Geistige Behinderung - Formierungsprozesse und Akte der Gegenwehr

Autor:in - Johannes Elbert
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Dieser Text ist in dem Buch Wege aus der Isolation - Konzepte und Analysen der Integration Behinderter in Dänemark, Norwegen, Italien und Frankreich - erschienen, welches 1982 von U. Kasztantowicz im G. Schindele Verlag herausgegeben wurde. Wir halten diesen Text für eine theoretische Grundlage zur Integration. Das Buch ist leider vergriffen und wird auch nicht mehr aufgelegt darum haben wir den Text als Volltext in unsere BIDOK aufgenommen.
Copyright: © Johannes Elbert 1982

Inhaltsverzeichnis

Geistige Behinderung - Formierungsprozesse und Akte der Gegenwehr

"DRAUSSEN

Hoffnung ist ein Schatten auf meinem Weg.

Meine Wohnung ist von der Fürsorge, zart und fein.

Du läßt mich existieren, aber die Welt draussen wird niemals mein.

Du sagst, Du weißt, was das Beste ist, und Du bestehst darauf, daß das mein Glück ist.

Ich werde überall beschützt, auch dagegen, selbst etwas probieren zu wollen.

Du machst so viel für mich, das zeigt, daß Du nicht alles verstehst. Wenn Du mich in eine Institution einsperrst, so hast Du mich ja nach draussen gesetzt.

Ich bin ja geistigbehindert und verrückt. Der, der die Dinge regelt, bist Du. Glaubst Du wirklich, mein Leben wird leicht nur dadurch, daß die Anderen es für mich leben?

Du bist verantwortlich, sagst Du. Aber warum passiert es da so oft, daß du meine Verantwortung von mir nimmst und so vor Deiner wegläufst?"

(aus: ,OMVENDT`, Theaterstück der AIS; ,AIS` heißt die Theatergruppe der Abendschule in der Spaniensgade/ Kopenhagen. Der größte Teil der Mitglieder war in der dänischen Geistigbehindertenfürsorge registriert.)

I. Einleitung

In diesem Abschnitt des Buches, versuche ich, einen theoretischen Beitrag zur Frage der wechselseitigen Integration zu leisten. Er richtet sich im wesentlichen gegen sonderpädagogische Theorien, die durch ihre individualisierende Kategoriebildungen, durch eine anthropologische Persönlichkeitstheorie des ´Geistigbehinderten` und durch Nichtberücksichtigung sozialer und historischer Faktoren zu einer segregierenden Theorie geworden ist und somit separate, aus der normalen Gesellschaft herausgelöste Handlungsfelder legitimiert, notwendig und politisch durchsetzbar macht[1].

Denn will man gegen eine segregierende Praxis arbeiten und Wege aus der Isolation finden, genügt es nicht, die materiellen Lebensbedingungen für sogenannte ´Geistigbehinderte` zu verbessern, sondern man muß in erster Linie das vorgefertigte, abstrakte Wissen über die Persönlichkeit des ´Geistigbehinderten` eliminieren.

Vergleicht man dänische und deutsche Institutionen, deren Zielgruppe die ´Geistigbehinderten` sind, so mag auf den ersten Blick der hohe materielle Standard der dänischen Schulen, Heime u. ä. beeindrucken. Aber der bedeutendste, die Lebenswelt des ´Geistigbehinderten` am entscheidendsten prägende Unterschied liegt im Verhaltensrepertoire der in den Institutionen arbeitenden Personen. Herrscht in deutschen Sonderinstitutionen nach wie vor eine vom traditionellen Bild des ´Geistigbehinderten` geprägte Kommunikation vor, so traf ich bei meinen Praktika in dänischen Institutionen auf eine viel weitergefächerte, differenziertere, mehr an der konkreten Person orientierte und von ihr mitbestimmte Kommunikation. Während meines neunmonatigen Aufenthaltes wurde ich mit Situationen und Anschauungen konfrontiert, die meine Vorstellung von ´Geistiger Behinderung` ins Wanken brachten. Durch den Gegensatz konnte ich erfahren, daß das für den ´Geistigbehinderten` zubereitete soziale Umfeld wesentlich an der Entstehung desselben beteiligt ist, das Erscheinungsbild eines ´Geistigbehinderten` erst in speziellen Handlungsfeldern formiert wird.

Diesem Formierungsprozess versuche ich, an Hand der professionell auftretenden medizinisch-psychiatrischen Wissenschaft und an Hand der ihr nachgeordneten erzieherischen Organisationen nachzugehen. Aufgrund fundamentalkritischer Vorgehensweise gelange ich zum Postulat der Notwendigkeit einer neuen, anderen Sichtweise der als ´Geistige Behinderung` bezeichneten Erscheinungsform. Kernpunkt dieses Betrachtungsansatzes ist die Tatsache, daß in einem wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß Subjekt und Objekt zusammen mit der Methode eine unauflösliche Trias wechselseitiger Konstituierung bilden.

Die produzierten Wissensmodelle hängen gerade von dieser Trias, von den in ihr wirkenden spezifischen Faktoren ab. Die Ergebnisse von Untersuchungen geben nur Auskunft über die künstlich erzeugte Wechselwirkung, nicht aber über die ´Wirklichkeit`, die vor, nach oder außerhalb der Versuchsanordnung existiert.

Dies ist besonders in der pädagogischen Wissenschaft vom Menschen zu berücksichtigen. Das bedeutet, daß jede pädagogische Theorie vom Menschen im Sinne des physikalischen Modells einen Bildcharakter hat und den Menschen nur in einem Zustand, nie aber in seinem ´Wesen` erfassen und beschreiben kann. So ist jede pädagogische Theorie, nach ihrer Intention, nach ihren Hypothesen, Grundannahmen, Fragestellungen und Erhebungsmethoden und damit verursachten Wechselwirkung zu hinterfragen.

Das entscheidende aber ist, daß Pädagogik und Psychiatrie mit ihren totalen Bildern vom Menschen zugleich angewandte Wissenschaften darstellen. Die in den Theorien existierenden Bilder von z.B. dem ´Geistigbehinderten` werden auf einen Menschen angewandt, bestimmen die pädagogischen und psychiatrischen Arrangements und Eingriffe.

Diese Bilder unterliegen einer Zentralperspektive - dem hirnorganischen Schaden und der daraus resultierenden mangelnden Intelligenz - , von der aus der Mensch logisch-kausal erfaßt wird. Sie gibt vor, das Wesen des ´geistigbehinderten` Menschen zu kennen. Sie begreift die jetzige Erscheinungsform ´Geistiger Behinderung` nicht als einen möglichen Zustand von vielen und legitimiert mit der Abnormität dieses Wesens die Errichtung einer abgesonderten Welt.

Diese Zentralperspektive versuche ich aufzubrechen, indem ich eine andere mögliche Sichtweise darstelle. Meine Intention ist, die Perspektiven aneinander zerren zu lassen, eine Mehrdeutigkeit zu produzieren, die ein primäres Erfassen des Menschen verhindern hilft.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Versuch, die von außen kommenden formierenden Eingriffe und deren Auswirkungen auf den als geistigbehindert bezeichneten Menschen als einen Beitrag für die Entstehung eines ´Geistigbehinderten Selbst` in einem spezifischen Kulturationsprozeß zu beschreiben[2].

Im Gegensatz zu Goffman (1972) leiste ich keine ausschließlich auf der Handlungsebene basierende Analyse der Formation eines ´Selbst`, sondern gehe auch auf die diese Ebene bestimmenden Theorien ein. So gesehen beginnt die Formierung eines als ´geistigbehindert` bezeichneten Menschen bereits in dem Prozeß der Erkenntnisgewinnung, wie es am Beispiel des medizinisch-psychiatrischen Wissensmodells ausschnittsweise dargestellt wird.

Das psychiatrisch-medizinische Bild dient pädagogischen Theorien als ein wesentlicher Aspekt für eine eigene pädagogisch-anthropologische Konstruktion des ´Geistigbehinderten`. An ihr orientiert sich die Form der pädagogischen Beziehung. Diese liefert dadurch ihren eigenen Beitrag zur Produktion des ´Geistigbehinderten Selbst` und wirkt stabilisierend auf jene Konstruktion zurück. Es soll deutlich werden, daß die sonderpädagogische Beziehung zwischen Sonderzögling und Sondererzieher den Keim einer fundamental gestörten Beziehung in sich trägt, wie ich sie exemplarisch an Hand der Beziehung von ITARD zu Victor herauszuarbeiten versuche, um diese daraufhin unter Heranziehung einer Theorie über ´Geistige Behinderung` mit der sonderpädagogischen Praxis zu vergleichen.

Um zu einem neuen Verständnis von ´geistigbehinderten` Verhaltensformen zu gelangen und um aufzuzeigen, daß die von der psychiatrischen und pädagogischen Theorie geformten Arrangements und die von diesen beeinflußten, in den Handlungsfeldern praktizierten Erziehungsmethoden den ´Geistigbehinderten`, das ´geistigbehinderte Selbst` produzieren, verstärken oder verfestigen, stelle ich zunächst die ´normalen` Formierungsprozesse innerhalb der frühkindlichen Sozialisation des ´normalen` Kindes in Anlehnung an Bettelheim (1975, 1977) dar. Die zentrale Rolle spielt hierbei die kindliche Aktivität. Sie bietet das Angriffsfeld für die intendierten Formierungsprozesse. Bei dem diagnostizierten Kind aber werden spezielle, auf die ´Geistige Behinderung` abgestimmte Formierungsprozesse verhindern, daß das Kind innerhalb einer wechselseitigen Interaktion die Welt zu kontrollieren und zu beeinflussen vermag. Es gelangt nicht von der Ebene einer rein ich-bezogenen Aktivität (Bettelheim 1977) zu einer wechselseitigen Interaktion, die Entstehung eines ´bürgerlichen Selbst` (Goffman 1972) wird verhindert und das ´geistigbehinderte` formiert.

Auswirkungen dieser Prozesse werde ich mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse (z.B. bei Mahler 1972; M. Mannoni I972; Robertson 1964, 1977; Rotmann 1978) aufzuzeigen versuchen.

Dieser Erklärungsansatz bietet die Möglichkeit, bisher als ´abweichende`, bzw. als Symptome der ,Geistigen Behinderung` verstandene Verhaltensformen als vielfältige Formen sinnvollerGegenwehr gegen die den ´Geistigbehinderten` umgebende und gefangenhaltende gestörte Interaktionswelt zu erkennen und zu verstehen. Erst dann wird es möglich, aus einem von Mißerfolg und Verstärkung der ´Geistigen Behinderung` gekennzeichneten Kreislauf herauszutreten. Dafür ist es notwendig, die durch das folgenschwere Postulat des organischen Schadens zementierten Strukturen überzuführen in eine Praxis der Kommunikation, in der die Verständigung unter den Bedingungen des als ´geistigbehindert` bezeichneten Menschen stattfindet, ihm sinnkonstituierendes Handeln zugetraut und erlaubt wird.

Dies bedeutet notwendigerweise die Aufgabe einer professionalisierten Sichtweise, eines Glaubens, der vorgibt, aufgrund von Theorien oder einer für sich selbst als richtig erkannten Moral zu wissen, was das beste für den ´Geistigbehinderten` ist, was das richtige Ziel und der richtige Sinn von Interaktionen ist, zugunsten einer Bereitschaft Interaktionsmuster vorurteils- und wertfrei nach möglichen Intentionen zu hinterfragen. Interpretiert man das ´abweichende` Verhalten des Kindes als eine legitime Form von Gegenwehr, als ein verzweifeltes Suchen nach Sicherheit und Geborgenheit, die jedoch ihm Platz läßt für eigenes autonomes Handeln, so bieten sich Möglichkeiten, den als ´geistigbehindert` bezeichneten Menschen aus ihrer Isolation zu verhelfen und eine Kommunikation zu beginnen, die in Dänemark als ´Involvierung` bezeichnet wird.



[1] vgl.: die Analyse der Geschichte der Hilfsschule, die Funktion der Schwachsinnstheorie und deren Einfluß auf die Didaktik der Schule für Lernbehinderte in Willand 1977.

[2] In diesem Beitrag beabsichtige ich nicht, die Ich-Identität des ´Geistigbehinderten`, "... nämlich das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt" (Goffman 1975, S. 132) darzustellen, sondern orientiere mich an Goffman (1972), der in seinem Buch ´Asyle` den Prozeß der Diskulturation bzw. die Zerstörung des ´bürgerlichen Selbst` und eine spezifische Reorganisation des ´Selbst` in der Psychiatrie aus soziologischer Perspektive betrachtet hat.

II. Vorbereitungen und Anfänge der Produktion eines ´geistigbehinderten Selbst`

A. Selektierende Konstruktionen und eine ´Initiation` - der psychiatrische Beitrag zur Formierung

Die ´Initiation` - die Aufnahme in die Gruppe der ´Geistigbehinderten` ist die Schlüsselstelle der in diesem Beitrag zu beschreibenden ausschließenden und formierenden Prozesse der Produktion der ´Geistigen Behinderung` und des ´geistigbehinderten Selbst`, die den Betroffenen in der Realisierung seiner geistigen, körperlichen, sozialen und emotionalen Möglichkeiten behindert. Doch diese ´Initiation` erfordert gründliche Vorbereitungen - eine Theoriebildung, die es mit ihrem ´objektiven`, ´wissenschaftlichen` Wissen vom Menschen vollbringt, das Blickfeld zu rastern, die Perspektive festzulegen und die Wahrnehmung zu strukturieren.

Menschen werden wegen Leistungsstörungen und/oder einem Mangel an sozialer Anpassung auffällig. Um die für den Sonderstatus des Geistigbehinderten ´Geeigneten` herauslesen zu können, bedarf es genauer Maßstäbe, eines Katalogs, der die für eine Mitgliedschaft erforderlichen Merkmale auflistet. Die psychiatrische Wissenschaft fühlt sich dieser Aufgabe verpflichtet und produziert mit selektierenden Werkzeugen und Methoden das abstrakte Wissen über den ´Geistigbehinderten`. Als Endprodukt dieser Erkenntnisgewinnung erscheint in der Theorie das Konstrukt eines Menschen, das sich durch eine ´abnorme Spielart seelischen Wesens` auszeichnet. Dieses Konstrukt liefert dem Psychiater eine Schablone, ohne die er keine Diagnose stellen könnte.

l. Der Normalitätsbegriff in der Psychiatrie als Basis der Selektion

Das von der psychiatrischen Wissenschaft[3] gefertigte Konstrukt ´Geistige Behinderung` bezeichnet eine bestimmte Konstellation verschiedener Symptome mit verschiedenen Wertigkeiten. Diese Symptome existieren aber nicht an sich, sondern sind Produkte einer Erkenntnisgewinnung. Der Psychiater stülpt der Vielzahl von Erscheinungsformen ein auf dem statistischen Normalitätsbegriff fußendes Interpretations- und Selektionsraster über, mit deren Hilfe er diese Vielzahl ordnen und einzelne Erscheinungsformen als Symptome deuten kann.

Es fußt auf denselben Operationen, die Foucault (1977) in dem ´System der Disziplinarmacht`, das normierend und normalisierend wirkt, beschreibt:

1. "Sie bezieht die einzelnen Taten, Leistungen und Verhaltensweisen auf eine Gesamtheit, die sowohl Vergleichsfeld wie auch Differenzierungsraum und zu befolgende Regel ist."

2. "Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann."

3. "Die Fähigkeit, das Niveau, die ´Natur` der Individuen werden quantifiziert und in Werte hierarchisiert"[4].

Der vierte und fünfte Punkt, "... der Zwang zur Einhaltung einer Konformität..." und das Ziehen "... einer äußeren Grenze gegenüber dem Anormalen..." wird durch die psychiatrischen Institutionen selbst erfüllt. (Alle Zitate aus Foucault 1977, S. 236). In der Psychiatrie wird offensichtlich, daß das ´Normale als Zwangsprinzip` (Foucault 1977) akzeptiert. Man tritt für die ´Macht der Norm` ein, die einerseits zur Homogenität zwingt"... und andererseits ... individualisierend (wirkt - J. E.), da sie Abstände mißt, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert ..." (Foucault 1977, S. 237)[5]. So wird der willkürliche Ausschluß der Normkritik verständlich, denn um den Begriff der Norm und der Normalität gruppieren sich die Machtverfahren - Bestimmung von Durchschnittsbreiten, abnormen Abweichungen etc. - der Psychiatrie, die es ihr erst ermöglichen, eine ´objektive` und ´wissenschaftliche` Erfassung und Kategorisierung der abnormen Spielarten menschlichen Seins zu leisten[6].

2. Das Persönlichkeitsbild des ´Schwachsinnigen`

Die durch diesen Normalitätsbegriff eingefärbte Theorie liefert dem Beobachter ein Persönlichkeitsbild des ´Schwachsinnigen`, das er zu seiner Diagnose unbedingt benötigt, um in einem Menschen den Oligophrenen erkennen zu können. Dieser sieht nun folgendermaßen aus: Das Leitsymptom, die ´Minusvariante der Intelligenz` ist "... einer der wichtigsten Bausteine der Persönlichkeit, die alle anderen Dimensionen der Person durchdringt, (sie - J. E.) hat aber mehr die Aufgabe eines Werkzeugs, das seine Antriebe aus anderen tieferen Schichten der Person erhält" (Arns et.al., a.a.0., S. 225).

Man bemerke die Metaphernsprache: Bausteine lassen sich bekanntlich exakt ausmessen und einpassen. Viele Bausteine bilden ein Gebäude, aber in diesem Fall soll die Intelligenz alle anderen Bausteine durchdringen. Man universalisiert ihre Geltung als Leitsymptom, andererseits soll sie aber bloßes Werkzeug für dahinterliegende Antriebskräfte sein, die sich aber der Kenntnis und dem unmittelbaren Zugriff des Psychiaters entziehen. Diese Antriebskräfte bewegen sich in der Schattenzone, die die Wahrheit des Menschen und seines Wesens verborgen hält. Mangelnde Intelligenz ist somit als ein Symptom eines als ´oligophren` bezeichneten Wesens zu verstehen. Als allgemeine Erkennungszeichen dieses Wesens gelten: Verlangsamung der Gesamtentwicklung, Verlangsamung im Ablauf der psychischen Funktionen, Affektverflachung, Neigung zu Primitivreaktionen, die auch bei Kindern und Tieren zu finden seien, extreme emotionale Äußerungen (vgl. Arns et al. 1978, S. 225).

Sie alle "... ergeben im Verein mit dem geringen Leistungsgrad aller psychischen Funktionen das Bild eines primitiven, unreifen, kindlichen und hilflosen Menschen, der auf unsere Fürsorge angewiesen ist" (ebd. S. 226, Hervorhebungen d. Verf.).

Dieser ´Wesenskatalog` bezieht sich immer auf die Annahme einer nicht vollzogenen oder unzulänglichen Entwicklung. Unter den Prämissen dieser Entwicklungsvorstellung wird ´Geistige Behinderung` als Mangel erfaßbar. Indem zwischen dem fremden ´Zustand` ´Geistige Behinderung` durch den Bezug auf einen festen Normwert eine Verbindung zu dem ´normalen Zustand` erstellt wird, verliert jener sein Fremdsein. Die Nähe wird hergestellt, indem man postuliert, daß es sich lediglich um ein Ausbleiben der Reife handele. Dies ermöglicht die Erstellung quantitativer Differenzen (distanzierende Platzzuweisungen) und eine Vereinnahmung, die einer Individualisierungsstrategie folgt[7].

3. Die Ätiologie der ´Geistigen Behinderung`

Dieses von Fehlleistungen, Defiziten und Defekten überladene psychiatrische Konstrukt gewinnt aber erst seine volle, folgenreiche Wirkung, wenn die Ursachen für diese ´abnormen Spielarten` gefunden ist, wenn die ´Wahrheit` der Oligophrenie aufgedeckt ist. Denn erst dann kann die ´Marschrichtung` der therapeutischen Maßnahmen im Einklang mit gesellschaftlichen Erfordernissen festgelegt werden, kann der ´Fall` ursächlich oder aber nur symptomatisch angegangen werden.

In einer bürgerlichen Gesellschaft, die das ,autonome Subjekt` auf ihr Banner geschrieben und zugleich die Verfahren der individualisierenden Unterwerfung entwickelt hat, konzentriert sich die Suche nach den Ursachen auf das Individuum (vgl. Foucault, a.a.0., S. 220 ff.).

Der ´Oligophrene` hat einen nicht behebbaren hirnorganischen Defekt, auf den das veränderte Wesen zurückgeführt werden kann.

Der hirnorganische Defekt verkörpert die Wahrheit. Er bildet den Ort der Wahrheit, der - ist man einmal dort angelangt - die Perspektive bestimmt. Zum einen wird die mangelnde Intelligenz, samt der erwähnten ´defizitären` Persönlichkeit darauf zurückgeführt. Zum anderen folgert man, daß das Erscheinungsbild eines ´oligophrenen` Menschen konstant ist, da der Patient in seiner Substanz geschädigt sei.

Zusammenfassend läßt sich feststellen: Das psychiatrische Wissen konstituiert sich, wie oben dargestellt, aus zwei Komponenten: der Ätiologie, für die die Wahrheit im Organ liegt, und der Symptomatologie, die die Norm zum Richtwert des Messens und Erfassens erhebt und somit nur stets den Mangel und das Defizit beschreibt. Die psychiatrische Wahrheit steht sozusagen im Zentrum der Theorie.

Deshalb möchte ich im folgenden Kapitel näher auf die vermeintliche Aufdeckung ´der` Wahrheit eingehen.

4. Die Produktion einer Wahrheit

Der Ort der Wahrheit, die es mit Hilfe adäquater Methoden zu entschlüsseln gilt, liegt für die Psychiatrie im Falle der Oligophrenie im Organ. Der Mensch ist als organisches Wesen Träger einer Wahrheit und nur als solches von wissenschaftlichem Interesse. Es scheint klar, daß der Betroffene selbst diese ´Wahrheit` weder entschlüsseln, noch jemals über sie verfügen kann. Durch die Zurückführung der ´Oligophrenie` auf einen organischen Defekt wird das Subjekt als rein organisches konstituiert und als solches zum Objekt wissenschaftlicher Verfahren gemacht. Das Statut des psychiatrischen Diskurses schreibt vor, daß nur Experten mit ihren wissenschaftlichen Methoden der Wahrheit auf die Spur kommen können, und das Individuum nur ein unwissendes sein kann. Bereits diese Methoden, die nur ein bestimmtes Wissen zu Tage bringen können, beeinflussen die therapeutische Praxis, die Maßnahmen der Wiederherstellung und das Bild vom Menschen. Der Psychiatrie entgeht jedoch, daß sie nicht die Wahrheit wie einen Schatz bergen kann, sondern daß eine von vielen möglichen Wahrheiten erst in der Triade von Subjekt, Objekt und Methode, in einer besonderen Formation der Macht und des institutionellen Arrangements produziert wird.

