K ist geisteskrank. Die Anatomie eines Tatsachenberichtes

Autor:in - Dorothy E. Smith
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Originalbeitrag; Übersetzung: Liselotte Zauner. Erschienen in: Ethnomoethodologie - Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. Hrsg.: Elmar Weingarten, Fritz Sack, und Jim Schenkein; suhrkamp taschenbuch wissenschaft 71 Erste Auflage; Frankfurt am Main 1976 / S. 368 - 415. (aus dem Klappentext: Das Interesse der Ethnomethodologie ist auf die Methode gerichtet, derer die Gesellschaftsmitglieder sich bedienen, um ihre tagtäglichen Situationen zu bewältigen.)
Copyright: © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1976

K ist geisteskrank. Die Anatomie eines Tatsachenberichtes

Diese Arbeit analysiert ein Interview, welches darstellt, wie es dazu kommt, daß K von ihren Freunden für geisteskrank gehalten wird. Was da vor sich ging, war eine Art gemeinsam bewerkstelligter Ausschließungsprozeß. Mit gutem Recht kann man annehmen, daß jemand, der einem solchen Prozeß unterworfen wird, auf eine Weise reagiert, die anderen merkwürdig vorkommt. Das Problem, das der Bericht aufwirft, liegt nicht darin, eine Antwort auf die Frage »was ist los mit K?« zu finden, sondern festzustellen, daß diese Sammlung von Einzelheiten ein Puzzlespiel darstellt, das zu der Lösung »geisteskrank werden« paßt. Um die Aussonderung zu ermöglichen hat der Erzähler eine Menge an Kontextarbeit zu leisten. Im Kunstbegriff der "Kontraststruktur" wird das deutlich analysiert.

Die Konstrukte des Sozialwissenschaftlers sind, wie SCHÜTZ (1962 bzw. 1971 ) gezeigt hat, Konstrukte zweiter Ordnung. Die Phänomene, welche er untersucht und zu erklären sucht, sind bereits strukturiert durch die Interpretationen und Charakterisierungen der Personen, mit denen er sich befaßt. Diese Struktur ist eine wesentliche Eigenschaft der Phänomene und nicht etwas Hinzugefügtes, das der Sozialwissenschaftler wieder ablösen muß, um herauszufinden, >wie die Dinge wirklich sind<. Auch sind die Verfahrensweisen, die er benützt, um seine Daten zu gewinnen und zu interpretieren, nicht grundsätzlich verschieden von den Methoden, die Laienakteure anwenden, um die Phänomene zustandezubringen, die zu seinen Daten werden. Was er verwendet, ist zu Zwecken hergestellt worden, die in der Regel nichts mit den seinigen zu tun haben. Mit der Konstruktion seiner Daten waren andere beschäftigt. Der Prozeß der Transformation sozialen Handelns in soziologische Daten muß als eine gemeinsame, jedoch nicht nach gemeinsamen Zwecksetzungen durchgeführte Tätigkeit angesehen werden.

Die gewöhnliche Arbeitssituation des Sozialwissenschaftlers versetzt ihn in eine besondere Schwierigkeit. Es ist ein typisches Merkmal seiner Daten, daß die Ereignisse, mit denen er sich befaßt, bereits Vergangenheit geworden sind und nicht mehr überprüft werden können. Der unaufhörliche Verfall der Phänomene, die er beschreiben und erklären möchte, macht ihn in ganz besonderer Weise von Aufzeichnungen, Berichten, Beschreibungen der

verschiedensten Art abhängig. Seine Praxis ist grundsätzlich historischer Natur.

Diese Arbeit analysiert ein Interview, welches darstellt, wie es dazu kommt, daß K von ihren Freunden für geisteskrank gehalten wird. Es ist nicht einfach eine Aufzeichnung von Tatsachen, so wie sie zutage traten. Vielmehr handelt es sich um eine Darstellung der Tatsachen, die als relevant für den Prozeß der Entscheidung über den wirklichen Charakter dieser Ereignisse angesehen werden. Dies ist ein gemeinsames Merkmal aller Berichte usw., mit welchen sich der Sozialwissenschaftler auf dem Gebiet des abweichenden Verhaltens befaßt. Die verschiedenen Agenten der sozialen Kontrolle verfügen über institutionalisierte Verfahren der Zusammenstellung, Bearbeitung und Überprüfung von Informationen über das Verhalten von Individuen, so daß sie mit jenen Paradigmen verglichen werden können, welche die Anwendungskriterien bezüglich der Zugehörigkeit zu einer Klasse formulieren, sei es zur Klasse der jugendlichen Kriminellen, zur Klasse der Geisteskranken oder anderen Klassen. Diese Verfahren, die formellen wie die informellen, sind ein üblicher Bestandteil der Tätigkeit der Polizei, der Gerichte, der Psychiater und anderer ähnlicher Vollzugsorgane (CICOUREL 1968). Eine ausführliche Beschreibung der Organisationspraxis solcher Institutionen in diesem Bereich würde eine Beschreibung der Verfahren darstellen, durch die eine Menge ursprünglicher und wirklicher Ereignisse in die harte Währung von Tatsachen umgemünzt wird.

Eine Reihe von Studien in dem Bereich der Geisteskrankheit GOFFMAN 1961, SCHEFF 1964, MECHANIC 1962) zeigt, daß eine Beschreibung der Tätigkeiten der offiziellen Agenten alles andere als hinreichend ist, wenn erklärt werden soll, wie es dazu kommt, daß jemand als geisteskrank definiert wird. In diesem Bericht sind es K's Freunde, die die Vorarbeiten leisten. K kommt nicht bis zu den formellen psychiatrischen Institutionen, obwohl dies sich ankündigt. Berichte über »Wege ins Nervenkrankenhaus« (CLAUSEN und YARROW 1955) deuten an, daß vor dem Eintritt in den offiziellen Prozeß erhebliche nicht-formelle Arbeit von den betreffenden Individuen, ihren Familien und ihren Freunden geleistet wird. Diese nicht-formellen Prozesse können ebenfalls als soziale Organisation beschrieben werden, welche etwa der Produktion eines Interviewberichtes von der hier dargestellten Art vorangehen .

Der Begriff »soziale Organisation« ist hier in einem Sinn gebraucht, der die Frage der Planung oder Absicht offen läßt. Eine solche Verwendung dieses Begriffs kann mit dem ökonomischen Begriff des Marktes verglichen werden, der die Analyse der Ein- und Verkaufstätigkeiten einer Vielzahl von Individuen als Analyse einer sozialen Organisation ermöglicht, die von den Teilnehmern nicht beabsichtigt ist und >Marktphänomene< als nicht beabsichtigte Folgeerscheinung produziert. Der Begriff »soziale Organisation« wird hier in analoger Weise verwandt, um als Beteiligte an der Produktion dieses Berichtes nicht nur den Soziologen, den Interviewer und den Befragten zu erfassen, sondern auch alle, die die Ereignisse selbst auslösten und zu entscheiden versuchten, wie diese aufzufassen seien. Er stellt somit ein Mittel dar, die verschiedenen Schritte und Tätigkeiten explizit zu machen, die zwischen dem Leser des Berichtes und den Ereignissen selbst liegen, und kann zudem zeigen, wie die Akzeptabilität des Interviews als Tatsachenbericht und als Bericht über jemanden, der geisteskrank ist oder im Begriff steht, es zu werden, zustande kommt. Ich habe daher auch durchwegs die Tatsache betont, deren wir uns alle bewußt sind, die wir aber normalerweise ausklammern, daß nämlich der Soziologe aktiv an der Konstruktion der Ereignisse teilnimmt, die er als Daten behandelt, und daß er dies tun muß.

Die Entstehung der Daten

In einem Universitätskurs über abweichendes Verhalten habe ich mit einigen Studenten an einem Forschungsprogramm gearbeitet, das sich mit der Frage befaßte, wie ein Laie dazu kommt, jemanden für geisteskrank zu halten. Die Untersuchung hielt sich, wenngleich nicht streng, an KITSUSES Aufsatz über die gesellschaftliche Reaktion auf abweichendes Verhalten (KITSUSE 1962) der untersucht, wie man dazu kommt, jemanden als homosexuell zu identifizieren.

Die geplanten Interviews waren weniger stark durchstrukturiert als die von KITSUSE. Die Interviewer sollten mit der Frage beginnen: »Gibt es in Ihrem Bekanntenkreis irgend jemanden, der in Ihren Augen vielleicht geisteskrank sein könnte?« Der Befragte sollte Geisteskrankheit definieren und die Geschichte mehr oder weniger mit seinen eigenen Worten erzählen. Aber der Interviewer sollte Informationen über folgende vier Punkte sammeln:

  1. das Ereignis oder die Situation, in der der Befragte zuerst auf den Gedanken kam, der Betreffende könnte geisteskrank sein;

  2. welche Verhaltensweisen der Betreffende damals oder in anderen früheren Situationen zeigte, die diese Definition nahelegten oder später als Beispiele eines solchen Verhaltens angesehen werden konnten;

  3. welcher Art die Beziehung zwischen dem Betreffenden und dem Befragten gewesen ist;

  4. wer sonst noch an dem Definitionsprozeß beteiligt gewesen war, mit wem der Befragte gesprochen hatte etc.

Dieses Interview ist keineswegs ein Modell für solche Interviews. Weder wurden die Fragen des Interviewers aufgezeichnet, noch wurde das Interview auf Tonband aufgenommen, was das Ideale wäre, jedoch einem Studenten selten möglich ist. Was vorliegt, ist ein Gesprächsbericht. Aber mein Interesse an der Analyse des Interviews rührte zum Teil eben daher, daß es als normales soziologisches Interview unvollkommen ist.

Das Interview wurde im Seminar diskutiert. Damals hatte ich die schriftliche Fassung nicht vor mir. Die Studentin, die das Interview durchgeführt hatte, gab einen mündlichen Bericht. Beim Anhören hielt ich ihn für einen Bericht über eine sich entwickelnde schizophrene Reaktion eines bestimmten Typs. Ich dachte bei mir selbst, »die Betreffende wird immer verwirrter werden und dann wird sie eines Tages an ihrer Arbeitsstelle durchdrehen und eingewiesen werden«. Mit anderen Worten, ich hörte den Bericht des Interviewers als Bericht über jemanden, der geisteskrank war oder im Begriff stand, es zu werden. Der mündliche Bericht unterschied sich - und zwar, glaube ich, in einigen wichtigen Punkten - von dem geschriebenen Bericht insofern, als er einiges Material enthielt, das sich nicht im geschriebenen Bericht befindet, und einiges wegließ, was der geschriebene enthält.

Später jedoch erhielt ich die getippte Fassung des Interviews, und es wurde mir völlig klar, daß man sich auch ein ganz anderes Bild von den Vorgängen hätte machen können, und daß auch ich es mir ohne Mühe, zumindest als vorläufiges Bild, machen könnte, lediglich auf der Basis des im Interview enthaltenen Materials. Das alternative Bild war mit einfachen Worten folgendes: was da vor sich ging, war eine Art gemeinsam bewerkstelligter Ausschließungsprozeß, sehr ähnlich dem von LEMERT in dem Aufsatz »Paranoia and the dynamics of exclusion« (LEMERT 1962) beschriebenen, und wenn es irgend etwas Seltsames in K's Verhalten gab (die Lektüre des Berichts ließ mich zweifeln, ob tatsächlich irgend etwas Ungewöhnliches im psychiatrischen Sinne vorlag), so konnte man mit gutem Recht annehmen, daß jemand, der einem solchen Prozeß unterworfen wird, auf eine Weise reagiert, die anderen merkwürdig vorkommt.

Üblicherweise verhält man sich bei einer derartigen Schwierigkeit so, daß man zu entscheiden versucht, welche Interpretation korrekt ist. Das heißt normalerweise, daß mehr Informationen benötigt werden oder daß die vorhandenen Informationen sorgfältig zu prüfen sind. Und in diesem Falle wäre höchstwahrscheinlich festgestellt worden, daß das Interview für diese Zwecke nicht zureichend war. Aber mich faszinierte dieser Verschiebungseffekt, wie bei einem Vexierbild: daß ich den mündlichen Bericht zuerst als Darstellung einer Geisteskrankheit ansah und auch das geschriebene Interview durchaus so lesen konnte, daß ich nun aber auch die Alternative sah. Das Interview kann also unter der Perspektive einer Geisteskrankheit gelesen werden, und dann sieht man es auch so (und so hatte es offensichtlich der Interviewer gesehen und auch an mich und die Studenten im Seminar mitgeteilt); aber hat man erst einmal das alternative Modell gesehen, dann wird es schwierig, nochmals jenes zu sehen, worin die Betreffende geisteskrank ist.

Wie wird Geisteskrankheit erkannt?

Bei anderen Typen abweichenden Verhaltens (Homosexualität; jugendliche Kriminalität etc.) sind die Kriterien der Zugehörigkeit zu einer Klasse ziemlich klar: eine eindeutige Regel muß verletzt oder es muß von einer Norm abgewichen worden sein, obzwar es durchaus nicht einfach ist, nachzuweisen, daß die Handlung eines Individuums zu Recht als Beispiel für das Durchbrechen einer Regel anzusehen ist. Dennoch liegen die Schwierigkeiten mit der Kategorie >Geisteskrankheit< auf einer anderen Ebene. Die Kriterien der Zugehörigkeit zu dieser Klasse sind nicht klar. Es ist nicht klar, welche Normen verletzt worden sind, wenn jemand als geisteskrank eingestuft wird. Es ist aber eindeutig möglich, Verhalten in einer solchen Weise zu beschreiben, daß jeder diese Einstufung vollziehen wird, und zwar voll überzeugt von deren Berechtigung. Daher muß es eine Menge von Regeln oder Verfahren geben, Verhalten als Typ des geisteskranken Verhaltens darzustellen, und diese Verfahren müssen die normativen Bedingungen dafür erfüllen, daß Individuen als Mitglieder der Klasse der Geisteskranken eingestuft werden.

Bei dem mündlichen Vortrag, den der Interviewer im Seminar hielt, stuften ich und auch weitere Anwesende, wie gesagt, das Verhalten der Betreffenden - K - als geisteskrankes Verhalten ein. Das Interview zielt darauf ab und kann auch entsprechend gelesen werden. Aus Ereignissen die >Tatsache< herauszulesen, daß jemand geisteskrank ist, erfordert eine komplexe konzeptuelle Verarbeitung. Dazu gehört, Beobachtungen in aktuellen Augenblicken und Situationen, die über einen Zeitraum verstreut sind, zu sammeln und nach den Regeln, die das Konzept bereitstellt, zu ordnen. Wenn auf dieser konzeptuellen Stufe eine simple, sofortige und überzeugende Feststellung einer Tatsache erfolgt, läßt dies darauf schließen, daß ein Großteil der Tätigkeit, die Ereignisse gemäß dem Konzept zu ordnen, bereits geleistet worden ist. Dem Leser/Hörer bleibt lediglich die Aufgabe, aus diesen Ereignissen bzw. aus diesem Bericht über die Ereignisse das Modell zu erschließen, welches ihm erlaubt, sie als diesen oder jenen Typ sozialer Tatsachen zu klassifizieren.

