den Heimen und auch in den Wohngemeinschaften geben den Dienstplan vor. Sie sagen, was die Menschen mit Behinderungen zu tun haben. Die BetreuerInnen lassen die Menschen mit Behinderungen nie aus den Augen. Weil die BetreuerInnen haben viel zu viel Angst, dass mit den Menschen mit Behinderungen im Heim etwas passieren könnte. Die Leute mit Behinderungen müssen zu bestimmten Zeiten im Heim sein. Zum Beispiel zu den Essenszeiten. Die persönlichen AssistentInnen kommen zu mir, wann ich es mit ihnen ausgemacht habe. Das heißt, ich sage zu ihnen, um welche Uhrzeit sie in meine Wohnung oder woanders hinkommen sollen. Dann sage ich ihnen, was sie für mich tun sollen. Und wie sie es tun sollen. Die AssistentInnen machen sich um mich keine Sorgen.“ [62]



[12] Sascha Plangger/Volker Schönwiese, Behindertenhilfe – Hilfe für behinderte Menschen? Geschichte und Entwicklungsphasen der Behindertenhilfe in Tirol. In: Horst Schreiber (Hg.), Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol, Innsbruck 2010, S. 327 – 346.

[13] Johannes Tiesler, Hoffnung macht, dass die Aufgabe erkannt ist. Enthospitalisierung in Österreich. In: Christian Bradl/Ingmar Steinhardt (Hg.), Mehr Selbstbestimmung durch Enthospitalisierung, Bonn 1996, S.94-101, hier 94f.

[14] Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1989, S. 53.

[15] Ebd., S. 13-123.

[16] Ebd., S. 68. Goffman nennt die BewohnerInnen totaler Institutionen Insassen.

[17] Ernst Klee, Behinderten-Report, Frankfurt am Main 1974, S. 14.

[18] Peter Nausner, Kainbach wird gebraucht. Eine Reportage über ein Pflegeheim für unheilbar Geisteskranke. In: Zeitschrift Behindert 2/1980, S. 2-6.

[19] Brigtte Wanker, Mauern überall. In: Rudolf Forster, Volker Schönwiese (Hg.), Behindertenalltag – wie man behindert wird. Wien 1982. Unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/wanker-mauern.html, 09.07.2013.

[20] Erwin Hauser: Szenen in und um Hartheim. In: LOS Nr. 1/ 1983, S.16-21 (die komplette Gesamtausgabe der behindertenpolitischen Zeitschrift LOS - 1983 bis 1992 - wird im Herbst 2013 in der digitalen Bibliothek bidok wiederveröffentlicht)

[21] Plangger/Schönwiese, Behindertenhilfe – Hilfe für behinderte Menschen?, S. 332.

[22] 1967 wurde nach deutschem Vorbild die Elternvereinigung Lebenshilfe Österreich gemeinsam mit SonderschullehrerInnen und MedizinerInnen gegründet. Behinderte Jugendliche wollte man nach der Schule eine Beschäftigungs-, später Wohnmöglichkeit bieten, an eine Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt oder Gemeinwesen wurde aber vorerst nicht gedacht.

[23] Karl Winkler, Chronik der Lebenshilfe Tirol 1963 – 1988. Innsbruck, 1988, S. 290.

[24] Rupert Schmidt, Die Paläste der Irren. Kritische Betrachtung zur Lebenssituation geistig behinderter Menschen in Österreich. Wien 1993, S. 58ff.

[25] Walter Spiel zit. nach Schmidt, Die Paläste der Irren, S. 62.

[26] Ebd., S. 61.

[27] Georg Theunissen, Empowerment und Inklusion behinderter Menschen. Einführung in die Heilpädagogik und soziale Arbeit, Freiburg im Breisgau 2009, S. 64.

[28] Tiesler, Hoffnung macht, dass die Aufgabe erkannt ist.

[29] Verein zur Integration geistig behinderter Menschen, Dokumentation der Koordinationsstelle, 1995. Unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/igb-dokumentation.html, 10.07.2013.

[30] Zit. Vereinbarung über gemeinsame Maßnahmen des Bundes und der Länder für pflegebedürftige Personen (Pflegevorsorge-Vereinbarung), BGBl. Nr. 866/1993. Unter: http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=LrOO&Gesetzesnummer=10000403, 15.07.2013.

[31] Wegscheider, Politik für Menschen mit Behinderung am Beispiel Österreichs, 162-165 und 181-185.

[32] Hubert Stockner, Persönliche Assistenz als Ausweg aus der institutionellen Segregation von Menschen mit Behinderungen. Bericht für Selbstbestimmt Leben Österreich zur Situation der Persönlichen Assistenz in Österreich, Wien 2011. Unter: http://www.slioe.at/downloads/themen/assistenz/PA_institutionelle_Segregation.pdf, 15.07.2013.

[33] Christoph Badelt/August Österle, Grundzüge der Sozialpolitik. Sozioökonomische Grundlagen. Allgemeiner Teil, Wien 2001, S. 11.

[34] Christoph Rehmann-Sutter, Disability, Enhancement und die Ethik des guten Lebens, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Behinderung ohne Behinderte?! Perspektiven in den Disability Studies“, Universität Heidelberg, 05.12.2011. Unter: http://www.zedis.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/rehmann-sutter_05122011.pdf, 04.07.2013.

