Geistige Behinderung und Integration

Autor:innen - Ines Boban, Andreas Hinz
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Zeitschrift für Heilpädagogik 44, 327-340
Copyright: © Ines Boban, Andreas Hinz 1993

Überlegungen zum Verständnis der 'Geistigen Behinderung' im Kontext integrativer Erziehung

In den letzten Jahren haben wir immer wieder Situationen im Zusammenhang mit Integrationsklassen erlebt - oder sie sind uns berichtet worden - , in denen offensichtlich das Sosein von Kindern, die sonst in Schulen für Geistigbehinderte eingeschult worden wären, nicht mehr mit der traditionellen Pädagogik und den ihr impliziten Sichtweisen und Einschätzungen zusammenpaßt. Diese Situationen geben wir als "Nanu-Geschichten" wieder, weil wir uns durch sie angestoßen fühlten, der Frage nachzugehen, was sich in diesen Situationen eigentlich abgespielt hat. Dabei gehen wir davon aus, daß es sich nicht um zufällige, beliebige Geschichten ohne jeden verallgemeinerbaren Wert handelt. Im Gegenteil scheinen sie Ausdruck für eine allgemeine Entwicklungstendenz zu sein. Wir sind uns wohl bewußt darüber, daß wir nicht einfach objektiv von Geschehnissen berichten, was unseres Erachtens auch gar nicht möglich wäre, sondern mit einer gewissen gerichteten Sensibilität - oder negativ formuliert: mit einer gewissen Voreingenommenheit, die in ähnlichen Vorerfahrungen begründet ist, auf die Geschichten zugehen. An die hier ausgewählten Nanu-Geschichten schließen sich Überlegungen zu einer Systematisierung von Sichtweisen der 'Geistigen Behinderung' und möglichen Veränderungsperspektiven in Geistigbehinderten- und Integrationspädagogik an.

Wir beschäftigen uns in diesem Beitrag nicht mit Fragen der Leistungsentwicklung, der sozialen Einbindung oder der unterrichtspraktischen Umsetzung integrativer Erziehung mit 'geistig behinderten' Kindern (vgl. hierzu z.B. HETZNER & STOELLGER 1985, MAIKOWSKI & PODLESCH 1988, PODLESCH 1990). Stattdessen fragen wir nach dem Grundverständnis, mit dem PädagogInnen jenen Kindern gegenübertreten, die gemeinhin als 'geistig behindert' bezeichnet werden. Unseres Wissens ist dieser Fragestellung in bisherigen Publikationen über die integrative Erziehung nirgendwo nachgegangen worden. Im Gegenteil scheinen die bisher selbstverständlichen Grundlagen und Sichtweisen der Geistigbehindertenpädagogik unhinterfragt in Integrationsprojekte hinein importiert zu werden. Hier tut verstärkte Reflexion not.

1. Nanu-Geschichten

1.1. Sonderpädagogische Diagnostik - oder: Vera und der fassungslose Krankenhauslehrer

Vera besucht eine Integrationsklasse im dritten Schuljahr. Wegen einer zunehmenden Skoliose muß sie an der Wirbelsäule operiert werden und kommt zu diesem Zweck in ein Spezialkrankenhaus, in dem ihr auch von einem Sonderschullehrer Krankenhausunterricht erteilt wird. Auf ihn freut sich Vera, sie ist gespannt, was sie dort wird tun können.

Während des ersten Treffens unterhält sich der Lehrer - unangenehmerweise - nebenbei mit der Mutter über ihr Kind. Vera bekommt eine Menge Spielsachen auf den Tisch gelegt, die sie aufbauen soll. Dabei wird sie häufiger gefragt, was dieses und jenes sei; so kann der Sonderschullehrer nachprüfen, welche Laute sie benutzt und welche nicht. Als sie mit dem Aufbauen des Materials fertig ist und anfangen will, nun endlich damit zu spielen, kommt eine böse Überraschung: "Nun räumen wir dies wieder weg und machen etwas anderes." So geschieht es. Nun gut, Vera läßt sich darauf ein. Wieder baut sie etwas auf, wieder beantwortet sie Fragen, was dieses und jenes, was gleich oder verschieden sei. Wieder lockt sie die Aussicht, dann endlich mit den Sachen spielen zu können. Und wieder kommt es zur gleichen Enttäuschung: Der Lehrer räumt alles weg und will ihr etwas anderes vorlegen.

Nun aber reicht es Vera! Sauer, wie sie ist, zieht sie sich auf den Schoß der Mutter zurück, steckt - was sie nur bei extremem Frust zu tun pflegt - ihren Daumen in den Mund und murmelt: "Jetzt hab ich keine Lust mehr!" Sie ist nicht mehr dazu zu bewegen, mit diesem Lehrer, auf den sie sich doch so gefreut hat, irgendetwas gemeinsam zu tun.

Dieser Szene folgen zwei Kommentare: Vera zu ihrer Mutter: "Der war aber doof, zu dem gehe ich nicht wieder hin!" Und der Sonderschullehrer gesteht der Mutter fassungslos: "Das habe ich noch nie erlebt: Die Werte, die ich herausbekommen habe, zeigen eindeutig, daß dieses Kind geistig behindert ist - aber es verhält sich nicht so!"

1.2. Kontaktaufnahme - oder: Rany und ein Professor

Rany, ein Mädchen mit Down-Syndrom, besucht die sechste Integrationsklasse einer Hamburger Gesamtschule. Wie so häufig, ist wieder Besuch da: vier Personen, ein Lehrer, ein Schulleiter, eine Oberschulrätin und ein Professor für Sonderpädagogik, alle aus Baden-Württemberg.

Nachdem die Hospitation vorüber ist und sich eine Pädagogin mit den BesucherInnen zurückgezogen hat, kommentieren zwei Kinder der Klasse: "Was waren denn das für Leute?! Die haben überhaupt nicht mit uns geredet oder mal geguckt, was wir machen. Die haben nur in der Ecke gesessen und irgendwas geschrieben. Und der mit dem grauen Anzug (gemeint ist der Professor), der hat auch mit keinem geredet außer einmal mit Rany - und weißt Du, der hat mit ihr geredet, als ob sie gerade drei Jahre alt wäre!"

Später publiziert einer der Besucher einen Artikel in der Zeitschrift Geistige Behinderung, in dem er auf ein problematisches "Annäherungskonzept", besonders innerhalb von Integrationsprojekten, aufmerksam macht. Dieses würde den besonderen Bedürfnissen geistig behinderter Kinder nicht gerecht - letztlich wird in ihm ein Rückfall in bloße Anpassungsmuster gesehen. Als eines von mehreren Beispiel führt er an: "Ein anderes Down-Syndrom-Kind lernt Punkte im Koordinatenkreuz der X- und Y-Achse bestimmen und demonstriert dieses den Schülern einer 6. Klasse einer Gesamtschule" (KLEIN 1991, 122). Sein Fazit sinngemäß: Alle lernen dasselbe, nur manche erreichen die Ziele und manche nicht (1991, 123).