Das Konzept, welches hinter dem Ausdruck >Geisteskrankheit< (wie ich ihn verstehe) steckt, liefert die Kriterien und Regeln zur Ordnung von Ereignissen, mit denen die Ordnung der Ereignisse in dem Bericht geprüft oder verglichen werden kann: Ein unmittelbar überzeugender Bericht ist ein solcher, der zu dieser Klassifikation zwingt und jede andere schwierig macht. Tritt dies ein, dann müssen die Ereignisse oder der Bericht von diesen Ereignissen bereits die Ordnung aufzeigen, welche ihnen für den Leser/Hörer die Gestalt einer Tatsache verleiht.

Dies ist es, was, wie ich meine, mich dazu berechtigt, diesen Bericht zu analysieren, um (noch ganz vorläufig) die typischen Züge des Konzeptes >Geisteskrankheit< zu entdecken. Ich behandle die Struktur dieses Berichtes im Hinblick darauf, daß er als Bericht über eine Geisteskranke gelesen werden kann, als isomorph mit der Struktur des Konzeptes, das angewandt wurde, um Geisteskrankheit vorzufinden. Wenn ich diesen Bericht als einen Bericht über Geisteskrankheit nehme und analysiere, so - und dies ist mein Argument - lege ich damit die Struktur des konzeptuellen Modells bloß, mit dessen Hilfe ich das Vorliegende so einstufe, daß es das ist, was es ist.

Das Interview selbst als Datenmaterial

In dieser Analyse wird das Interview nicht als Bericht angesehen, aus welchem Rückschlüsse auf das zu ziehen wären, was tatsächlich vor sich ging. Fragen lösen nicht nur die Erzeugung von Information aus. Unterschiedliche Fragen in unterschiedlicher Form unterscheiden sich nicht nur dadurch, daß sie ausführlichere oder geringere Informationen auslösen. Die Form der Frage macht dem Befragten klar, was für eine Leistung von ihm erwartet wird. Sie verlangt von ihm, sein Wissen, seine Erfahrung etc. in besonderer Weise einzusetzen. In diesem Interview verlangt die einleitende Frage - »Gibt es in Ihrem Bekanntenkreis jemanden, der in Ihren Augen vielleicht geisteskrank sein könnte?« - von der Befragten, nach etwas Passendem zu suchen, aus ihrem Erfahrungsbereich ein Beispiel zu finden (das vermutlich nur sie kennen kann), das den Kriterien für die Zugehörigkeit zu dieser Klasse, die als allgemein bekannt gelten, entspricht. Ein solches Interview ist ein Prozeß, in welchem die Befragte den Status ihrer Erfahrung, ihres Wissens und ihrer Definition von Ereignissen ausarbeitet und an dem Wissen etc. kontrolliert, das dem Interviewer als Repräsentanten der Kultur insgesamt zugeschrieben wird. Dieser Bericht ist daher ein weiterer Schritt in der Rechtfertigung der Definitionen, die dem Interview vorausgingen. Vom Standpunkt der Befragten ist das Interview ein weiterer, wenn auch nicht eingeplanter Schritt in dem Prozeß der Überprüfung einer bereits durchgeführten Kategorisierung. Das Interview ist für sie ebenso nützlich wie für mich und den Interviewer.

Was sich tatsächlich ereignete - was immer das gewesen sein mag -, wurde von der Befragten, auch noch während des Interviews, verarbeitet und in eine intelligible Form gebracht, eine Form, in der sie die Gestalt und die Richtung dieser Ereignisse sehen konnte. Die tatsächlichen Ereignisse können als Rohmaterial angesehen werden, welches die Befragte benützte, um für sich selbst und den Interviewer einen Bericht darüber, was geschehen war, herzustellen. Selbstverständlich waren die Ereignisse selbst vielfältiger, weniger geordnet, einfach sehr viel zahlreicher als das, was in ein einstündiges Interview gepackt werden konnte. Und sie hätten genau so gut anders verarbeitet werden können, als es die Befragte tat. Tiefgreifende Selektionsprozesse haben stattgefunden; sehr vieles wurde weggelassen, und was beibehalten wurde, ist wohlgeordnet und vermittelt dem Leser eine Kohärenz, die in den Ereignissen nicht vorhanden war. Außerdem sind einige Ereignisse als wichtige Bildelemente in den Vordergrund gerückt, während andere, die zwar auch erwähnt werden, als Teile des Hintergrunds oder des Erzählgerüstes behandelt werden.

Dies alles kann als das Produkt der Tätigkeit der Befragten verstanden werden. Aber wir haben noch einen zweiten Schritt vor uns, bevor das Interview dem Leser/Hörer zugeht. Es ist die Tätigkeit des Interviewers. Wir müssen vermuten, daß diese ganz wesentlich war, und wir haben keine präzisen Informationen darüber, da der Interviewer unerfahren war und kein Tonband benützte. So muß das Interview, wie es vor uns liegt, als gemeinsame Aufbereitung einer zurückliegenden und völlig unbestimmbaren Menge von Ereignissen gesehen werden. Zusätzlich habe ich selbst noch kleine redaktionelle Änderungen vorgenommen, um die Betreffende davor zu schützen, daß sie erkannt wird.

Bei der Analyse des Berichts und der Organisation seiner Beziehung zu den tatsächlichen Ereignissen, die er darzustellen behauptet, werden wir uns nicht damit befassen, wie diese

Ereignisse wirklich waren. Ob K tatsächlich geisteskrank war oder nicht, ist für die Analyse irrelevant. Es ist wichtig, daß dem Leser klar ist, daß die Daten, mit denen sich diese Arbeit befaßt, ihm wie mir ausschließlich in der getippten Fassung, die hier folgt, vorliegen.

Hier ist das Interview, wie ich es erhielt, mit geringfügigen Änderungen zur Vermeidung der Aufdeckung von Identitäten. Die Interpunktion stammt vom Interviewer. Die äußere Form und die Einteilung in Absätze wurde vom Interviewer übernommen.

1 Angela wurde über ihre Eindrücke bezüglich einer Freun-

2 din interviewt, welche in dieser Untersuchung »K« ge-

3 nannt werden soll.

4 Angela lernte K vor 4 Jahren kennen, während ihres

5 ersten Jahres auf der Universität. Angela ging zur gleichen Hoch-

6 schule, aber eine Klasse unter K, und war voller

7 Bewunderung, als sie K vorgestellt wurde.

8 Hier war ein Mädchen, ein Jahr älter, aus einer so guten

9 Familie, eine so gute Studentin, so nett, so freundlich,

10 so sportlich, die mit ihr Freundschaft

11 schließen wollte. K regte Ausflüge an, und

12 sie gingen zusammen Skifahren, Schwimmen und spielten

13 Tennis. Im Herbst beteiligten sie sich mit anderen an einem ge-

14 meinsamen Auto, so daß sie auf einen Schlag

15 mit diversen Leuten in Kontakt kamen.

16 Fast jeden Morgen weinte K im Auto, verstört über

17 irgendwelche Kleinigkeiten, und die Mädchen trösteten

18 sie. Manchmal brach sie mitten in einem Gespräch in

19 Tränen aus. Sie begann Schwierigkeiten mit ihren Kursen

20 zu haben, gab einige auf und wechselte einige.

21 Angela: Nur sehr langsam kam ich zu der Erkenntnis,

22 daß irgend etwas nicht in Ordnung sein könnte, und in

23 der Tat war ich die letzte ihrer engen Freundinnen, die be-

24 reit war, offen zuzugeben, daß sie geisteskrank wurde.

25 Angela fand es leichter, die Dinge chronologisch zu er-

26 klären, und retrospektiv hat es den Anschein, daß sich

27 dadurch die Beobachtungen vielleicht leichter ein-

28 ordnen ließen.

29 An heißen Tagen gingen wir an den Strand oder in das

30 Schwimmbad, und ich tauchte kurz unter und lag dann in

31 der Sonne, während K darauf bestand, daß sie dreißig

32 Längen schwimmen mußte. Es war sehr schwierig, mit ihr

33 ein vernünftiges Gespräch zu führen, dies wurde offenbar,

34 als ich einen besonders guten Film mit ihr diskutieren

35 wollte und sie ständig alberne Bemerkungen machte, die

36 überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hatten.

37 Langsam verwandelte sich meine Bewunderung in ein Ge-

38 fühl der Verwirrung. Ich begann sie mehr wie ein Kind

39 zu behandeln, das vielleicht nicht superklug war, und

40 ich nahm eine beschützende Haltung ein. Ich erkannte, daß

41 dieser Wandel stattgefunden hatte, als eine gemeinsame

42 Freundin, Trudi, die im Hauptfach Englisch studierte, einen

43 ihrer Aufsätze durchgesehen hatte und mir nachher sagte:

44 sie schreibt wie eine Zwölfjährige - ich glaube, irgend etwas

45 stimmt nicht mit ihr.

46 K macht zuweilen alles besonders intensiv, sie strengt sich zu sehr

47 an. Ihr Sinn für Proportionen ist nicht in Ordnung. Als sie

48 unverbindlich von jemandem gebeten wurde, im Garten zu

49 helfen,schuftete sie stundenlang ohne Pause, blickte kaum hoch. Wer sie

50 kennenlernt, ist bezaubert von der süßen, mädchenhaften Er-

51 scheinung. In Gesellschaft verhält sie sich zurückhaltend,

52 setzt ein süßes Lächeln auf und scheint von entwaffnender

53 Hilflosigkeit. Aber wenn junge Männer dabei waren, fand

54 sie es immer schwieriger, ein Gespräch zu führen, meistens

55 entschuldigte sie sich und ging sehr bald. Während der

56 ganzen Zeit, die ich sie kannte, ist sie ein einziges Mal

57 mit einem Jungen ausgegangen, obwohl sie sich gelegent-

58 lich mit ihnen zusammen an einigen Sportarten beteiligte.

59 Es war offensichtlich, daß sie entsetzliche Angst davor

60 hatte, irgend jemand könnte ihr zu nahe kommen, insbesondere

61 ein Mann, und trotzdem spielte sie uns vor (und offenbar

62 auch sich selber), daß dieser oder jener Typ scharf auf

63 sie war.

64 Während dieser Zeit hatte sich Angela mit Trudi ange-

65 freundet, hauptsächlich weil sie das Gefühl hatte,

66 daß sie mit ihr über vieles reden konnte. Sie blieb mit

67 K befreundet, trieb mit ihr zusammen aber hauptsäch-

68 lich Sport.

69 Am Beginn des nächsten akademischen Jahres hatten Trudi

70 und Angela eine Wohnung gefunden, in die sie gemeinsam

71 einziehen wollten, aber es war für zwei zu teuer. Da

72 K's Familie weggezogen war, war sie sozusagen allein-

73 stehend und insbesondere Angela fühlte sich irgendwie

74 verantwortlich, und man kam überein, daß K mit in die

75 Wohnung ziehen sollte. Trudi hatte ihre Zweifel, daß

76 es klappen würde, aber Angela war zuversichtlich, daß

77 es klappen würde.

78 Bevor die Wohnung frei wurde, nahm Angela K für ein

79 paar Tage auf Besuch zu ihren Eltern mit. Angelas Mutter

80 hatte das Mädchen, K, immer schon wegen ihrer Freund-

81 lichkeit und ihrer guten Erziehung bewundert und be

82 grüßte sie herzlich. Angela versuchte, ihre Mutter auf

83 mögliches seltsames Verhalten vorzubereiten, fand aber,

84 daß sie dies nicht fertigbrachte.

85 Am ersten Morgen bot Angelas Mutter an, für K Frü'h-

86 Stück zu machen. K sagte mit einem lieben Gesicht:

87 Oh, ich möchte Sie nicht belästigen, es spielt keine

88 Rolle, was Sie gerade haben. Also zählte Angelas Mut-

89 ter die Möglichkeiten auf und nach vielen Ermunterungen

90 und scheuem Lächeln bat K um Tee und ein hartgekochtes

91 Ei. Mittlerweile war das eigene Frühstück der Mutter

92 fertig auf dem Tisch, Kaffee und ein weichgekochtes

93 Ei.

94 Angelas Mutter wandte sich zu dem Herd, um ein Ei und

95 Teewasser aufzusetzen, und als sie zum Tisch zurückkam,

96 war K mit einem süßen Lächeln eben dabei, das weichge-

97 kochte Ei zu essen und den Kaffee zu trinken. Angelas

98 Mutter dachte zu jenem Zeitpunkt noch, nun, sie hat

99 mich mißverstanden. Aber später fiel ihr auf, daß K

100 nicht fähig war, den Deckel richtig auf den Teekessel

101 zu setzen, sie drehte ihn nicht so lange, bis er paßte,

102 sondern knallte ihn nur immer wieder auf den Kessel.

103 Angelas Eltern sind sehr herzliche und gar nicht zu-

104 rückgezogene Leute. Angela hat ein äußerst gutes Ver-

105 hältnis zu ihnen, das auf gegenseitigem Respekt und

106 seit den Tagen der Kindheit beibehaltenen Gesten von

107 Zuneigung beruht. Während K's Besuch sah sie bei einer

108 Gelegenheit, wie Angelas Vater den Arm um seine Tochter

109 legte. K wandte sich voller Verlegenheit ab und ver-

110 traute später Angelas Mutter an: Mein Vater hat nie den

111 Arm um mich gelegt.

112 Eine Weile nachdem die drei Mädchen die Wohnung be-

113 zogen hatten, mußten sie die Tatsache einsehen, daß K eindeutig

114 merkwürdig war. Sie nahm jeden Abend ge-

115 wissenhaft ein Bad und steckte ihr Haar hoch, aber sie

116 ließ das Badezimmer immer schmutzig zurück.

117 Wenn sie Geschirr spülte, war es hinterher schmutzig.

118 Sie versuchten, einen genauen Haushaltsplan einzu-

119 halten, und wollten sich beim Kochen und Einkaufen

120 wöchentlich abwechseln. K überzog den Haushaltsplan

121 regelmäßig um etliche Dollar. Sie kaufte unnützes

122 Zeug, wie einen Besen, obwohl sie bereits einen hatten,

123 6 Pfund Gehacktes auf einmal, woran sie dann die ganze

124 Woche aßen. Sie ließ mehr oder weniger alles anbrennen.

125 Wenn etwas total schiefgegangen war, und zwar deut-

126 lich durch ihre Schuld, leugnete sie sanft ab, davon

127 zu wissen, aber sie geriet wegen Kleinigkeiten wie einer

128 durchgebrannten Sicherung völlig aus der Fassung. Sie

129 schien nicht die simpelsten Informationen behalten zu können,

130 beispielsweise wie der Herd oder andere Haushaltsgeräte

131 funktionierten. Sie hatte ausgefallene Vorlieben beim

132 Essen, und machte exzessiven Gebrauch von Gewürzen, wie

133 Ketchup und Pfeffer. Auch Sachen wie Obstkonserven

134 oder Honig, sie konnte ein ganzes Glas auf

135 einmal essen. Wir begannen allmählich einzusehen, daß sie

136 einfach nicht zurechtkommen konnte, und wir begannen

137 immer mehr von ihren Pflichten zu übernehmen.