[35] Z.B. Franz-Joseph Huainigg, Du sollst nicht selektieren, 12.09.2012. Unter: http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=13490&suchhigh=abtreibung, 15.07.2013 oder FPÖ, Eugenische Indikation - Gesundheitsminister agiert mit frei erfundenen Daten, 20.12.2012. Unter: http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=13735&suchhigh=abtreibung, 15.07.2013.

[36] Kallia Gavela, Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe, Heidelberg 2013, S. 2-3.

[37] Volker Schönwiese, Individualisierende Eugenik - Zur Praxis von Andreas Rett. In: Bizeps (Hg.), wertes unwertes Leben, Wien 2012, S. 69-82.

[38] Zit. Fritz Holzinger, Sonderpädagogik. Schriften zur Lehrerbildung und Lehrerfortbildung. Wien 1984 [1978], S. 307. Nach: Schönwiese, Individualisierende, S. 78f.

[39] Darunter versteht man die Ausbreitung der Prinzipien des Marktes und des Wettbewerbes auf Lebensbereiche, in denen ökonomische Überlegungen in der Vergangenheit kaum eine Rolle spielten.

[40] Rehmann-Sutter, Disability, Enhancement und die Ethik des guten Lebens.

[41] Präsentation der österreichischen NGO-Delegation beim UN-Behindertenrechtskomitee 2013. Unter: http://www.slioe.at/was/stellungnahmen/2013-04_Praesentation_UN-CRPD.php, 15.07.2013.

[42] Ein Besuch der Einrichtung wurde und verweigert, da angenommen wurde, wir würden negativ über Kainbach schreiben.

[55] Rauchberger, Monika (2012). „Ich bin die Chefin“. Aus meinem Leben mit Assistenz. In: Behinderte Menschen 6/2012, S. 6-7, hier S. 6

[56] Vgl. Rauchberger, Monika (2006). Meine Lebensgeschichte. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/rauchberger-lebensgeschichte-l.html, 25. 07. 2013

[57] Wibs (Wir informieren, bestimmen und beraten selbst) http://www.wibs-tirol.at/ Wibs ist ein Projekt von Selbstbestimmt Leben Innsbruck http://www.selbstbestimmt-leben.net/

[58] Rauchberger, Monika (2006). Warum ich nach zehn Jahren nicht mehr in der Reha - Werkstätte arbeiten wollte. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/rauchberger-reha-l.html, 25. 07. 2013

[59] Rauchberger, Monika (2007). Mein langer Weg vom Heim in die Wohngemeinschaft und von der Wohngemeinschaft in meine eigene Wohnung. Teil 1. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/rauchberger-weg1-l.html, 25. 07. 2013

[60] Rauchberger, Monika (2007). Mein langer Weg vom Heim in die Wohngemeinschaft und von der Wohngemeinschaft in meine eigene Wohnung. Teil 3. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/rauchberger-weg3-l.html, 25. 07. 2013

[61] ebd.

[62] Rauchberger (2012), S. 7.

4. Resümée

Unsere Darstellungen über die Entwicklung der Behindertenhilfe bzw. Ansätze der Betreuung und Unterstützung von Menschen mit Behinderungen machen deutlich, dass in Österreich verschiedene gesellschaftspolitische Strategien sowie damit verbundene institutionelle und pädagogische Konzepte praktiziert wurden und werden. Gleichzeitig sind dominierende, einander aber auch widersprechende Tendenzen in der pädagogischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen sichtbar.

Aktuell erkennen wir folgende Tendenzen:

  1. eine fortschrittlich eugenische Tendenz: Sie manifestiert sich in Vernichtungstendenzen durch Spaltung, Creaming, Ungleichbehandlung nach sozialem Kapital, Enhancement und direkter Eugenik bis Sterbehilfe.

  2. eine konservativ anpassende Tendenz: Menschen mit Behinderungen werden als Objekte von Barmherzigkeit, von Rehabilitation und Therapie verstanden. Von ihnen werden individuelle Anpassungsstrategien an Institutionen im Sinne von Goffman erwartet, gleichzeitig zeigt sich in Einrichtungen der Behindertenhilfe deutlich eine systemische Eigendynamik als Dienstleistungsunternehmen.

  3. eine an Menschenrechten orientierte Tendenz: Sie beinhaltet Prinzipien wie Selbstbestimmung, Gleichstellung, Anerkennung, Partizipation und Inklusion. Durch den Anspruch an gemeindenahe und stark individualisierte Unterstützungs- und Assistenzsystemen sowie an soziale Sicherungen macht diese Tendenz eine grundlegende Reform der noch immer sehr konservativ-traditionell geprägten Behindertenhilfe in Österreich notwendig.

Quelle

Petra Flieger, Volker Schönwiese, Angela Wegscheider: Behindertenpädagogik und Behindertenhilfe im Spannungsfeld zwischen alten Mustern und neuen Wegen. Beitrag in: Heimo Halbrainer/ Ursula Vennemann: Es war nicht immer so.: Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute. CLIO Verein f. Geschichts- & Bildungsarbeit, 2013, Seite 189-211

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 23.10.2017

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