Offensichtlich konnte er nicht wahrnehmen, welche Bedeutung - in sozialer und in kognitiver Hinsicht - eine Situation für Rany hat, in der sie anderen ein Spiel beibringen und sich selbst hierin als Expertin fühlen kann: Auf dem Boden sind zwei gekreuzt liegende Springtaue mit farbigen Klebstreifen festgeklebt. Im gleichen Abstand wird ein Streifen angebracht und die Zahlenfolge danebengelegt; die eine wird X-Linie, die andere Y-Linie getauft. Und nun beginnt das Spiel: den Punkt X = 2, Y = 5 suchen und einnehmen, dann abwechselnd mit verschiedenen Kindern ... Auch im Heft macht Rany dieses Spiel mit dem verrückten Namen "Koordinatenkreuz" sehr viel Spaß!

1.3. Grenzüberschreitung in einer Schule für Geistigbehinderte - oder: Jörg und seine Unlust zum Knüpfen

Jörg, ein Junge mit Down-Syndrom, besuchte in den vier Jahren seiner Grundschulzeit eine Integrationsklasse. Als diese Klasse trotz intensiver Bemühungen von Eltern und Grundschule nicht in der Sekundarstufe I weitergeführt wird, muß Jörg in eine Schule für Geistigbehinderte überwechseln. Dies fällt ihm leichter als seinen Eltern.

In der Schule für Geistigbehinderte werden in der Vorweihnachtszeit kleine Teppiche geknüpft. Jörg droht nicht mehr vor Weihnachten mit seinem Stück fertig zu werden, und so wird es ihm über das Wochenende mit nach Hause gegeben. Jörg will aber nicht knüpfen, sondern spielen, auch bekommt er Besuch von anderen Kindern. So verschwindet das Stück versteckt in einer Seitentasche seines Ranzens und kommt am Montag unbearbeitet wieder in die Schule. Die Lehrerinnen "empfehlen" Jörg daraufhin, daß er das Stück zu Hause weitermachen solle. Da er sich weigert, schlagen sie vor, die Mutter könne doch am Werkstück etwas tun. Jörg sagt zu seiner Mutter: "Das kommt überhaupt nicht in die Tüte, daß Du weitermachst! Das ist meine Arbeit! Und ich habe zu dieser Arbeit keine Lust mehr und deswegen mache ich sie nicht weiter!" Diese dezidierte Meinung macht er nicht nur seiner Mutter, sondern auch in der Schule den Lehrerinnen deutlich. Jörgs Mutter stellt fest: "So etwas sind die in der Schule einfach nicht gewohnt."

1.4. Wenigstens 20 Minuten intensive sonderschulpädagogische Förderung - oder: "Scheißlehrerin!"

Im zweiten Schuljahr ist eine neue Sonderpädagogin in die Integrationsklasse eingestiegen. Sie will nach eigenem Bekunden wenigstens 20 Minuten intensive sonderpädagogische Förderung mit den vier behinderten Kindern der Klasse machen können. Weil an diesem Tag das benachbarte Elternsprechzimmer, in dem sonst die spezielle Förderung stattfindet, besetzt ist, weicht die Sonderpädagogin mit Lars (der ein Anfallsleiden hat und sonst in einer Schule für Geistigbehinderte wäre), Maik und Sabine (die beide sonst eine Schule für Körperbehinderte besuchten) in den sogenannten Tobe-Raum aus, in dem sich eine Schaukel, ein Weichboden, ein Klettergerüst und anderes mehr befindet. Dieser Versuch soll sich zum Drama entwickeln.

Es beginnt damit, daß Maik von innen die Tür zuhält. Als schließlich alle in den Raum hineingekommen sind, versucht die Sonderpädagogin mit dem Angebot: "Unsere Abmachung: 5 Minuten toben" zunächst Land zu gewinnen. Alle Kinder toben durch den Raum und nutzen die Bewegungsangebote. Maik geht aggressiv auf Sarah los: "Du sollst jetzt zu Boden gehen!" Lars schaukelt auf einem Sitz aus zwei verknoteten Seilen hin und her, schaukelt dann gezielt auf die Sonderpädagogin zu: "Auf'n Po!" und freut sich über einen gelandeten Volltreffer. Die Sonderpädagogin hält sich an das Mädchen und will mit ihr die Mengenvorstellung trainieren: "Hüpf mal dreimal." Die beiden Jungen bekommen die gleiche Aufgabe, weigern sich jedoch.

Nachdem die fünf Tobe-Minuten um sind, kommt die Sonderpädagogin zur Sache: "Jetzt machen wir was anderes. Kommt mal her auf die Matte." Sie will mit Plastikteilen Formen und Farben üben und die räumliche Orientierung fördern. Nun Lars: "Ich will nicht! Ich habe keine Lust!" Die Sonderpädagogin: "Ich möchte jetzt mit euch einmal 10 Minuten eine Sache machen und wenn ihr das schnell macht, dann könnt ihr hinterher noch mal schaukeln."

Maik geht zu ihr hin, zaubert ein Plastikteil in seine Tasche, geht wieder zurück. Die Sonderpädagogin: "Lars, ich möchte, daß du dir drei rote Dinge nimmst." Lars steht auf, nimmt sie: "Zauber zauber zauber, in die Tasche." Plötzlich schreit Maik dazwischen: "Immer was tun! Immer was tun! Ich will nichts tun!" Die Sonderpädagogin verteilt ein Arbeitsblatt, auf dem Formen in unterschiedlicher Reihenfolge zu sehen und zu unterscheiden sind. Maik: "Scheiße! Scheiße! Scheiß-Lehrerin! Ich will nichts arbeiten!" Er pfuscht Lars in seine Arbeit, attackiert weiter verbal die Sonderpädagogin, klaut Sabine Material - und lächelt dabei gleichzeitig provokativ und verzweifelt. Die Sonderpädagogin: "Wenn du nicht mitmachen willst, geh da hinten hin, aber stör uns nicht. Sonst werde ich ernstlich ärgerlich."

Maik macht nun was er will, während die anderen arbeiten: Er hüpft auf dem Weichboden, schaukelt mit einem Seil und in der Hängematte. Schließlich macht ihm die Sonderpädagogin ein Angebot: "Wenn du was tun willst, kannst du dich an mich wenden, aber du mußt dann vernünftig sein." 18 der 20 Minuten sonderschulpädagogischer Förderung sind vergangen. Gerade kann er noch die erste Reihe von Formen auf dem Arbeitsblatt erklären, da klingelt es: "Ooh. Scheiße." Sehr schnell ist Maik aus dem Raum heraus; Sabine folgt ihm, während Lars noch weiterschaukelt.

1.5. Abstraktes Kombinationsvermögen - oder: ein "unmögliches" Telefongespräch

Lilly wäre zu Beginn ihrer Schullaufbahn in eine Schule für Geistigbehinderte eingeschult worden, nun besucht sie die 6. Klasse einer Gesamtschule. Bei ihrer Lehrerin ruft sie an, um sich nach deren gebrochenem Bein zu erkundigen. Der folgende Dialog schließt sich an: "Aber nach den Ferien bist Du doch gleich wieder da, nicht?!" - "Ja!" - "Freust Du Dich auch schon so auf WP?" - "Oh ja!" - "Auf Darstellendes Spiel?" - "Ja, sehr!" - "Hey - Du - da tickt was bei Dir - ich weiß: Dein Mann tippt auf dem Computer!" - "Ja, richtig! Mein Mann hackt!"