Geht man davon aus, daß die apodiktisch anmutende Wahrheit der Psychiatrie - die in erster Linie in eine objektivistische Beziehung zum Oligophrenen tritt - nicht die Wahrheit ist, sondern auch andere Annäherungen an das Phänomen denkbar sind[8], so erscheint es berechtigt, hinter den Symptomen psychische Ursachen, bzw. eine Wahrheit in der behinderten Geschichte des Individuums zu suchen, welches etwa auf diese Weise selbst zum Träger eines Wissens wird. Dann wäre es doch sinnvoll, den Betroffenen sowohl als Subjekt seiner Geschichte an dem Prozeß der Wissensfindung zu beteiligen, als auch ihn mit Hilfe anderer über sich selbst Erkenntnisse erlangen zu lassen.

5. Eine ´Initiation` - die Aufnahme in die Gruppe der ´Geistigbehinderten`: das Diagnoseverfahren

ÄH - BÄH - BUH schnell wird man geistig behindert

ÄH - BÄH - BUH Ihr seht, wie leicht das geht

das Ganze geschieht auf dem Papier - von klugen Psychologen, die gleich drauf achten, was ich sag - während sie nur glotzen. ÄH - BÄH - BUH schnell wird man geistig behindert

ÄH - BÄH - BUH so geht das nun mal zu."

(aus dem Singspiel ANITA, AIS)

Wie geht das zu? Die Aufnahme in die Gruppe der ´Geistigbehinderten` erfolgt nicht, wie man es von Initiationsriten gemeinhin kennt, durch angesehene Mitglieder dieser Gruppe, sondern wird unter Ausschluß der Öffentlichkeit von einem Experten durchgeführt. Diesem Experten, sei es ein Psychiater, ein Psychologe oder auch ein Sonderschullehrer, stellt nun die Psychiatrie die Macht, das Wissen über den Oligophrenen und die Techniken zur Verfügung. Ausgestattet mit diesem Rüstzeug, das die Wahrnehmung bestimmt, die Perspektive festlegt und die Kommunikation strukturiert, tätigt der Experte die notwendigen Untersuchungen um die Eignung des Probanden festzustellen.

Ein Prozeß der Verzerrung und Ausblendung beginnt. In der Mikrosituation der Begegnung von Experte und Proband (hier kann auf die institutionellen Aspekte des Wissensstatuts nicht eingegangen werden) wird der Untersuchende zum ´Experten`, indem man sich nach Anweisung der Methode, die vom Wissen bestimmt ist, in einer vorgeschriebenen Weise verhält. Ebenso wird der Untersuchte zum ´Patienten`, zum ´Geistigbehinderten`, indem er den Platz einnimmt, der ihm von der Methode zugewiesen wird. Der Experte kennt Krankheitsbilder, denen bestimmte Symptomkombinationen entsprechen. Diese versucht er mit geschultem Blick in dem Objekt wiederzufinden. Die Diagnose ist zu vergleichen mit einem Puzzlespiel, wo passende ´Symptomsteinchen` für die Bestätigung der Hypothese, die durch den Mangel an sozialer Anpassung provoziert wurde, gesucht werden. Der Betroffene selbst kommt in eigener Regie nicht zu Wort, denn die Formierung durch den Experten hat bereits begonnen.

Konnte der Experte mit seiner defektorientierten Sichtweise Symptome und Ursachen finden und sie dem vom ICD-Schlüssel (einem in der Psychiatrie international üblichen Diagnoseschlüssel) angebotenen Krankheitsbild Oligophrenie zuordnen, war sein Versuch der Wiedererkennung erfolgreich.

6. Die Prognose als Mittlerin und Übersetzerin des psychiatrischen Wissens

Aber die Psychiatrie beschränkt sich nicht allein auf die Produktion von Wissen und Diagnosen. Denn an die Reduktion der Ätiologie auf einen nicht behebbaren hirnorganischen Schaden knüpft sich die Prognose über die Zukunft des Betroffenen. Diese, die all das beschreibt, was der Betroffene auf Grund der gefundenen Diagnose nicht können werde, vermittelt die psychiatrische Wahrheit an die Außenstehenden[9]. Hier ist für das Kind der entscheidende Knotenpunkt, an dem die psychiatrische Wahrheit ihren institutionellen Rahmen verläßt, in alle anderen Lebensbereiche eindringt und diese umformt. Denn je nach Behinderungsgrad, ausgedrückt im Verhältnis zu normaler Intelligenz, werden zwecks adäquater Förderung die bekannten Sonderschultypen favorisiert, oder Bildungsfähigkeit wird gänzlich in Frage gestellt (vgl. Arns et al. 1978, S. 216).

"... Imbezille können nur in speziellen Sonderschulen für geistig Behinderte adäquat beschult werden. Die Richtung der Förderung ist auf das Praktische ausgerichtet. Ihr seelisch-geistiger Rückstand gegenüber Nichtbehinderten beträgt etwa ein bis zwei Drittel. Bei der Idiotie liegt in der Regel völlige Bildungsunfähigkeit vor. ... In leichteren Fällen lernen die Kranken im Telegrammstil sprechen und können auch zu einfachsten Diensten ´erzogen` werden" (Arns et.al., a.a.0., S. 216, Hervorh. J. E.).

Die Prognose verknüpft das Wissen mit heil- und sonderpädagogischen Maßnahmen, bei denen ´korrigierende Erziehungsarbeit` (vgl. Harbauer, a.a.0., S. 235) im Vordergrund steht. Die Betreuung in Sondereinrichtungen, die die Segregation von den ´Normalen` impliziert, wird mit der Intention der optimalen Förderung und des Schutzes empfohlen. Eine Entwicklung, die durch das ´Wesen` der Person bestimmt ist, hält man in sehr beschränktem Maße für möglich.

Die Prognose wird somit zur Mittlerin und Übersetzerin des psychiatrischen Wissens. Sie öffnet dem Wissen die Möglichkeit, sich an Handlungsfelder anzukoppeln und sie zu überlagern, indem sie das Ausmaß der Entwicklungsmöglichkeiten mittels negativer Beschreibungen festlegt und Aussagen über Art und Weise der Förderung, der Therapie und der Familien- bzw. Heimbetreuung macht.

Dies hat z.B. familial weitreichende Folgen. In der Familie - für das Kind der wichtigste Ort - begegnet man diesem in der Regel mit einer positiven Erwartungshaltung. Es wird zum Träger von Wünschen und zum Garant einer glücklichen Zukunft. Man freut sich über sein Können, seine Fortschritte und ist bereit, ihm bei der Eroberung der Welt zu helfen.

Konträr zu dieser optimistisch eingestellten Lebenswelt steht die Psychiatrie mit ihrer defektorientierten, pessimistischen Sichtweise eines benachteiligten Kindes und überschattet als potentielle Bedrohung das Leben aller einmal in Verdacht geratenen Kinder. Vom ersten Verdacht seitens der Eltern bis hin zur Erstellung der Diagnose ´geistigbehindert` kann man verschiedene Anbahnungsphasen unterscheiden[10], die letztlich in einer defektorientierten Sichtweise und Erziehungshaltung gipfeln, geprägt von Pessimismus, Vorurteilen, Resignation, Widerstand gegen die psychiatrische Diagnose und hinreichend bekannten typischen Erziehungsfehlhaltungen. Im Kampf um die Durchsetzung der ´Wahrheit` siegen meist die Institutionen. Die Eltern übernehmen das med.-psych. defizitäre Bild. Dies impliziert eine Entfremdung vom Kind. Da nun das Kind weit jenseits des ´Normalen` steht, der Abstand zur Norm so kraß ist, und das Kind seinem Gegenüber beinahe fremd erscheint, bedarf es ausgebildeter Fachleute, die diese Distanz überbrücken können, die sich in diese ´Fremde` wagen, um mit speziellen Maßnahmen bzw. durch Bereitstellung ausgearbeiteter Erziehungsmethoden und Trainingsprogramme eine Veringerung der Distanz zur Norm zu erreichen. Die Diagnose ruft Hoffnungslosigkeit, erzieherische Hilf- und Ratlosigkeit bei den Eltern hervor und fördert somit in erheblichem Maße die Abstimmung familialer Erziehungsmethoden auf die Programme pädagogischer Experten. Ihre Erziehungshaltung wird nun weitgehend von dem in den Institutionen zum Wirken gebrachten Wissen bestimmt. Experten, Pädagogen und Vereine wie die Lebenshilfe vermitteln den Eltern die ´richtigen` Erziehungsprogramme. Die Leitlinie dieser Programme ist eine an der lebenslangen Schutz- und Pflegebedürftigkeit orientierte lebenslange Verantwortung für den ´Behinderten`, für den z.B. rechtlich gesicherte Volljährigkeit und Eigenverantwortlichkeit zwar formal, nicht aber in der Praxis existieren[11].

Diese Maßnahmen, angefangen bei der Diagnose, erheben alle den Anspruch für die optimale Entwicklung des ´Erkannten` Sorge zu tragen. Bereits die Diagnostizierung als ´Geistigbehinderter` und die Vermittlung erreichen den gegenteiligen Effekt. Sie behindern das Kind.

Interessanterweise stellt Rydberg (1976) in einer Untersuchung fest, daß zwischen besonderer Verhaltensänderung des Kindes und dem Diagnostizierungszeitpunkt eine zeitliche Übereinstimmung besteht. "Diese Verhaltensänderungen können zusammenfassend beschrieben werden mit:

a. deutlich langsameren Entwicklungsverlauf

b. fixiertem Entwicklungsverlauf

c. zurückgehendem Entwicklungsverlauf" (Rydberg 1976, S. 31).

Hier zeigt der Formierungsprozess beim Kind erstmals seine behindernde Wirkung. Der Betroffene selbst wird entmündigt, da er laut Diagnose und Prognose in keiner Weise Initiator seiner Veränderung sein kann, sondern in seiner Totalität korrigierenden Eingriffen ausgesetzt ist. Er wird zum Objekt bestimmter (Wieder)herstellungsmechanismen. Eine positive Veränderung wird nur durch gezielte Eingriffe von außen für möglich gehalten.

7. Mit vier Operationen der Psychiatrie beginnt die Produktion des ´geistigbehinderten Selbst`

Es sind vier Eingriffe zu unterscheiden, die die Produktion des ´geistigbehinderten Selbst` einleiten: Der Anfang liegt in der Charakteristik der Selektion von Merkmalen, in ihrer Bezeichnung als Symptome, in der Gruppierung der Symptome zu Syndromen. Unter Bezug auf eine statistische Normalitätsauffassung werden Symptome, die das Erscheinungsbild des Oligophrenen darstellen sollen, zusammengestellt. Die Ätiologie auf der Suche nach der ´wahren` Ursache löst das Rätsel der Vergangenheit und ernennt die Symptome zu einem unveränderbaren Ausdruck eines mangelhaften, organdefekten, weit jenseits der Norm stehenden Wesens.

In der Diagnose wird dieses Wissen in einer Person konkretisiert, bzw. wiedererkannt, Die zweite Operation beeinflußt maßgeblich die vierte: die Prognose der Entwicklungsfähigkeit, die die Verschaltung von Vergangenheit und Zukunft, Wissen und Praxis, psychiatrischer Institution und Außenwelt gewährleistet.

In den familialen und pädagogischen, von der psychiatrischen Wahrheit überlagerten Handlungsfeldern siedeln sich schließlich die spezifischen Formen der Erziehung, Therapie und Aufbewahrung an, innerhalb derer, als Produkt der Verkettung, jenes bedauernswerte, mit Vorurteilen belastete Geschöpf, der ´Geistigbehinderte` geschaffen wird. Um es mit Goffman (1972) zu sagen, wird dem als ´geistigbehindert` bezeichneten Menschen der ´bürgerliche Tod` verordnet.

Mit der Postulierung eines lebenslangen Schutzbedürfnisses, was die Übernahme der Verantwortung, Behütung und Kontrolle bedeutet, wird dem Kind vorenthalten das zu lernen, was sonst vom bürgerlichen Menschen erwartet wird und ihm ein bürgerliches Leben und ein stabiles ´bürgerliches Selbst` gewähren würde, d.h. seine Welt einigermaßen unter Kontrolle zu haben, ein Mensch mit der Selbstbestimmung, Autonomie und Handlungsfreiheit eines ´Erwachsenen` (vgl. Goffman 1972, S. 49 f.) zu werden.

Das Kind wird zum Objekt, zur passiven Marionette.

B. Die Sonderpädagogik entwickelt ihr Bild vom ´Geistigbehinderten` und läßt dieses in der pädagogischen Beziehung wirken

Als weitere der in dieser Arbeit aufgeführten Komponenten der Produktion des ´geistig behinderten Selbst` möchte ich hier eine sonderpädagogische Theorie der ´Geistigen Behinderung` darstellen, da diese in die gesamte gegenwärtige und zukünftige Lebenswelt des Betroffenen eindringt.

l. ITARDs Beziehung zu seinem ´wilden` Victor und ein Vergleich zum gegenwärtigen sonderpädagogischen Handlungsfeld

Bevor ich auf die Theorie des Sonderpädagogen Thalhammer eingehe, möchte ich zu den Wurzeln der Sonderpädagogik, zu Itard und Victor, dem ´Wilden` von Aveyron zurückkehren[12]. Denn dort, in einem noch nicht institutionalisierten und in verschiedene Spezialgebiete aufgeteilten Handlungsfeld läßt sich am leichtesten die formierende Wirkung der von einer Theorie geleiteten pädagogischen Beziehung zwischen Erzieher und Zögling aufzeigen; einer Beziehung, in der das ´Fremdbleiben` ein wesentliches Moment darstellt. Anschließend werde ich auf einige Parallelen und Differenzen zur heutigen sonderpädagogischen Beziehung hinweisen.

Die Beziehung zu Victor, dem ´Wilden` von Aveyron[13], war nicht die Folge eines institutionalisierten Auftrages, sondern beruhte auf dem persönlichen Interesse des Mediziners und Philosophen Itard, der in Victor die Verkörperung eines sich im urspünglichen Naturzustand befindlichen Menschen, die Materialität des anthropologischen Problems von Natur und Zivilisation sah.

Dieses Verhältnis legitimierte sich für Itard durch die pädagogische Ambition, den ´Wilden`, die reine Natur, zu einem wertvolleren zivilisierten Menschen zu bilden, um dadurch zugleich der Wissenschaft neue Erkenntnisse über den Menschen zu liefern. Itard konnte dieses Vorhaben in Angriff nehmen, indem er an eine stetige Entwicklung vom natürlichen zum zivilisierten Menschen glaubte. Er behauptete im Gegensatz zu Pinel, der eher organische Mangelerscheinungen vermutete, daß die soziale Isolation, die fehlende Zivilisation Victor als tierähnliches Wesen dahinvegetieren ließ und wagte ein erzieherisches Experiment. Unter Anlehnung an Theorien von Condillac[14] u.a. versuchte Itard, ein Erziehungsprogramm durchzuführen, um Victor zu zivilisieren und zugleich seine These der sozialen Isolation und der stetigen Entwicklungsmöglichkeit[15] mittels der Erfolge jenes Erziehungsprogramms zu belegen[16].

Bereits die distanzierte Beschreibung, die durch ihre Akribie die Brutalität der eigentlichen Handlung potenziert, die darin zum Ausdruck kommende arrogante Gewißheit, im Besitz des Rechts und der Macht zu sein - das vom Schwächeren gezeigte und vom Stärkeren beabsichtigte und als Erfolg definierte Verhalten heiligt die Mittel - , und die sich drastisch darstellende, von keiner Emotion getrübte, rein rationale Beziehung von Itard zu Victor zeigt exmeplarisch auf, daß Itard Victor nur als handsames Objekt zur Verwirklichung seiner Ideen benutzte.

Die Pädagogik siegte nicht zum letzten Mal. Itard kürte sich zum Herrn über Leben und Tod (vgl. Stand 1972, S.156 f.), über Moral, über Freude und Zorn (vgl. ebd. S. 130 f.), über Gesundheit und Krankheit (vgl. ebd. S. 133), über das richtige Hören (vgl. ebd. S. 140), über die richtige Sprache (vgl. ebd. S. 147) usw. und war blind für das ´wilde` Wissen. Der allmächtige und allwissende Pädagoge zeichnet sich ab. Die von Itard praktizierten Methoden waren u.a. die der ´pädagogischen Versagung`[17], eines Prinzips nämlich, das er "... vor allem von einer pädagogischen Tradition geerbt (hat), die auch die Tradition der Tierdressur ist" (O. Mannoni 1972, S. 232).

Neu aber ist der experimentelle Charakter, der die Vorgehensweise Itards auszeichnet. Jener setzt die Bedingungen für Form und Inhalt der pädagogischen Beziehung fest. Denn die dem Experiment zugrundeliegende Hypothese bzw. Theorie konnte nur durch die Unterwerfung des Objekts Victor unter formierende pädagogische Eingriffe bewiesen werden. Die Wissenschaft und die daraus abgeleiteten pädagogischen Maßnahmen verlangen von Victor ihren Tribut: die Brechung seines Willens, die Verfügbarmachung für pädagogisch-medizinische Experimente. Für Itard war Victor formbares Rohmaterial[18]. Er setzte Victor als Spielball forcierter Absichten ein, als Objekt und Illustrator seiner philosophischen Überlegungen. Victor wurde im Dienste der Wissenschaft zum Exerzierplatz pädagogischer und medizinischer Maßnahmen, zum Kriegsschauplatz ´erziehungswissenschaftlicher` Experimente.

Itard glaubte, von der Richtigkeit seiner Theorie überzeugt, Victor, genauer gesagt, den natürlichen Menschen bereits zu kennen. Daher konnte er Victor nur aus einer selektierenden Perspektive wahrnehmen. Zugleich wird durch die Methode des pädagogischen experimentellen Verfahrens ein ´pädagogisierter Victor`, ein ´pädagogisiertes Selbst` geformt. Ein anderer Victor, z.B. der Victor außerhalb der erzieherischen Situation, wird von Itard nicht ernstgenommen[19]. Somit ist Itard nur mit dem seinen Gedanken entschlüpften und demgemäß geformten Geschöpf beschäftigt. Er produziert seinen ´Victor` und nur der ist ihm nahe.

Im Besitz der Macht kann er versuchen, die von der Theorie vorgegebene Sichtweise Victors in der Wirklichkeit an und in ihm entstehen zu lassen. So wird die pädagogisch geleitete Beziehung zu einer spezifischen Beziehung zwischen dem Pädagogen Itard und dem von ihm zu formenden und bereits geformten ´Selbst`, dem ´Zögling`, wobei ich hier unter Zögling ein pädagogisch erzeugtes Objekt verstehe, das in den Körper Victors eindringt, um sich diesen gefügig zu machen.

Daraus schließe ich im Gegensatz zu Moravia (1977), daß sich Itard nicht auf eine ´totale Beziehung` zu Victor eingelassen hat, sondern vielmehr das ´Fremdbleiben ` ein wesentliches Moment seiner pädagogischen Beziehung gewesen ist. Die aus dem Wissen um die ´wahre` Theorie sich konstituierende Macht über das Noch-Ungeformte, aber Formbare versperrt einen wie auch immer gestalteten Weg zur Auflösung des Fremdseins zwischen Itard und Victor.

Daß dieses Fremdbleiben nach wie vor besonders für die sonderpädagogische Beziehung zutrifft, liegt u. a. an dem von Itard entwickelten und von pädagogischen Nachfolgern aufgegriffenen und verfeinerten Forschungsansatz[20]. Itard, angeleitet von medizinischen und philosophischen Theorien, formt durch die spezifische Untersuchungsmethode des Experiments, dessen Verlauf von einer Auswahl therapeutisch-didaktischer Kontakte bestimmt wird, seinen Victor und gewinnt gerade dadurch sein Wissen. D.h., formierende Eingriffe am zu untersuchenden Objekt und die Erhebung des Wissens wurden zwecks Bestätigung einer Theorie miteinander verschaltet[21].

Itards Leistung bestand in der Verknüpfung pädagogischer Maßnahmen mit Wissenserhebung und Theorie.

Bei der nun folgenden Darstellung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der die pädagogische Beziehung bestimmenden Faktoren bei Itard und dem heutigen sonderpädagogischen Handlungsfeld, möchte ich zuerst auf strukturelle Veränderungen hinweisen.

Itards formierende Handlungen wurden von der Intention, die Stetigkeit des Verhältnisses von Natur und Zivilisation zu beweisen, angeleitet. Heute liegt in dem stetigen Maßstab der Norm das entscheidende Moment. Es wird sowohl zum Auslöser (Feststellung der Abweichung von der Norm) als auch zum strukturierenden Element von formierenden Eingriffen, die auf die Anpassung an die Norm abzielen. Bei Itard bildeten die pädagogische Praxis, fußend auf der Technik von Belohnung und Strafe, d.h. der pädagogischen Versagung, die Medizin, z.B. die angewandte Methode der Sensibilisierung, und die Theorie noch eine Einheit, waren in der Person Itards verkörpert. Daneben bestand, von diesem strukturierten pädagogischen Handlungsfeld unberührt, die familiäre Beziehung von Victor und seiner Gouvernante Mme. Guerin.

Heute besteht diese Einheit nicht mehr. Die formierenden Eingriffe finden in verschiedenen institutionalisierten und professionalisierten Handlungsfeldern statt. Der Ort des medizinischen Wissens und der medizinischen Therapie liegt innerhalb der Mauern der normierenden psychiatrischen Institutionen, die für eine spezifische Form der Abweichung von der gesellschaftlichen Norm das Krankheitsbild und zugleich die soziale Kategorie der Oligophrenie produziert und zur Verfügung stellt. Die pädagogische Theorie wird in den Universitäten gepflegt, und die erzieherischen Eingriffe werden in den Sonderschulen für ´Geistigbehinderte` praktiziert, wo in letzter Zeit die ´pädagogische Versagung`, systematisiert durch die Verhaltenstherapie, ungeahnte Höhenflüge erlebt. Als neues Handlungsfeld entdeckte man die Familie. Fand Victor noch eine von der Pädagogik verschonte Beziehung zu Mme. Guerin vor, so wird heute bei der Gruppe der ´Geistigbehinderten` das familiale Feld pädagogisiert, wird eine Übernahme therapeutisch-didaktischer Methoden durch die Eltern angestrebt.

Alle vier örtlich getrennten Handlungsfelder Psychiatrie, Universität, Schule und Familie überlagern und beeinflussen sich gegenseitig. Auf drei wichtige Verschiebungen möchte ich hinweisen:

Die medizinische Wissenschaft gewann an Einfluß und Macht. In der Beziehung von Itard zu Victor diente die Medizin lediglich therapeutischen Zwecken (z.B. der Sensibilisierung), stand im Dienste der Philosophie und Anthropologie und sollte zum Gelingen des Experiments beitragen. Im Gegensatz dazu wird die Ursache der ´Oligophrenie` seit Pinel medizinisch begründet. Sie liegt im Organ und begründet somit die Grenzen der Persönlichkeitsentwicklung und den Spielraum für von außen initiierte Veränderungen.