138 Sie hatte in einem Buchhaltungsbüro zu arbeiten be-

139 gonnen und wir erklärten ihr, daß sie wahrscheinlich

140 in ihrem ersten Arbeitsjahr zuviel zu tun hatte und

141 daß sie nur am Wochenende kochen sollte, aber daß

142 wir einkaufen würden.

143 Immer wieder ergab es sich, daß Trudi und ich ihre

144 Schwächen in ihrer Abwesenheit diskutierten. Ich ver-

145 suchte immer noch Erklärungen und Entschuldigungen zu

146 finden, ich weigerte mich, die Tatsachen einzusehen,

147 daß eindeutig irgend etwas mit K nicht stimmte.

148 Aber sie schlich auf Zehenspitzen durch die

149 Wohnung, ohne daß es einen Grund dafür gab, sie sprach

150 nur noch im Flüsterton, und sie hatte immer ein

151 Lächeln aufgesetzt, es war wie eine Maske, auch wenn

152 wir spürten, daß sie unglücklich war. Als ob sie mit

153 Gewalt eine tapfere Fassade aufbaute: Ich bleibe glück-

154 lich, sogar wenn es mich umbringt.

155 Wir hatten zu bemerken begonnen, daß sie nicht zwei

156 Dinge gleichzeitig machen konnte, wie z. B.: Fernsehen und

157 Stricken, oder Stricken und Sich-Unterhalten, oder

158 Essen und Sich-Unterhalten, oder beim Essen Sich-Unter-

159 halten und Zuhören. Wenn sie etwas erzählte, wurde ihr

160 Essen völlig kalt, sie fing erst an, wenn jeder schon

161 fertig war. Oder sie fragte, wann ist das Essen fertig,

162 und wenn sie zur Antwort erhielt, in ungefähr 10 Minuten,

163 dann ging sie und machte sich selbst etwas anderes.

164 In der Wohnung einer dritten Freundin, Betty, spitzten die

165 Dinge sich zu. Betty studierte Psychologie im Hauptfach,

166 und wir waren zufällig mit K vorbeigekommen, hatten ge-

167 meinsam gegessen und waren am Plaudern, als ein Freund

168 von Betty kam, ein unkomplizierter, freundlicher Typ,

169 den K und ich noch nicht kannten. K wollte in die Küche

170 gehen und abwaschen, aber wir redeten es ihr aus. Sie

171 setzte sich mit ihrem üblichen schweigsamen Lächeln zu

172 uns. Das Gespräch war lebhaft, aber sie beteiligte sich

173 nicht. Es ging über einen Jungen, aber K kannte ihn

174 nicht. Dennoch warf sie plötzlich ein: Ja, ist der nicht

175 ein netter Kerl! Für einen Augenblick herrschte Schweigen,

176 aber dann redete ich weiter, um das zu vertuschen. Nach

177 wenigen Minuten unterbrach sie wieder mit: Oh ja und das

178 kleine schwarze Schaf und die Lämmer ... Dies war nun wirklich

179 völlig ohne Zusammenhang. Der junge Mann dachte, daß

180 K ihn auf den Arm nehmen wollte, merkte aber zweifellos

181 an unserer Verlegenheit, daß etwas nicht in Ordnung war.

182 K war aus dem Gleichgewicht und wir schlugen ihr vor,

183 nach Hause zu gehen, da sie müde sein müsse. Unsere

184 Wohnung war ganz in der Nähe.

185 In diesem Stadium schlug Betty vor, daß etwas unternommen

186 werden müsse. Es scheint,

187 daß alle beteiligten Mädchen aus einer bestimmten Gesell-

188 schaftsschicht stammten, die Eltern Geschäftsleute und

189 miteinander befreundet. Eine mit der Familie befreundete

190 Dame wurde angerufen und um Rat gefragt: Wußten Sie, daß

191 K nicht in Ordnung ist, daß sie Hilfe braucht, daß ihr

192 Verhalten nicht so ist, wie es sein sollte. Die Dame war

193 daraufhin bereit, darüber zu reden, und gab zu, daß in dem

194 gesellschaftlichen Kreis seit einiger Zeit jeder davon

195 wußte, daß K vor einer Weile bei einem Psychiater ge-

196 wesen war. Der Mann war vom Hausarzt der Familie empfohlen

197 worden, und obwohl er eigentlich nicht viel genützt hatte,

198 war es undenkbar, sich an jemand anderen zu wenden, aus

199 Gründen der Etikette usw. Es wurde arrangiert, daß K sich

200 wieder bei ihm in Behandlung begeben sollte.

Definitionen

Bei meiner Untersuchung des Interviewmaterials benütze ich eine Reihe von Termini, die wie folgt definiert sind:

Der Leser/Hörer

Ich oder wer immer den Text des Interviews liest oder sich anhört.

Der Interviewer

Die Studentin, die das Interview durchführte und die zusammen mit der Befragten den nun vorliegenden Text erstellte. Die Anwesenheit des Interviewers ist im Text an dem gelegentlichen Gebrauch der dritten Person erkennbar.

Die Befragte

Die Person, die interviewt wurde und die mit dem Interviewer zusammen den Text erstellte. Die Befragte ist im Text als >Erzähler der Geschichte< dargestellt, ist diesem aber nicht methodologisch äquivalent, da der Erzähler der Geschichte textimmanent und daher - als Figur - das gemeinsame Erzeugnis des Interviewers und der Befragten ist.

Der Erzähler der Geschichte

Ist teilweise in der obigen Definition der Befragten bereits enthalten. Der Erzähler der Geschichte ist die erste Person Singular des Berichtes, die dargestellt wird, wie sie die Story erzählt.

Angela et alii

Die Untermenge an Personen, die als aktive Teilnehmer an dem Prozeß der Kategorisierung dargestellt werden. Dazu gehören - Angela, Trudi, Angelas Mutter, Betty und »eine mit der Familie befreundete Dame«, Nicht dazu gehören K, Angelas Vater und der Freund von Betty. Dieser Terminus wird weiter unten bei der Diskussion, wie ein Tatsachenbericht erstellt wird, näher spezifiziert.

Die Personen

Alle Figuren, die in dem Bericht enthalten sind, und zwar so, daß sie in irgendeiner Weise daran beteiligt sind, die Ereignisse voranzutreiben, wenn auch nur ganz am Rande. So daß der Terminus alle Hauptpersonen umfaßt, die mit dem Terminus Angela et alii bezeichnet sind. Er umfaßt weiter K, Angelas Vater und den Freund von Betty. Er umfaßt aber nicht Personen, die nur erwähnt werden und nicht teilnehmen - z. B. K's Familie und den Psychiater.

Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, daß hier eine Struktur wie bei einer russischen Puppe vorliegt. Die Definitionen identifizieren die verschiedenen Ebenen, auf denen jemand für den Bericht verantwortlich ist, und die geleisteten Beiträge der verschiedenen Personen auf jeder Ebene. Praktisch ergeben sie eine Rollenstruktur zur Beschreibung der sozialen Organisation des Berichtes. Auf meiner Ebene bzw. der Ebene der Leser/Hörer des Interviews liegt das vollständige Dokument vor. Auf der Ebene der Erstellung des Dokumentes (abgesehen von den leichten Veränderungen durch den Herausgeber, welche ich hier nicht einzeln ausgewiesen habe, da sie so geringfügig sind) haben wir das gemeinsame Arbeitsergebnis des Interviewers und der Befragten. Die Befragte ist im Text als >Erzähler der Geschichte< identifiziert. Der Erzähler erzählt eine Geschichte über eine Menge von Personen, zu welchen er selbst gehört. Im Bericht, so wie er erzählt wird, ist die Figur Angela und die Untermenge an Personen enthalten, die gemeinsam das Rohmaterial der Ereignisse selbst aufarbeiteten und in eine Form brachten, welche dann für die Transformation in das Dokument, das wir vor uns haben, zur Verfügung stand. Auf der Ebene aller Figuren haben wir jene Personen, die an der Erzeugung der ursprünglichen Menge von Ereignissen beteiligt waren; die das ausführten, was geschah, und was das Rohmaterial darstellte, aus welchem Angela et alii ein Bild von K als geisteskrank erstellten. Man beachte, daß ein Term auf allen Ebenen des Berichtes vorkommt, nämlich Angela. Innerhalb des Berichts ist sie als eine der Personen angeführt, die aktiv an der Durchführung der Ereignisse beteiligt sind; sie taucht auf als eine der Personen, die die Ereignisse auf den Begriff bringen (die Angela-et-alii-Ebene); sie taucht auf als Erzähler der Geschichte; und sie ist auch die Befragte. Die obige Menge an Definitionen ist daher nicht bloß eine nützliche Konvention, sie legt auch die Struktur bloß, welche das vorliegende Dokument in Beziehung setzt zu den ursprünglichen Ereignissen, so wie sie abliefen. Der Leser mag hierzu die vorletzte, wenn nicht gar letzte Ebene hinzufügen, nämlich meine Analyse des Dokuments.

Einleitende Instruktionen

Der erste Teil des Interviews - Zeile 1-20 - ist die Darstellung dessen, was Angela, die Befragte, aus der Perspektive des Interviewers erzählt hatte. In Zeile 21 wird die Erzählperspektive gewechselt. Die Geschichte wird von Angela erzählt mit der hinzugefügten Erklärung des Interviewers (Zeilen 25-28), daß Angela es leichter fand, die Geschichte in chronologischer Reihenfolge zu erzählen. In Zeile 21-24 erhält der Leser/Hörer eine Menge von Instruktionen, wie das Interview zu lesen ist, wovon es ein Bericht ist:

Nur sehr langsam kam ich zu der Erkenntnis, daß irgend etwas nicht in Ordnung sein könnte, und in der Tat war ich die letzte ihrer Freundinnen, die bereit war, offen zuzugeben, daß sie geisteskrank wurde. (21-24)

Ich möchte auf zwei Punkte hinweisen, die an dieser Stelle angemerkt werden müssen und die in bedeutsamer Weise Instruktionen darstellen, wie der Bericht gelesen werden sollte:

1. Daß K >geisteskrank wird<, wird von Anfang an als Tatsache behauptet und diese Behauptung wird bis zum Ende aufrechterhalten. Die gleiche Theorie wird auch an etlichen anderen Stellen im Text vorgebracht:

[sie] mußten die Tatsache einseben, daß K eindeutig merkwürdig war (113-114)

Wir begannen allmählich einzusehen, daß sie einfach nicht zurecht kommen konnte (135-6)

Ich weigerte mich, die Tatsache einzusehen, daß eindeutig irgend etwas mit K nicht stimmte (146-7)

Ich habe die Stellen hervorgehoben, aus welchen hervorgeht, daß K's Zustand als etwas zu behandeln ist, welches a) eine Tatsache ist und folglich b) bereits vorliegt, bevor und unabhängig davon, ob er von Angela oder anderen >akzeptiert<, >erkannt<, >eingesehen< oder >zugegeben< wird.

2. Zugleich erhalten wir einen vorläufigen Satz von Instruktionen, wie weitere Beschreibungen von K's Verhalten zu lesen sind. Diese sind zu lesen als Verhaltensweisen von jemanden, der im Begriff ist, geisteskrank zu werden. Dies hat eine wesentliche Wirkung für die Legitimation der Version, wie ich gleich verdeutlichen will.

Die Instruktionen, das Verhalten als >eigentümlich, >fehlerhaft< etc. zu sehen, ziehen sich in Abständen durch den Bericht. Seine einzelnen Abschnitte werden immer wieder zusammengefaßt, z. B. durch die Schlußfolgerung eines Mitglieds von Angela et alii, daß K's Verhalten entschieden merkwürdig sei etc. Dies kann aufgefaßt werden sowohl als Zusammenfassung der vorangegangenen Beschreibung wie auch als Erneuerung der Instruktionen an den Leser/Hörer, wie das Folgende zu lesen sei (44-45, 82-84, 112-114, 143-144).

Die Legitimation der Version

Für mich ist es ein Axiom, daß es für jedwede Menge von tatsächlichen Ereignissen immer mehr als eine Version gibt, die für das gehalten wird, was tatsächlich passiert ist, auch innerhalb einer einfachen Kulturgemeinschaft. Dem ist so, weil soziale Ereignisse oder Tatsachen auf der Ebene, auf der sie hier analysiert werden, aus einer komplexen Menge von Ereignissen bestehen, die in verschiedenen Situationen auftreten, zu verschiedenen Zeiten, manchmal auch vor verschiedenen Gruppen von Personen; und weil sich zweitens der Augenblick der tatsächlichen Beobachtung im Bewußtsein des beobachtenden Individuums befindet und der Selektionsprozeß aus der Vergangenheit nicht mehr die Gesamtmenge der Ressourcen heranziehen kann, welche zu aufeinanderfolgenden >Augenblicken< für den Beobachter vorhanden waren. Folglich muß es immer ein sehr bedeutsames Problem sein, wie eine gegebene Version als die Version autorisiert wird, welche von den anderen als das, was geschehen ist, betrachtet wird. Eine ähnlich wichtige Menge von Verfahrensweisen bezieht sich darauf, wem das Vorrecht auf die Definition zugeteilt wird und wie andere mögliche Versionen oder potentiell abweichende Informationsquellen ausgeschlossen werden. In diesem Fall funktioniert dies meiner Meinung nach folgendermaßen:

1. DURKHEIMS (1960:120) Regel, daß die Definition einer Handlung als abweichend dazu dient, eine Sozialordnung zu sanktionieren und zu legitimieren, kann dahingehend erweitert werden, jenen, die ein derartiges Urteil fällen, als Vertreter dieser Ordnung Autorität zu verleihen. Ihre Regeln und Normen sind anzuerkennen als die Regeln und Normen, gegen welche das Verhalten des Abweichenden als abweichend definiert wird. Daß uns von Anfang an mitgeteilt wird, daß K im Begriff ist, geisteskrank zu werden, legitimiert die Version der Personen, die die Tatsache ihrer Krankheit einsehen oder allmählich zugeben. Dies legitimiert Angela und gibt ihr das Vorrecht der Definition und - dem Bericht inhärent - es legitimiert auch die Version von Angelas Freundin an den Stellen, an denen Angela sich noch »weigert«, die Tatsache einzugestehen« Die Zirkularität dieses Prozesses ist ein Merkmal des Berichtes. Seine logische Unzulässigkeit hindert keinesfalls die Wirkung. K's Krankheit wird als Tatsache dargestellt, unabhängig von den Wünschen der >Beobachter<. Das abweichende Verhalten dient daher dazu, den vorgelegten Bericht über dieses abweichende Verhalten und die >Korrektheit< des Urteils der Personen, die es derart definieren, zu legitimieren.

Insbesondere ist es so, daß die Legitimierung des Urteils des >Erzählers< (Angela) und ihrer Gefährten den Leser/Hörer dazu bringt, die Auswahl der Ereignisse, die wir vor uns haben, für die richtige Auswahl zu halten. Ihre Selektionsverfahren werden implizit sanktioniert, obwohl nicht einmal deutlich wird, worin sie bestehen.