Die Jasagerin ist die Lehrerin - und nicht nur das: Sonder- und sogar Geistigbehindertenpädagogin. Ab dem "Oh ja" kulminiert ihr Erstaunen: Weiß Lilly wirklich, was das Kürzel WP bedeutet und kann sie sich also auf den Wahlpflichtbereich, der im 7. Schuljahr der Gesamtschule beginnt, freuen? Macht sie sich ein Bild davon, was sie in Darstellendem Spiel tun wird? Hat sie Zeiträume so im Blick, daß sie sie absehen kann? Und vor allem - wie kann in Blitzesschnelle die gedankliche Kombination ablaufen: Klickklickklick, tapptapptipp, meine Lehrerin telefoniert ja gerade mit mir, also macht sie nicht diese Geräusche, die werden aber gerade gemacht, und zwar auf einer Schreibmaschine oder eher auf einem Computer; dann muß ein anderer sie machen, da kommt eigentlich nur einer in Frage ... ihr Mann!

"Mensch, Lilly, wieso weißt Du das?" - "Hihi, einfach so, ich hör' den doch und dann seh ich Deinen Mann, wie er auf den Computer hackt!" - "Soso ...", sagt die erfahrene Sonderpädagogin, und ihr Studium der Geistigbehindertenpädagogik rollt an ihr vorbei: kein Abstraktionsvermögen, keine Fähigkeit zum Rollenspiel, angewiesen auf konkret Anschauliches, am Gegenwärtigen haftend, schon durch kleine Veränderungen des Arrangements zu irritieren...

Und es fällt ihr die Situation vor einiger Zeit wieder ein, in der Lilly und sie über einer Uhr brüten und dem Prinzip der kleinen Schritte folgend volle und halbe Stunden ermitteln. Ein flapsiger Gesamtschulkollege kommt vorbei und verstellt lässig, um beide zu ärgern, die Zeiger auf vielleicht Zwanzig vor Drei. Aber nur eine ärgert sich, denn Lilly sagt: "Zwanzig vor Drei, glaube ich!" Die Lehrerin hatte auch mal geglaubt - nun fängt sie von vorne an, zu lernen... "Tjahaha", ruft der Kollege im Weggehen und schüttelt souverän den Kopf über so viel "besondere Pädagogik".

1.6. Differenzierte Wahrnehmung sozialer Prozesse - oder: "Du lügst!"

Markus, ein Junge mit Down-Syndrom, besucht die sechste Klasse einer Gesamtschule. Seit langer Zeit schon wird in der wöchentlichen 'Tut-Stunde' das gemeinsame Leben und Lernen der Klasse und der PädagogInnen besprochen. Heute ist Tobias Gesprächsthema, ein Junge, den die Schule eher in seiner Entwicklung stören als fördern könnte; Abitur und Studium scheinen fest vorprogrammiert. Auch innerhalb der Klasse hat er eine sehr zentrale Position und wirkt häufig meinungsbildend. Und doch stören sich einige SchülerInnen der Klasse immer wieder an seinem Verhalten, das ihnen manchmal irgendwie merkwürdig scheint, bei dem sie nicht sicher sein können, was er ernst meint und was er im Spaß sagt, ob auch wirklich alles stimmt.

Doch das Gespräch über Tobias kommt nicht recht in Gang, viele wissen wohl aufgrund seiner sozialen Stellung nicht so recht, wie sie dieses Problem gesprächstechnisch anpacken können. Markus läßt sich vom Gesprächsleiter auf die Rednerliste setzen. Als er drankommt, sagt er: "Du lügst!" Die Klasse sitzt verdutzt da. Einige SchülerInnen fragen nach: "Was meinst Du damit?" Trotz seiner Schwierigkeiten beim Sprechen bekommt Markus heraus: "Du sagst nicht, was Du sagst." Damit hat er den Nagel auf den Kopf getroffen, das Problem des 'richtigen' Beginns ist überwunden. Im Anschluß an diese kurzen Feststellungen wird geklärt: Die Problematik mit Tobias besteht darin, daß er sich häufiger 'unecht' verhält, daß er anderen etwas vorspielt. Seine soziale Stellung und seine intellektuelle und rhetorische Macht kostet er immer wieder mit Verhaltensweisen aus, die vor allem der eigenen Profilierung dienen. Diese Widersprüchlichkeit hat Markus offensichtlich genau empfunden und mit seinen sprachlichen Möglichkeiten auf den Punkt gebracht - und die anderen haben ihm zugehört und sich bemüht, seine Äußerungen zu verstehen...

1.7. Wie sich ein Geistigbehindertenpädagoge Geistigbehinderte vorstellt - oder: Die (un)heimlichen Vorurteile des Heinz B.

In den achtziger Jahren erscheint ein Buch mit dem Titel "Die heimlichen Bitten des Peter M.", in dem versucht wird, das Selbsterleben eines Kindes mit einer geistigen Behinderung darzustellen.

Im Abschnitt "Wenn ich an meine Schule denke", eine Schule für Geistigbehinderte, läßt der Autor den Schüler Peter M. sagen (BACH 1989, 43-45): "Und dann nur Kinder und Erwachsene, die so sind wie ich: Kindergarten, Schule, Werkstatt - und jetzt haben sie da noch ein Wohnheim gebaut. Aber ich möchte doch auch mit anderen Kindern spielen. Die haben so tolle Spiele und kennen sich so gut aus. Da könnte ich mir doch was abgucken.

Natürlich will ich mit denen nicht dauernd in der Klasse zusammensein. Das wäre langweilig für mich, wenn sie immerzu von Sachen reden, die sie nicht da haben und von denen ich nichts verstehe. Nur immer ihre Hefte und Bücher, und der Lehrer redet und keine Spiele. Oder sie sind immer nur nett zu mir aus Mitleid. Das mag ich gar nicht. Oder ich muß immer raus aus der Klasse und in den Kurs gehen. Da weiß ich gar nicht, was die andern machen und warum sie nebenan so lachen. Da bin ich nur wie zu Besuch, wenn man nicht ganz viel zusammen machen kann.

Aber in der Pause und im Bus und auf dem Spielplatz und beim Essen, beim Ausflug, beim Schulfest und so, da will ich immer mit den anderen zusammensein und mitmachen und mir was abgucken. Und jede Woche so zwei Stunden mit denen was spielen oder bauen oder singen oder sowas, das wäre toll."

2. Zur Bedeutung der Nanu-Geschichten

Die Geschichten zeigen, daß Kinder in Integrationsklassen ein für GeistigbehindertenpädagogInnen ungewohntes Maß an Selbstbewußtsein und Selbständigkeit entwickeln, auch, daß sie sich nicht mehr wie in bisher gewohnter Weise lenken und leiten lassen.