Konnte Itard auf Grund seiner These der sozialen Isolation ein Experiment wagen und an das Gelingen seines Vorhabens glauben, so erzeugt heute die medizinische Ursachenerklärung eine resignative Haltung bei Erziehern, Lehrern, Wissenschaftlern und Eltern. Das medizinische Wissen überlagert alle Handlungsfelder und verhindert Hypothesenbildung bzw. neue Experimente.

Zum zweiten möchte ich besonders betonen, daß die von Itard praktizierte Verschaltung von Wissenserhebung und Formierung unter Wegfall des experimentellen Charakters verborgener und nicht mehr so leicht auffindbar fortlebt. Immer noch sind formierende Eingriffe und Wissenserhebung gekoppelt. Zwar sind diese nicht mehr in einer Person verkörpert, sondern existieren in einer sich gegenseitig ergänzenden ´Zwei-Einheit` von Erzieher und Wissenschaftler, Schule, Heim, Werkstätte etc. und Universität.

Institutionen, bereits von der Theorie instruierte Lehrer und Erzieher etc., strukturieren die Kommunikation, setzen die therapeutisch-didaktischen Kontakte und die zu erreichenden Ziele in dem institutionellen ´sonder-pädagogischen Handlungsfeld` fest und nehmen somit am zu untersuchenden Objekt formierende Eingriffe vor. Der Schüler tritt bereits als ´sonder-pädagogisiertes` Objekt vor die Augen der Wissenschaftler, die diesen mit verschiedenen empirischen Erhebungsmethoden aus bestimmter Perspektive und geleitet von ihrem jeweiligen Erkenntnisinteresse und der von ihnen vertretenen Theorien zu erfassen suchen. Bei der Auswertung dieser Ergebnisse bezieht man sich aber meist wieder auf die institutionell bereits geformte, statistisch erfaßte Population eben dieses produzierten und produzierenden Handlungsfeldes als Vergleichsgröße und schafft sich somit eine eigene Maßtabelle der Norm. Es entgeht den Pädagogen, daß ihr Untersuchungsobjekt zum einen bereits durch die verschiedenen institutionellen Handlungsfelder und der darin praktizierten Maßnahmen und zum anderen durch die Methode der Erhebung und des dahinterstehenden Erkenntnisinteresses und der Theorie in spezifischer Weise formiert und wahrnehmbar gemacht wird. Sie sind in dem von ihnen selbst geschaffenen Feld gefangen, bewegen sich nur in dem von ihnen selbst formierten Raum.

So vollbringt die heutige Sonderpädagogik eine doppelte Formation. Zum einen formiert sie im Bereich der pädagogischen Praxis den Schüler und zum anderen in der Art und Weise der Wissenserhebung eine Theorie, die die Praxis bestätigt. Der experimentelle Charakter der Wissenserhebung ist weitgehend verlorengegangen[22]. Allerdings hat sich die Legitimation der in der pädagogischen Beziehung stattfindenden, formierenden Eingriffe gewandelt. Standen diese bei Itard noch ganz im Dienste des experimentellen Beweises einer Theorie, so werden sie heute aus einer bestehenden Theorie begründet und durch institutionalisierte Sondermaßnahmen gefördert.

Im nächsten Kapitel soll nun aufgezeigt werden, daß an die Stelle einer Theorie, die das Verhältnis von Natur und Zivilisation zum Inhalt hat und als solche zum Anlaß des pädagogischen Experiments wurde, eine anthropologische Theorie vom behinderten Menschen getreten ist.

Am Beispiel der Theorie von Thalhammer[23] soll aufgezeigt werden, daß diese von den einzelnen Individuen absehend, gemeinsame Merkmale und generalisierende Kategorien sucht, und ein pädagogisches, anthropologisches Bild der ´geistigen Behinderung` entwirft, das die Begegnung mit dem Individuum bestimmt und einen weiteren Beitrag zur Formung eines ´geistigbehinderten Selbst` liefert, und daß der Wegfall des experimentellen Charakters die Form der im Verhältnis von Itard zu Victor herausgearbeiteten pädagogischen Beziehung im wesentlichen nicht geändert hat; das ´Fremdbleiben`, der Schüler als pädagogisiertes Objekt ist weiterhin ein zentrales Element der sonderpädagogischen Beziehung.

2. Hinter Thalhammers anthropologischem Bild von ´Geistiger Behinderung` verbergen sich formierende Eingriffe

Die formierende Wirkung einer sonderpädagogischen Theorie möchte ich exemplarisch an dem Ansatz von Thalhammer (1974) aufzeigen. Obwohl Bach als der exponierteste Vertreter deutscher Geistigbehindertenpädagogik gilt, wähle ich Thalhammer, da dieser ausdrücklich beabsichtigt, eine ´geistigbehindertengerechte` Pädagogik zu formulieren, die in ihrer Umsetzung es dem sog. ´Geistigbehinderten` ermöglichen soll, sich selbst zu verwirklichen; eine anthropologische Pädagogik, die vorgibt, formierende Eingriffe so weit wie irgend möglich zu unterlassen[24].

Die Ursache der ´Geistigen Behinderung` sieht Thalhammer in organischen Schäden. Bei der Beschreibung des ´Geistigbehinderten` zielt er unter pädagogischem Blickwinkel im Gegensatz zu Bach nicht nur auf die Lernverhaltensweisen des ´Geistigbehinderten` ab, sondern, weitergefaßt auf dessen kommunikative Fähigkeiten, die dann zum Anlaß der Errichtung einer sonderpädagogischen Praxis werden.

Die wechselseitige Kommunikation wird seiner Meinung nach durch die psychischen Dispositionen des ´Behinderten` durch sein ´Geistigbehindertsein` vorstrukturiert. Damit wird auch das Problem der Grade ´Geistiger Behinderung` zum Problem kommunikativer Beziehungen. Thalhammer unterscheidet in:

a. eindrucksfähiges Geistigbehindertsein (impressiv-kognitives Anderssein)

b. ausdrucksfähiges Geistigbehindertsein (expressiv-kognitives Anderssein)

c. gewöhnungsfähiges Geistigbehindertsein (habituell-kognitives Anderssein)

d. sozial handlungsfähiges Geistigbehindertsein (kommunikativ-kognitives Anderssein),

die das menschliche Erleben des ,Geistigbehinderten` konstituieren (vgl. Thalhammer 1974, S. 49 f.)

Ein Prozeß der Entstehung und damit der Veränderbarkeit der Kommunikationsfähigkeit liegt außerhalb des Blickfeldes. Fähigkeit zur Kommunikation wird nicht als Prozeß, als Ergebnis einer Entwicklung, sondern als statische, als durch das ´Sein` bedingte, als ein ´Konstitutiva` verstanden. Durch diesen Rückgriff auf den im weiteren noch darzustellenden anthropologischen Erklärungsansatz verschließt sich Thalhammer den Zugang zur Kommunikationstheorie und zur dynamischen Sichtweise von Behinderung.

Für ihn zeigt sich dieses ´Sein` in einer existentiellen Dimension ´Geistiger Behinderung` - gleichsam als ´anthropologische Konstante` - , die vor Eingriffen durch Dritte geschützt werden muß[25] und sich einer Sinndeutung entzieht (vgl. ebd. S. 31). Diese existentielle Dimension wird primär durch das ´kognitive Anderssein` konstituiert.

Thalhammer möchte dies nicht durch psychometrische, normbezogene Daten beschrieben wissen, da seiner Meinung nach "... kognitiv-andere Strategien der Selektion zu vermuten (sind - J. E.), um ´Komplexität reduzieren` zu können" (ebd. S. 38). Deshalb liefert er eine auf anthropologischen Daten beruhende Definition: "Geistige Behinderung bezeichnet diejenige Seinsweise und Ordnungsform menschlichen Erlebens, die durch kognitives Anderssein bedingt ist und die besondere lebenslange mitmenschliche Hilfe zur Selbstverwirklichung in individuellen Dimensionen und kommunikativen Prozessen notwendig macht" (ebd. S. 39)[26].

Zwei zentrale Glaubensakte dieses anthropologischen Ansatzes möchte ich hervorheben:

Zum einen begreift Thalhammer den ´Geistigbehinderten` nicht als einen gesellschaftlichen Menschen, sondern schreibt ihm ein Wesen zu, dem eine bestimmte Seinsweise entspricht[27]. Er möchte damit negativen Definitionskonstrukten und Dressurakten vorbeugen. Zum anderen aber sei das ´Wesen`, die ´Natur` besonders des ´Geistigbehinderten` zu schwach, um sich in dieser Gesellschaft eigenständig zu entfalten, sich selbst zu verwirklichen. Dazu bedürfe es besonderer beschützender Arrangements bzw. ist es die Aufgabe der Sonderpädagogik, für die Verwirklichung des ´geistigbehinderten` Menschen Sorge zu tragen. Durch diese theoretische Konstruktion verschafft sich die Pädagogik ihr Handlungsfeld. Ausgestattet mit dem Wissen über das Wesen des ´Geistigbehinderten` stellt sie an sich den Anspruch, diese Arrangements zu bilden (vgl. Anm. 25).

Sie soll einen Schonraum schaffen, in dem sich der ´Geistigbehinderte` selbstverwirklichen kann. Im Sinne der Kantschen Feststellung, "Erziehung habe beides zu berücksichtigen, nämlich sowohl, was der Mensch ist, wie auch, was er sein soll" (vgl. Straumann 1977, S. 4), wird ein sonderpädagogisches Programm gefordert, das die praktische Vermittlung von Gesellschaft bzw. deren sonderpädagogischen Teilbereichen und der Natur des ´Geistigbehinderten` zwecks seiner Selbstverwirklichung zur Aufgabe hat.

Wie soll nun die sonderpädagogische Theorie zu diesem Wissen über das Wesen des ´Geistigbehinderten` gelangen?

Die Bestimmung des Wesens der ´Geistigen Behinderung`, die Füllung eines theoretisch-philosophischen Konstrukts, fußt auf empirischen Erhebungen, die aber nach Thalhammer wohl nur an einigen wenigen Kriterien und Konstitutiva ablesbar und eruierbar erscheinen (vgl. Thalhammer, a.a.0., S. 11). Er fordert daher, daß der datenkoordinierenden Disziplin einer sonderpädagogischen Anthropologie "... eine Schlüsselposition zuerkannt werden muß" (ebd. S. 13).

Präzise Angaben, durch welche wissenschaftlichen Verfahren man dem Wesen auf die Spur kommen könnte, macht er nicht. Für sich löst er dieses Problem, indem er durch Umdeutung der geringen Intelligenz des ´Geistigbehinderten` in ´kognitives Anderssein` diese neue Bezeichnung irrigerweise zum empirisch fundierten anthropologischen Merkmal erklärt. Er übersieht nämlich, daß auch dieses Merkmal erst an dem gesellschaftlichen, d.h. bereits ´erzogenen` Menschen empirisch erhoben werden kann. Der Mensch, der schon jahrelang in der Rolle des ´Geistigbehinderten` gelebt hat und sonderpädagogischen Maßnahmen ausgesetzt war, dient ihm als Beweis für das ´kognitive Anderssein`, für das besondere Wesen des ´Geistigbehinderten`. Dieser unkritische Zirkelschluß erlaubt Thalhammer die Gliederung in ´intelligenzstrukturelle`, ´kommunikative` und ´existentielle` Konstitutiva von ´Geistiger Behinderung` (vgl. Thalhammer 1974, S. 31) und führt zur statistischen Auffassung von Kommunikationsfähigkeit.

Auf diesen Annahmen aufbauend können dann scheinbar logisch kausale Argumentationsketten zur Fundierung einer Pädagogik und Didaktik gebildet werden, deren Ausgangspunkt auf der Vorstellung fußt, was ist, ist durch das Wesen begründet, und nicht auf einer relativen Haltung: was ist, ist möglich, aber es ist nicht kausal notwendig, daß es ist.

Somit basiert ein wesentlicher Aspekt der anthropologisch-sonderpädagogischen Theorie auf mehr oder weniger unwissenschaftlichen Alltagserfahrungen und Werthaltungen. Die Wissenschaftlichkeit wird durch Glaubensakte ausgeschaltet bzw. durch deren Zirkelschlüsse Selbstbestätigung suggeriert.

Zum anderen wird Einverständnis darüber benötigt, welche Erziehungseinflüsse zur Verwirklichung bzw. Verhinderung des Wesens beitragen. Demnach gibt es ´positive` Erziehungseinflüsse, die das Wesen zum Vorschein bringen, und ´negative`, die es verdecken. Da das Wesen nach wie vor mangelhaft eruierbar ist, stehen bei der Unterscheidung von ´gut` und ´böse` den Werthaltungen der Pädagogen Tür und Tor offen. Die Werthaltungen des Pädagogen spiegeln sich in dem,was sein soll, d.h. in dem, was er für die Vervollkommnung des konstruierten ´Wesens` des ´Geistigbehinderten` hält, wider. Die Pädagogik wird zur Moral- und Glaubensfrage. D.h., nur der, der rechten Glaubens ist, vermag die richtigen, dem ´Geistigbehinderten` zur Selbstverwirklichung verhelfenden erzieherischen Maßnahmen zu treffen. Einer wissenschaftlichen Diskussion ist dieses Theoriefundament damit schwer zugänglich[28].

3. Die formierende Wirkung sonderpädagogischer Theorie

Thalhammer (1980, S. 67) redet der bekannten Kantischen Erziehungsnotwendigkeit das Wort, daß nämlich erst durch die Erziehung der Mensch zum Menschen wird. Bezieht man diesen Satz auf den ´Geistigbehinderten`, der sich ja nicht in einem von der Gesellschaft isolierten Raum bewegt, sondern spezifische Erziehungsmethoden, bestimmten formierenden Prozessen unterworfen ist, könnte man die Schlußfolgerung Kants, daß der Mensch nichts ist, als was die Erziehung aus ihm macht, auch folgendermaßen formulieren:

Der ´Geistigbehinderte` ist nichts, als was die Erziehung aus ihm gemacht hat. So gesehen ist auch in Thalhammers Theorie die formierende Wirkung der aus ihr destillierten pädagogischen Arrangements bereits angelegt. Ist es bei anderen Theorien der´Geistigen Behinderung` das Diktat der Norm, der ´Normalen`, welche Formierungsprozesse organisieren, so ist es bei Thalhammer das Diktat eines für sich bestehenden Wesenstyps. In jedem Fall wird eine dynamische Sichtweise, derzufolge das ´geistigbehinderte Selbst` Ergebnis eines Sozialisationsprozesses ist, hintertrieben.

Die Sonderpädagogik der ´Geistigen Behinderung` behauptet so, Wissen über das ´Wesen` des ´Geistigbehinderten` zu besitzen. Von diesem Wissen geleitet und autorisiert, begegnet der Pädagoge dem zu erziehenden Kind. Er versucht, durch extreme Erziehungsbemühungen auf die Entwicklung der seelisch-geistigen Gesamtsituation, auf die Selbstverwirklichung und Anpassung hinzuwirken.

Zugleich aber bedarf der ´Geistigbehinderte` laut Aussage der Theorie sein Leben lang Schutz, Hilfe und Unterstützung und bleibt aufgrund seiner Unfähigkeit, verantwortungsvoll zu handeln, für immer Objekt intensiver, erzieherischer Fürsorge. Dadurch fühlt sich der Pädagoge verpflichtet, ´im Innenverhältnis die Verantwortung` (Braunmühl 1975) zu übernehmen. "Wer (aber, Anm. d. Verf.) für einen anderen Menschen im Innenverhältnis die Verantwortung zu tragen meint/beansprucht, erhebt de facto einen totalen/totalitären Herrschaftsanspruch"(Braunmühl 1975, S. 204)[29].

In der Beziehung des Sonderpädagogen zu seinem Schüler verknüpfen sich demnach pädagogisches Wissen und Verantwortung, die Ausübung von Herrschaft bedingt und Erziehung zur Anpassung initiiert.

Für das Gelingen der Anpassung trägt der Pädagoge gegenüber der Gesellschaft die Verantwortung, die in der pädagogischen Beziehung zusammen mit der im Innenverhältnis für einen anderen übernommenen Verantwortung ihre Wirkung in Form ständiger Kontrolle und Überwachung entfaltet.

Zu diesen beiden, die pädagogische Beziehung bestimmenden Faktoren Verantwortung und pädagogisches Wissen über die ´Geistige Behinderung`, gesellt sich die pädagogische Einstellung. Ihr liegt immer eine Unzufriedenheit mit dem zu erziehenden Kind zugrunde. Sie basiert immer auf einer Ambition, die auf eine Veränderung des ´Objekts` abzielt (vgl. Braunmühl, a.a.0., S. 127), und zwar in Richtung auf eine Verringerung der Abweichung von der Norm. Aber über dem Nachkommen dieser Ambitionen vergißt man das Kind. Denn wie kann man ein Kind akzeptieren, wenn man gezielt auf seine Veränderung hinwirken will? Sonderpädagogische Einstellung und Akzeptieren einer zu erziehenden Person sind unvereinbar. So werden durch die pädagogische Einstellung Formierungsprozesse eingeleitet, die gerade durch das Nicht-Aktzeptieren einer Person, des Subjektseins des Anderen eine Situation verhindert, die dem Anderen Raum für eine Selbstdarstellung gewährt[30].

Da man im Auftrag der ´Natur` und des pädagogischen Ethos handelt, die Verantwortung für einen anderen im Innenverhältnis zu tragen, übersieht man, daß das zugrundeliegende Menschenbild und die es stützende Theorie, die ja gerade die Übernahme der Verantwortung und das Herrschaftsverhältnis mitbedingen und legitimieren, als ein formender Prozeß auf den zu Erziehenden und auf den Erzieher einwirken.

Ein statischer Mensch wird geschaffen. Denn zur Errichtung einer ´behindertengerechten` Lebenswelt geht man von dem mehr oder weniger durch statistische Erhebungen gewonnenen Konstrukt der ´Geistigen Behinderung` aus. Dieses Konstrukt spiegelt durch seinen statistisch-nivellierenden, verallgemeinernden und abstrakten Charakter das Bild eines statischen, unveränderlichen Menschen mit ganz spezifischen Eigenschaften vor.

Unter Bezug auf diese generalisierende Kategorie Mensch errichtet man eine statische Umwelt, in der jeder Milieuwechsel höchstens in der Vertauschung verschiedener beschützender Milieus mit gleicher Grundstruktur besteht. Hier wird der Betroffene gefangengehalten und erstarrt allmählich zum nun wirklich gewordenen Konstrukt des ´Geistigbehinderten`.

Ebenso werden die in dieser Welt stattfindenden Interaktionen von diesem Menschenbild geprägt. Es schreibt eine Perspektive vor, die die gesamte Wahrnehmung des Pädagogen u. ä. formiert.

Wenn Thimm fordert, daß die Umkehrbarkeit der Perspektiven der Interaktionspartner und die Gelegenheit zur Selbstdarstellung eine Grundvoraussetzung nichtgestörter Interaktionsbeziehungen ist (vgl. Thimm 1980, S. 81), so wird gerade dies durch das pädagogische Wissen, seine Intention und durch die Konstruktion eines ´geistigbehinderten Wesens` bzw. einer ´seelisch-geistigen Gesamtsituation` blokckiert. Somit birgt die Beziehung zwischen dem Sonderpädagogen und dem ´Geistigbehinderten` die Ursache für eine gestörte Beziehung schon in sich. Der Sonderpädagoge glaubt aufgrund seiner Theorie, die Perspektive und Intention der Handlung des anderen bereits zu kennen, und überhört oder mißversteht dabei die verzweifelten Versuche des anderen, seinen Anspruch auf Mitgestaltung der Interaktion durchzusetzen.

Die Interaktionspartner bleiben sich, wie schon bei Itard, fremd. Der Lehrer nimmt das Kind nur als ´geistigbehinderten` Schüler wahr und formt es gerade zu diesem auf Grund seiner Macht. Die von einem solchen Bild beherrschte pädagogische Beziehung wird zu einer imaginären Beziehung mit realer Wirkung. Der Pädagoge begegnet dem ´Zögling` und nicht dem Menschen. Er bemächtigt sich des Körpers des zu Erziehenden und errichtet in diesem ein reales Abbild des von ihm erzeugten Konstrukts ´Geistige Behinderung`.

In jeder Beziehung ist der ´Geistigbehinderte` Schauplatz, Objekt und Aktionsraum zugleich. Er ist Schauplatz für kontroverse Theorien der Geistigbehinderten`pädagogik. Er ist Objekt der Wissensfindung der Wissenschaft. Er ist Objekt in der Testsituation, in der es nicht um das Finden der Wahrheit, sondern um das Wiedererkennen des Wissens an einem Untersuchungsobjekt geht. Durch Diagnose und Definition wird erst ein pädagogischer Aktionsraum geschaffen in dem der ,´Geistigbehinderte` Objekt eines Erziehungsprozesses ist, der in keinem anderen pädagogischen Bereich so total und entmündigend ist.

Die Folgen dieser die Person total vereinnahmenden, formierenden Prozesse, habe ich bereits beschrieben. Der Aufbau eines ´bürgerlichen Selbst` (Goffmann 1972) wird verhindert, die Produktion eines ´geistigbehinderten Selbst` durch sonderpädagogische Fördermaßnahmen fortgeführt. Es entsteht der pädagogisierte ´geistigbehinderte` Mensch, die Imagination wird sozial wirklich. Möglichkeiten alternativer ´Produktionen` werden negiert. Die geschaffene soziale Wirklichkeit, die Erscheinungsform ´Geistige Behinderung` wird als natürlich, als ´Behinderung an und für sich`, begriffen und erlebt[31].

Die Konstruktion eines ´geistigbehinderten Wesens` als andere Erscheinungsform des ´Menschseins` scheint perfekt und verschleiert die formierenden Prozesse. Sie wirft den ´Geistigbehinderten` auf sich selbst zurück, individualisiert ihn und verhindert Fragestellungen, die den historischen Prozeß der Entstehung von ´Geistiger Behinderung` betreffen.