Möglicherweise finden wir noch einen weiteren und generelleren Prozeß, der nicht direkt mit DURKHEIMS Regel zu tun hat. Angela wird gezeigt als Beobachterin, die bei den berichteten Ereignissen zugegen war. Wenn ich mir vergegenwärtige, wie ich den Bericht gelesen habe, so meine ich, daß so etwas wie eine bereitwillige Ausschaltung von Zweifel eintrat - mit anderen Worten, daß ich bereit war, meinen eigenen Urteilsprozeß auszuschalten oder einzuklammern zugunsten jenes des Erzählers. Der Leser/Hörer sieht sich immer vor dem Vorwurf: »Wie willst du das wissen? Du warst nicht dabei«.

2. Im ersten Kapitel von AVersion of Mental Illness (SMITH, o. J.) habe ich ausgeführt, daß Kategorisierungen von abweichendem Verhalten als Geisteskrankheit dazu dienen, »den Bereich von intelligiblen und nachvollziehbaren Verhaltensweisen und Vorstellungen abzustecken«. Da K von Anfang an als geisteskrank definiert ist, jedoch nicht die anderen Mitglieder des Berichtes, so werden die Grenzen in diesem Falle so gezogen, daß K ausgeschlossen ist. Dies hat die folgenden Konsequenzen:

a) daß hinsichtlich des Verhaltens von K und Angela et alii K's Verhalten nicht als Quelle für normative Definitionen zu betrachten ist, wohl hingegen das Verhalten von Angela et alii. Hier ist ein Beispiel, in dem diese Übereinkunft eindeutig entscheidet, wem die Normsetzung zugewiesen wird:

An heißen Tagen gingen wir an den Strand oder ins Schwimmbad, und ich tauchte kurz unter und lag dann in der Sonne, während K darauf bestand, daß sie dreißig Längen schwimmen mußte. (29-32)

Angelas Verhalten am Strand liefert die Norm, durch welche K's Verhalten als abweichend erkannt werden kann.

b) K ist durch diese Regel für die Teilnahme an der Konstruktion sozialer Tatsachen disqualifiziert. So daß jede Version, die sie vielleicht vorzulegen hätte, von Anfang an nicht zählt. Die Definierer haben das Vorrecht, ihre Version darzustellen, ohne die K's zu berücksichtigen. Dieses Verfahren schließt eine potentielle Menge von Ressourcen aus, die ansonsten für die Interpretation der Vorgänge zur Verfügung stehen - nämlich die Menge von Ressourcen, die nur K zur Verfügung stehen.

Dies legitimiert die Einschränkung der Ressourcen zur Interpretation von K's Verhalten auf das, was für Angela et alii verfügbar ist. Hier ist ein Beispiel dieser Konsequenz:

Fast jeden Morgen weinte K im Auto, verstört über irgendwelche Kleinigkeiten, und die Mädchen trösteten sie. (16-18)

In diesem Beispiel gelten als Gründe für K's Tränen bestimmte direkte Anlässe, welche auch den Mädchen unmittelbar zugänglich und für sie Kleinigkeiten waren. Sie sind aber keine hinreichende Begründung für Tränen. Angela scheidet die Möglichkeit nicht aus, da es in K's Biographie ihr und den anderen unbekannte Dinge hätte geben können, welche K's Bereitschaft zu weinen hinreichend hätten begründen können.

c) Folglich ist es auch kein Problem oder dürfte kein Problem für den Leser/Hörer sein, der die Instruktionen darüber, wie der Bericht zu lesen ist, angemessen befolgt, daß eine Erklärung, Information etc. von K an keiner Stelle in dem Bericht gegeben wird. Und es fällt nicht auf oder sollte nicht auffallen, daß an keiner Stelle irgendein Hinweis darauf erfolgt, daß K um Erklärung, Information etc. gebeten würde.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Satz von Regeln, Normen, Informationen, Beobachtungen etc., der von dem Erzähler der Geschichte vorgelegt wird, von dem Leser/Hörer als der einzig gültige aufgefaßt werden soll.

Die Konstruktion des Berichtes als Tatsachenbericht

Die Ereignisse selbst sind nicht Tatsachen. Es ist die Anwendung angemessener Kategorisierungsverfahren, welche aus ihnen Tatsachen macht. Eine Tatsache ist etwas, das bereits kategorisiert wurde, das bereits so aufgearbeitet wurde, daß es der Modellvorstellung entspricht, wie eine Tatsache auszusehen hat. Wenn etwas als Tatsache beschrieben oder behandelt wird, impliziert dies, daß die Ereignisse selbst - was vor sich ging - den Erzähler der Geschichte ermächtigen oder autorisieren, eine bestimmte Kategorisierung als zwingend aufzufassen. »Ob ich es will oder nicht, es ist eine Tatsache. Ob ich es zugebe oder nicht, es ist eine Tatsache.«

Wenn etwas als Tatsache hingestellt werden soll, dann muß gezeigt werden, daß angemessene Verfahren angewandt wurden, um sie als objektiv auszuweisen. Es muß deutlich sein, daß sie jedem in gleicher Weise erscheint. Einschlägige Verfahrenstechniken in dem Bericht sind u.a.:

1. Die Erzählerin der Geschichte, Angela, ist K's Freundin. Die anderen Beteiligten werden auch als K's Freunde beschrieben oder doch so, als ob sie eine eindeutig positive Haltung ihr gegenüber einnehmen. Diese Rahmenstruktur wird bis zum Ende aufrechterhalten. Da die >Tatsache<, die eingesehen oder behauptet werden soll, eine negative ist und die Rahmenstruktur nur positive Motive gegenüber K enthält, gibt es keine Gründe, Angelas Motive zu verdächtigen. Die Rhetorik der Tatsache liegt darin, daß Angela gezwungen ist, sie anzuerkennen. Es ist eine Tatsache, unabhängig von ihren Wünschen; sie will sie nicht und doch ist sie >gezwungen, sie einzusehen<.

Diese Maßnahme räumt nur eine mögliche Schwierigkeit aus dem Wege. Es gibt wichtigere Maßnahmen, um Objektivität zu konstruieren. Die Konstruktion einer Tatsache beinhaltet die Demonstration, daß sie für alle die gleiche ist und daß ihre Anerkennung als Tatsache auf direkter Beobachtung basiert, durch den besonderen Charakter des Ereignisses selbst erzwungen wird und nicht auf bloßem Hörensagen beruht. Die folgende Struktur liefert eine Abfolge unabhängig voneinander operierender Zeugen:

2. Es läßt sich eine Reihe von Schritten identifizieren, die dadurch definiert sind, daß jeweils eine Person zu dem Kreis derjenigen hinzugefügt wird, der erkennt oder weiß, daß etwas nicht in Ordnung ist.

  1. Zeile 29 bis 45, Angela allein.

  2. Zeile 40 bis 45, Angela und Trudi.

  3. Zeile 78 bis 102, Angela, Trudi und Angelas Mutter.

  4. Zeile 164 bis 184, Angela, Trudi, Angelas Mutter und Betty

  5. Zeile 189 bis 196, Angela, Trudi, Angelas Mutter, Betty und eine befreundete Dame der Familie.

Der letzte Schritt durchbricht den engeren Kreis der Personen, die Angela persönlich bekannt sind, indem er enthüllt, daß diese gleiche >Tatsache< auch anderen ganz unabhängig davon bekannt ist - »daß in dem gesellschaftlichen Kreis seit einiger Zeit jeder davon wußte« (194); und daß sie außerdem die formale Bekräftigung durch einen Psychiater hat.

Diese einfache additive Formel ist aus Kindergeschichten vertraut - z. B. der von Henny-Penny, der auszog, um dem König zu erzählen, daß der Himmel einfalle. Es ergibt sich eine kumulative Wirkung. Jedes neue Mitglied wird eingeführt, als ob es vorher noch nicht dagewesen wäre. Diese Konstruktion ist besonders bemerkenswert, weil sie im Interview vorhandene Hinweise hinfällig macht, daß einige dieser Personen bereits vorher dabei gewesen sind - z. B. gab es ein gemeinsames Auto - wer war daran beteiligt und sah K weinen (13-20)? Angela war »die letzte ihrer engen Freundinnen«, die bereit war, die Geisteskrankheit zuzugeben. Gehörten Trudi und Betty zu diesen Freundinnen oder nicht (23 bis 24)? Trudi war eine gemeinsame Freundin von Angela und K (41 f.); Bettys Wohnung ist ganz in der Nähe der Wohnung, die Angela, Trudi und K teilten, und der Bericht über das Zusammentreffen deutet ein zwangloses Vorbeikommen an (»wir waren zufällig vorbeigekommen« [166]), wie es für eine längere Freundschaft charakteristisch ist.

Es scheint, daß das Telefongespräch mit einer der Familie bekannten Dame (189-190) sich an jemand bislang offenbar noch nicht Eingeschalteten wendet und sicherlich einen gesellschaftlichen Kreis berührt, der von den Personen, die Angela persönlich bekannt sind, unabhängig existiert. Aber es heißt auch, daß »alle beteiligten Mädchen aus einer bestimmten Gesellschaftsschicht« stammen und daß ihre Eltern »Geschäftsleute« und »miteinander befreundet« sind (187-189). Die Schlußfolgerung ist möglich, daß die beiden gesellschaftlichen Kreise in Wirklichkeit nicht unabhängig voneinander waren.

Aber die additive Struktur läßt andere mögliche Prinzipien zur Einführung von Zeugen nicht zu. Die Punkte, die ich eben erwähnt habe, erschließen sich nur aus dem Zusammenhang und bleiben völlig im Hintergrund.

3. Diese Struktur ermöglicht es, jeden zusätzlichen Zeugen so zu behandeln, als wäre er unabhängig von den anderen. Das Urteil eines jeden basiert darauf, daß er direkte Beobachtungen macht oder daß angenommen werden kann, daß er Gelegenheit zu solchen Beobachtungen hatte:

  1. Angela - im Verlauf gewöhnlicher interpersonaler Begegnungen mit K weicht ihre Bewunderung einer Verständnislosigkeit (29-40).

  2. Trudi sieht einen von K's Aufsätzen und kommentiert danach, »sie schreibt wie eine Zwölfjährige. Ich glaube, irgend etwas stimmt nicht mit ihr« (44-45).

  3. Angelas Mutter beobachtet zwei Fälle von K's eigentümlichem Verhalten (85-102).

  4. Betty ist bei einem Gespräch zugegen, bei welchem K's Beiträge zeigen, daß sie »völlig den Zusammenhang« verloren hat (179).

  5. Von der »mit Familie befreundeten Dame« kann angenommen werden, daß sie Gelegenheit zu persönlichen Beobachtungen hatte, unabhängig von den Beobachtungen früherer Zeugen (189-190).

Diese beiden Merkmale des Berichtes geben den Urteilen den Anschein, als wären sie unabhängig voneinander gefällt, und zwar auf der Basis direkter Beobachtungen (oder auf einer Basis, wo vernünftigerweise dasselbe anzunehmen ist), unbeeinflußt durch vorangegangene Hinweise oder durch definitorische Tätigkeit, welche als Quellen für ein Vorurteil gesehen werden könnten. Man beachte in diesem Zusammenhang, daß Angela eigens erwähnt, sie habe ihre Mutter nicht auf irgendein »seltsames Verhalten« seitens K vorbereitet. Die Ordnung der Ereignisse in der Erzählung schafft die Objektivität der Tatsache. Die Elemente, welche evtl. das Gegenteil andeuten könnten, sind nicht nur in den Hintergrund verbannt, sie sind auch nicht auf gleiche Weise strukturiert. Sie liegen nur sozusagen herum. Eine sorgfältige Suche könnte sie vielleicht identifizieren, aber die Tätigkeit, auch sie in eine geordnete Abfolge zu bringen, müßte vom Leser/Hörer allein geleistet werden.

Die Konstruktion "Geisteskrankheit"

Der Bericht liefert dem Leser/Hörer eine gegliederte und detaillierte Darstellung von K's Charakter und Verhalten. Dem Leser/Hörer wird daher scheinbar die Möglichkeit gegeben, sich selbst ein Urteil auf der Basis einer Sammlung von Beispielen dieses Verhaltens zu bilden, aus welchen Angela et alii die Tatsache von K's Geisteskrankheit konstruiert haben. Die Instruktionen, wie der Bericht zu lesen ist, sind in Zeile 23-24 des Interviews enthalten (»in der Tat war ich die letzte ihrer engen Freundinnen, die bereit, war, offen zuzugeben, daß sie geisteskrank wurde«) und besagen, daß die Sammlung als das Verhalten jemandes, der im Begriff steht, geisteskrank zu werden, zu verstehen ist. Daher sind die einzelnen Punkte an einem Konzept vom Verhaltenstyp Geisteskrankheit zu testen. Der Leser/Hörer weiß daher von Anfang an, wie diese Sammlung von Charakter- und Verhaltensbeschreibungen zu interpretieren ist. Wenn die Sammlung als Problem angesehen wird, dann ist uns auch mitgeteilt worden, was die Lösung ist. Das Problem, das der Bericht aufwirft, liegt nicht darin, eine Antwort auf die Frage »was ist los mit K?« zu finden, sondern festzustellen, daß diese Sammlung von Einzelheiten ein Puzzlespiel darstellt, das zu der Lösung »geisteskrank werden« paßt.

Als ich oben darstellte, worauf sich die Autorität des Berichtes stützt, wies ich darauf hin, daß K aus dem Kreis potentieller Zeugen dadurch ausgeschlossen ist, daß sie von Anfang an als >im Begriffe, geisteskrank zu werden< definiert wird. Die Sammlung von Einzelheiten hat daher diesen Ausschluß zu bewerkstelligen oder zu begründen. K wird als jemand dargestellt, der nicht erkennt, was jeder sonst erkennen würde, als jemand, der nicht dieselben kognitiven Grundeinstellungen wie jeder andere hat. Die Beschreibung ihres Charakters und Verhaltens funktioniert als Aussonderungsoperation, welche dazu dient, den Kreis abzugrenzen und K auszuschließen. Der Augenblick schließlich, an dem die Dinge »sich zuspitzen«, d. h. als K »völlig ohne Zusammenhang« redend (178-179) gesehen wird, ist der Punkt, an welchem die Aussonderungsoperation ihr Ziel erreicht hat. Dies ist ihr Abschluß.

Eine Strategie, die gewöhnlich mit dem »medizinischen Modell« von Geistskrankheit identifiziert wird (vgl. SCHEFF 1966, S. 19-22), hält den Verhaltenstyp Geisteskrankheit für ein Krankheitssymptom. Verhalten entspringt also einem Zustand des Individuums und ist nicht durch die Eigenschaften seiner Situation motiviert. Das medizinische Modell wird hier nicht benützt, obwohl ihm der Terminus Geisteskrankheit entstammt. Jedoch wird dieselbe fundamentale Strategie benützt. Ein wesentlicher Teil der Tätigkeit, K's Verhalten als Beispiel für den Verhaltenstyp Geisteskrankheit zu konstruieren, liegt darin zu zeigen, daß es durch K's Handlungssituation nicht angemessen motiviert ist. Es kann nicht völlig aus den Instruktionen erklärt werden, welche aus einer Regel oder aus einer Situationsdefinition folgen.