Vera sitzt einem Experten gegenüber, der sich der systematischen Suche nach der Diagnose widmet und dabei den Dialog mit ihr verweigert, sie und ihre Bedürfnisse ignoriert. Vera läßt sich dieses entmündigende Verhalten jedoch nicht bieten, indem sie sich zurückzieht und den Kontakt abbricht, denn solche Verhaltensweisen ist sie aus ihrer Schule nicht gewohnt. Die selbstbewußte Abwendung macht den Sonderpädagogen fassungslos: Bei diesen diagnostischen Werten kann er solche Verhaltensweisen nicht einordnen.

Rany wird durch einen Professor in einer Weise angesprochen, die seinem Selbstverständnis als Sonderpädagoge entsprechen mag. Auf ihre MitschülerInnen wirkt dies ungewohnt, überaus unangemessen und unterfordernd. Der Professor wiederum versteht die geschilderte Unterrichtssituation mit dem Koordinatenkreuz nicht. Er kann sie nur als unangemessen für Rany interpretieren: Er sieht nur gleiche Ziele für alle, die Rany mit Sicherheit nicht erreicht und durch die sie frustriert werden muß. Die individuelle Bedeutung der gemeinsamen Situation - von der Übung der räumlichen Orientierung bis zum sozialen Selbsterleben als Expertin, die anderen etwas beibringt - bleibt dem Professor verborgen.

Jörg wehrt sich gegen Übergriffe seiner Schule für Geistigbehinderte auf seine - seit dem Übergang aus der Integrationsklasse in die Schule für Geistigbehinderte ohnehin wesentlich knappere - Freizeit. Auch den Versuch der Schule, seine Mutter für die Fertigstellung seiner Arbeit zu instrumentalisieren, vereitelt Jörg. Dieses ruft in der Schule Verwunderung hervor, weil solchen 'Okkupationsversuchen' sonst offenbar weniger Widerstand entgegengebracht wird.

Lars wird einer 20-minütigen sonderpädagogischen Förderung ausgesetzt, die u.a. schon deswegen nicht funktioniert, weil sie nicht die Grundlage einer dialogischen Struktur aufweist, sondern auf einer durch sonderpädagogische Aggressivität bedingten Beziehungsstörung basiert ("Ich weiß, was für Dich gut ist - Du nicht!"). In dieser Situation hat Lars die Chance, bei den anderen beteiligten Kindern zu beobachten und damit zu lernen, daß Kinder sich gegen die Übermacht einer Lehrerin durch 'renitentes' Verhalten zur Wehr setzen können - auch wenn er sich ihr in dieser Situation letztlich doch unterwirft.

Lilly überrascht ihrer Lehrerin mit ihr eigentlich nicht zugetrauten Verstehensleistungen: sie rekonstruiert aus lediglich akustischen Signalen eine komplette Situation, kennt offensichtlich die Gesamtschulorganisation und kann auch solche Uhrzeiten lesen, die nach dem sonderpädagogischen Prinzip der kleinen Schritte noch nicht für sie vorgesehen sind. Die Lehrerin - Expertin für diesen Personenkreis - nimmt dies als Anzeichen für eine latente Unterschätzung.

Markus zeigt bei der Beratung in seiner Klasse feines Gespür für die Doppelbödigkeit des Verhaltens eines Mitschülers, die die anderen offenbar verbal nicht so auf den Punkt bringen können. Die Klasse wiederum nimmt ihn ernst, geht auf seine Äußerung ein und bemüht sich darum, ihn zu verstehen. Sie hält den Zwei-Wort-Satz nicht für einen merkwürdigen oder typischen Tick, für den Ausdruck seiner 'geistigen Behinderung'.

Heinz Bach schließlich offenbart seine Sicht der allgemeinen Schule, seine Einschätzung der Bedürfnisse eines Jungen mit 'geistiger Behinderung' und beider Unvereinbarkeit. So projiziert Bach seine eigenen Vorurteile auf den Jungen und gibt sie als dessen Äußerung aus.

Gemeinsam ist diesen Geschichten, daß das So-Sein der Kinder und die Wahrnehmung der zu ihnen gehörigen Spezialpädagogik offensichtlich auseinanderklafft: Sie drohen unterschätzt, nicht dem Entwicklungsstand angemessen angesprochen, sonderpädagogisch aggressiv okkupiert, als mögliche PartnerInnen eines Dialogs ignoriert und damit letztlich als Person nicht ernst genommen zu werden. Die PädagogInnen unterscheiden sich in den Geschichten vor allem darin, ob sie sich an die - auch selbstkritische - Reflexion der eigenen Arbeit und des eigenen Selbstverständnisses heranmachen oder ob sie auf ihrem Wissen darüber, was 'geistig behinderte' Kinder brauchen, beharren.

Die Geschichten zeigen darüberhinaus auch, daß es offensichtlich einen Unterschied macht, ob 'geistig behinderte' Kinder in Integrationsklassen oder in Klassen einer Schule für Geistigbehinderte lernen und sich dort entwickeln. Damit wollen wir keineswegs einen Automatismus behaupten, daß sich ihre Entwicklung in dem einen Schultyp nur so und in dem anderen Schultyp nur so vollziehen kann. Wenn integrative Erziehung jedoch mehr sein soll als eine schulorganisatorische Maßnahme, bei der sich pädagogisch ansonsten nicht viel ändert, dann müssen wir auch unseren Begriff von 'Geistiger Behinderung' überdenken. Hier stellt sich also die Frage, was wir als PädagogInnen unter 'Geistiger Behinderung' verstehen und welche Konsequenzen wir daraus ableiten.

3. Die Institution 'Geistige Behinderung' - 'Geistig behindert' auch durch Geistigbehindertenpädagogik und geistig behindernde Schule?

Die bisherige Sichtweise von Behinderung und von 'Geistiger Behinderung' baut auf einem - medizinisch oder psychiatrisch begründeten - Zustand eines Menschen auf. Die Einteilung von Kindern als behinderte und in unterschiedliche Kategorien und Sonderschulen basiert auf einem Modell, bei dem der medizinische Defekt und das entwicklungspsychologische Defizit im Vordergrund steht. Die Behindertenpädagogik konstituierte sich unter dem Leitgedanken einer "speziellen Förderung" (REISER 1990b, 299) und "auf dem Hintergrund der Bearbeitung von Defekten" (1990b, 299).

Von ökologischen Ansätzen wissen wir jedoch, daß sich menschliche Entwicklung - und damit auch 'Geistige Behinderung' - dynamisch im Austausch von Individuum und Umwelt vollzieht. So schlägt Alfred SANDER ein systemisches Verständnis von Behinderung vor, bei dem entsprechend einer Systematik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwischen "impairment" (als medizinisch-organische Schädigung), "disability" (als individuelle/psychologische Leistungsminderung) und "handicap" (als soziale Behinderung) unterschieden wird (SANDER 1988, 79). Behinderung besteht dieser Sichtweise nach "in gestörter Integration des betreffenden Menschen in sein Umfeldsystem" (1988, 81). Durch Maßnahmen in den Umfeldbedingungen kann ein Mensch also demzufolge weniger behindert sein als zuvor. "Die Frage lautet dann nicht, welche Behinderung ein Mensch 'hat', sondern durch welche Umstände eine mögliche Entwicklung behindert wird" (REISER 1990a, 266). Alte Kategorien einer defektorientierten Zuordnung zu Sonderschultypen können hierfür keine positive Funktion mehr haben (vgl. HINZ 1991).