Da man ,Geistige Behinderung` im wesentlichen nicht als Prozeß, als Zusammenspiel biologischer und gesellschaftlicher Faktoren versteht, sondern als ´Wesen`, für das bestimmte Verhaltens- und Erscheinungsweisen kennzeichnend sind, entledigt man sich schwieriger und beunruhigender Fragestellungen und Aufgaben. Hat man bereits das Wissen über eine bestimmte Kategorie ´Mensch`, kann man standardisierte Wiedererkennungsverfahren eines Wissens (Tests) durchführen und erspart sich den schwierigen Prozeß der Wahrheitsfindung. Es stellt sich nur noch die Frage: Ist der Mensch ´geistigbehindert` oder nicht? Aber Fragen wie: Wieso und wozu verhält sich die Person ´geistigbehindert`? werden nicht gestellt, sind nicht im Bewußtsein. In diesem Moment müßte der Pädagoge nämlich bereit sein zu akzeptieren, daß das Verhalten des Kindes einen Sinn innerhalb eines Kommunikationsbereichs haben könnte. Er müßte sich daher eingestehen, daß er trotz Theorie und fachlicher Ausbildung von diesem Kind praktisch nichts weiß und nur das Kind den Sinn und die Funktion seines Verhaltens zusammen mit einem Anderen entschlüsseln könnte. Der Pädagoge müßte seine pädagogischen Allmachtsphantasien und Verantwortungsgefühle, seine ´Besserwisserei`, die gerade bei ´Geistigbehinderten` durch ihren Widerstand auf eine harte Probe gestellt werden, begraben und bereit sein, sich auf das Kind einzulassen und notfalls, wie Bettelheim sagt, ´in seine eigene Hölle hinabsteigen`, d.h. bereit sein, sich mit seinen eigenen Ängsten und Abgrenzungsmechanismen zu konfrontieren und auseinanderzusetzen.



[3] Bei der nun folgenden Darstellung stütze ich mich vor allem auf die Werke Harbauer/ Lempp/Nissen/Strunk: Lehrbuch der speziellen Kinder- und Jugendpsychiatrie (1976) und Arns/Jochheim/Remschmidt: Neurologie und Psychiatrie für Krankenpflegeberufe (1978), da diese für die medizinische Ausbildung von Sonderpädagogen, zumindest an der Universität Marburg, hauptsächlich verwendet werden.

[4] Um das für die Oligophrenie grundlegende Symptom des Schwachsinnszustandes herausarbeiten zu können, muß der Patient durch Selektion bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten reduziert, bzw. als Bruch aufgefaßt und solange gekürzt werden, bis der "... gemeinsame Nenner ... die gering ausgebildete Intelligenz ist" (Arns et al. 1978, S. 216). Mit Hilfe von Intelligenztests lassen sich diese ´Minusvarianten der Merkmalsausprägung Intelligenz` (vgl. Arns et al. 1978, S. 180 f.) noch weiter differenzieren. Die Weltgesundheitsorganisation gibt folgende Richtlinien: Debilität IQ 69 - 50, Imbezillität IQ 49 - 20, Idiotie IQ 19-0. Eine verblüffende Reihung: mit ´zwanzig Meilen Schritten` verändert sich der Mensch. - Die Zahl verliert ihre Unschuld. Sie wird zum Träger der Norm und Ausdruck der Abweichung von der Norm. Indem die Zahl immer eine Relation zur Normalität darstellt, gewinnt sie einen wertenden Charakter. Hinter der Abstraktheit und Objektivität der Zahl, die als solche die vermeintliche Meßbarkeit und Quantifizierbarkeit von Intelligenz vorgibt, verbirgt sich die Moral und die Macht der Norm (vgl. Foucault 1977, S. 229 ff.). Diese moralisierende Mathematisierung des Menschen scheint allgegenwärtig.

[5] "... der hier zugrundegelegte statistische Normbegriff (vermag) keineswegs alle ´Normprobleme` zu lösen .... Wenn man z.B. versucht, psychische Gesundheit zu definieren, so gelingt dies nicht ohne Rückgriff auf eine ideale Norm. Derartige Probleme und Schwierigkeiten, in gewissen Bereichen zu einigermaßen haltbaren Normen zu kommen (dies gilt besonders für die Kategorisierungsversuche der Persönlichkeit, Anm. d. Verf.), dürfen jedoch nicht dazu führen, auf den Begriff der Norm aufbauende diagnostische Kategorien gänzlich über Bord zu werfen" (Arns et al. 1978, S. 181 f.).

[6] Hinter dieser konjunktivistischen Argumentationskette steckt die Vision, den Menschen in Schubladen zu stecken, ihn einzuteilen und damit für verschiedene Zwecke verfügbar zu machen. "Obwohl wir nun die Gefühlansprechbarkeit nicht genau messen können, weiß doch jeder aus der alltäglichen Erfahrung, daß es Menschen mit stärkerer oder geringerer Gefühlsansprechbarkeit gibt. Abweichungen von einer uns vorschwebenden Durchschnittsbreite nennen wir auch hier ´abnorme Varianten`". (Arns et. al. 1978, S. 181 f.).

[7] Zugleich leitet diese quantitative Metaphorik die Art und Weise der Hilfeleistung an, die als Ziel ihrer mühevollen Arbeit die Verringerung des Abstandes von der Norm postuliert. Hiermit wird in Verbindung mit der Symptomatologie, die Norm und statistische Häufigkeit verbindet, A-Normales und Seltenes verknüpft, dem ´Geistigbehinderten` das abgesprochen, was den Menschen auszeichnet: die normsetzende Tätigkeit selbst.`

[8] vgl. hierzu Mannonis Herangehensweise an das Phänomen der ´Debilität` (Mannoni 1972).

[9] Im Bezug auf die engere soziale Umwelt des Kindes besitzt die Prognose die verschaltende Wirkung, da von ihr die entscheidensten Veränderungen ((Wieder-)herstellungsmaßnahmen) ausgehen. Allgemein gesehen, beginnt mit der Diagnose die Zuschreibung einer ´aktuellen sozialen Identität` (Goffmann 1975). Dieser Akt ist aber nur die Spitze des Eisberges, denn die Zuschreibung beginnt bereits mit der Konstruktion einer spezifischen ´sozialen Identität` des ´Geistigbehinderten` durch die Errichtung der Kategorie ´Oligophrenie`, eines kompletten Satzes von Attributen, der diesen Menschentyp kennzeichnet, für eine spezifische Form der Abweichung von der gesellschaftlichen Norm. Bereits mit der normorientierten Selektion von Merkmalen, das die Kategorie produziert, liegt der Anfang. Aufgrund ihrer Öffentlichkeit, ihrer Gültigkeit für alle Lebensbereiche und ihrer negativen Diskrepanz von einer antizipierten, allgemeinen, normorientierten ´virtualen sozialen Identität` (Goffman 1975) kommt diese Kategorie einer stigmatisierenden ´sozialen Identität` gleich.

[10] vgl. hierzu die Untersuchungen von Bonde.

[11] In der ´Lebenshilfe Zeitung` Nr. 3, 1989, wird unter der Überschrift: "Vormundschaft und Pflegschaft, Die Schutzinteressen des Behinderten haben Vorrang", die Entrechtung des Behinderten unter dem Deckmantel des Schutzes propagiert. Der Antrag auf Entmündigung oder Pflegschaft braucht nur noch ausgefüllt und ausgeschnitten zu werden. Was hier als umfassender bzw. partieller Rechtsschutz verkauft wird, garantiert die lebenslange Erziehung, Abhängigkeit und ´Knechtung` des sog. Behinderten. "Lebt er z.B. in einem Wohnheim, arbeitet er in einer Werkstatt (d.h. außerhalb des elterlichen Machtbereichs, was eine gewisse Autonomie ermöglicht - J. E.) und hat er möglicherweise eigenes Vermögen, so wird auf jeden Fall eine Vormundschaft angebracht sein. ... Bei leichter geistig Behinderten, die außerdem relativ antriebsarm sind (d.h. die nicht auf eigene ´dumme` Gedanken und Wünsche kommmen - J. E.) wird man sicher mit einer Pflegschaft auskommen, bei der dem Pfleger die Sorge für alle Vermögensangelegenheiten sowie das Recht zur Aufenthaltsbestimmung übertragen wird. Wichtig ist, daß für den ´Ernstfall` (die militärische Ausdrucksweise könnte zu Mißverständnissen führen; ist hier vielleicht ein Erziehungskrieg zwischen Behindertem und Mündigem gemeint? - J. E.) vorgesorgt, also eine dieser Maßnahmen eingeleitet wird, und zwar so frühzeitig, daß gleich mit Eintritt der Volljährigkeit der Behinderte wieder einen gesetzlichen Vertreter erhält" (Lutter in LHZ, 3/80, S. 56).

[12] Hier kann nicht auf die historische Bedeutung des Falls Victor, auf seinen Stellenwert für die damalige wissenschaftliche Forschung eingegangen werden. Es geht vielmehr darum aufzuzeigen, daß für die damalige Zeit umwälzende wissenschaftliche Vorgehensweisen und Formationen in der heutigen Pädagogik wiederzufinden sind.

[13] Ich schreibe ´wild` in Anführungszeichen, da es sich nach der Ergreifung Victors und seiner Einführung in die Zivilisation nur noch um die Simulation eines Wilden handelt.

[14] Itard - angeleitet von der Philosophie der Sensualisten und der Ideologues (Condillacu.a.) - vertrat nun die Hypothese, daß der Mensch ".. nichts weiter ist als das Ergebnis der Zivilisation, die ihn durch eine große und mächtige Triebfeder über die anderen Tiere erhebt" (Itard 1972, S. 161). Itard glaubte, in dem ´wilden` Victor die lebendige Verkörperung der Statue Condillacs - sie beschreibt den Menschen im natürlichen Zustand - zu

erkennen, die nur ´erweckt` und mit Affekten und Ideen ´erfüllt`, sensibilisiert werden müßte (vgl. Moravia 1977, S. 97).

[15] Der Nachweis der Stetigkeit ist Voraussetzung für den Siegeszug der Norm. Sie ermöglicht, von Verfahren des Ausschlusses von Menschen zu Verfahren der Anpassung überzugehen.

[16] Diese Festlegung eröffnete Itard ein Handlungsfeld für massive moralisch-medizinische Eingriffe in das Leben des ´Wilden`. Sie ließ ein neues pädagogisches Handlungsfeld entstehen, das die ´Erziehung` des ´Wilden`, seine Anpassung an die Zivilisation und die Bestätigung der Theorie zum Ziel hatte. Itard stellte sich die Aufgabe, eine ´totale Pädagogik` (vgl. O. Mannoni 1972, S. 224) zu schaffen, "... die dem natürlichen Menschen (wie Itard sagt - J. E.), ´dem schwächsten aller Tiere`, die ... ´unberechnete` Summe der Kultur übermitteln würde" (ebd., S. 224). Er erstellte einen ´moralisch-medizinischen` Erziehungsplan (vgl. Itard, a.a.0., S. 123 ff.), der sich auf die Theorien Condillacs, auf die Physiologie Cabanis` und auf die moralische Medizin und therapeutische Praxis Pinels stützte.

[17] Auch die Verhaltenstherapie versteht es, den Zögling gefügig zu machen, indem sie ihm durch Nahrungsentzug an den Lebensnerv geht. So soll z.B. über den Hunger die Motivation des Kindes zur Mitarbeit erhöht werden (vgl. Kane 1976, S. 56).

[18] Indem man Victor als einen Menschen in wildem, d.h. natürlichem Zustand bezeichnete, dem Erziehung, der positive Einfluß der Zivilisation, fehlte, ihn somit als ´tabula rasa` oder m.a. W. als ein negatives Pendant des Ideals, der Zivilisation definierte, wurde er formbar. Man betrachtete ihn als ´natürliche Rohmasse`, die den von der Theorie bestimmten formenden Eingriffen ausgesetzt werden mußte, damit ein zivilisierender Mensch entstehe.

[19] Da Itard von Victor keinen eigenen Beitrag, sondern nur ein Funktionieren im Sinne der Theorie erwartete, war er blind für Ereignisse, die sich außerhalb der erzieherischen Situation ergaben. Genauer gesagt: "Alles was sich zwischen Victor und (seiner Gouvernante- J. E.) Frau Guerin abspielte, bezeichnet Itard als ´Kindereien"." (M. Mannoni 1976, S. 157); d.h. der Bereich, in dem Victor nicht den strukturierenden therapeutisch-didaktischen Maßnahmen ausgesetzt war, sondern Möglichkeiten zu eigenem, spielerischem und autonomem Handeln hatte, werden als unwesentlich erachtet. Itard "... setzte den Ernst der Erziehung dagegen" (Itard, a.a.0., S. 157).

[20] Obgleich sein Versuch, Victor zu zivilisieren, scheiterte, wurden seine pädagogischen Ideen und Techniken und die experimentelle Methode der Wissenserhebung von späteren Heilpädagogen wie Maria Montessori, Seguin u. a. übernommen.

[21] Die unauflösliche Dreieinheit von Subjekt, Objekt und Methode wurde erst viel später entdeckt.

[22] Thimm (1975, 1979, 1980), Wöhler (1978) versuchen, von einem soziologischen Ansatz ausgehend, die Gruppe der ´Geistigbehinderten` zu sprengen. Sie sind bestrebt, abstrakte, entindividualisierende Klassifizierungen aufzubrechen. Die durch das ´Laiensystem`, ´Ärztesystem` und ´Nichtschulische Diagnose- und Therapiesystem` fortgeschrittene Schließung der Behindertenrolle auf einen ´harten Kern`, bzw. die Verengung auf einen individuell bedingten Behinderungsbegriff soll aufgehoben werden (vgl. Wöhler, 1978, S. 142 ff.). Von dieser Sichtweise aus könnten Ansätze für neue ´Experimente` gewonnen werden; aber in dem Sinne, daß der ´Behinderte` an der Zielbestimmung am wesentlichsten beteiligt ist und die Hypothese in der Behauptung liegt, daß aufgrund sozialer Faktoren Fähigkeiten in ihrer Entwicklung behindert worden sind.

[23] Thalhammers anthropologischer Ansatz wurde ausgewählt, da dieser die Notwendigkeit einer sonderpädagogischen Theorie und Praxis am nachhaltigsten zu begründen versucht.

[24] Bei Bach lassen sich die formierenden Eingriffe einfacher aufzeigen: Er entwirft in seiner Theorie das weitgehend statische, defektorientierte Konstrukt ´Geistige Behinderung`, das vorgibt, einen bestimmten Menschentyp mit besonderer ´seelisch-geistiger Gesamtsituation` zu beschreiben. Für ihn stellt sich als zentrales Element dieses Konstrukts neben der verminderten Intelligenz (IQ 60 +/- 5 ! !) spezifische Lernverhaltensweisen dar, deren ´Besonderheiten` nur unter Bezug auf die Norm dargestellt werden können (vgl. Bach 1974, S. 19). Die Kenntnis dieser besonderen Lernverhaltensweisen bzw. Lernfähigkeiten ist für ihn die Voraussetzung und zugleich Anknüpfungspunkt für ´behindertengerechte` formierende Eingriffe. Er sucht ausschließlich Daten für die Errichtung einer optimalen Beschulung, einer lernzielorientierten Wissensvermittlung, wobei das ´Optimale` von Erzieher und Gesellschaft festgesetzt wird. Ausschlaggebend für pädagogische Maßnahmen ist allein die Tatsache der Abweichung von der Norm und nicht die Frage nach der möglichen Genese. Die Verringerung der Abweichung wird zur päd. Aufgabe, zu erreichen durch optimale Beschulung. Die Verringerung der Abweichung des ´Geistigbehinderten` wird dann zum rein technischen Problem. Es stellt sich nur die Frage, mit welchen Mitteln, und unter welchen Schwierigkeiten verändere ich einen Menschen, so daß seine Auffälligkeiten verschwinden, bzw. wie transformiere ich eine Person im Zustand der Abweichung zu einer Person im Zustand der ´Normalität`. Bachs Theorie könnte sich somit aus ihrer Funktion erklären lassen, als Auftragsarbeit für bestehende und weiterbestehenwollende Institutionen. So wird die Frage, ob Beschulung das Optimale ist, nicht in Frage gestellt. Andere Sichtweisen von Behinderung sind nicht von Interesse.

[25] Darf ein Zweiter mit rechtem Wissen und guten Absichten eingreifen? Könnte es nicht im Rousseauschen Sinne der Pädagoge sein, der stellvertretend für die behinderte Natur zwecks Vervollkommnung in die Welt jenes Ersten einzugreifen berechtigt ist?

[26] Die Definition des ´kognitiven Andersseins` beinhaltet eine reduzierte Wirklichkeit, einen Hinweis auf spezifische menschliche Modalitäten wie Seinsweise, Ordnungsform und Selbstverwirklichung. "´Kognitives Anderssein` umschreibt die Situation desjenigen Menschen, der in seinen intellektuellen Systemen anders strukturiert erscheint" (Thalhammer 1974, S. 40).

[27] Diese pädagogische Anthropologie "... reduziert mit ihrer Frage nach der Natur, Mündigkeit, Emanzipation des Menschen Gesellschaft auf das individuelle Bedürfnis; sie psychologisiert die sozialen Verhältnisse. Sie thematisiert den Menschen, aber nicht den gesellschaftlichen Menschen. Wenn er gesellschaftlich auftritt, ist der Mensch in Beziehung gesetzt; er ist in eine Beziehung versetzt, die nicht - wie laufend supponiert - das beziehungslose Individuum ist, was gar nicht existiert, sondern er ist die Beziehung zwischen Individuen selber" (Straumann 1977, S. 10).

[28] Brezinka schreibt hierzu: "Rein wissenschaftlich gesehen kann man über technologische Probleme leichter zu einer Verständigung gelangen, als über weltanschauliche Aussagen zur Natur des Menschen oder zu den Zielen der Erziehung. Technologische Aussagen sind Wenn - Dann Aussagen; d.h. Gesetzeshypothesen, die sich empirisch prüfen lassen. (´Wenn unter bestimmten Bedingungen vom Erzieher so und so gehandelt wird, dann wird im Educandus das und das eintreten`). Hier sind also dogmatische Behauptungen ganz unangebracht" (Brezinka in Braunmühl 1975, S. 115).

[29] Nach Moor ist das Ziel der Erziehung "... der Aufbau eines inneren Haltes im Kinde wo dieser innere Halt sich nicht vollenden kann, weil das Gegebene dazu nicht ausreicht - die Ergänzung des inneren Haltes durch den äußeren Halt, das heißt durch den Halt am inneren Halt der Umgebung des Kindes" (Moor 1958, S. 13). Da der innere Halt des ´Geistigbehinderten` der verminderten ´Kraft des Wollens` und der verringerten ´Empfänglichkeit des Gemüts` entspringt und daher bei ihm zu schwach ist, braucht er den ´äußeren Gehorsam`, "... auf Grund welchem er sich führen läßt" (ebd. S. 315).

[30] Das Gelingen einer Selbstdarstellung ist für Thimm (1980) eine Grundvoraussetzung für eine nicht gestörte Interaktionsbeziehung.

[31] "Jedes ´Menschenbild` ist falsch, wenngleich es natürlich Folgen hat" (v. Braunmühl, a.a.0., S. 114), und diese Folgen werden nicht als solche erkannt, sondern als Ausfluß des Wesens interpretiert.

III. Das ´geistigbehinderte Selbst` - ein Produkt aus Formierungsversuchen der Umwelt und der Gegenwehr des Betroffenen

Betrachtet man nicht allein das Kind sondern berücksichtigt seine auf ihn einwirkende Umgebung, so ist festzustellen, daß sich von dem Diagnostizierungszeitpunkt an die Lebenswelt des Kindes schlagartig verändert. Von da an ergreifen abnorme formierende Erziehungsmaßnahmen das Kind. Nun ist es zuallererst das familiale Feld mit einer durch Diagnose und Prognose veränderten Struktur, dem das Kind ausgesetzt ist. Um die darin wirkenden Formierungsprozesse und deren Angriffsstellen darstellen zu können, werde ich im folgenden die kindliche Aktivität in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Es soll zum einen untersucht werden, zu welchen spezifischen Erscheinungsweisen die ursprüngliche Aktivität des neugeborenen Kindes durch besondere erzieherische Einflüsse und durch bestimmte Arrangements der Umwelt geformt wird, und zum anderen welche Funktion dieser Aktivität in ihren verschiedenen Ausformungen zukommt.

Es gilt aufzuzeigen, daß die für die ´normale` Erziehung typischen Transformationsprozesse der kindlichen Aktivität bei der Erziehung ´Geistigbehinderter` unterbunden bzw. gehemmt werden und die für ´Geistigbehinderte typischen Verhaltensformen` als Gegenwehraktivitäten verstanden werden können.

A. Von der ´ichbezogenen` Aktivität des Kindes zur Wechselseitigkeit

Zwei Annahmen sind für die nachstehenden Überlegungen entscheidend; zum einen die Aussage von Montague: "Die Konstitution des Menschen weist wenig Endgültiges auf, da diese Konstitution mehr Prozeß denn unveränderliche Ganzheit ist. Kurzum, ... die Konstitution ist keine biologisch vorgegebene Struktur, die durch ihren Genotyp auf eine im voraus festgelegte Weise funktioniert. Die Funktionsweise aller Genotypen ist festgelegt durch die Interaktion des Genotyps mit der Umwelt, in der er sich entwickelt." (Montague zit. in Bettelheim, 1977, S. 50, Hervorh. J. E.)

Zum anderen die Ansicht Bettelheims (1977), daß Kinder von Geburt an aktiv sind und die Kontrolle und Nutzbarmachung der Welt anstreben; daß sie als organische Wesen auf die Erhaltung ihres Lebens aus sind. Das Aktivsein des Kindes sei der Höhepunkt seiner Begegnung mit dem Leben (Bettelheim 1977, S. 19 f.).

Die ´Interaktion des Genotyps` mit seiner Umwelt wird so zu einem Teil durch die ´ichbezogene Aktivität` (Bettelheim 1977) des Säuglings, durch seine Versuche, die Welt seinen Bedürfnissen anzupassen bestimmt. Dieses Aktivsein ist aber der Zustand, der im Laufe der Sozialisation seine spezifische Formation erhält. Die ichbezogene Aktivität ist der notwendige Ausgangspunkt für Formierungsversuche, die auf eine Wechselseitigkeit[32] in der Mutter-Kind-Beziehung hintendieren.

Soll diese erreicht werden, muß der erste Teil dieses Prozesses mit der Errichtung einer einseitigen Beziehung beginnen.

Die Mutter versucht von Beginn an, mit dem Kind eine Wechselseitigkeit zu erreichen. Aber die Aktivitäten des Kindes sind zu dieser Zeit noch nicht als Mitteilungen zu verstehen. Es agiert nur aus eigenem Interesse. "Die Mutter paßt sich (´normalerweise` - J. E.) dem Säugling an, und diese Anpassung führt im Idealfall zur Befriedigung seiner und ihrer Bedürfnisse. Der Säugling dagegen paßt sich mit seinen sehr beschränkten Mitteln an - zu seinem eigenen Besten und ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Mutter." (Bettelheim, a.a.0., S. 33)

Aber gerade diese Einseitigkeit in der Beziehung, die durch die Anpassungsleistung der Mutter und die auf sich selbst bezogene Aktivität des Säuglings bedingt ist, ist ein wesentlicher formierender Faktor, der das spätere Zustandekommen einer Wechselseitigkeit ermöglicht:

Denn durch sein Aktivsein erfährt sich der Säugling selbst. Erfolg bzw. Mißerfolg seiner Bemühungen, der, und das ist letztendlich ausschlaggebend, von der Mutter entschieden wird, ist seine erste ´innere Erfahrung`, die für alle späteren Verhaltensweisen entscheidend sein kann. Scheitert er häufig daran, ungünstige Situationen zu verändern, kann das dazu führen, "... daß er aufgibt, Interaktionen zu entwickeln und sich der Passivität überläßt." (ebd. S. 20)

Dies kann nach Meinung von Bettelheim zu Hospitalismus, Autismus und Marasmus führen. "Erfolge (hingegen - J. E.) sind für alle seine späteren Versuche, selbstmotiviert zu handeln, entscheidend prägend" (ebd. S. 20)[33].