Wir haben bereits festgestellt, daß es das Vorrecht des Erzählers ist, sowohl die Regel oder die Situation zu definieren als auch das Verhalten zu beschreiben. Eine Regel oder Situationsdefinition ergibt eine Menge von Instruktionen für die Auswahl jener Handlungsweisen, welche als angemessene >Reaktionen< gelten können. Wir (die Leser/Hörer) müssen darauf vertrauen, daß die Kodierungsverfahren vom ursprünglichen Verhalten zu den beschreibenden Kategorien korrekt angewandt wurden. Dieses Definitionsprivileg und der Gebrauch, den der Erzähler davon macht, ist von nicht unbeträchtlicher Wichtigkeit bei der Aussonderungsoperation. Verhalten, welches eine passende Reaktion auf eine Regel oder Situation ist, zeigt, daß der Betreffende diese Regel oder Situation genauso sieht, wie sie vom Erzähler definiert ist. Wenn es keine passende Reaktion ist, kann der Leser/Hörer vielleicht eine alternative Regel oder Situation finden, für welche es paßt; oder er kann sich entschließen, die Definition des Erzählers zu übernehmen. Die Legitimationsregeln weisen den Leser/Hörer an, die zweite dieser Alternativen zu wählen.

Wenn wir also in diesem Bericht Beispiele dafür finden, daß Verhalten und Regel oder Situation nicht zueinander passen wollen, so arbeiten diese für die Aussonderungsstrategie.

Mit >nicht zueinander passen< meine ich nicht, was z. B. AUSTIN (1962, S. 14 [bzw. 1972, S. 35]) unter unangebrachtem oder "verunglücktem" Verhalten versteht. Ich möchte etwas finden, was »anomalem« Verhalten näher kommt, Verhalten, für welches sich keine Regel oder Instruktionsmenge finden läßt. Ich meine damit, daß, soziale Regeln und Situationsdefinitionen so gesehen werden können, als ob sie eine Menge von Instruktionen zur Kategorisierung von Reaktionen enthielten. Ich sollte betonen, daß der Begriff Instruktionen hier nur eine Metapher darstellt, aber ich finde sie hilfreich. Jede solche Menge von Instruktionen erlaubt es, Reaktionen in zweifacher Weise zu kategorisieren:

  1. indem eine Menge von Kategorien ausgewählt wird, um Verhalten zu beschreiben, welches mit den Instruktionen im Einklang steht; und

  2. indem eine Menge von Kategorien ausgewählt wird, um Verhalten zu beschreiben, welches nicht damit im Einklang steht. Ergo kann jede Instruktionsmenge von der Form >tu das und das< durch eine einfache Transformationsregel in die Form gebracht werden: >tue das und das nicht<, wobei die Negation nicht einfach logisch ausgeschlossen, sondern anonym ist also das Gegenteil des Verhaltens, das von den Instruktionen gefordert wird. In diesem Sinne ist auch die Nichteinhaltung bzw. Übertretung einer Regel passend. Die Instruktion sieht sie vor. (Es gibt allerdings, wie ich glaube, einige Instruktionstypen, worin die abweichende Möglichkeit überhaupt nicht vorgesehen ist.) Verhalten, welches nicht paßt, ist Verhalten, welches weder von den positiven noch von den negativen Instruktionen vorgesehen ist. Es ist folglich anomal, und mit Anomalitäten haben wir vermutlich bei den Beschreibungen von K's Verhalten zu rechnen.

Die Aussonderungsoperation besteht daher darin, anhand der Regel- und Situationsdefinitionen, die vorgelegt werden, zu zeigen, wie K's Verhalten nicht den Instruktionen folgt. Die Instruktionen, K's Verhalten als geisteskrankes Verhalten zu lesen, erfordern, daß die Suche von dem beschriebenen Verhalten ausgeht und die relevante Regel oder Situationsdefinition aufspürt, gemessen an welcher das Verhalten als unpassend oder anomal erscheint. Wenn das Verhalten nicht paßt, dann kann man annehmen, daß K die Regeln oder die Situation nicht so sieht, wie jeder andere sie sehen würde. Das Verfahren ist analog zur alltäglichen Identifikation von Farbenblindheit. Jeder (vorausgesetzt er kennt die Kodierungsregeln) kann Farben auf dieselbe Weise identifizieren. Wenn man jemanden findet, der Rot und Grün nicht unterscheiden kann, dann stellt man nicht die Frage, ob Rot und Grün nicht unterscheidbar sind; man identifiziert die Unfähigkeit, diese Unterscheidung zu treffen, als einen besonderen Zustand dieses Individuums: man sagt, es ist farbenblind. Die Zuschreibung von Geisteskrankheit funktioniert auf die gleiche Weise: es ist der Zustand, daß jemand nicht in der Lage ist, die soziale Realität zu erkennen, welche für jeden anderen vorhanden ist. Seine Identifikation liegt in der Wahrnehmung, daß das betreffende Individuum dazu nicht imstande ist. Diesen Wahrnehmungsprozeß meine ich mit dem Terminus »Aussonderungsoperation«.

Wie ich schon früher erwähnt habe, ist die Sammlung von Einzelheiten in diesem Bericht nicht sehr überzeugend. Es gibt wenige Punkte, wenn überhaupt welche, die sofort überzeugen. Der Erzähler hat eine ganze Menge an Ausgestaltungsarbeit zu leisten, um K's Verhalten als den Verhaltenstyp Geisteskrankheit darzustellen. Die Sichtbarkeit dieser Ausgestaltungsarbeit ist einer der Gründe, deretwegen es sich lohnt, den Bericht derart detailliert zu analysieren. Da sind Beschreibungen von K's Verhalten, welche, aus dem Kontext herausgenommen, in welchen sie der Erzähler stellt, nicht sonderlich ausgefallen wirken würden. Da sind einige, die sogar als positive Eigenschaften gelten könnten, würde die Perspektive nur ein bißchen verschoben. - So ist z. B. die Tatsache, daß K an einem heißen Tag darauf besteht, dreißig Längen im swimming pool schwimmen zu müssen, bei einem Sportler ein ehrenwertes Verhalten; die Tatsache, daß sie so hingebungsvoll am Garten ihrer Freundin arbeitet, könnte als lobenswerte Auffassung von Freundespflicht gelten. So daß wir allmählich diese Sammlung mit dem Gefühl zu betrachten beginnen, daß der Erzähler eine Menge Kontextarbeit zu leisten hat, um zeigen zu können, wie das Verhalten als der Verhaltenstyp Geisteskrankheit aufgefaßt werden kann.

Auf der Ebene der einzelnen angeführten Punkte wird die Kontextarbeit am deutlichsten in einem Kunstgriff, den ich Kontraststruktur nennen möchte, sichtbar. Kontraststrukturen liegen vor, wenn einer Beschreibung von K's Verhalten eine Aussage vorangeht, welche die Instruktionen liefert, wie dieses Verhalten als anomal zu sehen ist. Hier sind einige Beispiele:

Als sie unverbindlich von jemandem gebeten wurde, im Garten zu helfen, schuftete sie stundenlang, blickte kaum hoch. (47-49)

Sie nahm jeden Abend gewissenhaft ein Bad und steckte ihr Haar hoch, aber sie ließ das Badezimmer immer schmutzig zurück. (114-116)

Wenn etwas total schiefgegangen war, und zwar deutlich durch ihre Schuld, leugnete sie sanft ab, davon zu wissen. (125-127)

Der erste Teil der Kontraststruktur bietet die Instruktionen zur Auswahl der Kategorien passenden Verhaltens; der zweite Teil zeigt das Verhalten, welches nicht passend war. Meistens definiert der erste Teil eine soziale Regel oder eine bestimmte Gelegenheit oder irgendein Merkmal in K's Verhalten. Ich habe dreizehn Einzelfälle von Verhaltensbeschreibungen gezählt. Darunter sind elf Kontraststrukturen. Ich habe diese Kategorie nur sehr locker definiert, da ich sie nur benütze, um etwas zu identifizieren, das mir als typisches Verfahren vorkommt. Andere Fälle, die auf der Ebene der Einzelpunkte keine Kontraststrukturen aufweisen, erweisen sich als kontrastiv im Hinblick auf größere Abschnitte des Berichts. Und selbstverständlich gehen noch andere Dinge vor sich, wovon ich später einiges zu analysieren versuchen möchte.

Analyse einiger Kontraststrukturen

(Die Teile der Kontraststruktur sind durch Absatz voneinander getrennt und mit den römischen Ziffern I und II gekennzeichnet.)

I

  1. Es war offensichtlich, daß sie entsetzliche Angst davor hatte, irgend jemand könnte ihr zu nahe kommen, insbesondere ein Mann,

  2. und trotzdem spielte sie uns vor (und offenbar auch sich selber), daß dieser oder jener Typ scharf auf sie war. (59-63)

In diese Struktur eingebettet sind zwei Verhaltensweisen K's, welche beide mehr oder weniger abweichend sind. Diese ' beiden sind:

Sie hatte entsetzliche Angst davor, irgend jemand könnte ihr zu nahe kommen, insbesondere ein Mann

und

Sie spielte uns vor (und offenbar auch sich selber), daß dieser oder jener Typ scharf auf sie war.

Erstere ist eine Beschreibung einer vermutlich festen Charaktereigenschaft K's, letztere eine Beschreibung eines bestimmten Verhaltens, das sie gewöhnlich an den Tag legte. Was wird dadurch bewirkt, daß die beiden zu einer Kontraststruktur mit den Bindegliedern »es war offensichtlich ... und trotzdem ... « zusammengefaßt werden?

In II der Kontraststruktur heißt es, daß K etwas »vorspielt«. Um etwas vorzuspielen, versucht der Schauspieler mittels eines ständigen Rollenspiels in Gegenwart anderer diese glauben zu machen oder in ihnen den Eindruck zu erwecken, daß er abc ist, um die Tatsache zu verdecken, daß er in Wirklichkeit xyz ist (dieser Satz ist aus Austins Aufsatz über »Pretending« übernommen [AUSTIN 1964, S. 113], doch habe ich die Formulierung leicht verändert).

a) Was dieses zuallererst klarstellt, ist, welche Information dem Erzähler zu dem Zeitpunkt zur Verfügung stand, zu dem die erwähnten Ereignisse stattfanden. Ohne das einleitende "es war offensichtlich . . ." wäre es nicht klar, ob der Erzähler und andere zu jenem Zeitpunkt Bescheid darüber wußten, was es war, das K zu verbergen versuchte. Man könnte nur vermuten, daß zu irgendeinem Zeitpunkt der Erzähler die Tatsache durchschaute, daß K etwas vortäuschte.

b) Was unverkennbar ist, kann von jedem mühelos gesehen oder verstanden werden. Jedem steht es zur Verfügung, und daher auch K. - Diese Interpretation wird gestützt vom retroaktiven Effekt der Kontraststruktur, daß nämlich Teil I sowohl benennt, was unverkennbar ist, als auch, was K zu verbergen versucht. Aber wenn es unverkennbar ist, dann weiß nicht nur K darüber Bescheid, sondern sie muß auch wissen, daß jeder darüber Bescheid weiß.

c) >Etwas vorspielen< ist eine intentionale Handlung. Der Handelnde versucht, abc zu verbergen, indem er xyz tut. Der Term schreibt daher K einen Plan zu oder zumindest eine Vorstellung von dem, was sie nach der Ausführung des Erzählers gerade tut. Er läßt auch vom Schauspieler die folgenden Informationen erwarten:

  1. Der Schauspieler weiß, daß er in Wirklichkeit abc ist.

  2. Er ist der Überzeugung, daß diejenigen, die er zu täuschen versucht, nicht wissen, daß er in Wirklichkeit abc ist.

Diese >Vorstellungen< sind Voraussetzung für die Handlung des Vortäuschens.

d) Was aus der Formulierung »es war unverkennbar« entnommen wurde - nämlich daß die anderen Bescheid wissen und daß K weiß, daß sie Bescheid wissen, entfernt einen Teilsatz der vorausgesetzten Vorstellungsbedingungen - nämlich, daß der Schauspieler der Überzeugung ist, daß diejenigen, die er zu täuschen versucht, das nicht kennen, was er zu verbergen sucht. Diese Kontraststruktur führt daher zu folgendem Paradox:

"Etwas vorspielen" hat bei verschiedenen Vorstellungsbedingungen die folgenden >korrekten< Alternativen zur Voraussetzung:

Entweder: K ist der Überzeugung, daß die anderen wissen, daß abc.

Daher ist sie nicht der Überzeugung, daß sie es vor ihnen verbergen kann.

Oder: K ist der Überzeugung, daß die anderen nicht wissen, daß abc. Daher ist sie der Überzeugung, daß sie es vor ihnen verbergen kann. Aber nicht, was hier vorliegt:

K ist der Überzeugung, daß die anderen wissen, daß abc.

Daher ist sie der Überzeugung, daß sie es vor ihnen verbergen kann.

Die Wirkung von »es war offensichtlich« auf »eine Tatsache vorspielen«, besteht darin, daß die zwei Aussagen aus der Klasse einer normalen Abweichung in ein Paradox transformiert werden, welches immanent nicht aufgelöst werden kann. Hier gewinnen die Instruktionen aus dem Anfang des Interviews Gewicht, denn sie teilen uns mit, welcher Teilsatz zu wählen ist, damit das Paradox aufgelöst werden kann. Wird der zweite Teilsatz verändert, so würde in Frage gestellt, daß der Erzähler eine exakte Beschreibung dessen gibt, wie K sich verhielt. Diese Möglichkeit wird von den Legitimationsregeln ausgeschlossen. Wird der erste Teilsatz verändert, so folgt daraus, daß für K nicht klar ist, was allen anderen klar ist. Dann ist nämlich K der Überzeugung, daß die anderen nicht wissen, daß abc, obwohl es doch unverkennbar ist. Das heißt, daß K nicht dieselbe Wellenlänge hat wie alle anderen; sie sieht nicht, was für jeden anderen unverkennbar ist. Damit haben wir die Aussonderungsoperation.

Man beobachte denselben Kunstgriff in folgender Kontraststruktur:

I Wenn etwas total schiefgegangen war, und zwar deutlich durch ihre Schuld,

II leugnete sie sanft ab, davon zu wissen. (125-127)

II

Eine andere Art von Kontraststruktur:

I Sie nahm jeden Abend gewissenhaft ein Bad und steckte ihr Haar hoch,

II aber sie ließ das Badezimmer immer schmutzig zurück. (114-116)

Diese Art von Kontraststruktur funktioniert anders als die obige. Teil I liefert eine Regel, die aus einem regelmäßigen Verhaltensmerkmal K's abgeleitet ist; Teil II zeigt, daß sie ebenso regelmäßig diese Regel durchbricht. Das Verfahren verläuft ungefähr so - aus dem Vorkommen von a und b ist c zu erwarten. Aber man bekommt nicht c, man bekommt x.