Diese Sichtweise von Behinderung hat Konsequenzen auch für das Verständnis von 'Geistiger Behinderung'. Demnach entwickelt sich auch Geistige Behinderung dynamisch in Austauschprozessen zwischen Individuum und Umwelt. Diese Dynamik kann jedoch nicht als einseitige verstanden werden, bei der die Umwelt - und dies beinhaltet u.a. auch die Geistigbehindertenpädagogik und die entsprechende Schule - auf das die 'Geistige Behinderung' repräsentierende Individuum normalisierenden Einfluß nimmt. Es handelt sich vielmehr um eine "wachsende dynamische Einheit, die das Milieu, in dem sie lebt, fortschreitend in Besitz nimmt und umformt" (BRONFENBRENNER 1989, 38). Es erfolgt also ein "Prozeß 'gegenseitiger Anpassung'" (1989, 38) zwischen Individuum und Umwelt, ihre Interaktion ist von wechselseitiger Beeinflussung, von Reziprozität gekennzeichnet.

Die Geistigbehindertenpädagogik hat bisher diese Prozesse gegenseitiger Anpassung im Sinne 'geistiger Behinderung' einseitig zum Kind hin aufgelöst: Das Phänomen 'Geistige Behinderung' wird dem Individuum zugeordnet (vgl. DREHER 1987, 21). Damit wird gleichzeitig der Einfluß der Umwelt ausgeblendet, aufgrund dessen sich (u.a.) ein Mensch 'geistig behindert' verhält und entwickelt. Insofern muß hier die Frage gestellt werden, ob nicht die Geistigbehindertenpädagogik lediglich das als 'Geistige Behinderung' und als 'Wesen des Geistigbehinderten' - eine unzulässige Substantivierung, die Menschen auf ihre Behinderung reduziert (vgl. HINZ 1991) - definiert, wozu u.a. sie Kinder mit dem entsprechenden Etikett sich hat entwickeln lassen.

Insofern müßte die verbreitete pragmatische Definition von 'Geistiger Behinderung' verändert werden. Es dürfte nicht mehr heißen: 'Geistig behindert' ist, wer eine Schule für Geistigbehinderte besucht. Stattdessen müßte in Analogie zum polemischen, auf Mädchen bezogenen Buchtitel von Ursula SCHEU (1977) formuliert werden: Wir werden nicht als 'geistig Behinderte' geboren, wir werden dazu gemacht - und das auch durch die Geistigbehindertenpädagogik und die Schule für Geistigbehinderte.

Es stellt sich also die Frage, wie weit die Geistigbehindertenpädagogik und die Schule für Geistigbehinderte im Sinne der self-fullfilling prophecy zu 'Geistiger Behinderung' beiträgt. Hierzu gibt es - was nicht überrascht - so gut wie keine Literatur; eine der wenigen Ausnahmen ist ein Aufsatz von Johannes ELBERT (1986).

Nach ELBERT wird 'Geistige Behinderung' durch Prozesse von außen formiert: Die medizinisch-psychiatrischen und sonderpädagogischen Theorien legitimieren sich "durch die Forderung nach lebenslangem Schutz und Hilfe für den 'Geistigbehinderten'" (ELBERT 1986, 95). Mit der medizinischen Konstruktion der Oligophrenie sprechen sie Menschen mit 'Geistiger Behinderung' die Fähigkeit zu autonomem, oder noch allgemeiner: letztlich sogar zu sinnvollem Handeln ab und degradieren sie "zum Objekt korrigierender Erziehungseinflüsse" (1986, 95).

Bereits mit der Diagnosestellung in früher Kindheit wird die Möglichkeit verbaut, das Agieren des Kindes mit 'Geistiger Behinderung' in ein Interagieren transformieren zu helfen. Durch die Diagnose 'Geistige Behinderung' wird vielmehr bei allen Beteiligten eine negative Erwartungshaltung hervorgerufen und bei den Eltern ein Schock ausgelöst, der ihnen eine intensive symbiotische Zuwendung zum Kind, das für Kinder so wichtige empathische "Spiegeln" (MILLER 1979, 59) verunmöglicht. Eine Mutter hat diese Problematik so beschrieben: "Als Friederike 1977 geboren wurde, brach für uns von einer Stunde zur anderen unsere positive Vision vom glücklichen Familienleben zusammen. Wir konnten zunächst nur sehr bedrückt und leiderfüllt in die Zukunft blicken. Verwandte und Freunde brachten in erster Linie Mitleid mit, durchsetzt mit Ratlosigkeit und Bedauern. Obwohl wir noch keinen Kontakt mit behinderten Menschen hatten, erzeugte das Wort Behinderung - und gar geistige Behinderung - sofort eine Negativ-Palette von Begriffen und Vorstellungen in uns. Dies führte zu innerer Abwehr und Ablehnung von Behinderung. Wie mußte Friederike sich damals gefühlt haben! Sie selbst schien keine Chance zu haben" (DANNOWSKI, KÖRNER & MIEHLICH 1989, 267).

Mit der Diagnose 'Geistige Behinderung' wird der "bürgerliche Tod" (GOFFMAN) verkündet. Sie "fungiert als Einbetonierung von Selbst- und Fremdwahrnehmung in der frühen Mutter-Kind-Beziehung" (NIEDECKEN 1989, 24). Statt der Hoffnung auf Autonomie, Handlungsfähigkeit, Selbstverantwortlichkeit und Entwicklung steht nun lebenslange Sorge, Unselbständigkeit des Kindes und nicht endende Verantwortlichkeit der Eltern in Aussicht. Das Kind wird zum ausschließlichen Objekt der Betreuenden. Dieses zieht für seine weitere Entwicklung ein Trümmerfeld nach sich (vgl. ELBERT 1986, 78-84):

  • Die eigentlich vorhandene, aber nicht zuzulassende ablehnende Haltung der Eltern wird als Überbehütung und Schutz vor Gefahren von außen auf das Kind projiziert; damit wird unbewußt die eigene Aggression bekämpft, gleichzeitig werden aber auch Ansätze zu kindlicher Autonomie erstickt.

  • Die feste, u.U. lebenslange Symbiose verhindert Loslösungsprozesse des Kindes, ambivalente Gefühle gegenüber der Mutter kann es nicht integrieren; vorhandene Aggressionen zeigen sich dann u.U. in Wutanfällen oder anderen Ausdrucksformen.

  • Häufige Double-Bind-Situationen, also Situationen mit gegensätzlichen Botschaften, verwirren das Kind; Beifall für Selbstverständliches trägt zur eigenen Entwertung bei.