Diese verstärken die Aktivität und können zu gegenseitigem Geben und Nehmen, zu einer Wechselseitigkeit von Mutter und Kind führen.

Eine ebenso große Rolle wie das Aktivsein spielt sein Äußern von Emotionen. Denn zur Erreichung der Wechselseitigkeit "... genügt es nicht, auf die Umgebung hin zu handeln. Hinzukommen muß die Fähigkeit, Emotionen mitzuteilen und entsprechende emotionale Reaktionen zu erfahren. ... Und wenn uns von einem frühen Alter an die unseren Gefühlsäußerungen entsprechenden Reaktionen ständig versagt bleiben, hören wir auf, mit anderen zu kommunizieren und verlieren schließlich das Interesse an der Welt" (ebd. S. 31).

Die adäquate Beantwortung seiner Emotionen verhilft dem Kind darüber hinaus, seine Gefühle zu lokalisieren und ein rudimentäres Bewußtsein seines Körpers zu erlangen.

Ich halte es für wichtig, zu betonen, daß allein sein Handeln, sein Streben, die Umwelt beeinflussen zu können, sein Autonomieanspruch, nicht zur Wechselseitigkeit, zu späterer Autonomie und Handlungsfähigkeit führen kann, wenn nicht der entsprechende Wunsch der Mutter dem entgegenkommt und das Ergebnis ein interaktiver Prozeß ist (vgl. ebd. S. 41)[34]. In diese ersten Interaktionen fließen als wesentliche Faktoren die mütterliche Konstitution, ihr Selbstbild, ihre Erwartungshaltung, ihre gelungene Kompensation nach der Geburt u. ä. mit ein, die die Beantwortung der kindlichen Handlungen und deren Interpretation bestimmen und somit für die Qualität der Wechselseitigkeit ausschlaggebend sind. Akzeptiert die Mutter z.B. den Wunsch des Kindes, ihr beim Füttern zu helfen, bzw. es alleine zu versuchen, oder lehnt sie es aus Zeit- oder Reinlichkeitsgründen ab? Beginnt es daraufhin zu schreien, hält sie es dann für bockig oder böse oder erkennt sie darin seinen Wunsch nach Autonomie, oder etwa hält sie sich selbst für eine unfähige Köchin? Diese Reaktionen sind für das Kind von zentraler Bedeutung. Denn kann das Kind erleben, daß es durch sein Aktivsein die Welt beeinflussen kann, die Mutter zu steuern vermag, gelangt es zu einem Gefühl des Vertrauens in sich selbst und andere. "Wird der Säugling hingegen gehindert, in dieser Beziehung zur Mutter selbstaktiv zu werden, oder bewirkt sein Handeln keine Reaktionen, wird er, ein hilfloses Opfer innerer Anpassung, von ohnmächtiger Wut überwältigt. Nach Erikson (1958) ist diese Erfahrung der ontogenetische Ursprung des Gefühls für das Böse, ein ´grundsätzlicher Argwohn`, in dem sich mißtrauische Angst mit dem Gefühl der eigenen Unzuverlässigkeit verbindet" (ebd. S. 22).

Diese einseitige Beziehung ist somit die Voraussetzung zur Wechselseitigkeit. Die Anpassung der Mutter an die Aktivität des Kindes verstehe ich als eine wesentliche formierende Aktion, ohne die das Kind verloren wäre.

Die Bedeutung dieser einseitigen Beziehung, die unter bestimmten Voraussetzungen die Etablierung einer Wechselseitigkeit erlaubt, kann für die Errichtung eines ´Selbst` nicht hoch genug veranschlagt werden[35].

Denn durch diese einseitige Beziehung "... geht aus dem Ich, das lediglich agiert, ein Ich hervor, welches interagiert, welches auf andere reagiert und sich langsam bewußt wird, daß es die Reaktionen der anderen beeinflussen kann" (ebd. S. 31 f.). Nach Bettelheim unterscheidet sich dieses Geschehen von der selbstbeschränkten Tätigkeit des Beobachtens und Aufmerkens, obwohl das eine stark vom anderen abhängig ist. Diese Tätigkeiten bedingen keine Interaktion. Sie können von dem nur agierenden Kind wahrgenommen werden. Im Unterschied zum interagierenden Kind führen diese Tätigkeiten aber nur zur passiven Kontrolle der Umwelt und ermöglichen auf Grund der fehlenden Interaktion nicht den Aufbau eines ´Selbst` und seine Bewußtwerdung[36]. Dazu ist die emotionale Erfahrung notwendig, eine Art ´Selbst` zu besitzen, "... das handlungsfähig ist, ein ´Selbst` auch, das Verbindung zur reagierenden Umgebung unterhält" (ebd. S. 31 f.). Diese Bewußtwerdung kann nur über die Interaktion, über adäquate Antworten auf seine Aktivität gelingen. Das Gelingen dieser einseitigen Beziehung ist eine Voraussetzung dafür, daß der Säugling in kleinen Schritten lernt, "... seine Handlung auf seine Umgebung abzustimmen und darauf gewisse Reaktionen zu erwarten. Ist er darin erfolgreich, lernt er, daß einige Konsequenzen seiner Handlung vorhersagbar sind" (ebd. S. 36). Dies ist der Beginn der Überführung der Einseitigkeit in der Beziehung in eine Wechselseitigkeit.

Hier liegen die Anfänge für die Produktion eines ´bürgerlichen Selbst` (Goffmann), das im wesentlichen durch die Fähigkeit zur Umweltkontrolle, Selbstbestimmung, Autonomie und Handlungsfreiheit aufrechterhalten wird. Die Transformation von Aktion in Interaktion führt zu einer Wechselseitigkeit, die durch den Aufbau eines von Mutter und Kind geprägten Signalsystems seine charakteristische Form erhält (Mahler 1972). Auf der Basis einer so geformten Wechselseitigkeit wird das Kind fähig, sich als von der Mutter getrennt zu erleben. Große Bedeutung haben hier kontrollierbare Frustrationen und das Erlebnis selbstgesteuerten Defäkierens als produktiven, trennenden Akt (Bettelheim 1977). Jede neu zu erlernende Fähigkeit und ihre Beibehaltung und Vervollkommnung, z.B. die der Sprache, basiert auf der Qualität und Form der Wechselseitigkeit[37]. Sie ist es auch, die dem Kind, provoziert durch die entwickelte Lokomotorik, die Loslösung von der Mutter ermöglicht (Rotmann 1978; Bettelheim 1977). Voraussetzung für eine erfolgreiche Loslösung und Errichtung eines inneren Selbstbildes, für Erlangen von Autonomie und Empathie, ist die ´Erlaubnis` und Unterstützung der Mutter, ohne die das Kind in der symbiotischen dualen Beziehung gefangen bleibt und in seinem Autonomiestreben auf eine ichbezogene Agitation zurückgeworfen wird.

Ebenso wichtig wie die Hilfestellung der Mutter ist die Gegenwart einer dritten, weniger ambivalent besetzten Person, die sich dem Kind als Identifikationsobjekt anbietet und dadurch die auch angstbesetzte Loslösung von der Mutter erleichtert. Damit sind die Voraussetzungen für den Aufbau einer Drei- und Mehr-Personen-Beziehung und der späteren Beziehungsfähigkeit geschaffen[38]. Bleibt diese frühe Triangulierung aus, ist die Errichtung eines autonomen ´Selbst`, die Entwicklung zu einer handlungsfähigen Persönlichkeit gefährdet (Rotmann 1978).

Durch die oben beschriebenen Eingriffe und Einflüsse der Umwelt wird die kindliche Aktivität in Bahnen gelenkt, die zulassen, daß eine Wechselseitigkeit geschaffen wird, die im Laufe einer glücklichen Entwicklung des Kindes auf immer höheren komplexeren Niveaus stattfindet. Sie erhält ihre für unsere Gesellschaft typische Form. Aber dieser Formierungsprozeß gelingt nur dann, wenn dem Kind in diesem interaktiven Rahmen die Gelegenheit zur Erweiterung seiner Handlungsfähigkeit, zu vermehrten autonomen Handeln gegeben wird. Erfährt das Kind, daß interaktionsbezogene Fähigkeiten, die es erlernt hatte oder die es im Begriff ist zu erlernen, ihre Funktion, (nämlich auf die Umwelt einzuwirken) verlieren, wird es diese in der zwischenmenschlichen Beziehung aufgeben und sich im Extremfall der Wechselseitigkeit entziehen, sich gegen diese Formation wehren.

B. Diagnose und Prognose verändern die Formierungsprozesse und verhindern die Produktion eines ´normalen Selbst`

l. Die direkte formierende Wirkung der ´Urteilsverkündung`

Die sogar in unverschämter Weise mitgeteilte Diagnose ´Geistigbehindert`[39], die nach Bonde (1980) von den Eltern oft als Urteilsverkündung empfunden wird, versetzt diese in einen länger anhaltenden Schock- und Krisenzustand. Während diesem ist man wie "... gelähmt, weint vielleicht, fühlt sich in einer chaotischen Welt. Gefühle von Mißtrauen, Hilflosigkeit und Minderwertigkeit sind charakteristisch" (B. Bonde 1980, S. 161). All ihre Träume und Wünsche, die mit und in dem Kind lebten, sind zerschlagen. Die Eltern sind außerstande, sich mit dem Kind zu identifizieren und eine ausgeglichene emotionale Beziehung aufrechtzuerhalten. Besonders die Mutter wird sehr hart getroffen: die Gefahr einer wachsenden ablehnenden Haltung gegenüber dem Kind gewinnt scharfe Konturen. Doch bevor diese Ablehnung eine Gestalt annimmt, d.h. wenn die Mutter sich noch im Schockzustand befindet, wird die Mutter-Kind-Beziehung erschüttert. Der emotionale Rückzug vom Kind, die Unfähigkeit, die bereits vorhandene Beziehung auf gleichem Niveau und mit gleicher Intensität fortzuführen, oder, im Falle der frühesten Diagnostizierung direkt nach der Geburt, eine Beziehung aufzunehmen, kann formierende Wirkung haben. Denn bereits ein emotionaler Rückzug von Müttern organisch nicht geschädigter Kinder kann, wie Robertson (1964, 1977) aufzeigt, die Wechselseitigkeit verhindern und beim Kind Retardationen erzeugen[40]. Die Vermutung scheint berechtigt, daß Kinder, die mit einem organischen Schaden geboren wurden oder durch Krankheit benachteiligt sind, besonders auf die Unterstützung ihres Aktivseins bzw. Aktivseinwollens, ihres Autonomieanspruchs angewiesen sind, der Rückzug der Mutter bei diesen Kindern besonders verheerend sein wird.

Dem Kind ist es entweder nicht möglich, die Interaktion fortzusetzen, oder sein ichbezogenes Aktivsein, sein Streben nach Autonomie trifft nicht auf die Anpassungsbereitschaft der Mutter. In jedem Fall wird es in seinen Versuchen, die Welt seinen Bedürfnissen anzupassen, ständig enttäuscht, was nach Bettelheim zum Rückzug aus der zwischenmenschlichen Beziehung und zur Aufgabe bereits erlernter Fähigkeiten führen kann[41].

Das Dilemma des Kindes liegt in seiner ohnmächtigen Position. Es kann seine Forderungen nach Wechselseitigkeit und Autonomie (vgl. v. Braunmühl 1975, S. 169) nicht einklagen, sondern nur hoffen, daß sein Anspruch darauf berücksichtigt wird.

Aus Beobachtungen und Untersuchungen von Bettelheim (1977), und Rydberg (1978) läßt sich schließen, daß die Mitteilung der Prognose und Diagnose die Schlüsselstelle für die Formation der ´Geistigen Behinderung` darstellt. Sie zerstört schlagartig die wechselseitige Beziehung zwischen Mutter und Kind. Dieses Trümmerfeld wird nun Ausgangspunkt für die spezifische, von der Prognose beherrschte Sozialisation des ´Geistigbehinderten`:

  1. Überbehütung stört die Wechselseitigkeit

Nach Mannoni (1972) kann die Ablehnung des Kindes in Gestalt sublimer Liebe erscheinen[42]. Diese Art der Verarbeitung findet ihren Ausdruck in überbehütendem Verhalten der Mutter (vgl. Thannhäuser, a.a.0., S. 13). Auch nach Richter (1967) hat Überbehütung die Funktion, eine Projektion ablehnender elterlicher Haltung zu ermöglichen. "Die Angst vor der gegen das Kind gerichteten Regung mobilisiert unbewußte ´Abwehrmechanismen`. Dabei kann es zum Beispiel zu einer ´Projektion` kommen. An Stelle der eigenen negativen Tendenzen gegen das Kind wird dann beständig erlebt, dem Kind drohe äußere Gefahr. ... Die Zwangsphantasie, das Kind könne jeden Augenblick zu Schaden kommen, spiegelt lediglich die verdrängte gefühlsmäßige Ablehnung wider, welche die Mutter insgeheim selbst gegen das Kind richtet. Die ´Overprotection`, mit der sie der scheinbar von außen drohenden Gefahr zu begegnen sucht, bedeutet letztlich nichts anderes, als den ebenfalls nach außen verlagerten Kampf gegen die unbewußte eigene Aggression" (Richter 1967, S. 67 f.).

Hier muß aber betont werden, daß das überbehütende Verhalten, diese Form der Verarbeitung, nicht allein durch die Psyche der Mutter erklärt werden darf, sondern ihr geradezu von außen aufgedrängt wird. Denn sie erfährt von allen fachlichen Beratern, daß das Kind lebenslange Hilfe und Schutz brauche, unfähig sei, verantwortungsvoll zu handeln und ewig auf der Entwicklungsstufe eines Kleinkindes stehen bleibe.

Ich vermute, daß dieses überbehütende Verhalten eine Mutter-Kind-Beziehung prägt, in der das Kind sich, initiiert durch Krankenhausaufenthalte und den durch den Schock bedingten Rückzug der Mutter, bereits auf dem Rückzug aus der Umwelt befindet.

Da die Mutter ständig Gefahren aus der Umwelt auf das Kind zukommen sieht, vor denen sie es schützen zu müssen meint, wird sie durch die übergroße Fürsorglichkeit das Kind, das schon von sich aus seine Aktivität reduziert hat, indirekt unterstützen, sich nicht mehr mit der Welt auseinanderzusetzen. Sie wird versuchen, das kindliche Autonomiestreben zu ersticken. Die Umgebung wird von ihr so arrangiert und strukturiert, das dem Kind in ihrem Beisein jede Möglichkeit zur autonomen Aktivität genommen ist. Autonome Aktivität kann daher nicht im Rahmen einer gesellschaftlich erwünschten Interaktion, sondern nur im Verborgenen als abweichendes, gegen die Mutter gerichtetes Verhalten (Aggressionen, Bettnässen, u. ä.) existieren. Im Säuglingsalter wird das Kind erleben, daß zum einen seine Emotionsäußerungen sofort beantwortet werden. Das bedeutet, daß ihm wahrscheinlich die wichtigen Frustrationserlebnisse fehlen, durch die es sich als von der Mutter getrennt erleben kann. Zum anderen erfährt es, daß sein autonomes Aktivsein unerwünscht ist, daß es von der Mutter unterbunden wird. Die Überführung des Agierens in Interagieren gelingt somit nicht, und das Kind wird sich nicht als handlungsfähig erleben können. Die Errichtung einer im Bettelheimschen Sinne wechselseitigen Beziehung, die zu Autonomie und einem ´normalen Selbst` führt, die ein interagierendes, selbstbewußtes und handlungsfähiges Individuum formiert, wird dadurch zumindest erschwert.

  1. Die lebenslange Mutter-Kind-Dyade verhindert die Loslösung

Das überbehütende Verhalten der Mutter kann aber auch als eine der Ursachen verstanden werden, die bei ´Geistigbehinderten` die duale Beziehung zur Mutter, die symbiotische Dyade lebenslang fortbestehen läßt[43].

Ebenso kann das Kind, das auf Grund der fehlenden Wechselseitigkeit kein grundlegendes Vertrauen zu sich selbst und seiner Welt entwickeln konnte, versuchen, die Mutter dazu zu zwingen "... weiterhin allmächtige Extension seines Selbst zu bleiben" (Rotmann, a.a.0., S. 1116), da es die Trennungsangst nicht kompensieren kann. Diesem ´Wunsch` des Kindes ist eine vom medizinisch-psychiatrischen Bild ´infizierte` Mutter allzu leicht bereit, nachzugeben und die Forderung nach Selbständigkeit zurückzuziehen.

Diese duale Beziehung kann durch das väterliche Verhalten wesentlich gefördert werden. Mannoni zitiert einen Vater, der vermutlich die Haltung vieler Väter repräsentiert: "Ein krankes Kind ist Angelegenheit der Frau" (ebd. S. 22).

Aber gerade dieser Glaube, daß die Mütter für die Pflegerolle prädestiniert seien, und ihre gesellschaftliche Isolation (vgl. hierzu z.B. Häusler, a.a.0.) kann für das Kind, das sich auf Grund seiner körperlichen Entwicklung dem Zwang ausgesetzt sieht - bzw. dies selbst will - selbständiger und autonomer zu handeln, verhängnisvoll werden. Denn es kann sich nicht aus der Symbiose lösen, kann sein Autonomiestreben in der Beziehung zur Mutter nicht durch Aufrechterhalten von Interaktion und Wechselseitigkeit durchsetzen. Das Kind sitzt in der symbiotischen Falle. Auf der einen Seite steht die Mutter, die sehr intensiv die symbiotische Beziehung anbietet bzw. erzwingen will, und auf der anderen Seite fehlt der Vater, den es als ´nicht kontaminiertes Komplementärobjekt` (Rotmann, a.a.0.) für eine gefahrlose Identifikaiton und Loslösung benötigte.

Daraus läßt sich schließen, daß das Ambitendenzverhalten, das Streben nach Autonomie und das Aufsuchen der schützenden Symbiose für das Kind äußerst konfliktreich ist. Zum einen findet es kein gefahrloses Identifikationsobjekt, zum anderen kann es sich nicht der überbehütenden Mutter ohne Angst vor Verlust seiner Autonomie nähern. Die Mutter wird zur "gefährlichen Mutter nach der Trennung" (Mahler zit. in Rotmann, a.a.0., S. 1116). Zum dritten muß das Kind sein Autonomiestreben gegen die Mutter durchsetzen, da dieses durch ihr überbehütendes Verhalten behindert wird.

Eine Folge einer gescheiterten Loslösung ist, daß es dem Kind nicht möglich ist, seine hoch ambivalenten Gefühle zur Mutter zu integrieren; ja es läßt sich sogar vermuten, daß, je schwieriger es für das Kind wird, sich zu lösen, die Haßgefühle und Aggressionen umso größer werden. Da das Kind seine Aggressionen nicht durch eine positive Identifikation mit dem Vater kanalisieren kann, werden sie sich in Zornausbrüchen entladen oder sublimiert auf anderen Gebieten weiterleben. Durch Zornausbrüche kann es sich für kurze Zeit den mütterlichen Ansprüchen erwehren[44].

Dem Fehlen des Vaters kommt somit bei der Formation der ´Geistigen Behinderung` entscheidende Bedeutung zu. Die Formation eines autonomen ´Selbst` wird vermutlich nie erreicht. Gerade bei einem durch einen organischen Schaden benachteiligten Kind kommt, so behaupte ich, dem Vater entscheidende Bedeutung zu. Denn er muß sich sowohl als Identifikationsobjekt anbieten, als auch durch gemeinsames Handeln, d.h. Teilhabenlassen an der väterlichen Stärke dem Kind dabei helfen, sich von seinen Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit zu befreien.

Die Verhinderung der Loslösung ist ein weiterer Faktor, der das Gefühl des Ausgeliefertseins, des Nichtsteuernkönnens der Kommunikation verstärkt. Das ´geistigbehinderte` Kind kann sich nicht als getrennte Einheit stabilisieren. Die Katastrophe für es ist, daß es ständig der Angst vor ´Wiederverschlingung` oder vor Eingriffen in seinen Körper ausgesetzt ist, oder m. a. W. vom Verlust seiner Autonomie bedroht ist, und ihm zugleich die offenen, zwischenmenschlichen Interaktionen zur Erreichung einer Sicherheit, eines angstfreien Zustandes verschlossen bleiben.

  1. Gehäufte Double-Bind-Situationen entwerten das Kind

Eine weitere wesentliche formierende Wirkung besteht darin, daß der Mutter die Projektion der negativen Gefühle nicht immer gelingt[45], sondern ihre ambivalenten Gefühle dem Kind gegenüber oft durchscheinen. Da diese aber nicht offen gezeigt werden dürfen, kommt es zu gehäuften Double-Bind-Situationen bzw. ´pragmatischen Paradoxien` (Watzlawick). Die Mutter sendet auf zwei Kanälen gleichzeitig sich widersprechende Informationen. Die Bedeutung dieser Mitteilungen, seien es paradoxe Handlungsaufforderungen, paradoxe Verknüpfungen von Emotionen und Handlungen oder paradoxe Ich- oder Du-Definitionen, ist nach Watzlawick für das Kind nicht unterscheidbar. Indem das Kind das Paradoxon nicht lösen kann, wird es ´entwertet`, d.h. es wird ihm mitgeteilt, daß es nicht existiert bzw. seine Existenz bedeutungslos ist (vgl. Watzlawick 1974, S. 85 f. und S. 194 ff.)[46].

Das Kind ist paradoxen Situationen hilflos ausgeliefert, da es ihm weder gelingen kann, sie zu lösen, - denn es kann nur paradox darauf reagieren - noch es sich aus der durch die Mitteilung produzierten Beziehungsstruktur entziehen kann. Denn es ist weder in der Lage, noch wird ihm erlaubt, über diese in Metakommunikation zu treten oder sich von ihr zu entfernen. Häufen sich solche Doppelbindungen, wird die Wechselseitigkeit zerstört. Das Kind verliert den Glauben an seine Handlungsfähigkeit, und sein Vertrauen in sich und seine Mutter, sein rudimentäres Selbstbild wird verunsichert.