Man beachte, daß die üblichen soziologischen Vorstellungen von Erwartung hier nicht funktionieren, wie sie es vermutlich auch nie wirklich tun. Aus folgendem Grund: Um c aus dem Auftreten von a und b zu erwarten, muß man sich auf ein Modell oder Schema beziehen, worin diese Elemente regelmäßig in dieser Reihenfolge auftreten. Daß sie als Reihe gesehen werden, setzt voraus, daß ein Modell oder Schema identifiziert wurde, welches schon von früher und aus anderem Zusammenhang bekannt ist. Ein Regeltyp aus diesem Zusammenhang könnte »Standardmusterregel« heißen. Beispiel: Das Alphabet. Denn es ist nur konventioneller Gebrauch, der das Alphabet als eine geordnete Abfolge von Buchstaben zusammenhält. Wenn man nicht wüßte, wie die Buchstaben aufeinander folgen, gäbe es keine Möglichkeit, darauf zu schließen.

Ein anderer Regeltyp wäre die Formationsregel zur Erzeugung einer Reihe. In der typischen Aufgabe zur Illustration dieses Regeltyps wird einem >Prüfling< eine Zeichenreihe gegeben, wie >1, 2, 3, . . .< oder >2, 4, 5, . . .<, und er wird gebeten, die Reihe fortzusetzen. Man könnte ihm sagen, welche Regel er anzuwenden hätte, um dies zu tun, aber es ist ein bekanntes Intelligenzspiel, auch in IQ-Tests gelegentlich verwendet, den Prüfling vor die Aufgabe zu stellen, die Regel zur Fortsetzung einer Reihe aus der Reihe, die ihm vorliegt, abzuleiten. Ein solches Verfahren haben wir auch hier. Der Leser/Hörer wird kraft der Kontraststruktur instruiert, die Regel zur Fortsetzung der Reihe aus Teil I abzuleiten. Die Regel, die er vermutlich entnimmt, dürfte eine Art von >Sei sauber-Regel< sein, welche spezifiziert werden kann als >jeden Abend bade gewissenhaft, stecke dein Haar hoch, hinterlasse das Badezimmer sauber<. Teil II der Kontraststruktur verweist auf die einfache Abweichungstransformation dieser Regel. Beide können wie folgt angegeben werden (der Pfeil bedeutet >spezifiziere als<):

Sei sauber à (jeden Abend tue folgendes: Bade, stecke dein Haar hoch, hinterlasse das Badezimmer sauber)

Sei nicht sauber à (jeden Abend tue folgendes nicht: Bade, stecke dein Haar hoch, hinterlasse das Badezimmer sauber).

Aus Teil I der Kontraststruktur entnehmen wir eine Bildungsregel, welche sich zu der Bildungsregel, die aus Teil II abzuleiten ist, anonym verhält und umgekehrt. Folglich können wir keine Regel finden, die beide Teile deckt.

Aber ich habe das Gefühl, daß dies zur Konstruktion eines Verhaltenstyps Geisteskrankheit eine schwache Konstruktion ist, denn es ist ziemlich einfach, eine andere Regel zu finden, welche den Regelsatz kohärent erscheinen läßt. Denn obwohl diese Zusammenstellung nicht ableitbar ist aus Formationsregeln, die man erhält, wenn man die Elemente als Reihe auffaßt, so ist sie doch ohne weiteres ableitbar aus einer Standardmusterregel. Z. B. könnte ich sagen, »manche Leute sind eben in ihrer persönlichen Erscheinung sehr gepflegt und ansonsten furchtbar schlampig, nachlässig etc.« »Die sind nun mal so«, könnte ich sagen. Was ich für die Formulierung einer Standardmusterregel halte, welche diese Zusammenstellung zulassen würde.

Eine ähnliche Konstruktion findet sich weiter unten in dem gleichen Absatz, nämlich:

I Wenn sie Geschirr spülte,

II war es hinterher schmutzig. (117)

Hier hat die Kontraststruktur keine syntaktische Basis, sondern leitet sich von der inhaltlichen Kontradiktion zwischen den beiden Teilen her. Man könnte es vermutlich als normale Inkompetenz bezeichnen, wenn jemand Geschirr spült, aber nicht sehr gut spült, so daß Reste von Nudeln, Ei etc. noch nach dem Abwaschen auf Gabel und Teller zu finden sind. Das Geschirr aber insgesamt schmutzig zu haben, nachdem man es gespült hat, ist mehr als inkompetent. Es ist eigentlich schon wieder eine Leistung. Es ist also nicht einfach normale Inkompetenz, wenn man nach dem Abwasch schmutziges Geschirr hat. Ja, es ist im Grunde so >unnatürlich<, daß der Zwang, den man sich antun muß, um zu sehen, was K als geisteskrankes Verhalten zur Verfügung stellt, hier die Grenzen der Glaubwürdigkeit sprengt.

Ein weiteres Beispiel von Kontraststruktur dieser Art ist das folgende:

I Wer sie kennenlernt, ist bezaubert von der süßen, mädchenhaften Erscheinung. In Gesellschaft verhält sie sich zurückhaltend, setzt ein süßes Lächeln auf und scheint von entwaffnender Hilflosigkeit. (49-53)

II Aber wenn junge Männer dabei waren, fand sie es immer schwieriger, ein Gespräch zu führen, meistens entschuldigte sie sich und ging sehr bald. (53-55)

III

Die folgende Kontraststruktur besteht aus drei Teilen:

I An heißen Tagen gingen wir an den Strand oder in das Schwimmbad,

II und ich tauchte kurz unter und lag dann in der Sonne,

III während K darauf bestand, daß sie dreißig Längen schwimmen mußte. (29-32)

Teil I beschreibt die Situation und Teil III das Verhalten. Es ist jedoch klar, daß die Teile I und III allein nicht ausreichen, um zu zeigen, wieso K's Verhalten merkwürdig ist. Es ist ein heißer Tag und K besteht darauf, dreißig Längen zu schwimmen - und? Der mittlere Teilsatz (II) bringt das Beispiel des Verhaltens, welches diesem Typ von Situation angemessen ist, und schafft damit einen >Präzedenzfall<, welcher diese Struktur stützt. Die Wirkung der Gegenüberstellung von Angelas und K's Verhalten (Teilsatz II und Teilsatz III) ergibt sich teilweise aus den Legitimationsregeln, welche bestimmt haben, wie das Vorrecht zur Definition zwischen Angela und K zu verteilen ist. Daher lauten hier die spezifischen Instruktionen, Angelas Verhalten als normal zu lesen und K's als nicht normal, und Angelas Verhalten stellt folglich den angemessenen Präzedenzfall dar.

Die beiden ersten Teilsätze ergeben zusammen ein Modell von Situation und angemessenem Verhalten, welches restriktiver ist als Teilsatz I alleine. Ich habe den Verdacht, daß die Spezifikation >heißer Tag< einiges leistet, weil sie ein >faules Verhalten< instruiert, welches durch die Beschreibung von Angelas Verhalten zur Regel erhoben wird. Daher kann die Spezifikation der Situation durch Teilsatz I und Teilsatz II zeigen, daß K's Verhalten nicht durch sie instruiert ist. Teilsatz I allein würde das in Teilsatz III beschriebene Verhalten zulassen, so daß das Situationsmodell präzisiert werden mußte, um es als anomal darzustellen, daß jemand dreißig Längen schwimmt.

Die Sache wird zusätzlich dadurch ausgearbeitet, daß K's Verhalten den Charakter einer Besessenheit erhält. Sie »bestand darauf, daß sie dreißig Längen schwimmen mußte«. Ihr Tun zeigt sich in imperativer Form, ohne sich auf eine Sozialstruktur zu beziehen, welche diesen Imperativ rechtfertigen würde. Ich glaube, daß hier der Bericht eine deutliche Schwäche aufweist, denn wir sind noch nicht weit von der Kategorisierung K's als »so sportlich« (10) entfernt, welche an eine Sozialstruktur anschließt, die diesen Imperativ rechtfertigen würde. Diese Kategorie ist an dieser Stelle freilich nicht >aktiv<, d. h. sie wurde nicht vom Erzähler vorgebracht, um die Beteiligten und ihre Beziehungen zu definieren. An dieser Stelle scheint die Kategorie >Freund< wirksam zu sein, und da Angela offenbar folgendes Modell von Freundschaft aufstellt, >Freunde tun das gleiche und haben die gleichen Interessen<, bewirkt diese Kategorie also offenbar auch die Relevanz dessen, was Angela an einem heißen Tag im Schwimmbad tut, als Modell dafür, was K tun sollte.

IV

Es gibt auch eine zusammengesetzte Kontraststruktur - sie enthält zwei Kontrastebenen, welche wie folgt geschrieben werden können:

1.1 Wenn etwas total schiefgegangen war, und zwar deutlich durch ihre Schuld,

1.2 leugnete sie sanft ab, davon zu wissen.

2.1 Wenn etwas total schiefgegangen war . . . leugnete sie sanft ab, davon zu wissen,

2.2 aber sie geriet wegen Kleinigkeiten, wie eine durchgebrannte Sicherung, völlig aus der Fassung.

Die erste Kontraststruktur hat die gleiche Form wie die oben analysierte, welche beginnt »es war offensichtlich, daß sie entsetzliche Angst davor hatte . . .« (vgl. Analyse I oben). Die zweite Kontraststruktur (II) ist von anderer Art und wirkt auf folgende Weise >unangemessen<: Das Ausmaß an Emotion sollte sich nach der Bedeutung des Ereignisses richten. Entsprechend wird der Stellenwert eines Ereignisses demonstriert durch das Ausmaß an Emotion, welches in der Reaktion zutagetritt. Wenn daher etwas total schiefgegangen ist, sollte die Bestürzung entsprechend sein. Was in II die Wirkung hervorruft, ist nicht K's Ableugnung, daß etwas total danebengegangen ist, sondern daß dies sanft abgestritten wird. Diese Gleichgültigkeit steht im Gegensatz zur Verwirrung über Kleinigkeiten in II. Eine formale Darstellung der Sache sieht folgendermaßen aus. Die Regel, daß das Ausmaß an Emotion der Wichtigkeit der Ereignisse angemessen zu sein hat, kann als Instruktion geschrieben werden, wie tragisch man es zu nehmen habe, wenn etwas schiefgeht, nämlich:

a) Wenn etwas ernsthaft schiefgeht, sei ernsthaft verstört.

b) Wenn etwas geringfügig schiefgeht, sei geringfügig verstört.

Folglich erhalten wir aus Teil I der Kontraststruktur II etwas ist total schiefgegangen< - die Instruktion, >sei ernsthaft verstört<. Die Negativtransformation würde ergeben, >sei nicht ernsthaft verstört<. Und genau das haben wir. Ich bin aber hier nicht ganz sicher, ob dies durch die Regel korrekt abgeleitet 'ist, weil es andere Fälle gibt, z. B.

fast jeden Morgen weinte K, verstört über irgendwelche Kleinigkeiten (16-17),

welche durch eine direkte Transformation erzielt werden könnten. Und es scheint, daß dies eine der Regeln ist, welche eine Negativfigur nicht zulassen. Andernfalls wäre es schwierig, die Wirkung der unangemessenen Emotion zu erzielen, und diese wird erzielt. Aber in jedem Fall wird die obige Kontraststruktur II dadurch gestützt, daß man zeigen kann, daß eine potentielle Negativtransformation, >sei nicht verstört<, auch nicht zulässig ist, da K angesichts von Kleinigkeiten völlig aus der Fassung gerät. Die Kontraststruktur funktioniert viel eher wie diejenige aus Analyse II, weil die Regel, die sich aus dem einen Schlußteil der Kontraststruktur ableiten läßt, auf den anderen nicht anwendbar ist, und umgekehrt. K wird also so dargestellt, daß sie nicht korrekt unterscheiden kann zwischen Dingen, die total schiefgehen, und Kleinigkeiten, die schiefgehen.

V

Hier möchte ich auf einen Kunstgriff aufmerksam machen, der eigentliche keine Kontraststruktur ist, es sei denn in umgekehrter Richtung. Wie ich ausgeführt habe, stellen die Kontraststrukturen Möglichkeiten dar, die Kontexte zu liefern, unter Bezugnahme auf welche K's Verhalten als geisteskrankes Verhalten gesehen werden kann; damit ist impliziert, daß, würde K's Verhalten ohne diese Kontexte beschrieben, die Beschreibung des Verhaltens allein diesen Trick nicht vollbringen könnte. Es gibt aber einige Arten von nicht-routinehaftem Verhalten, welche normalerweise nur in einem Kontext beschrieben werden können oder für welche gezeigt werden muß, daß sie durch eine besondere Situation bedingt sind, damit sie als korrekt motiviert erscheinen. Beispiele sind »auf den Zehenspitzen gehen« (148), »Flüstern« (150). Solche Verhaltensweisen werden, wie ich glaube, gewöhnlich mit einer >Begründung> versehen, da sie Verhaltensweisen sind, welche in unserer Kultur nicht als Routine vorkommen. Routinehafte Ereignisse sind solche, für welche entweder keine Erklärung benötigt wird, weil man annimmt, daß es eine Routineerklärung gibt; oder weil im Vorkommen solcher Ereignisse selbst typische Gründe für dieses Vorkommen enthalten sind. Die Strategie besteht hier darin, daß solche Verhaltensweisen beschrieben werden, ohne daß eine adäquate Begründung für sie vorgelegt wird. Wie folgt:

Sie schlich auf Zehenspitzen durch die Wohnung, ohne daß es einen Grund dafür gab. (148 f.)

Sie sprach nur noch im Flüsterton. (149 f.)

Ein ähnlicher Kunstgriff wird in dem oben diskutierten Beispiel benützt, wo K's Verhalten den Charakter des Besessenen annimmt, indem der Imperativ jeder Berechtigung beraubt wird. (»Sie bestand darauf, daß sie dreißig Längen schwimmen mußte«.) Ich vermute, daß Beispiele dieser Art in Berichten über den Verhaltenstyp Geisteskrankheit den zahlenmäßig größeren Teil ausmachen und noch merkwürdiger berühren als diese.

VI

Dieser letzte Abschnitt ist nur beziffert, weil er in gewisser Weise eigenständig ist. Er enthält jedoch keine Kontraststruktur. Ich möchte diesen Abschnitt beschließen - selbstverständlich stellt er keine erschöpfende Analyse der Elemente dar, welche das Interview enthält -, indem ich kurz diejenigen Stellen untersuche, in denen gezeigt wird, daß K eine besondere Beziehung zu materiellen Dingen hat. Diese sind:

a) Sie kaufte unnützes Zeug, wie einen Besen, obwohl sie bereits einen hatten (121 f.);

b) Sie schien nicht die simpelsten Informationen behalten zu können, beispielsweise wie der Herd oder andere Haushaltsgeräte funktionierten (128-131);

c) Sie hatte ausgefallene Vorlieben beim Essen, und machte exzessiven Gebrauch von Gewürzen, wie Ketchup und Pfeffer. Auch Sachen wie Obstkonserven oder Honig, sie konnte ein ganzes Glas auf einmal essen (131-135);,

d) K war nicht fähig, den Deckel richtig auf den Teekessel zu setzen, sie drehte ihn nicht so lange, bis er paßte, sondern knallte ihn nur immer wieder auf den Kessel (100-102).