  • Therapeutische Programme versprechen den Eltern Veränderung des eigentlich so nicht gewollten Kindes und lassen sie nach dem Strohhalm deutlicher Veränderungsmöglichkeiten greifen. MILANI-COMPARETTI & ROSER (1982) kennzeichnen diese Konstellation mit dem Begriff der "perversen Allianz", die Professionelle (MedizinerInnen, TherapeutInnen und PädagogInnen) und die Eltern zur Bekämpfung des Übels Behinderung auf Kosten des Kindes eingehen. Therapeutische Programme machen zudem häufig das Kind zum Objekt, das nur auf gesetzte Reize reagieren kann und nicht in seiner Handlungsfähigkeit unterstützt wird, unabhängig davon, ob es nun 'richtige' oder 'falsche' Bewegungsmuster verwendet. Das Kind selbst versteht obendrein nicht, welchen Sinn derartige Veranstaltungen haben sollen, und schon gar nicht, daß sie Ausdruck elterlicher Liebe und Zuneigung und zu seinem Besten sein sollen. Dieses sind sie letztlich auch nicht, denn sie sind Ausdruck einer bei den Eltern noch verständlichen rehabilitierenden Abwehr, die psychologisch die gleichen Wurzeln hat wie die Aussonderung (vgl. NIEDECKEN 1989, 19).

Gerade die Konstellation der 'perversen Allianz' macht deutlich, daß die Krisenphänomene, mit denen sich Eltern bezogen auf ihr Kind auseinandersetzen müssen, nicht in gleicher, aber in ähnlicher Weise auch die professionell mit dem Kind befaßten Erwachsenen betreffen. Auch sie müssen sich mit ihrem Normalitätsbegriff, mit ihren Wertvorstellungen, Aggressionen und Abwehrbedürfnissen gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern auseinandersetzen.

Angesichts dieser von außen, von der Umwelt ausgehenden Formierung des "geistigbehinderten Selbst" (ELBERT 1986, 75) bleibt dem Kind nur die Notwendigkeit der Gegenwehr. Vieles, was von der Umwelt als Verhalten aufgrund der 'Geistigen Behinderung' interpretiert wird, kann als notgedrungene Versuche der Gegenwehr und damit als sinnvolles Handeln verstanden werden (vgl. ELBERT 1986, 85-94). Als Beispiele hierfür führt ELBERT Verhaltensweisen an wie die sprachliche Verweigerung, das Verbergen von Wissen, das heimliche Lernen durch Beobachten und Zuhören, das Abschotten gegenüber der bedrohlichen Umwelt durch alle Arten von Stereotypien, Selbststimulation, Fixierungen auf Gegenstände etc.. Ihnen gemeinsam ist, daß sie Versuche darstellen, "Autonomie und Einfluß auf die Umwelt zu gewinnen, oder sich vor ihr zu schützen" (1986, 93).

GeistigbehindertenpädagogInnen, die auf der Grundlage der gängigen Theorien von 'Geistiger Behinderung' ihre SchülerInnen in bestimmte, für sie z.B. im Sinne des Prinzips der kleinen Schritte als notwendig erachtete Interaktionssituationen zwingen, nähern sich nach ELBERT doch nur dem von ihnen "geformten Objekt" (1986, 93) und bewirken zweierlei: Sie verstärken die Akte der Gegenwehr gegen Situationen "einer bemächtigenden, dressierenden Kommunikation" (1986, 93) und sie verhindern Situationen, in denen Eigeninitiative und Situationsgestaltung möglich würde, die also für die Entwicklung des Kindes wirklich förderlich wären. Veras Nanu-Geschichte ist hierfür ein Beispiel.

Dietmut NIEDECKEN gibt mit dem Untertitel "Geistig Behinderte verstehen" einen hilfreichen Hinweis. Wir haben ihn zunächst als Appell an uns verstanden, sie zu verstehen. Sie meint ihn jedoch anders: Auch sie verstehen uns, sie verstehen, was wir von ihnen halten, was wir ihnen (nicht) zutrauen, wo wir ihnen (keine) Autonomie erlauben, wo wir schon zu wissen glauben, was sie brauchen und was für sie gut ist. Und sie verstehen auch irgendwie, daß wir den "gesellschaftlichen Tötungsimpuls" (NIEDECKEN) ihnen gegenüber repräsentieren, auch wenn wir ihn in rehabilitierende und/oder aussondernde Abwehr umformen. - Damit gerät die Basis des bisher Selbstverständlichen ins Wanken.

Im Studium und im Referendariat innerhalb der Schule für Geistigbehinderte lernen (und evtl. erleiden) wir in etwa die folgende Haltung gegenüber den dort zu unterrichtenden, 'unseren' Kindern: 'Geistig behinderte' Kinder brauchen enge Führung, klare Orientierung, eindeutige, sprachlich kurze Anweisungen, individuell angemesse, in kleinsten Schritten der Schwierigkeit ansteigende Anforderungen; ihre vorhandenen Ticks müssen bearbeitet und abgebaut werden; der Lehrer muß Chef im Ring sein, klar angeben, wo es langgeht. Im Unterricht müssen Realsituationen hergestellt werden, und sei es, daß ein Referendar extra seinen Toaster 'kaputtmanipuliert', damit durch qualmende Toastscheiben deutlich wird, daß ein neuer gekauft und dafür die Mengenvorstellung trainiert werden muß. Zu real wird es dann jedoch, als ein Schüler daraufhin seine Reparaturfähigkeiten anbietet und darauf drängt, den Toaster nach Hause mitnehmen zu dürfen. Oder es soll von PädagogInnen für den Religionsunterricht der Cassettenrecorder der Klasse geklaut werden, damit die SchülerInnen Verlust erleben können.

Je länger wir mit der Integration zu tun haben, um so weniger wissen wir, was Kinder - und gerade auch Kinder mit 'geistiger Behinderung' - brauchen, um so mehr werden wir selbst zu Suchenden. Um so mehr stellt sich für uns die Frage, ob wir nicht häufig mit dem, was wir als Wesen eines Menschen mit 'geistiger Behinderung' betrachten, nur das bezeichnen, was wir und die Geistigbehindertenpädagogik aus ihm haben werden lassen.

Konkret stellt sich die Frage: Betreiben wir nicht unbewußt und in sonder-didaktischer Verpackung immer wieder das Geschäft der "Institution 'Geistige Behinderung'" (NIEDECKEN), das unsere Wahrnehmung aufgrund des gesellschaftlichen Mordauftrags am Übel dieser Menschen und durch rehabilitierende Abwehr beeinflußt? Es ist dies auch die Frage, ob wir nicht den Kindern mit diesem Etikett immer wieder mit dem Argument ihrer besonderen Bedürfnisse eine einseitig definierte Interaktionssituation aufzwingen, die ihnen nur beschränkte Reaktion erlaubt, und, wenn sie sich dann vielleicht mit Regression gegen unsere Dominanz zu wehren versuchen, daß wir dies dann für einen Ausdruck 'geistiger Behinderung' halten und es nicht als Zeichen von Gegenwehr verstehen?

Beginnen solche Prozesse nicht schon dort, wo PädagogInnen Kindern Fragen stellen, die sie selbst am besten beantworten können und wo gar kein echtes Frageinteresse besteht - wo also letztlich ein Stück absurdes Theater mit leeren Ritualen aufgeführt wird? Es ist nicht zu vermuten, daß solche Spiele zu mehr Autonomie und Selbstbewußtsein oder zu 'Selbstverwirklichung in sozialer Integration' beitragen.