Dies kann zu "... einem Rückzug aus menschlichen Beziehungen (führen - J. E.), soweit die Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren, dies erlaubt" (Watzlawick, a.a.0., S. 202). Die fehlende Eindeutigkeit in der Aufforderung zur oder während der Kommunikation wirkt lähmend. Das Kind hat keine Möglichkeit, sich adäquat zu verhalten, denn die Interaktion ist nicht mehr vorhersagbar. Sie wird, da das Kind ihr ausgeliefert ist, gefährlich und greift laufend in seine Autonomie und Integrität ein. "Die Welt dieser Kinder ist unstrukturiert und unorganisiert. ... Diese Kinder werden in ihrer Entwicklung festgehalten und wir sehen, daß sie mehr und mehr von ihren Gefühlen geleitet werden. Furcht und Angstreaktionen prägen ihr Verhalten" (Rydberg 1978, S. 133). Der Rückzug von dieser Interaktion ermöglicht dem Kind nur noch, im Agieren bzw. Verbergen einen Rest von Autonomie zu bewahren.

Dieses Verhalten des Kindes wirkt wiederum auf die Mutter zurück. "Wenn ... eine Doppelbindung paradoxes Verhalten bedingt, so wirkt dieses Verhalten selbst als Doppelbindung auf den Doppelbinder zurück" (Watzlawick, a.a.0., S. 197). Ein unheilvoller Kreislauf bahnt sich an. Existiert er einmal, "... ist es praktisch sinnlos zu fragen, wann, wie und warum ... (er - J. E.) zustande kam, da pathologische Systeme eine eigenartige selbstverewigende Eigenschaft haben" (ebd. S. 198). D.h.: Diese Fragen nach der Enstehung sind sinnlos im Hinblick auf eine Veränderung der momentanen paradoxen Situation. Aber es ist im Sinne einer Prophylaxe notwendig zu erkennen, daß die Diagnose und Prognose als Auslöser bzw. Verstärker für Double-Bind-Situationen eine unheilvolle Wirkung haben und über diesen paradoxen Mechanismus einen erheblichen Teil zur Formierung des ´geistigbehinderten Selbst` beitragen.

  1. Die gesenkte Erwartungshaltung stört das kindliche Selbstbild

Eine weitere von Eltern geäußerte Verhaltensänderung ist eine Senkung des Forderungsniveaus und der Erwartungshaltung. Diese führen sie auf die Beratung der Experten zurück, die ihrem Kind eine Entwicklungsfähigkeit über das Vorschulalter hinaus absprachen (vgl. Rydberg 1976).

Die Verhaltensänderung führt zu einer Unterforderung des Kindes, indem ihm neue Lernerfahrungen versagt werden und sein Lebensraum beschränkt wird. Zugleich hat dies entscheidenden Einfluß auf das emotionale Verhalten der Eltern. Denn senkt man seine Erwartungen, verändert man automatisch seine emotionalen Reaktionen auf das Verhalten des Kindes. Durch die von der Diagnose geänderte Perspektive erscheinen nun Verhaltensweisen als belohnenswert, die früher als selbstverständlich galten, und ebenso senkt oder hebt sich die Schwelle des Forderns oder Verbietens in inadäquater Weise.

Das Kind erfährt nun eine andere emotionale Welt und wird mit dieser Veränderung sich selbst überlassen. Auch hier wird durch die Diagnose die Wechselseitigkeit erheblich belastet. Man könnte im Sinne von Watzlawick sagen, daß die Definition seiner selbst, die in Handlungen zum Ausdruck kommt, und die durch die Reaktionen des Partners Bestätigung finden soll, durch Belohnung des Selbstverständlichen ´verworfen` oder - was wahrscheinlicher ist - ´entwertet` wird (vgl. Watzlawick, a.a.0., S. 86).

Die Gefahr der Entwertung besteht für das Kind, wenn durch die Diagnose sich die Perspektive und die Erwartungen der Eltern verändern und die Grenzen verrückt werden, eine adäquate Rückmeldung auf sein Verhalten ausbleibt. Laing schreibt in Bezug auf Untersuchungen von Familiensituationen bei Schizophrenen, daß diesen im Kindesalter "... im Extremfall gleichgültig wie jemand fühlt oder handelt, gleichgültig welche Deutung er seiner Situation gibt, - seine Gefühle ihrer Gültigkeit, seine Handlungen ihrer Motive, Absichten und Folgen entkleidet und die Situation ihrer Bedeutung für ihn beraubt werden, so daß er völlig mystifiziert und entfremdet ist" (Laing zit. in Watzlawick, a.a.0., S. 87).

Dieses Zitat könnte auch für das ´geistigbehinderte` Kind seine Gültigkeit haben, da man von ihm durch die Definition kein zielgerichtetes Handeln, keine adäquate Auseinandersetzung mit der Umwelt und keine persönliche, autonome Entwicklung erwartet.

  1. Das Kind gewinnt als ´Geistigbehinderter` im ´System Familie` eine Funktion

Je länger ein Kind als ´geistigbehindertes` lebt, desto weniger wird es selbständig handeln können, denn es gewinnt in der Familie als ´Geistigbehinderter` mehr und mehr eine Funktion. Betrachtet man ´Familie` als ein System, das in sich stabil ist, - Jackson führte hierfür den Begriff ´Familienhomöostasis` ein (vgl. Watzlawick, a.a.0., S. 128) - und in dem "... das Verhalten jedes einzelnen Familienmitgliedes ... vom Verhalten aller anderen" (ebd. S. 138) abhängt, und das somit eine Funktion für den Gleichgewichtszustand hat, so gefährdet z.B. ein die psychiatrisch bestimmte Erwartungsgrenze sprengendes Verhalten des Kindes diese, vor dem durch die Diagnose zerstörte und mühsam wiedererlangte Stabilität.[47]

Ihre Gefährdung wird mit der Technik der ´negativen Rückkopplung` (vgl. ebd. S. 131 ff.) begegnet; z.B. indem jenes Verhalten als abweichend interpretiert und fürderhin unterbunden wird, um das Kind im alten Erwartungsmuster festzuhalten. Die Forderung nach der Erhaltung der Stabilität zwingt zur Blockade der "Umkehrbarkeit der Perspektiven" (Thimm 1980, S. 81), zum Verschluß des Interaktionssystems zwischen den Interagierenden[48]. Was bleibt, ist die oben genannte Fremdheit zwischen den Interaktionspartnern. Der mögliche Zugang, das mögliche Aufbrechen der Fremdheit über das Akzeptieren des ´abweichenden Verhaltens` als Form legitimer Gegenwehr bleibt somit verschlossen. Die verzerrte Wahrnehmung der anderen ist durch die Diagnose fixiert und hat gleichermaßen verzerrte Reaktionen zur Folge.

Daher ist autonomes Handeln eines ´Geistigbehinderten` per Definition nur im illegalen Raum möglich. Aber der Erzieher übersieht, daß er durch seine, vom Postulat der Hilfs- und Schutzbedürftigkeit begründete, willkürliche Begrenzung des Lebensraums des ´Geistigbehinderten` diesen illegalen Raum erst schafft. Verläßt ein ´Geistigbehinderter` diesen seinen ihm zugewiesenen Lebensraum, verläßt er die pädagogische Welt und handelt auf eigene Faust, so wird diese Grenzüberschreitung zur Bestätigung der Diagnose herangezogen.

  1. Die Problematik von therapeutischen Programmen - Eltern als Co-Therapeuten

Bobaths Physiotherapie, Kanes Verhaltenstherapie usw. streben über bestimmte Verfahren eine Rehabilitation des ´Behinderten` an. Dies soll durch tägliche, ritualisierte Übungen, Training bzw. durch strikte Einhaltung bestimmter Interaktionsformen gewährleistet werden. Initiator dieser Art von Interaktion ist dabei immer der Therapeut, und das kindliche Verhalten gerinnt zum bedingten Reflex. Der Therapeut bemächtigt sich des Körpers bzw. eines Körperteils des Kindes, mit dem mechanistische Übungen vollzogen werden; sei es, daß stereotype Fingerübungen gemacht werden, der Arm über die Schmerzschwelle hinaus gestreckt wird, das Kind mit imperativen Zwei-Wort-Sätzen, wie z.B. ´Steh auf !` und anschließender positiver Verstärkung oder durch das Einsperren des Kindes in den time-out-Raum zu bestimmten Verhaltensweisen dressiert wird.

Die Interaktion und deren für das Kind unverständliches Ziel wird allein vom Therapeuten festgelegt. Das Kind wird zum Objekt der Behandlung. Werden nun die Eltern zu Co-Therapeuten, die anstelle oder in Ergänzung des Therapeuten die mechanistischen Übungen praktizieren, so wird das Kind auch in seinen familialen Beziehungen zumindest stundenweise zum Reflex der elterlichen Reize reduziert, zum leblosen, mechanischen Objekt, dem aus Gründen der Therapie sogar wehgetan werden muß. Der Körper des Kindes wird nicht mehr länger als ausführendes Organ des kindlichen Wunsches, in der Welt selbst aktiv zu sein, verstanden.

Es besteht eine doppelte Gefahr. Zum einen kann die Mutter in der von der Therapie bestimmten Interaktion glauben, daß sie aufgrund der therapeutischen Beschäftigung mit dem Kind ihre mütterliche Aufgabe erfüllt. Beschränkt sie sich auf diese Form des Kontaktes, gelingt es ihr, das Kind, das sie als zu betätigenden Mechanismus behandelt, auf Distanz zu halten. Sie vermeidet eine Nähe, die den Widerspruch zwischen der fehlenden Identifikation mit dem Kind, der Ablehnung und dem mütterlichen Anspruch allzu schmerzhaft spüren läßt. So können die therapeutischen Programme für die Mutter den Anlaß bilden, zum Kind eine ritualisierte Beziehung aufzubauen, die diesem keine Möglichkeit zur Erfüllung seines Autonomie- und Vertrauensanspruches gewähren. Die auf das Kind gezielten therapeutischen Maßnahmen gewinnen eine neue, gefährliche Funktion: Sie werden zur Entlastung von den durch die Behinderung ihres Kindes erzeugten Probleme herangezogen und belasten aber gleichzeitig das Kind. Denn das Kind wird die Mutter als Aggressor erleben, und hierin besteht die zweite Gefahr. Die Mächtige zwingt ihm eine einseitige schmerzbereitende Beziehung auf. Es erlebt sich als ausgeliefert und machtlos und wird bestrebt sein, die entstandene übergroße Angst durch Vermeidung der bemächtigenden Interaktion zu verringern, was ihm wohl oft nur durch innere Emigration gelingen kann.

Aufgrund des erlebten Widerspruchs von zeitweiser wechselseitiger und zeitweiser bemächtigender Interaktion wird das kindliche Vertrauen in die Mutter erschüttert. Dies kann zur Folge haben, daß das Kind die Erfahrung, die es in diesen bedrohlichen Interaktionen machte, auf die gesamte zwischenmenschliche Umwelt überträgt und sich aus dieser zurückzieht. Die Wechselseitigkeit der Interaktion wird somit auch durch die therapeutischen Programme gefährdet, wenn nicht gar geschwächt, zerstört oder in ihrem Aufbau verhindert: Das Kind bleibt dem ´ichbezogenen Agieren` verhaftet und kann allenfalls mit beschränkten Mitteln die Umwelt noch kontrolIieren.

C. Formen der Gegenwehr

Nach Bettelheim lernt ein Kind neue Fähigkeiten, wenn diese ihm die Möglichkeit geben, seinen Einfluß auf die Welt zu erweitern und verlernt diejenigen, die nutzlos geworden sind.

Da der ´Geistigbehinderte` von ´normalen` Formierungsprozessen ausgeschlossen ist, sind alle Fähigkeiten, die eine Interaktion ermöglichen bzw. forcieren, ohne Bedeutung, die im Rahmen einer Wechselseitigkeit zum Aufbau eines handlungsfähigen ´bürgerlichen Selbst` führen könnten. Aber welche sinnvollen Fähigkeiten könnten ihm helfen, sich gegen den für ihn bedrohlichen, übermächtigen und bemächtigenden Formierungsprozeß zu verteidigen? Welche Formen von Gegenwehr oder Flucht könnten ihm helfen, die Umwelt zu kontrollieren und gegen sie Dämme und Schutzwälle zu errichten?

l. Die ´Wissensverberger` und die Funktionsprobe

Während eines Praktikums an der Jugendschule der Strandparkskole in Kopenhagen, einer Schule für ´Geistigbehinderte`, fiel mir bereits am ersten Tag ein 17-jähriger Junge auf. Seine Sprache bestand aus einigen Babylauten wie bla, bab u. ä.. Er leckte und roch an jedem Gegenstand, lutschte an Papier und spielte mit seinem Speichel. Mit diesen Tätigkeiten war er so beschäftigt, daß man nur sehr schwer Kontakt zu ihm aufnehmen konnte.

Noch am gleichen Tag sah ich im Kino den von Chr. Hartkopp in Zusammenarbeit mit der Strandparkskole gedrehten Film ´Das versteckte Wissen`. Sechs Kinder, die als mäßig bis schwer geistigbehindert (Imbezillität) diagnostiziert worden waren[49], wurden in einer Unterrichtssituation und während der Durchführung der ´Funktionsprobe` gefilmt. Zu meiner Überraschung wurde auch jener 17-jährige Junge gezeigt. Auch in der dargestellten Unterrichtssituation verhielt er sich so, wie ich es bereits kannte. Aber bei der Durchführung des Tests zeigte er unglaubliche Fähigkeiten. Er löste Rechenaufgaben (Addition, Subtraktion, kleines und großes Einmaleins).

Es war auffallend, daß, je schwerer die Aufgaben wurden, er umso weniger die ´Stütze` der Testerin brauchte, ihm die Antwort umso leichter fiel. Aufgaben wie 192 : 16 löste er ohne Zögern. Beim Lesen (Sätze mußten Bildern zugeordnet werden) löste er die komplexesten Aufgaben am schnellsten. Seine Wahrnehmungsfähigkeit war genial. Als man ihm zwei Bilder mit dem wirren Treiben eines orientalischen Kamelmarktes (Din A 3) vorlegte und von ihm forderte, den Unterschied zu entdecken (eine Person hatte statt eines weißen ein rosa Hemd an; der Unterschied war etwa 1 Pfennigstück groß), gelang ihm dies in 10 Sekunden. 13-jährige Schüler einer Volksschule hatten im Durchschnitt 14 Minuten zur Lösung der gleichen Aufgabe gebraucht. Er entdeckte außerdem noch einen weiteren, bisher nicht entdeckten winzigen Unterschied. Auf die halbe Seite eines ihm vorgelegten Buches schaute er cirka 1 Sekunde, während sein Blick sonst meistens herumirrte, und fand danach ohne Zögern von drei möglichen den aus dem Buch entnommenen Satz heraus. Ein weiteres Beispiel: Ein Mädchen, das gerade die erste Klasse der Schule besuchte und als imbezil diagnostiziert worden war, war in der Unterrichtssituation nicht in der Lage, eine Linie nachzuzeichnen, sich zu konzentrieren. Sie schaute nie aufs Blatt, trotz persönlichem Bemühen des Lehrers. Ihr Blick wanderte unstet im Raum umher. In der Funktionsprobe zeigte sie, daß sie Lesen und das kleine Einmaleins beherrschte. Beim Bildervergleich war sie ebenso schnell wie der 17-jährige Junge. Einige Tage später konnte ich selbst mehrere Durchführungen einer Funktionsprobe, die die Schüler in dieser Form nicht kannten, mit einigen als imbezil diagnostizierten Schülern der Jugendschule erleben. In dieser Testsituation konnten sie Rechenaufgaben den richtigen Ergebnissen zuordnen, Bilder Sätzen zuordnen, die Namen europäischer Hauptstädte und die Flaggen der Länder den nur in kartographischen Umrissen dargestellten Staaten zuordnen. Sie wußten, welche Formulare bei Bank, Post u. ä. zu welchem Zweck zu verwenden sind und welche Fahrkarten für welche Verkehrsmittel notwendig sind.

In einer dänischen Untersuchung über psychotisches Verhalten und verborgene Fähigkeiten bei ´geistigbehinderten` Kindern verarbeiteten Haracopos und Kelstrup Daten von 392 ´geistigbehinderten` Kindern (Alter 3,5 bis 15,5 Jahre alt)[50].

Der Untersuchung liegt folgender weitgefaßte Psychosebegriff zugrunde:

Er ist "... ein Sammelbegriff für alle die Kinder, die ein Verhalten haben, das sie von zwischenmenschlichem Kontakt ausschließt, und/oder die die Wirklichkeit in einer Weise erleben, die sich von der normalen unterscheidet" (Haracopos u. Kelstrup 1975, S. 375).

Sie fanden heraus, daß auf Grund dieser Definition 1200 der 5700 ´geistigbehinderten` Kinder als psychotisch betrachtet werden können (vgl. ebd. S. 456).

Im zweiten Teil dieser Untersuchung testeten sie 43 dieser psychotischen Kinder und 5 Kontrollkinder mit dem von ihnen entwickelten DIPAB[51], den Leiter- und Peabody Intelligenztests und der Funktionsprobe.

24 dieser Kinder erreichten in der Funktionsprobe ein Niveau, das gerade oder fast dem ihres Lebensalters entsprach (vgl. Abbildung) und weit über dem lag, das mit den Intelligenztests und dem DIPAB festgestellt worden war[52].

Diese Kinder verfügen über ein Wissen, das bis dahin von keinem ´normalen` Anderen bemerkt wurde. Nur in dieser Funktionsprobe gelang es, das Kind in eine Interaktion einzubeziehen, in der es bereit war, sein Wissen in einer uns verständlichen, erkennbaren Form zu zeigen. Daher möchte ich kurz die wesentlichen Züge der Funktionsprobe darstellen:

Hansen entwickelte diese Probe mit dem Ziel "... eine besondere Situation zu schaffen, in der das ´psychotische` Kind direkt oder indirekt entschleiert, was es trotz seiner Behinderung leisten kann" (Hansen in Haracopos u. Kelstrup, a.a.0., S. 293). Inzwischen wird z.B. in der Markdamer Skole in Kolding diese Funktionsprobe bei allen Arten ´Geistiger Behinderung` mit Erfolg angewandt (vgl. Dreyer u.a. 1981, S. 123 ff.).

Die Durchführung der Funktionsprobe ist an eine Kommunikationsstruktur gebunden, die von der bei der Durchführung traditioneller Tests erheblich abweicht. Das Verhalten des Untersuchers kann mit "... aktiv und dynamisch gegenüber dem Kind" (Haracopos u. Kelstrup, a.a.0., S. 293) beschrieben werden. Er "... versucht, ein Verhalten zu wählen, das speziell geeignet ist, das einzelne Kind zu Reaktionen zu veranlassen"(ebd. S. 293). Das Verfahren ist demnach nicht standardisiert, sondern das Verhalten des Untersuchers wird so gewählt, daß es voraussichtlich den größtmöglichen Erfolg erzielt. Außerdem geht es ausdrücklich nicht darum, mittels

Grafik nicht verfügbar

aus: Harasopos/Kelstrup, a.a.0., S. 307

der Probe objektive, statistisch verwertbare Daten zu erheben. Die erreichten Resultate spiegeln in hohem Grad die persönliche Beurteilung und den Eindruck des Untersuchers vom Kind in der Probesituation wieder. Die Anwesenheit eines Beobachters kann aber als Garantie dafür gesehen werden, daß die Ergebnisse nicht aus der Luft gegriffen sind (vgl. ebd. S. 298). Das Verhalten des Untersuchers ist immer darauf ausgerichtet, für das Kind größtmögliche Sicherheit zu erreichen. Das bedeutet, daß der Untersucher

a. ein Maximum an Kontrolle über die Probesituation anstrebt,

b. seine ganze Aufmerksamkeit auf das Kind richtet und jede zaghafte Andeutung bzw. jeden Versuch, die Frage zu beantworten, unterstützt,

c. minimale Konzentrationsmängel oder ablenkendes Verhalten zu unterbinden versucht,

d. eine Grundhaltung hat, die von der Erwartung geprägt ist, daß das Kind die Aufgaben lösen kann,

e. Empathie zeigt bei eventuell auftretenden Blockaden, sich auf das Lösungsverhalten des Kindes einläßt und nicht an starren Instruktionen klebt,

f. dem Kind die Lösung nach eigenen Bedingungen ermöglicht (z.B. durch systematische Falschantworten, nur durch Deuten auf die Lösung oder durch aktives Zuordnen der Antwortkarten),

g. keine ´entwertenden` oder ´verwerfenden` Äußerungen macht, also keine negativen Antworten gibt und stattdessen konstruktive Lösungswege vorschlägt.h. dem Kind gegenüber nur eine aufgabenzentrierte Haltung zeigt und eine Lösung der Aufgabe akzeptiert, das Kind aber nicht lobt,

i. zum Kind wie zu einem Ebenbürtigen spricht, so wie Erwachsene miteinander reden (vgl. ebd. S. 293 ff.).

Verlauf: Die Funktionsprobe beginnt damit, daß der Untersucher dem Kind entgegengeht, es nicht herzlich, sondern höflich begrüßt, ihm einen Platz am Tisch zuweist und sofort mit der ersten Aufgabe beginnt. Diese soll dazu dienen, daß sich der Untersucher in das Kind einfühlen kann (Niveau, Lösungsmethode des Kindes u. ä.). Unmittelbar darauf wird die 2. Aufgabe gestellt, die ein dem Lebensalter des Kindes entsprechendes Niveau hat. Um die Situation weiterhin zu steuern, fordert der Untersucher das Kind wiederholt kurz und bestimmt auf, die Aufgabe zu lösen. Gewöhnlich fährt der Untersucher solange fort, dem Kind Aufgaben zu stellen, bis mit Sicherheit eine Leistung auf oder über dem Altersniveau gezeigt wird, oder sicher ist, daß das Kind nicht zu weiteren Leistungen gebracht werden kann. Das schließt ein, daß ein und dieselbe Aufgabe in verschiedenen Darbietungsformen mehrmals angeboten wird.

Bei der Funktionsprobe wird das höchste in einer Aufgabe erreichte Niveau als das Leistungsniveau des Kindes gewertet.

Bei dieser Funktionsprobe ist von wesentlicher Bedeutung, daß vom Kind im allgemeinen keine verbalen Antworten verlangt werden, und verschiedene Lösungsmöglichkeiten akzeptiert werden. Dazu einige Beispiele:

a. das Kind kann die richtige Antwortkarte hinlegen, von mehreren möglichen die richtige nehmen oder auf die richtige Antwort zeigen.

b. Wenn das Kind systematisch falsche Antworten wählt, wird dies als die richtige Antwort akzeptiert.

c. Das Kind wird zu Anfang kräftig vom Untersucher unterstützt, die Antwort zu finden, indem er z.B. seine Hand führt. Diese Stützen werden schrittweise abgezogen, so daß das Kind schließlich selbst in der Lage ist, bei anderen ähnlichen Aufgaben die Antwort zu geben (vgl. ebd. S. 298).