Im Kapitel II von A Version of Mental lllness (1969) habe ich am Beispiel eines Tisches dargestellt, wie materielle Gegenstände durch Regeln konstituiert werden, welche anhand der durch ihre physikalischen Eigenschaften gegebenen Möglichkeiten ihren Gebrauch entwickeln und vervollkommnen. Der Gegenstand selbst, das so definierte und konstituierte Kulturobjekt, gibt gewissermaßen eine Menge von Anweisungen, wie man sich ihm gegenüber zu verhalten habe, wie er in menschliche Handlungsprogramme eingebracht werden kann.

Ebenso wie es sich bei Handlungsanlässen und Situationen verhält, enthüllt die Unfähigkeit eines Individuums, innerhalb der durch diese Anweisungen gelieferten Bedingungen zu handeln, den Betreffenden als nicht in der Lage, das Objekt so zu erkennen, wie es sich für jeden anderen darbietet. Die Struktur ist in diesen Beispielen sehr viel festgefügter als diejenige, mit der wir es bei Regeln oder Situationsdefinitionen zu tun haben. Die Gegenstände selbst werden für ausreichend gehalten. Ihre Definition muß nicht weiter ausgeführt oder ausgestaltet werden, um K's Unvermögen aufzuzeigen, jene intersubjektive Welt zu betreten, welche >unsere< ist.

Implizit jedoch sind die Konstruktionen komplexer, als es den Anschein hat. Ich möchte das Beispiel a) in anderem Kontext später diskutieren. Hier möchte ich nur die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Beispiele von Fehlanwendung lenken - daß z. B. Obstkonserven und Honig die Zuweisungen tragen, >in kleinen Mengen zu benützen<; daß Ketchup die Zuweisungen trägt, >in kleinen Mengen zu essen<; daß ein Teekessel bezüglich seines Deckels so konstruiert ist, daß der oben herausstehende Teil in eine Kerbe im Kesselrand paßt, und daher die Zuweisung trägt >wenn der Deckel beim ersten Mal nicht paßt, dann drehe ihn so lange, bis der herausstehende Teil in der Kerbe ist<. Hinzukommt, daß K diese Objekte nicht so sieht, wie sie für jeden anderen konstituiert sind, und sie auch offensichtlich unfähig ist, die einfachste Information über solche Verwendungsweisen »zu behalten«. Ähnliche Abweichungen von, den Regeln für den Haushaltsplan werden nicht als >extravagant< oder gewöhnliche >Inkompetenz< dargestellt, sondern als Unvermögen, die normalen Eigenschaften der Dinge - einen neuen Besen, wenn sie bereits einen hatten; sechs Pfund Gehacktes - sowie die Sozialstrukturen, welche deren Verwendungsmöglichkeiten definieren, zu erfassen. Bezüglich des Besens z. B. wäre es seitens der Berichtenden merkwürdig gewesen, wenn Angela gesagt hätte, daß K »einen Löffel gekauft hatte, obwohl sie bereits einen hatten«. Denn die Sozialstruktur eines Haushaltes erfordert, daß seine Mitglieder gleichzeitig essen, aber nicht, daß sie gleichzeitig fegen; daher >braucht< man einen Löffel für jeden, aber nur einen einzigen Besen. Dies folgt aus der Form und dem Inventar von typischen Tätigkeiten, die durch die Haushaltsorganisation in unserer Kultur festgelegt sind.

In diesem Bericht genügt es jedoch, lediglich auf die unangemessene Verwendung der Gegenstände hinzuweisen. Die Regeln brauchen nicht weiter ausgeführt zu werden, vermutlich weil vorausgesetzt werden kann, daß sie allgemein bekannt sind. Im Gegensatz zu anderen Merkmalen sind sie >selbstverständlich<, ohne daß man sie erst als >selbstverständlich< deklarieren muß. Die Gegenstände werden so aufgefaßt, daß sie die Regeln für ihren Gebrauch in sich >tragen< oder ganz einfach implizieren. Diese bedürfen keiner weiteren Explikation oder Identifikation.

Dies sind keineswegs erschöpfende Analysen der verschiedenen Typen von Verhaltensbeschreibungen, die sich in dem Bericht befinden. Aber sie reichen, um zu zeigen, was an Analysen gemacht werden kann, und um die Konzeption der Aussonderungsoperation zu stützen, welche zu Beginn dieses Kapitels eingeführt wurde. >Aussonderung< wird dadurch durchgeführt, daß die Beziehungen zwischen Regeln oder Situationsdefinitionen einerseits und Beschreibungen von K's Verhalten andererseits so konstruiert werden, daß korrekterweise letztere nicht aus ersteren folgen können. Das Verhalten wird dann als anomal hingestellt. Wenn man von der Anomalie zur Regel zurückliest, ruft dies den Eindruck hervor, daß die Regel oder Situation, welche statthat, von K nicht so erkannt wird, wie sie ist. Die Darlegung dessen, was ist, ist dem Erzähler anvertraut. Sein Status als derjenige, welcher definiert und dabei war, wird sanktioniert durch die Legitimationsregeln. Damit ist K aus dem Kreis derjenigen, die Bescheid wissen, ausgeschlossen. Der Kreis derjenigen, die Bescheid wissen, umschließt nun - kraft der Vermittlerrolle des Erzählers der Geschichte - sowohl Angela et alii als auch uns selbst als Leser/Hörer. Der Übergang von der einen logischen Ebene zur anderen wird ermöglicht durch ihr gemeinsames Element, nämlich Angela, welche zugleich eine Person in der Geschichte und der Erzähler der Geschichte ist.

Die Zusammenstellung als Ganzes

Nach der Untersuchung der einzelnen Elemente möchte ich jetzt sehen, was die Zusammenstellung als Ganzes leistet. Im ersten Kapitel von A Version of Mental Illness habe ich folgendes Prinzip vorgeschlagen:

Anstatt den Versuch zu unternehmen, einen Satz von Regeln zu identifizieren, gegen die verstoßen wird, wenn jemand für geisteskrank gehalten wird oder wenn Verhalten als dem Typ Geisteskrankheit zugehörig definiert wird, möchte ich lieber diese Unbestimmtheit selbst zum Kern des Problems machen und andeuten, daß die Phänomene der Geisteskrankheit, einschließlich der Organisation der gesellschaftlichen Tätigkeit, mit diesem Problem fertig zu werden, genau um das Problem kreisen, an jenen Stellen Ordnung oder Kohärenz zu schaffen, wo Mitglieder einer Kulturgemeinschaft nicht imstande oder bereit waren, diese in dem Verhalten eines bestimmten Individuums zu sehen (SMITH 1969, S. 13).

Ergo möchte ich für die Gewinnung dieser Zusammenstellung eine Regel schreiben, welche besagt: stelle für diese Zusammenstellung fest, daß es keine Regel gibt. Es gibt für den Zweck, den ich zu verdeutlichen suche, eine bildliche Analogie. Bilder wie die von Ben CUNNINGHAM vereinen verschiedene perspektivische Konstruktionen. Der Betrachter muß in seiner Vorstellung seine Position in Beziehung zu den Ereignissen auf dem Bild ständig wechseln. Er darf niemals eine endgültige Beziehung eingehen, welche die Ereignisse in eine einzige perspektivische Richtung auflöst. Ich suche hier etwas Analoges.

In anderen Darstellungen des Prozesses, der dazu führt, daß Leute als geisteskrank kategorisiert werden, gibt es Hinweise, daß diese Unbestimmtheit vielleicht ein essentieller Bestandteil der Vorphase dieses Etikettierungsprozesses ist. Der Prozeß, der von dem Erzähler so beschrieben wird, daß »Trudi und ich immer wieder K's Schwächen in ihrer Abwesenheit diskutierten; ich versuchte immer noch, Erklärungen oder Entschuldigungen zu finden . . .«, deutet daraufhin, daß die Unfähigkeit, diese zu finden, vielleicht ein typisches Merkmal des Prozesses ist. Bei YARROW, SCHWARTZ, MURPHY und DEASY findet sich eine Beschreibung des Prozesses, in dessen Verlauf Ehefrauen dazu kommen, ihren Ehemann für geisteskrank zu halten.

Den ersten Interpretationen, wie immer auch ihr Inhalt, wird von den Ehefrauen selten getraut. Viele sind sich noch bewußt, wie ihre ersten Reaktionen auf das Verhalten ihrer Ehemänner voll verstörter Verwirrung und Unsicherheit war. Irgendetwas ist nicht in Ordnung, das wissen sie, aber im allgemeinen kommen sie nicht zu einer bestimmten Erklärung. (YARROW et al., 1955)

Und die Ehefrauen, die nicht relativ früh bei der Kategorisierung >geisteskrank< angelangen,

suchen nach der jeweiligen Situation und dem Augenblick ängemessenen Erklärungen. Für jede neue Situation oder jedes neue Verhalten des Ehegatten finden sie Gründe und Entschuldigungen, aber sie haben keine zugrundeliegende oder umfassende Theorie. Aufeinanderfolgende Interpretationen sind meistens ohne Zusammenhang miteinander. (YARROW et al., 1955)

Dies ist genau der Prozeß, den ich als fundamentales Merkmal des Berichtes in den Mittelpunkt rücken möchte, daß nämlich ständig alternative Regeln bzw. Beschönigungen und Entschuldigungen gesucht und beiseitegeschoben werden. Wenn man die Zusammenstellung als Ganzes betrachtet, muß eine Regel oder Beschönigung, die für ein Element gilt, auch für andere Elemente gelten.

Ein Beispiel für diesen Prozeß wird in dem Absatz dargestellt, in welchem K's Verhalten in Angelas Elternhaus beschrieben wird (85 bis 102). Der Vorgang des falschen Frühstücks, das K eingenommen hatte, wird zuerst von Angelas Mutter als Mißverständnis erklärt (198 f.). Dies ist eine Beschönigungsregel, welche der Episode jede besondere Bedeutung nimmt. Aber dieses Prinzip kann nicht erweitert werden auf die dann folgende Episode mit dem Deckel des Teekessels. Man kann nicht sozusagen einen Teekessel mißverstehen. Die Erweiterung wird zurückgenommen, sobald gilt, daß die beiden Episoden als >Zusammenstellung< zu sehen sind, so daß eine Regel, welche für die eine Episode gilt, auch für die andere gelten muß. Ich meine, daß es vielleicht viele Beispiele in dieser Zusammenstellung gibt, für welche es leicht wäre, Beschönigungen oder alternative Regeln zu finden, und daß nur die Klausel, >eine Regel für alle<, dies nicht zuläßt, wo nicht die Verhaltensweisen in sich selbst bereits anomal sind, und daß die Klausel auch dazu dient, die schwächeren Anomalien als solche einzustufen.

Man nehme z. B. den Abschnitt über den Haushalt, der von Zeile 117 bis 137 reicht. Entfernt man die Instruktion, das folgende Verhalten als >merkwürdig< zu lesen, und entfernt man auch einige Einzelheiten, so klingt der Abschnitt eher nach Inkompetenz als nach Geisteskrankheit:

Wenn sie Geschirr spülte, war es hinterher schmutzig. Sie versuchten, einen genauen Haushaltsplan einzuhalten, und wollten sich beim Kochen und Einkaufen wöchentlich abwechseln. K überzog den Haushaltsplan regelmäßig um etliche Dollar. Sie kaufte unnützes Zeug . . . Sie ließ mehr oder weniger alles anbrennen . . . Sie schien nicht die simpelsten Informationen behalten zu können, beispielsweise wie der Herd oder andere Haushaltsgeräte funktionierten.

Dies alles könnte dahingehend zusammengefaßt werden, daß K hinsichtlich der Haushaltsführung schlichtweg ein hoffnungsloser Fall sei. Wenn man aber die Einzelheiten hinzunimmt, welche dieser Kategorisierung nicht genau entsprechen - nämlich das gewissenhafte Baden, die Präferenzen beim Essen, das sanfte Nichtwissen, wenn etwas restlos schiefgegangen war -, dann wird es schwierig, mit der Klausel, daß jede einmal angenommene Kategorisierungsregel für alle Einzelheiten brauchbar sein muß, obige Erklärung aufrechtzuerhalten.

In ganz ähnlicher Weise werden Konstruktionsschwächen bei Einzelheiten aufgearbeitet, indem diese in komplexe Konstruktionen eingebettet werden, wodurch es immer komplizierter wird, eine einzige. Regel zu finden, welche alles abdeckt. Z. B. in dem zitierten Abschnitt:

Sie versuchten, einen genauen Haushaltsplan einzuhalten, und wollten sich beim Kochen und Einkaufen wöchentlich abwechseln. K überzog den Haushaltsplan regelmäßig um etliche Dollar. Sie kaufte unnützes Zeug, wie einen Besen, obwohl sie bereits einen hatten, 6 Pfund Gehacktes auf einmal, woran sie dann die ganze Woche aßen. (118-124)

Hier zeigt sich, meine ich, was die Kumulierung von Kleinigkeiten bewirkt. K's regelmäßige Überschreitung des Haushaltsplanes zeigt ihr Unvermögen, die strikten Verbindlichkeiten dieses Rahmens einzusehen. Aber das allein ist nicht sehr überzeugend, so daß hinzugefügt wird, auf welche Weise überschritten wird - nämlich durch den bereits diskutierten Besen und die sechs Pfund Gehacktes. Immerhin bleibt der gesamte Abschnitt immer noch ziemlich schwach und bei einem anderen Rahmen wäre es ganz leicht, die Anomalien auszusondern.

Kontrastwirkung von gänzlich anderer Art soll beim folgenden Abschnitt die Wirkung hervorbringen:

Es war sehr schwierig, mit ihr ein vernünftiges Gespräch zu führen, dies wurde offenbar, als ich einen besonders guten Film mit ihr diskutieren wollte und sie ständig alberne Bemerkungen machte, die überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hatten.

Das Beispiel entspricht nicht den oben erläuterten Kriterien für anomales Verhalten, da das abweichende Verhalten völlig durch die Regel gedeckt ist. Die Regeln für die Durchführung einer intelligenten Konversation stecken in den Kategorien, mit denen K's Abweichung beschrieben wird - >Diskussion< ist die Gesprächsform einer vernünftigen Konversation. Teilnehmer sollten ernsthaft und ohne Abweichung beim Thema bleiben. Äußerungen sollten relevant sein - sie sollten >beim Thema< bleiben. »Kindisch« und »albern« kontrastieren mit der Eigenschaft »vernünftig«, welche erwünscht ist. Dieser Abschnitt müßte eigentlich an die erste Charakterisierung K's als gute Studentin angeschlossen werden, damit er adäquat als anomal gelten könnte, vielleicht mit einer Andeutung einer Verhaltensänderung. Die mögliche Anomalie läge dann auf einer zweiten Ebene und hinge davon ab, ob sich für K's Verhalten eine Regel finden ließe, die auf einer früheren Kategorisierung basierte. Dies würde das Problem zwischen erstem und zweitem Teilsatz aufwerfen, gleich jenem, das in der Analyse der Kontraststruktur II beschrieben worden ist, wo jeder Schlußteil der Kontraststruktur eine Regel ergibt, welche das Verhalten im anderen Teil nicht erklärt. Wenn man also K als intelligent, als gute Studentin etc. beschreibt und dann Verhaltensweisen aufzählt, welche sich als blöd und dumm charakterisieren lassen, dann hat man die gleiche Art von Anomalie.