4. Polaritäten im Verständnis von 'Geistiger Behinderung'

Im folgenden versuchen wir, diese Fragestellung in einem Polaritätenmodell zu verdeutlichen. Wichtig ist uns dabei, daß diese Polaritäten nicht mit der institutionellen Ebene von Sonderschule und Integration gleichgesetzt werden, sondern daß es dabei um - auch innerpsychisch widersprüchliche - Fragen der Sichtweise und der Selbstdefinition von PädagogInnen geht, die auch innerhalb unterschiedlicher institutioneller Gegebenheiten in verschiedene Richtungen gehen können.

Defektologische Haltung

Dialogische Haltung

  • 'Geistige Behinderung' als Zustand

  • 'geistig behindert' sein (und bleiben)

  • (Hirnorganischer) Defekt, ('IQ'-) Mangel, Defizite in der Entwicklung

  • Ticks, Stereotypien des Kindes

  • Theorie der Andersartigkeit

  • Defizitorientierung, Arbeit an Problemen

  • pädagogische Aggressivität

  • Kind als Objekt, primär passiv

  • Wissen, was das Beste für das Kind ist

  • lebenspraktisches Training

  • individuelle optimale Förderung

  • Lernen nur von spezialisierten Erwachsenen

  • sonderpädagogischer Anspruch, totale Verantwortung

  • didaktische Reduzierung, 'Prinzip der kleinen Schritte'

  • Förderpläne

  • Erfolg und Leistung der SchülerInnen

  • Maßnahmen und Regelungen, durch PädagogInnen gesetzt

  • Tabuisierung des Themas 'Geistige Behinderung'

  • Sonderschulbedürftigkeit

  • Elternarbeit, Gesprächsführung

  • Geistige Behinderung' als Prozeß

  • 'geistig behindert' werden (und sich so entwickeln)

  • auf sich wechselseitig beeinflussenden inneren und äußeren Bedingungen basierende Entwicklung

  • sinnvolle, logische (Re-)Aktion

  • Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit

  • Kompetenzorientierung, Unterstützung von Entwicklung

  • pädagogische Assistenz

  • Kind als autonomes Subjekt, primär aktiv

  • Beobachten, auf der Welle des Kindes mitgehen

  • Rahmen für Handlungsfähigkeit

  • individuelle Anfragen

  • Anregung durch Kinder und Erwachsene

  • Akzeptanz, kein Herrschaftsanspruch

  • Offenheit für gemeinsame Situationen und Erfahrungen

  • dialogische Entwicklung, Verabredung

  • Akzeptanz als autonome Persönlichkeit mit Entwicklungspotential

  • Maßstäbe, durch Kinder gesetzt

  • Zeugenschaft für Bearbeitung des Themas 'Geistige Behinderung'

  • elementarere Bedürfnisse an das Umfeld

  • Zusammenarbeit mit Eltern

In dieser Aufstellung von Polaritäten finden sich jene Grundhaltungen wieder, die von medizinisch-psychiatrischer Grundlage einerseits und von pädagogisch-dialogischer Grundlage andererseits ausgehen. Es ist keine Gegenüberstellung der Geistigbehindertenpädagogik in Sonder- und Integrationsschulen, beide Haltungen sind in beiden institutionellen Situationen vorstellbar und - wie die Nanu-Geschichten z.T. gezeigt haben - auch vertreten.

Die defektologische Haltung sieht 'Geistige Behinderung' als Zustand und Eigenschaft, die dialogische als dynamischen Prozeß. Dementsprechend ist und bleibt ein Mensch 'geistig behindert' oder er wird in seiner Entwicklung so empfunden. Der Zustand ist bedingt durch hirnorganische Defekte, Intelligenzmangel und nicht eindeutig definierbare Entwicklungsrückstände; die Entwicklung vollzieht sich demgegenüber ökologisch in wechselseitigem dynamischen Austausch zwischen inneren und äußeren Bedingungsfaktoren. Bestimmte Verhaltensweisen werden defektologisch als - organisch oder sonstwie begründete - Ticks und Stereotypien verstanden, dialogisch hingegen als subjektiv logische und sinnvolle Aktionen und Reaktionen auf die Umwelt.

Der defektologischen Haltung liegt eine immanente Theorie der Andersartigkeit von Menschen mit 'geistiger Behinderung' zugrunde, die u.a. auch lebenslangen Schutz und separate Beschulung begründet. Die dialogische Haltung favorisiert demgegenüber eine dialektische Sichtweise gleichzeitiger Gleichheit und Verschiedenheit mit allen Menschen, die Gemeinsamkeit für selbstverständlich und Aussonderung für begründungspflichtig hält.

Die defektologische Haltung orientiert sich an Defiziten, die bekämpft und, soweit möglich, aufgearbeitet werden sollen; demgegenüber orientiert sich die dialogische Haltung an vorhandenen Kompetenzen und bemüht sich, Entwicklungsprozesse zu unterstützen. In diesem Sinne ist die defektologische Haltung in der Bekämpfung von Problemen pädagogisch aggressiv und behandelt das Kind als primär passives Objekt; die dialogische Haltung geht in der Assistenz für das Kind behutsam vor und erkennt das Kind als primär aktives Subjekt an. Sie beobachtet das Kind und sucht auf seiner Welle mitzugehen, während die defektologische Haltung schon weiß, was für das Kind gut und richtig ist, unabhängig von momentanen Bedürfnissen.

Während die dialogische Haltung einen Rahmen für die Entwicklung von Handlungskompetenz bereitstellen will, hält die defektologische Haltung lebenspraktisches Training für wichtig. Für sie muß das Kind individuell optimal gefördert werden, während die dialogische Haltung das Postulat der optimalen Förderung für eine sonderpädagogische Mystifizierung hält und individuelle Anfragen an das Kind formuliert, auf dies es eingehen kann oder nicht. Sie setzt darauf, daß das Kind durch andere Kinder und - auch unausgebildete - Erwachsene angeregt werden kann und soll, während die defektologische Haltung auf die notwendige Exklusivität des Lernens von SpezialistInnen für 'Geistigbehinderte' verweist. Damit weist die defektologische Haltung den GeistigbehindertenpädagogInnen die volle Verantwortung zu und formuliert Ansprüche an das Kind, während die dialogische Haltung vor der Verpflichtung zum Fortschritt und vor sonderpädagogischer Herrschaftsausübung warnt und auch Stagnation als Möglichkeit zu akzeptieren versucht. Sie bemüht sich um Offenheit für anregende gemeinsame Lernsituationen und Erfahrungen, während die defektologische Haltung die Notwendigkeit der didaktischen Reduzierung und des Prinzips der kleinen Schritte und die andernfalls bei dessen Nichtbeachtung drohende Überforderung betont.