Dieser körperlichen Stütze kommt in der Funktionsprobe zentrale Bedeutung zu. Sie kann zum einen darin bestehen, daß der Arm des Kindes, vielleicht nur mit ein paar Fingern, gestützt wird, oder der Ellenbogen des Kindes in der Hand des Untersuchers wie in einem Kugellager liegt. Diese Form von Stütze wählte Hordam, wenn der Schüler es nicht schaffte, seinen Arm zu heben, um die Aufgabe zu lösen. Ihrer Meinung nach übernimmt der Untersucher durch diese Stütze eine Mitverantwortung, die das Antworten erleichtert (vgl. Hordam 1976, S. 118). Zum anderen bezeichnet Hordam das Festhalten der Hände bei solchen Kindern als physische Stütze, die aus Opposition gegen die gestellte Forderung alles vom Tisch fegen, das Aufgabenmaterial zerstören oder durch stereotype Bewegungen an der Lösung der Aufgabe gehindert werden. Sie meint, daß die kindliche Gegenwehr in einem starken Interesse an der Aufgabe begründet liegt, die es dadurch in einen Konflikt von ´Nicht-Interagieren-Wollen` und Interesse an der Aufgabe bringt. Übernimmt hingegen der Erwachsene diesen Widerstand, indem er das Kind förmlich hindert, die Aufgabe zu lösen, kann das Kind diese lösen (vgl. ebd. S. 118).

Zwei weitere Beispiele zur Durchführung einer Funktionsprobe: Ein 11,5-jähriger Junge (Kind I in der Tabelle, siehe S. 145) mit einem DIPAB-Entwicklungsalter (EA) von 6 - 7 Jahren, einem Intelligenzalter (IA) nach den Leiter- und Peabody Tests von 8 - 9 Jahren, zeigt in der Funktionsprobe ein Niveau, das weit über dem seinem Alter entsprechenden liegt. Er erreicht das höchste, in dieser Funktionsprobe mögliche Niveau eines 13 - 14-jährigen. "Er will nicht dividieren. Bei der ersten Darbietung der Potenzrechenaufgaben (Quadrieren kleiner Zahlen mit vorhergehender Erklärung) war er sehr interessiert. Aber als ihm die schweren Aufgaben (2. und 3. Potenz kleiner Zahlen, ohne Erklärung) gezeigt werden, beginnt er zu weinen und weigert sich, diese zu lösen. Er wirkt sehr verzweifelt über seine Leistungsangst und ist sehr erleichtert, als die Untersucherin ihm zuletzt beide Arme stützt" (Haracopos u. Kelstrup, a.a.0., S. 301).

Ein 10,5-jähriger Junge (Kind Q in der Tabelle, siehe S. 145), DIPAB-EA 4 - 5 Jahre, IA 8 - 9 Jahre, erreicht die Höchstgrenze. "In der Aufgabe 8 (Kombination von Wörtern und Bildern) wird seine Blockade deutlich aufgedeckt. Er zeigt von Anfang an immer auf die falschen Lösungen. Als aber die Untersucherin die Taktik ändert und sagt: ´Wo soll es nicht liegen?` zeigt er ganz richtig. ... Ihm werden zwei Rechenaufgaben gestellt. In Aufgabe 18 (Multiplikation im Zahlenraum 10 - 100) bekommt er den Stapel Karten mit Rechenaufgaben. Aber er zeigt (auf der Lösungstafel mit 6 verschiedenen Möglichkeiten - J. E.) bei allen Aufgaben auf die Zahl 16, außer bei der Aufgabe 2 x 8. Die Untersucherin nimmt nun die Karten, probiert es mit Stützen der Arme und liest gleichzeitig die Aufgabe einer Karte laut vor: ´Drei mal sieben ist ... `. Das erste Mal antwortet er mit dieser Hilfe richtig. Danach muß sie ihn dazu drängen, indem sie immer wiederholt ´Neun mal sieben ist ... `. Er antwortet zum Beispiel ´drei` und die Untersucherin wiederholt ´Neun mal sieben ist dreiund...`. und er antwortet ´dreiundsechzig`" (ebd. S. 302).

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß diese Funktionsprobe das Wissen eines ´Geistigbehinderten` dadurch zu entschleiern versucht, indem sie die Errichtung einer Beziehungsebene absichtlich vermeiden will. Die Interaktion soll nur auf der Inhaltsebene stattfinden. Der einzige Zweck dieser Kommunikation ist das Lösen der Aufgabe. Der Untersucher zeigt deutlich, daß er keine persönliche Beziehung aufbauen will, sondern daß es ihm nur um die Lösung der Aufgabe geht. Diese Interaktion vermeidet durch die nonverbale Kommunikation eine Involvierung. Das Kind richtet sich bei der Lösung der Aufgabe nicht an die Person, sondern hantiert mit dem Material. Der Untersucher vermeidet grundsätzlich jede persönliche Stellungnahme und stellt an das Kind dem Alter entsprechende Forderungen, um ´verwerfende` Situationen zu vermeiden.

In dieser spezifischen Situation sind die Kinder bereit, ihr Wissen preiszugeben. Dabei wird deutlich, daß sie über charakteristische Verhaltensweisen und Techniken verfügen, durch die sie diese aufgabenzentrierte Interaktion zu hemmen und/oder zu verhindern versuchen. Blockaden durch Angst, Sabotieren oder Negativantworten sind einige Beispiele.

Diese Kinder besitzen bereits im Verborgenen die Fähigkeiten, die man so gerne an ihnen sehen würde, auf die doch die Beschulung hinzielen möchte. Aber im Zusammensein mit Eltern, Pädagogen usw. verhalten sie sich so, daß diese dieses Wissen nicht erkennen. Dieses Verbergen bzw. Verborgensein verstehe ich als eine totale Verweigerung[53]:

Zeigen von Wissen, von Fähigkeiten, von Sprache wird von den Erwachsenen zum willkommenen Anlaß für Interaktionen, über die sie sich einen Zugriff zum Kind verschaffen. Somit kann das Verbergen bzw. das Verborgensein von Wissen als Abwehr des Zugriffes verstanden werden. Es kann der Minderung der Gefahr dienen, in die als bedrohlich erlebte, unkontrollierbare Interaktionen hineingezogen werden. Das Kind, das sich nicht auf der Ebene der Wechselseitigkeit befindet und darin seine Sicherheit gewinnen konnte, sieht in den angestrebten Interaktionen der Umwelt Bemächtigungsversuche. Das Verbergen bzw. das Verborgensein von Wissen ist eine Waffe, mit der es sich verteidigt und vielleicht ein Gefühl von Umweltkontrolle gewinnt.

2. Wissen verbergen - heimliches Lernen

Wenn also Wissen im Verborgenen bleibt, muß es irgendwann bereits angeeignet worden sein; und zwar - gleichsam als erster Akt der Gegenwehr - heimlich und autodidaktisch. So schreibt Hordam: "Ihre Eingeschlossenheit hat sogar bewirkt, daß die meisten besondere Techniken und Methoden, Wissen zu erlangen, entwickelt haben, so daß andere dies nicht bemerken. Wir alle kennen Kinder, die heftig und anscheinend planlos in Zeitungen blättern, ja sogar in auf den Kopf gedrehten Zeitungen, oder auf Geräusche, Radio u. ä. hören, mit einem Gesichtsausdruck, der zeigt, daß sie nicht interessiert zu sein oder nichts zu verstehen scheinen" (Hordam 1976, S. 116). Von anderen Beispielen berichten Haracopos und Kelstrup (1975, S. 194).

Die Wirkung ihres isolierten Lernens kann ebenso wie bei dem Verbergen von Wissen in der Verhinderung einer an dieser Aktivität anknüpfenden Interaktion gesehen werden. Ihr Wissenserwerb ist somit an das ´ichbezogene` Agieren gebunden.

Das bedeutet in erster Linie, daß Hören und Sehen die für die Kinder wichtigsten Möglichkeiten sind, sich unbemerkt mit der Umwelt lernend auseinanderzusetzen. Diese Annahme wird unterstützt durch das bei der Funktionsprobe festgestellte außerordentlich hohe Wahrnehmungsvermögen des ´Geistigbehinderten`. Ich erinnere an Robertson (1964), die gerade bei in ihrer Aktivität retardierten Kindern ein enorm hohes Wahrnehmungsvermögen feststellte.

Der Rückzug dieser Kinder aus der Welt ist demnach nicht total. Über die ichbezogenen Tätigkeiten des Sehens und Hörens können sie sich auch bei Anwesenheit von anderen unbemerkt mit der Welt auseinandersetzen. Hören kann sogar noch heimlicher ablaufen, denn Ohren haben keine Lider[54].

3. Eine ´ichbezogene` Formation von Intelligenz

Für die früher aufgeworfene Frage, ob die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten an die gelungene Formation der Wechselseitigkeit gebunden ist, lassen sich nun neue Argumente finden.

Die Aktivität des Kindes kann nach Piaget als Voraussetzung für die Entstehung kognitiver Fähigkeiten angesehenen werden. Aber das Aktiv-Sein des Kindes ist nicht im Sinne von zwischenmenschlicher Aktivität, sondern als Auseinandersetzung zwischen ihm und den Dingen zu verstehen. Ob und welches intelligente Verhalten jedoch gezeigt wird, hängt von den spezifischen Formierungsprozessen ab, denen das Kind unterliegt. Daß der Grad der Persönlichkeitsentwicklung und der ´Intelligenzentwicklung` sich, wie die Psychiatrie es für die ´Oligophrenie` formuliert, gegenseitig bedingen, scheint unter diesem Aspekt äußerst zweifelhaft.

Da eine bestimmte Art von Intelligenz den Intelligenztests zugrunde liegt, deren Ausprägung bei einem Individuum mit Hilfe standardisierter Meßverfahren in freundlicher Atmosphäre zwischen Tester und Proband festgestellt werden soll, werden Abweichungen vom Durchschnitt in diesem Fall als ´Minusvarianten der Merkmalsausprägung Intelligenz` interpretiert. Die Möglichkeit aber, daß z.B. das Schweigen bzw. das gezeigte Nicht-Wissen für das Kind eine problemlösende Handlung, eine für das Kind optimale Lösung der Situation und somit ein intelligentes Verhalten sein könnte, entgeht dem Tester, da er nur die Lösung der Testaufgabe für die adäquate Bewältigung der Situation hält.

Allerdings kann das Kind auf Grund seiner ohnmächtigen Position seine ´Intelligenz` nicht dazu benutzen, seine Isolation zu verlassen und Autonomie in zwischenmenschlicher Hinsicht zu erlangen, eine ´bürgerliche` Persönlichkeit zu entwickeln. Sein verstecktes Aktiv-Sein, sein heimliches Aneignen von Wissen und seine ´Intelligenz` sind vielmehr für das Kind vor Menschen gut gehütete, wertvolle Inseln der Autonomie auf seinem Rückzug aus der zwischenmenschlichen Welt. ´Intelligenz` dient hier zur Kanalisation von Ängsten, zum Aufbau und zur Verteidigung von Autonomie. Ein so verstandener Intelligenzbegriff, d.h. Intelligenz als eine Fähigkeit, sich mit der Welt auseinandersetzen zu können, mündet nicht automatisch in die Ausbildung ´menschlicher` Kommunikationsfähigkeit, ´menschlichen` Verhaltens,einer ´normalen` Persönlichkeit, sondern kann als Fähigkeit, als Potential in verschiedenen Formationen erscheinen und für alle Zwecke verwandt werden.

4. Sprachliche Formen der Gegenwehr

Als letztes Beispiel der hier aufgeführten Formen von Gegenwehr soll die Sprache dargestellt werden.

Um die Umgebung kontrollieren zu können und Eingriffe in die eigene Person zu verhindern, hat die Sprache, das bedeutsamste Medium der Interaktion, zentrale Bedeutung. Da die Interaktion für den ´Geistigbehinderten` bedrohlich sein kann, ist es für ihn wichtig, die Sprache in den Griff zu bekommen, um die Interaktion zu steuern oder sich vor ihr zu schützen.

So stellt Rydberg fest, daß Schüler, die ihre Sprache verwenden und augenscheinlich Kontakt suchen, "... nur eine Interaktion beginnen, um sicher zu sein, daß diese nach ihren eigenen Prämissen verläuft und nicht dazu führt, sie zu verpflichten"(Rydberg 1978, S. 142).

Die Funktion der Sprache bei Kindern, deren Sprachvermögen geringer ist, interpretiert Rydberg als die Errichtung ´einer Mauer von Lauten`, die den Schüler von der Welt abschirmt. "Das kann am ehesten ein stereotyper Sprachfluß, das können kleine Sätze, Bruchstücke von diesen, einzelne Wörter oder nur Laute sein" (ebd. S. 143). Haracopos und Kelstrup finden in ihrer Untersuchung von 243 Kindern mit Sprachvermögen, daß 24 % dieser Kinder immer den gleichen Inhalt erzählen, 16 % immer die gleichen Fragen stellen, 7 % immer reden, 12 % die Sätze der Erwachsenen wiederholen, 12 % eine unnatürliche Stimmlage haben (vgl. Haracopos u. Kelstrup, a.a.0., S. 216). Nur bei 50 % dieser Kinder ist die Sprache nicht zwanghaft (vgl. ebd. S. 210) und nur 56 % dieser Kinder erzählen spontan von ihren Bedürfnissen, Erlebnissen, Interessen und Erwartungen, Neugierde (vgl. ebd. S. 182).

Aber auch "... die Körpersprache ist verschlossen. Probier einmal zu beobachten, wie bei weitem die meisten Schüler gehen. Bemerke, daß sie auf dem Vorderfuß gehen und in besonders kritischen Situationen fast ganz auf den Zehen. Wenn die Schüler sich so bewegen, wird der Körper verschlossen und gibt keine Mitteilungen" (Rydberg 1978, S. 143).

5. Kommunikative Unfähigkeit als eine Form von Gegenwehr im pädagogischen Handlungsfeld

Die Wirkung, die die sprachliche Verweigerung, Stereotypien, das heimliche Aneignen von Wissen und sein Verstecken für das Kind haben kann, soll nun am pädagogischen Handlungsfeld genauer dargestellt werden.

Eine Intention der Unterrichtssituation ist die Vermittlung von Wissen, die in einer vom Lehrer strukturierten Kommunikation stattfindet. Dabei sind Inhalts- und Beziehungsebene eng miteinander verknüpft, zumal ja der Lehrer eine persönliche Beziehung zum Schüler aufbauen will. Die Dynamik dieses Vermittlungsprozesses wird u. a. durch das Kommunikationsverhalten und die Lernfähigkeit des Schülers bestimmt.

Ein Schüler, der sich dieser Kommunikation entziehen will oder muß, hat die Möglichkeit, sich durch verschiedene Verhaltensweisen zu wehren. Durch ´Verhaltensstörungen`, Stereotypien, Hyperventilation, Sprachlosigkeit und dem Verbergen von Wissen verschließt es sich dem pädagogischen Zugriff. Der Erfolg gezeigten ´Nicht-Wissens`, der scheinbaren Unfähigkeit, neues Wissen aufzunehmen und angemessen zu kommunizieren, besteht in einer den Verlauf der Interaktion bremsenden Wirkung.

Indem das ´Nichtlernenkönnen` des Kindes den Lehrer dazu verführt, das ´anschaulich-vollziehende Lernen` zu praktizieren, den Lernstoff in kleinste didaktische Schritte zu zerlegen und somit sehr viel mehr Zeit auf die Vermittlung verwenden zu müssen, wird über eine große Zeitspanne eine statische Interaktion aufrechterhalten. Vom Schüler wird in dieser Unterrichtssituation kein eigenständiger Beitrag erwartet; wird ihm doch nach Bach und Thalhammer nur eine begrenzte Lern- bzw. Kommunikationsfähigkeit zugesprochen. D.h. der Schüler soll nur das nachvollziehen, was bereits vom Lehrer vorgegeben wurde. Die Interaktion wird einseitig vom Lehrer bestimmt. Der Schüler aber gibt nichts Erwartetes von sich preis und verhindert gleichzeitig eine Dynamik innerhalb der Beziehung Lehrer - Schüler. Er hält den Lehrer von sich fern, indem er völlig sublim einen Teil seiner selbst preisgibt und intellektuelle Unfähigkeit vorspiegelt, auf die sich der Lehrer voll und ganz konzentriert. Er verführt auf Kosten einer persönlichen inneren Aufspaltung, einer wohl unbewußten inneren Emigration den Lehrer zu einem Scheingefecht, in dem dieser seine Energien auf verlorenem Posten verausgabt. So gelingt es dem schwächeren Kind, sich gegen eine von der pädagogischen Übermacht strukturierten Interaktion zu wehren.

Der Effekt dieser Unfähigkeit: Es gelingt dem Schüler, den Ort der pädagogischen Handlung auf ein Scheingefecht und somit auf eine Scheinbeziehung abzulenken, und dadurch die Interaktion zu kontrollieren. Er steuert diese, für den Lehrer unbemerkt, indem er eine Statik erzwingt. Dadurch verliert die Interaktion in der Unterrichtssituation ihren komplexen, bedrohlichen, unvorhersehbaren Charakter und gibt dem Kind die Möglichkeit, die Angst und Unsicherheit, die es auf Grund seiner speziellen Sozialisation in Interaktionen haben kann, zu verringern. Die intellektuelle Unfähigkeit des Kindes kann demnach die Funktion haben, die Spannweite möglicher Kommunikation zu verringern und eine Einmischung eines anderen in seine Person zu vermeiden, in der schützenden Isolation zu verharren. Der Lehrer hingegen sieht nur in der scheinbaren intellektuellen Mangelausstattung die Basis für aufbauende Lernprozesse und wählt dementsprechende Inhalte und Formen der Darbietung. Er betrachtet den Schüler aus seiner selektierenden, pädagogisierten Perspektive der Norm und glaubt, gerade an den festgestellten Abweichungen mit pädagogischen Maßnahmen ansetzen zu müssen. Denn er kennt bereits aus der Theorie die Symptome der ´Geistigen Behinderung` und ihre Ursachen, die adäquate Methode der Wissensvermittlung, die relevanten Inhalte und die Grenzen des Erreichbaren. Im Besitz dieses Wissens konstituiert er eine pädagogische Beziehung, die, wie ich schon bei Itard aufzuzeigen versuchte, das Fremdbleiben von Erwachsenem und Kind begründet. Indem der Lehrer den Schüler in eine bestimmte Interaktionsform zwingt, die z.B. die intellektuelle Unfähigkeit mildern soll, nähert er sich nur dem von ihm geformten Objekt. Ein ´totalitärer Herrschaftsanspruch` (Braunmühl) wird errichtet, dem ´Geistigbehinderten` bleibt kein Platz für akzeptierte Eigeninitiativen. Er wird in einer bemächtigenden, dressierenden Kommunikation gefangen gehalten, in der er nicht die Bedingungen setzen darf. Aber gerade diese Form der pädagogischen Beziehung, in der er sich als bedroht und ausgeliefert erlebt, verstärkt seine Angst und treibt ihn immer weiter in Formen von ´ichbezogenem` Agieren. So erreichen die pädagogischen Energien des Lehrers einen gegenteiligen Effekt. Indem er die Unfähigkeit des Kindes nicht als eine Form von Gegenwehr erkennt, sondern sich immer nur auf diese als Mangel bezieht, verstärkt er gerade die Gegenwehr des Kindes.

6. Das Dilemma dieser Kinder

Zu den weiteren hier nicht ausführlicher darstellbaren Formen von Gegenwehr als Versuche, Autonomie und Einfluß auf die Umwelt zu gewinnen, oder sich vor ihr zu schützen, rechne ich alle Formen von stereotypen Bewegungen, Selbststimulationen, wie z.B. Hyperventilation und Luftanhalten, Fixiertheit auf Gegenstände, Bettnässen und Einknoten usw., d.h. alle solche Verhaltensweisen, die auf ´ichbezogenem` Agieren beruhen und von der normativen Gesellschaft als ´abnormes Verhalten` gekennzeichnet werden. Dieses abnorme Verhalten dient der Minderung von Angst und Unsicherheit und ist nach Bettelheim der wertvollste Besitz dieser Kinder.

Unter dieser Perspektive kann man sich vorstellen, was es für katastrophale Auswirkungen auf ein Kind haben muß, wenn es einem Verhaltenstherapeuten, wie z.B. Kane ausgeliefert ist, der durch die härteste Form der Entsagung, den Nahrungsentzug (vgl. Kane, a.a.0., S. 56) dem Kind die Basis der Autonomie, das Recht zu leben, indem das Kind auf Grund der Hungergefühle in Todesangst versetzt wird, entzieht, und es dadurch zu Selbständigkeit erziehen will. In seiner ´Therapie` durchbricht er mit imperativen Zweiwortsätzen und der nötigen Gewalt (time-out) die Schutzmauer des Kindes und dressiert es zur körperlichen, emotionalen Nähe, zum richtigen Essen durch gewaltsames, schmerzhaftes Öffnen des Mundes (vgl. ebd. S. 160 ff.) - die Bilder auf S. 161 dieses Buches sprechen für sich; eine totale Bemächtigung des Kindes - und zur Lenkbarkeit. Er treibt das Kind immer weiter in eine innere Emigration.

Bewußt - unbewußt

Aber das Dilemma dieser Kinder besteht darin, daß all seine Verteidigungsstrategien meist unbewußt und isoliert und nicht wie z.B. bei psychiatrischen Insassen in Form von kollektiven, subversiven Aktionen stattfirden.

Sie erfahren von dem ´normalen Anderen` nie die Anerkennung, daß sie die Welt kontrollieren können. Dies geschieht höchstens in der Form negativer ´verwerfender` Äußerungen. Da die ´Normalen` aber gerade ihre Angriffe auf diese ´Abnormitäten` richten, wird der sogenannte ´Geistigbehinderte` ständig in Angst und Streß vor unvorhersehbaren Ereignissen leben müssen, die seine notdürftig aufge´richteten Schutzwälle bedrohen (vgl. die negativen Vorhersagen bei Autisten, Bettelheim 1977).

Er wird immer weiter in die Isolation, in das ´ichbezogene` Agieren, in ´abnorme` Verhaltensweisen getrieben. Aber zur Bewußtwerdung seiner selbst und zur Errichtung eines positiven Selbstbildes ist gerade die gelungene wechselseitige Interaktion notwendige Voraussetzung. Es bedarf der von außen vermittelten emotionellen Erfahrung von ´Ich-kann-Erlebnissen` (vgl. Hordam et al. 1977).

Dies sind die ersten Schritte zur Zerstörung des ´geistigbehinderten Selbst`, zur Transformation des ´ichbezogenen` Agierens in die wechselseitige Interaktion. Es beginnt mit dem Akzeptieren der Symptome als funktionalem und somit vernünftigem Verhalten, das es zu respektieren gilt.