Die Schwächen, die bei einigen Einzelheiten zutagetreten, werden durch die Kumulation von Einzelheiten verdeckt, welche dann andere Interpretationen möglich machen. Es besteht die Tendenz, sie rückwirkend als dem Verhaltenstyp Geisteskrankheit zugehörig zu definieren, wie es in dem Beispiel mit Angelas Mutter geschieht, weil die spontane Bezeichnung als abweichendes Verhalten einfach nicht für alle Geschehnisse brauchbar ist. Diese Eigenschaft der Zusammenstellung insgesamt wie auch die Struktur von besonderen Einzelheiten produziert den Effekt, der mir beim ersten Anhören des Interviews auffiel - nämlich, daß K >mehr und mehr desorganisiert< wird. Der Effekt der Desorganisation, der hier K zugeschrieben wird, entsteht dadurch, daß der Leser nicht imstande ist, irgendein Organisationsprinzip aufzustellen, aus welchem die Zusammenstellung insgesamt hervorgehen könnte.

Zusammenfassung

Obwohl nicht vollständig ausgearbeitet, zielt diese Zusammenfassung auf ein allgemeines Verfahren für die Analyse solcher Berichte. Sie soll den Leser/Hörer erkennen lassen, daß die vorangegangene Analyse nicht einfach Aussagen über Geisteskrankheit macht, sondern von allgemeinerer soziologischer Relevanz ist.

Die Analyse des Berichtes hat sich mit zwei Hauptaspekten beschäftigt. Zunächst mit seiner sozialen Organisation. Unter diesem Terminus verstehe ich sowohl die Struktur, welche die ursprünglichen im Text des Interviews beschriebenen Ereignisse zur Gegenwart des Lesers/Hörers in Beziehung setzt, als auch die Legitimationsregeln, welche den Leser/Hörer unterweisen, welche Kriterien er zur Bestimmung der Angemessenheit der Beschreibung und der Glaubwürdigkeit des Berichtes zu verwenden hat.

Eine solche Organisationsanalyse könnte man von jedem derartigen Text herstellen, selbstverständlich auch von einer klinisch-psychiatrischen Fallstudie. Deren spezielle Eigenschaften wären auf systematische Weise anders und würden 'typische Merkmale der institutionalen Struktur aufweisen, welche den allgemeinen Kontext ihrer Produktion und Verwendung darstellt. So enthalten z. B. klinische Fallstudien gewöhnlich keine Legitimationsverfahren und wir können annehmen, daß derartige Instruktionen bereits bekannt sind. Zum anderen enthüllt die Analyse von Kontraststrukturen und der Zusammenstellung insgesamt ein Verfahren, eine Verhaltensbeschreibung so aufzubauen, daß diese für jedes Mitglied der relevanten Kulturgemeinschaft als dem Verhaltenstypus Geisteskrankheit zugehörig erkennbar ist. Dieses Verfahren habe ich >die Aussonderungsoperation< genannt. Durch sie werden Relationen zwischen Regeln und Situationsdefinitionen einerseits und Beschreibungen von K's Verhalten andererseits in einer Weise konstruiert, daß letztere nicht aus ersteren hervorgehen können (S. 399 f. oben). Es wäre das Ziel einer solchen Analyse, dieses Verfahren als Instruktion zur Erzeugung einer solchen Beschreibung darzustellen. Ihre Angemessenheit ließe sich dann dadurch testen, daß man sie zur Erzeugung von Beschreibungen heranziehen und prüfen würde, ob diese als Berichte über einen Geisteskranken erkannt würden. Ich zweifle, ob es mir gelungen ist, das Verfahren in diesem Ausmaß einsichtig zu explizieren, doch können meine Ausführungen wohl berechtigterweise als Richtlinien gelten.

Ich habe eingangs erwähnt, daß für das, was geschah, eine alternative Darstellung möglich ist. Theoretisch sind sogar mehrere alternative Darstellungen möglich, denn das Problem besteht nur darin, zu zeigen, wie sich für K's Verhalten Regeln und Kontexte finden lassen, welche es adäquat erklären. Es gibt zweifellos mehr als eine Möglichkeit, dies zu tun. Eine bedeutsame Restriktion für den Leser/Hörer, der den Bericht in dieser Weise verarbeiten möchte, liegt aber in den Legitimationsregeln, welche den >Zeugen< mehr Berechtigung einräumen als dem Leser/Hörer. Jede alternative Darstellung muß spekulativ sein. Diese Konsequenz ist ein Produkt der sozialen Organisation des Berichtes, welche den Leser/Hörer gegenüber denjenigen in Nachteil setzt, die an den Ereignissen teilgenommen haben. Man beachte allerdings, daß bestimmte Legitimationsregeln die Teilnehmer an den Ereignissen ebenso in Nachteil versetzen; z. B. vertreten Berichterstatter die Meinung, ein Außenseiter könne sich ein >besseres Bild< dessen, was vor sich ging, machen als die Beteiligten, obwohl der Außenseiter doch selbst nicht zugegen war, sondern seinen Bericht aus den Berichten der Zugegengewesenen zusammenstellt.

Die Wirkung der Legitimationsregel beeinflußt einen weiteren Aspekt des Berichtes, der für die Aufstellung alternativer Interpretationen relevant ist, nämlich den Mangel an ausreichender Information. Es ist eine normale Eigenschaft solcher Berichte, daß sie kein irrelevantes Material enthalten. Irrelevantes Material ist solches, welches weder a) die Adäquatheit der benützten Legitimationsprozeduren stützt noch b) für die konzeptuelle Organisation herangezogen werden kann. Der Leser/Hörer kann sich nicht an die Personen des Originals wenden, um Material wiederzugewinnen, das für eine alternative Konstruktion relevant sein könnte. Dem stehen andere Situationen gegenüber, wie z. B. eine Gerichtsverhandlung, in welcher Zeugen befragt werden können, um Material aufzudecken, welches alternative Darstellungen zuläßt.

Folglich ist die Konstruktion eines alternativen Berichtes, in welchem K nicht geisteskrank wäre, nicht auf der Basis dessen, was vorliegt, möglich. Aber ich kann kurz andeuten, wie dies vor sich zu gehen hätte. Man müßte Regeln oder Kontexte für K's Verhalten finden, für welche das beschriebene Verhalten angemessen wäre, oder man müßte umgekehrt das Verhalten in diesem Sinne neu beschreiben können. Bei Erfolg würde dieses Unternehmen zu einer Beschreibung führen, welche kein systematisches Verfahren für die Zusammenstellung der Einzelheiten erkennen ließe. Zu den einzelnen Verhaltensweisen gäbe es einfach wieder die passenden Kontexte. Der vorliegende Bericht würde sich in seine Bestandteile auflösen. Aus ihnen könnte der Leser/Hörer niemals wieder eine Regel ableiten, mit deren Hilfe er feststellen könnte, was der Bericht eigentlich sollte.

Man denke z. B. daran, wie K darauf besteht, daß sie dreißig Längen zu schwimmen habe (31-32). Weiter vorne habe ich das zusammengebracht mit der Kennzeichnung, daß sie als »so sportlich« galt. Es heißt also einen Kontext finden, welcher die Handlungsweise motiviert. Auf etwas komplexere Weise kann dies auch mit den folgenden Einzelheiten durchgeführt werden. Wenn es durchgeführt ist, wird der Leser sehen, daß es nichts mehr gibt, das diese Beobachtung zusammenhält, außer der Tatsache, daß sie beide mit K zu tun haben.

Gehen wir z. B. zu dem Punkt mit dem zweiten Besen zurück (121-122) und sehen ihn im Zusammenhang mit der folgenden, später angeführten Beobachtung:

Oder sie fragte, wann ist das Essen fertig, und wenn sie zur Antwort erhielt, in ungefähr zehn Minuten, dann ging sie und machte sich selbst etwas anderes. (161-163)

Man kann aus diesen beiden Beobachtungen herauslesen, daß K nicht an dem üblichen praktischen Wissen teilhat, wie ein Haushalt strukturiert ist, d. h.: die Regeln besagen, daß Mitglieder gleichzeitig zu essen haben und daß sie nicht gleichzeitig zu fegen haben oder zu fegen brauchen (bzw. daß dies nicht eine der konzertierten Aktionen ist, die zur >Haushaltsführung< gehören). Zu diesen Beispielen kann ein Kontext gefunden werden, wenn wir die Beziehungen zwischen Angela, Trudi und K in einer Weise sehen, welche derjenigen des Berichtes widerspricht.

Es wird durch den ganzen Bericht darauf beharrt, daß Angela, Trudi und K Freunde sind. Das ist die Basis, auf welcher sie sich die Wohnung teilen. Trudi hat gegenüber K einige Vorbehalte, aber es wird nicht angedeutet, daß sie ernsthaft sind; K's Verhalten im Haushalt entspricht nicht Angelas und Trudis Standard. Übliche Erfahrungen mit solchen Wohngemeinschaften bestätigen, daß solche Schwierigkeiten oft auftreten. Soziologische Erfahrungen mit Dreipersonengruppen deuten darauf hin, daß gerade diese zu besonderen Schwierigkeiten führen (CAPLOW 1968). Dennoch ist nirgendwo die Rede von Gereiztheit, Verärgerung oder Ablehnung.

Die beiden hier genannten Verhaltensweisen könnten gerechtfertigt werden, wenn sich eine Sozialstruktur finden läßt, welche den im Text präsentierten gemeinsamen Haushalt auflöst. Mit anderen Worten, man kann K's Verhalten auch so .auffassen, daß sie zwei Haushalte unter einem Dach >feststellt<. Diese Lesart kann in eine allgemeinere Rekonstruktion dessen, was berichtet wird, eingebunden werden. Es gibt Anzeichen einer Art Verschwörung, wie sie LEMERT ganz ähnlich in seinem Aufsatz über »Paranoia and the dynamics of exclusion« (1962) beschrieben hat. Die letzte Ereignisfolge, in der sich die Dinge zuspitzen, kann in diesem Rahmen interpretiert werden. Angela et alii bauen gemeinsam einen Bericht über K als geisteskrank auf. K ist aus diesem Prozeß ausgeschlossen, ist jedoch sein Objekt. Angela et alii halten bei der Aufgabe, festzustellen, daß mit K etwas nicht in Ordnung ist, zusammen. Wenn man K's Äußerung, »oh ja, und das kleine schwarze Schaf und die Lämmer« (177-178) so auffaßt, daß sie dies erkenne, ergibt sich durchaus ein Sinn.

Die Glaubhaftigkeit des Berichtes und die Frage, ob der Leser/Hörer die beschränkten Prüfungsverfahren wie auch die Legitimation des Erzählers der Geschichte akzeptiert, hängt davon ab, ob Angela et alii für K's Freundinnen gehalten werden. Die gegenteilige Interpretation schafft einen Kontext für vieles, was über K berichtet wird, nachdem Angela und Trudi zu der Schlußfolgerung gekommen waren, daß »sie einfach nicht zurecht kommen konnte« (136), und immer wieder »ihre Schwächen in ihrer Abwesenheit diskutierten« (144). Die Freundschaftsversion ihrer Beziehung ist abhängig davon, daß K erfolgreich als >geisteskrank< definiert wird. Umgekehrt ist die Definition K's als >geisteskrank< davon abhängig, daß diese Version aufrechterhalten wird. Daher halte ich es für entscheidend, daß es K's Aussage über »das kleine schwarze Schaf und die Lämmer« ist, die vom Erzähler kommentiert wird mit »dies war nun wirklich völlig ohne Zusammenhang« (178-179). Hier zeigt sich, daß die soziale Organisation des Berichtes eine entscheidende Rolle spielt bei der Konstruktion der Tatsache: »K ist geisteskrank«.

Literatur

Austin, J. L., How to Do Things with Words, London 1962; dt.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart t1972.

Pretending, in: Donald F. Gustafson (Hrsg.), Essays in Philosophical Psyhology, Garden City (N.Y.) 1964, S. g99-116.

Caplow, T., Two against One. Coalitions in Triads, Englewood Cliffs (N.J.) 1968.

Cicourel, Aaron V., The Social Organization of Juvenile Justice, New York 1968.

Clausen, J. A., and M. R. Yarrow, The Impact of Mental Illness on the Family, in: Journal of Social Issues 2 (1955) Heft 4.

Durkheim, Emile, The Division of Labor in Society, Glencoe (Ill.) 1960.

Goffman, Erving, The Moral Career of tbe Mental Patient, in: ders., Asylums, New York 1962; dt.: Die moralische Karriere des Geisteskranken, in: ders., Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt 1973.

Kitsuse, John, Societal Reaction to Deviant Behavior, in: Social Problems 9 (1962), S. 247-256.

Lemert, Edwin M., Paranoia and the Dynamics of Exclusion, in: Sociometriy 25 (1962), S. 2-20.

Mechanic, David, Some Factors in Identifying Mental lllness, in: Mental Hygiene 46 (1962), S. 66-75.

Scheff, T. J., The Societal Reaction to Deviance. Ascriptive Elements in the Psychiatric Screening of Mental Patients in a Midwestern State, in: Social Problems 2 1964) S. 401-413.

Being Mentally Ill, London 1966; dt.: Das Etiket Geisteskrankheit., Frankfurt 1973.

Smith, Dorothy E., A Version of Mental Illness, unveröffentl. Manuskript.

Yarrow, M. R., C. A. Schwartz, H. S. Murphy und L. C. Deasy, The Psychological Meaning of Mental Illness in the Family, in: Journal of Social lssues 2 (1955), S. 12-24.

Weiterführende Texte zum Thema "Aussonderungsprozesse - Stigmatisierung" finden Sie z. B. unter dem Themenbereich: Theoretische Grundlagen:

Andreas Hinz & Ines Boban: Geistige Behinderung und Integration. Überlegungen zum Begriff der 'Geistigen Behinderung' im Zusammenhang integrativer Erziehung. Zeitschrift für Heilpädagogik 44 (1993), 327-340 http://bidok.uibk.ac.at/library/boban-behinderung.html

Johannes Elbert: Geistige Behinderung - Formierungsprozesse und Akte der Gegenwehr http://bidok.uibk.ac.at/library/elbert-formierungsprozesse.html

Georg Feuser: Zum Verhältnis von Menschenbild und Integration -"Geistigbehinderte gibt es nicht!" http://bidok.uibk.ac.at/library/feuser-menschenbild.html

Quelle:

Dorothy E. Smith: K ist geisteskrank. Die Anatomie eines Tatsachenberichtes.

Erschienen in: Ethnomoethodologie - Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. Hrsg.: Elmar Weingarten, Fritz Sack, und Jim Schenkein; suhrkamp taschenbuch wissenschaft 71; Erste Auflage; Frankfurt am Main 1976 / S. 368 - 415

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 07.02.2006

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