[32] Im Bettelheimschen Sinne bezeichnet ´Wechselseitigkeit` eine Interaktionsform, die zum ´normalen Selbst`, zu Empathie und Autonomie, kurzum zur Etablierung einer ´normalen` Persönlichkeit führen kann.

[33] ´Prägend` ist hier nicht im Sinne eines unveränderlichen Prägungsprozesses bei Tieren zu verstehen (Bettelheim 1974, S. 52).

[34] "Die im Begriff ´Autonomieanspruch` enthaltene soziale Wechselwirkung ist als ein System mit Rückkopplung, das man sich als einen Kreis (ohne Anfang und Ende) vorstellen muß ... Der Autonomieanspruch ist also Ausdruck gleichzeitig von objektbezogener Individualität ( = Autonomie) und subjektbezogener Sozialität ( = Anspruch)" (v. Braunmühl, a.a.0., S. 169).

[35] Bettelheim definiert das ´Selbst` folgendermaßen: Es besteht aus dem, "... was man weiß und dem, was man tun kann. Selbst-Sein ist sicherlich kein Zustand, sondern ein Prozeß des Werdens" (ebd., S. 47). Für ihn ist somit das ´Selbst` ein Begriff, der Aspekte der Persönlichkeit erfaßt. Nach seinem Verständnis besitzt bzw. entwickelt jemand ein ´Selbst`, wenn er sich dessen bewußt ist/wird und handlungsfähig ist/wird. Da ich versuche, das ´Selbst` aus soziologischer Perspektive zu beschreiben, d.h. durch die Därstellung spezifischer gesellschaftlicher Arrangements, die auf den Einzelnen einwirken, betrachte ich diese hier beschriebene ´Entwicklung des Selbst` nur als einen Idealfall, der Bewußtwerdung, und Handlungsfähigkeit zu Kriterien des ´Selbst` erhebt. Es wird ein ´Selbst` produziert, dem spezielle Formierungen zugrundeliegen, und das in unserer Gesellschaft als normal angesehen wird. Wenn ich in diesem Kapitel den Begriff des ´Selbst` gebrauche, so ist damit der Idealfall der Formation gemeint.

[36] Diese selbstbeschränkten Tätigkeiten des Wahrnehmens sind besonders stark bei Kindern ausgeprägt, die durch fehlende positive Antworten auf ihre Aktivitäten nach außen hin passiv wurden. Robertson (1964) bemerkt in ihrer Untersuchung, daß "... paradoxerweise vier von fünf Kindern neben allgemeiner Schwerfälligkeit und Teilnahmslosigkeit und dem schlechten Entwicklungsniveau ein erhöhtes visuelles Wahrnehmungsvermögen zeigten" (Robertson 1964, S. 275, Hervorh. J. E.). Es läßt sich vermuten, daß sie ihr Interesse an der Welt noch nicht aufgegeben haben. Sie meiden bloß die frustierende zwischenmenschliche Ebene oder versuchen, sich davor zu schützen. Interessant ist hier noch, daß psychotische Kinder in der dänischen Sophieskole während des Unterrichts immer mit dem Rücken zur Wand sitzen, daß sie eine Person im Rücken nicht ertragen können. Auf die Bedeutung dieses Aspekts bei den wissensverbergenden Kindern werde ich später noch näher eingehen."

[37] Eine Sprachentwicklung hat aktives Handeln des Kindes zur Voraussetzung. Sprachgebrauch hingegen setzt die gelungene Formation der Wechselseitigkeit, ein Individuum, das in der Interaktion die Möglichkeit der Beeinflussung der Umwelt erkannt hat, voraus. Wie für alle bereits erlernten und noch zu erlernenden Fähigkeiten, die auf Interaktion basieren, so gilt auch für die Sprache, daß ihr zwischenmenschlicher Gebrauch nur beibehalten wird, wenn er eine Funktion gewinnt, wenn sich dadurch die Möglichkeit, auf die Lebenswelt einzuwirken, vergrößert. Nach Bettelheim zieht sich das Kind zurück, gibt frühere Fähigkeiten auf, wird in zwischenmenschlichen Beziehungen und vielleicht gegenüber der Umwelt passiv, wenn seine Bemühungen darauf hinauslaufen, daß es weniger fähig ist, diese zu beeinflussen aIs zuvor (vgl. ebd., S. 40).

[38] Dies kann nur gelingen, wenn dem Kind ein drittes Objekt, das ebenfalls eine gute Beziehung zur Mutter hat, zur Verfügung steht. In der Identifikation mit dem dritten Objekt "... kann das Kind die Ent-Identifikation mit der Mutter wagen. ... Die mit Hilfe des Vaters (bzw. eines dritten Objekts - J. E.) als nicht kontaminierten Komplementärobjekt unternommene Loslösung von der Mutter geschieht in einer präödipalen Drei-Personen-Beziehung. Sie bleibt eine jederzeit reversible Komplementärbeziehung, die eine Alles-oder-Nichts-Loslösung von der Mutter nicht nur unnötig macht, sondern sie gerade zu verhindern hilft" (Rotmann 1978, S. 1118).

[39] Eltern berichten beispielsweise folgendes:

- "Ihr Kind ist hinüber, machen Sie lieber ein anderes." (Mannoni 1978, S. 12)

- "... der sei nichts geworden ..." (Thannhäuser, a.a.0., S. 55)

- "daß unser Kind nicht ein normales Leben führen wird."

- "daß unser Kind nicht über das Entwicklungsniveau eines Vierjährigen hinauskommt."

- "daß unser Kind den Rest seines Lebens ein Säugling/Kleinkind bleiben wird."

- "daß unser Kind sich nicht soweit entwickeln kann, daß es jemals in eine Schule kommen wird."

(sämtliche Zitate Rydberg 1976, S. 31).

Und Ingrid Häusler bekam vom Kinderarzt folgende Antwort: "Früher hat man geglaubt, solche Kinder seien vom Teufel besessen - wenn es nicht besser wird, muß er eben in die Nervenheilanstalt" (Häusler 1979, S. 27).

[40] Nach Robertsons Auffassung können diese ähnlich aussehen "... wie die durch organische Defekte bedingten Retardierungen ..." (Robertson 1964, S. 274). Die Umkehrung dieses Vergleichs ermöglicht die Frage, ob bei den ´durch einen organischen Defekt bedingten Retardierungen` nicht vielleicht ebenso erzieherische ´Fehlhaltungen` zugrundeliegen, die den Hauptteil der Retardierungen ausmachen könnten - wenn sie sich schon so ähnlich sind - ?

[41] Die Aussage Bettelheims wird von Rydberg (1978) unterstützt, der feststellte, daß das Kind in der ersten Phase nach dem Diagnostizierungs- und Prognostizierungszeitpunkt bereits erlangte Fähigkeiten aufgibt. Außerdem läßt sein aktives Interesse an der Umwelt nach. Für neue Aktivitäten ist es nur schwer zu begeistern. "Sein Experimentieren mit Gegenständen und seinem eigenen Körper wird mehr und mehr stereotyp. Es involviert sich immer weniger in seine Umgebung" (Rydberg 1978, S. 135).

[42] M. Mannoni schreibt über die Beziehung der Mutter zu ihrem ´geistigbehinderten` Kind , daß diese "... jäh jeden Identifikationspunkt und damit auch die Möglichkeit zu impulsivem Verhalten (verliert - J. E.). Darin zeigt sich die panische Angst vor einem Bild des eigenen Selbst, das man nicht wiedererkennen und auch nicht lieben kann" (Mannoni, a.a.0., S. 207). Sie behauptet, daß zwischen der Mutter und dem ´geistigbehinderten` Kind immer der Tod anwesend sei. Im tiefsten Unbewußten wünsche die Mutter den Tod des Kindes und falls ihr dies bewußt werde, denke sie daran, Selbstmord zu begehen. Mannoni führt diesen Wunsch auf den gekränkten Narzißmus der Mutter zurück, die sich mit dem Kind nicht identifizieren könne, und auch eine Kompensation ihrer Wünsche und Erwartungen, die in dem ´geträumten` Kind lebten, bei dem geborenen Kind nicht möglich scheine. Die Ablehnung des Kindes, die bis zum Todeswunsch reichen kann, der aber geleugnet werden muß, "... erscheint meist in der Gestalt sublimer Liebe, manchmal in krankhafter Gleichgültigkeit oder als bewußte Abwehr" (ebd., S. 20).

Im weiteren werde ich mich auf diese Form der Verarbeitung beschränken. Die formierenden Folgen von Ablehnung und Gleichgültigkeit von seiten der Mutter, die von Anfang an eine Wechselseitigkeit ausschließen, sind allgemein bekannt (z.B. Autismus, Marasmus, Hospitalismus).

[43] Mannoni stellt hierzu fest, daß "... das Kind sehr selten in eine Dreierbeziehung einbezogen" wird (Mannoni 1972, S. 24).

In der Untersuchung von Thannhäuser wird festgestellt, daß 16 % (13 Behinderte) der jugendlichen und erwachsenen ´Geistigbehinderten`, die in einer beschützenden Werkstatt arbeiten, im Ehebett der Mutter schlafen, obwohl in allen Fällen genügend Platz und in drei Fällen der Vater vorhanden war (vgl. Thannhäuser, a.a.0., S. 66). Thalhammer beschreibt die Beziehung von Mütter und geistigbehindertem Kind als eine Dyade in einer lebenslangen, permanent ausweglosen Situation (vgl. Thalhammer, 1974, S. 10).

[44] Mahler schreibt: "Je unbefriedigter und parasitischer die symbiotische Phase war, desto hervorstechender und übertriebener wird die negativistische Reaktion ausfallen" (Mahler, a.a.0., S. 48), um die kaum begonnene individuelle Differenzierung zu verteidigen.

[45] Die Beziehung zum Kind wird für die Mutter nicht nur durch die ihr unbewußten, negativen Gefühle erschwert, sondern "... das Fehlen des Dialogs und die totale Einsamkeit zu zweit sind verantwortlich für die Angst und die Depressionen dieser Mütter, die in den Augen der Welt ´ihr Schicksal so tapfer tragen`" (Mannoni, 1972, S. 23).

[46] Rydberg stellte fest, daß in Familien mit ´geistigbehinderten` Kindern deutlich mehr paradoxe Mitteilungen gegeben werden als in anderen. Ebenso machte er die Erfahrung, daß die Kinder, mit denen er jahrelang arbeitete, mehr auf seine körperlichen Mitteilungen achteten als auf das, was er sagte (vgl. Rydberg 1978, S. 133) .

[47] So berichtete mir ein Lehrer von J., einem 14-jährigen als ´imbezil` diagnostizierten Schüler einer Schule für Praktisch Bildbare, der unerlaubterweise sein Sparbuch an sich nahm, selbständig in die Stadt fuhr und in der Bank so überzeugend auftrat, daß es ihm gelang, 500 DM abzuheben. Für 50 DM kaufte er Geschenke für seine Eltern und Geschwister und fuhr mit dem Taxi nach Haus; allerdings nur bis zur letzten Straßenkreuzung, damit die Eltern die Ankunft mit dem Taxi nicht bemerkten. Aber dort erwartete ihn nicht Freude über die Geschenke und Anerkennung seiner Handlung, die zuvor ja niemand für möglich gehalten hatte. Stattdessen wurde er für seine Eigenständigkeit bestraft. Über seine Motive und Gefühle ging man hinweg.

[48] Nach Rydberg wird die Existenz eines ´Geistigbehinderten` hauptsächlich für Probleme und Krisen innerhalb einer Familie verantwortlich gemacht. So werden gewöhnlich Beziehungsprobleme zwischen den Eltern nicht ursächlich problematisiert, sondern auf dem Rücken des ´Behinderten` ausgetragen, d.h. durch die besondere Belastung erklärt. Die Probleme werden somit nur benannt, aber nicht gelöst (vgl. Rydberg 1978, S. 132). Die Beibehaltung der Behindertenrolle kann somit für den Fortbestand der Ehe unerläßlich sein.

[49] Hier möchte ich ausdrücklich betonen, daß diese Kinder aufgrund einer medizinisch-psychiatrischen Untersuchung als imbezil diagnostiziert worden waren. Denn man findet bei Deutschen, die mit der dänischen Geistigbehindertenfürsorge konfrontiert werden, häufig das Argument, es handele sich hier nicht um Geistigbehinderte (vgl. hierzu z.B. Bach 1971, S. 32).

[50] Das sind 6,8 % der ungefähr 5700 als geistigbehindert diagnostizierten Kinder im Alter von 0 bis 15 Jahren in Dänemark. (Diese 5700 Kinder sind 4,7 Promille der dänischen Bevölkerung zwischen 0 und 15 Jahren) Die Repräsentativgruppe von 197 ´Geistigbehinderten` (20 wurden wegen fehlender Diagnose nicht berücksichtigt) sind 13 Grenzfälle (IQ 68 - 85), 62 debil (IQ 52 - 67), 52 leicht imbezil (IQ 36 - 51), 33 schwer imbezil (IQ 20 - 35), 32 Idiotie (IQ unter 20) (vgl. ebd., S. 169).

[51] Die deutsche Übersetzung des DIPAB lautet: Diagnose von psychotischem Verhalten bei Kindern.

[52] Das DIPAB-Entwicklungsalter wurde aufgrund standardisierter Fragebögen gewonnen, die den Personen (Pädagogen oder Mitarbeitern), die in den verschiedenen Institutionen arbeiteten und das Kind am besten kannten, zur Beantwortung vorgelegt wurden (vgl. Haracopos u. Kelstrup, a.a.0., S. 65 ff. und S. 395 ff.). Weitere Beispiele und ausführliche Informationen über die Funktionsprobe finden sich auch in der Veröffentlichung von Dreyer u.a. (´Warum nicht so`? 1981).

[53] Die Frage, ob dies bewußt oder unbewußt geschieht, ist zwar wichtig, doch sind zunächst nur die soziologischen Wirkungsfelder von Interesse.

[54] Vgl. Fußnote 36.

IV. Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag wurde versucht, den sogenannten ´geistigbehinderten` Menschen nicht als ein unveränderbares, durch organische Schäden spezifiziertes Wesen zu begreifen, sondern als ein zielgerichtet und sinnkonstituierend handelndes, in Kommunikation eingebundenes Individuum zu beschreiben.

Stellt man zur Erklärung der Genese einer ´Geistigen Behinderung` die Transformationsprozesse, denen die kindliche Aktivität ausgesetzt ist, und die jeweilige lebenssichernde Funktion dieser Aktivität in den Mittelpunkt des Interesses, so ermöglicht dies eine neue Sichtweise und ein neues Verständnis von Verhaltensweisen sogenannter ´Geistigbehinderter`. Die Ursache des Verhaltens scheint dann nicht mehr in einem nebulösen Wesen oder in einem organischen Defekt verborgen zu sein - was nur defätistische und resignierende Haltungen erzeugt - , sondern können als Folge bestimmter Prozesse, denen die kindlichen Aktivitäten ausgesetzt werden, verstanden und verändert werden.

Unter diesem Blickwinkel ist zu fragen:

a) Durch welche Faktoren wird die Formierung der kindlichen Aktivität bestimmt?

b) Bietet die Formierung dem Kind die Möglichkeit Gefühle von Sicherheit, Vertrauen und Autonomie zu erfahren und zu entwickeln, damit es die Ebene der wechselseitigen Interaktion erreicht, oder produziert sie Gefühle des Ausgeliefertseins?

Die bei ´Geistigbehinderten` vorherrschenden, von med.-psych. und sonderpädagogischen defekt- bzw. wesensorientierten Theorien durchsetzten Formierungsprozesse, die sich gerade durch die Forderung nach lebenslangem Schutz und Hilfe für den ´Geistigbehinderten` legitimieren, liefern aber diesen der Welt schutzlos aus, berauben ihn der Gefühle von Autonomie und Vertrauen in sich und die Welt.

Auf ihn wirken ein Set formierender mütterlicher/elterlicher und pädagogisch-therapeutischer Verhaltensweisen ein. Diesen liegt das psychiatrisch-medizinische Bild des Oligophrenen zugrunde, das dem ´Geistigbehinderten` die Fähigkeit zu autonomem Handeln abspricht und ihn zum Objekt korrigierender Erziehungseinflüsse degradiert.

Für das Kind ist das die Katastrophe. Denn diesen Kommunikationsformen ist gemein, daß sie, wenn auch auf verschiedenen Funktionsniveaus, solche Formierungsprozesse verhindern, die das Agieren des Kindes in ein Interagieren transformieren helfen . Die Verminderung der aus dieser Lebenslage entstehenden Unsicherheit und Angst wird damit zum Antrieb für alle Verhaltensweisen. Da es sich aber von diesen Gefühlen, die ja gerade das Ergebnis einer bedrohlichen, nicht überschaubaren Kommunikation sind, nicht über Interaktion befreien kann und es somit in einem teuflischen Kreislauf gefangen ist, können seine Bedürfnisse nach Sicherheit, nur durch eigene, isolierte Leistungen gesichert werden. Seine Aktivität wird somit nicht in Interaktionen kanalisiert, die den Aufbau eines ´normalen Selbst` ermöglichen, sondern sie fluktuiert frei und einsam auf der Ebene des beziehungslosen, ichbezogenen Agierens.

Unter diesem Aspekt können die Verhaltensweisen des ´Geistigbehinderten` als für ihn sinnvoll erkannt werden. Abweichendes Verhalten erscheint als eine Form von berechtigter Gegenwehr gegen bemächtigende, lebensbedrohende Formierungsversuche.

Beide Faktoren, die Gegenwehr und die Formierungsversuche der Umwelt produzieren den ´Geistigbehinderten` und das ´geistigbehinderte Selbst`.

Diese Sichtweise bietet neue Möglichkeiten, die gestörten Interaktionsstrukturen zwischen ´Geistigbehinderten` und ´Normalen` aufzubrechen.

"Es ist eines jener einfachen, aber wunderschönen Paradoxe im Leben: Wenn ein Mensch fühlt, daß ihn ein anderer wirklich annimmt, wie er ist, dann ist er frei geworden, sich von dort aufzumachen und mit der Überlegung zu beginnen, wie er sich verändern möchte, wie er anders werden kann, wie er mehr von dem werden könnte, das zu sein er befähigt ist" (Gordon 1974, S. 38).

Ein wunderschönes Beispiel hierzu liefert Bettelheim in der Darstellung der Probleme des Mädchens Marcia (vgl. Bettelheim 1977, S. 200 - 301).

Marcia nahm keine regelmäßigen Mahlzeiten zu sich. Es hielt sich ständig Ohren und Nasenlöcher mit ihren Fingern zu und konnte daher ihre Hände nicht gebrauchen. Und nun geschah das Phantastische: Der Therapeut schlug Marcia vor, daß er diese Tätigkeit doch während der Mahlzeiten für sie übernehmen könnte. Sie akzeptierte den Vorschlag, und der Therapeut hielt nun ihre Ohren und Nasenlöcher zu und sie begann, selbständig zu essen. Der Therapeut nimmt in diesem Beispiel das Kind, so wie es ist, an und sieht in dessen ´Symptomen` eine für das Kind lebenswichtige Funktion, die er bereit war, mit zu unterstützen.

Dieses Beispiel beschreibt die Basis dessen, was die Lehrer der ´Strandparkskole` (deren Rektor Rydberg ist) mit ´Involvierung` bezeichnen. Sie verstehen darunter ein vertrauens- und liebevolles Zusammensein, wo Lehrer und Schüler einander näher kommen. Sie streben den Aufbau einer wechselseitigen Interaktion an, in der sie die Symptome des Kindes als vernünftiges Verhalten akzeptieren. Sie haben außerdem erkannt, daß diese vermeintlichen Symptome, dieses ´ichbezogene` Agieren bisher nie als sinnvoll angesehen, geschweige denn unter dieser Sichtweise zum Gegenstand eines Gesprächs erhoben wurden. Sie versuchen, das Kind aus seiner Isolation herauszuführen, indem sie mit dem Schüler über sein Verhalten reden.

"Wenn wir diesen Kindern helfen wollen, müssen wir sie zuallererst dazu bringen zu sehen, was sie im Moment tun" (Rydberg 1978, S. 143).

Ein Beispiel aus derStrandparkskole:

"Hans trägt sehr starke Brillen. Seine Augen waren gerade sehr gründlich untersucht worden. Obwohl der Augenarzt keine richtige physiologische Ursache für eine schwere Sinnesminderung finden konnte, akzeptierte er dennoch, daß Hans fast blind sei. Hans zeigte inzwischen deutliche Verhaltensunterschiede mit und ohne Brille. Einige Lehrer bemerkten, daß er, wenn seine Brille entzwei ist und er ohne sie zurecht kommen muß, bedeutend seltener hinfällt, ebenso wie er fast überhaupt nirgendwo anstößt - was er immer tut, wenn er die Brille aufhat.

Lehrer: Geht es dir gut mit der Brille?

Hans: Ja

L.: Siehst du besser, wenn du deine Brille vergessen hast?

H.: Nein

L.: Viele Lehrer von hier haben mir erzählt,. daß du besser zurechtkommst, wenn deine Brille entzwei ist, haben die Recht? '

H.: Ja

L.: Glaubst du nicht, du solltest deine Augen richtig untersuchen lassen - sollen wir nicht einen Termin beim Augenarzt bestellen und ihm das erzählen, worüber wir gerade gesprochen haben?

H.: Nein (sehr deutlich und sehr bestimmt)

L.: Wenn du es nicht wünschst, so versprech ich dir, daß wir es lassen. Aber dann sollten wir mehr darüber reden. Willst du?

H.: Ja

L.: Kannst du dich erinnern, daß ich mir neulich deine Brille geliehen habe?

H.: Ja (grinst)

L.: Ich setzte deine Brille auf, und es tat ein bißchen weh im Kopf, wenn ich durch sie hindurch sah, aber das war auch irgendwie angenehm.

(Pause - und ganz nebenbei) Geht dir das auch so?

H.: Ja, ja (sehr interessiert, nickt und antwortet öfter ja, lächelt erleichtert)

L.: Ist es immer angenehm, diese Brille aufzuhaben?

H.: Nein

L.: Und was willst du nun machen!

Hans antwortet nicht.

L.: Ich weiß es nicht, - aber vielleicht wäre es eine gute Idee, sie eine kurze Zeit zur Seite zu legen. Können wir darüber mal reden?

H.: Ja

L.: Hast du Lust, daß Helle (Klassenlehrerin) dabei ist?

H.: Ja

Danach entschloß sich Hans, seine Brille einige Stunden am Tag abzusetzen. Die Klassenlehrerin teilte mit, daß er stärker anwesend ist, aber erst, nachdem er sich ohne Brille eine Zeit lang fast wie blind verhielt" (Rydberg 1978, S. 139 f.).

"Wir haben Chemikalien, wir haben alles. Aber es gibt nur ein Heilmittel, und das ist Wärme!"

(SCHRÖDER-SONNENSTERN 1974, S. 74)

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