Die defektologische Haltung setzt denn auch auf systematische, zu erfüllende Förderpläne, die dialogische Haltung sucht Verabredungen mit Kindern einzugehen. Dieses hat die Akzeptanz des Kindes als autonome Persönlichkeit mit einem eigenen Entwicklungspotential zur Grundlage, das zu pädagogisch wichtigen Anliegen auch schlicht nein sagen kann. Die defektologische Haltung will hingegen Erfolge und Leistungen sehen. Bei deren Gefährdungen setzt sie auf pädagogische Maßnahmen und Regelungen, während die dialogische Haltung den Maßstab den Kindern in die Hand gibt.

Weil Kinder mit 'geistiger Behinderung' für die defektologische Haltung sonderschulbedürftig sind, wären sie auch mit der Thematisierung des Phänomens 'Geistige Behinderung' überfordert. Demgegenüber zeigen sie für die dialogische Haltung lediglich elementarere Bedürfnisse gegenüber dem Umfeld und sind darauf angewiesen, daß sich ggf. jemand mit ihnen darüber auseinandersetzt, was der Begriff 'Geistige Behinderung' eigentlich bedeutet, wenn er irgendwie mit ihnen in Zusammenhang gebracht wird.

Schließlich hält die defektologische Haltung Elternarbeit für notwendig, da den Eltern geholfen werden muß. Hier sind Techniken der Gesprächsführung hilfreich, denn es muß durchschaubar sein, welche 'Spiele' Eltern in ihrer Verstrickung mit PädagogInnen 'spielen'. Dabei hält sie sich selbst für fortschrittlich, wenn sie Eltern nicht mehr als Ko-TherapeutInnen instrumentalisiert. Die dialogische Haltung hält demgegenüber für wichtig, daß Eltern und Schule zusammenarbeiten und Gemeinsames tun, ohne Unterschiede zu verwischen.

Die vorstehende Gegenüberstellung erhebt keinen Anspruch auf perfekt ausgearbeitete Systematik und Vollständigkeit; sie ist eher als assoziative Sammlung zu verstehen, deren Basis in der unterschiedlichen Haltung gegenüber Menschen mit 'Geistiger Behinderung' liegt - letztlich aber im unterschiedlichen pädagogischen Selbstverständnis und im Umgang mit Menschen überhaupt. Wir haben häufig formulierte, immer wiederkehrende Diskussionspunkte gesammelt und in die Polarität von Defekt- bzw. Dialogorientierung eingeordnet. Es liegt auf der Hand, daß wir die dialogische Haltung für die zukunftsweisende und die defektologische für die weithin noch dominierende, aber möglichst zu überwindende Sichtweise von 'Geistiger Behinderung' halten.

5. Schluß

Wie bereits mehrfach betont, sind diese Haltungen nicht automatisch mit institutionellen Gegebenheiten verbunden, etwa in dem Sinne, daß in Integrationsklassen quasi automatisch dialogisch und in Schulen für Geistigbehinderte defektologisch gedacht und agiert wird. Dennoch halten wir eine generelle Tendenzaussage für vertretbar und notwendig: In der Schule für Geistigbehinderte dialogisch zu arbeiten ist ungleich schwerer als in der Integrationsklasse. Die institutionellen Konstellationen provozieren bereits unterschiedliche Chancen und Probleme.

Wie auch in den Nanu-Geschichten deutlich wird, bietet die Anwesenheit von anderen, auch von nichtbehinderten Kindern eine große Chance für Kinder mit 'geistiger Behinderung'. Sie können in diesem Umfeld Kooperation, aber auch Konfrontation und Konfliktregelung erleben, ohne daß das Verhältnis der KonfliktpartnerInnen bzw. -parteien von vornherein der absoluten Herrschaftsstruktur mit ausschließlich nichtbehinderten Erwachsenen und ausschließlich 'geistig behinderten' SchülerInnen in einer Schule für Geistigbehinderte entspricht. Die Integrationsklasse bietet ein ungleich größeres Spektrum an Kooperations- und Konfliktsituationen und -konstellationen als Erfahrungsmöglichkeiten, als eine Schule für Geistigbehinderte je zustandebringen könnte.

In der Integrationsklasse können Kinder mit 'geistiger Behinderung' mehr Lebendigkeit erleben, sie leben und lernen nicht in einer ausgelesenen, künstlichen, reduzierten, eigens für sie eingestellten - und auf sie und ihre Behinderung 'zugerichteten' - Welt. Das große, auch punktuell überfordernde Anregungspotential einer normalen Welt kann durch die intensivste Zuwendung von einzelnen Erwachsenen in Einzel- und Kleinstgruppensituationen allenfalls relativiert, nicht aber ganz kompensiert werden. In der Integrationssituation erübrigt sich auch mancher 'Methodenzauber', etwa mit Hilfe geklauter Cassettenrecorder und kaputtreparierter Toaster, dessen Künstlichkeit die Leblosigkeit in Schulen für Geistigbehinderte kompensieren soll.

Auch für PädagogInnen kann die integrative Situation eine Entlastung bedeuten: Sie stehen nicht mehr in gleicher Weise unter dem Druck, jederzeit auf jedes einzelne Kind angemessen eingehen und es 'optimal fördern' zu müssen. Wenn sie nicht mehr die einzigen sind, von denen Kinder mit 'geistiger Behinderung' lernen können, wird der ständig auf ihnen lastende Handlungsdruck relativiert. Vieles regelt sich innerhalb der Kindergruppe auf faszinierende Weise (vgl. hierzu BOBAN & KÖBBERLING 1991).

Dennoch hüten wir uns davor, die Situation in Integrationsklassen glorifizieren zu wollen. (Sonder-)Pädagogische Aggressivität und Förderpläne finden sich in vielen Fällen auch im Breich integrativer Erziehung. Und es sind immerhin im Regelfall die gleichen Personen, die zunächst in der einen und später in der anderen Institution arbeiten und mit der Institution nicht gleichsam ihre pädagogische Kleidung wechseln. Ein dialogisches Verständnis von 'Geistiger Behinderung' wird sich nur in der kontinuierlich reflektierten persönlichen und gruppenbezogenen Weiterentwicklung des pädagogischen Selbstverständnisses entwickeln können und dieses wird nur im Verlauf von langen Zeiträumen möglich sein - und mit Sicherheit nicht durchgängig, sondern nur in Bruchstücken und mit immer wieder auftretenden inneren Widersprüchen (vgl. BOBAN 1992).

Konsequenzen aus den Überlegungen zum Verständnis 'Geistiger Behinderung' sollten - unabhängig von Lernorten und Institutionen - in der Richtung gezogen werden, daß die Bereitschaft zur Reflexion eigener Tätigkeit und eigener, innerpsychischer Anteile in der Tätigkeit kultiviert werden muß: Es gilt, sonderpädagogische Aggressivität und Bevormundung wahrzunehmen, sogenannte Notwendigkeiten zu hinterfragen und zu relativieren, immer wieder neu nachzudenken, was Kinder mit 'Geistiger Behinderung' brauchen - und was GeistigbehindertenpädagogInnen 'brauchen', weil sie es so gewohnt sind. Letztlich gilt es vor allem, eigene Verunsicherung und individuelle Entwicklungswege zuzulassen und den eigenen pädagogischen Anspruch aufzugeben, auf jede Frage, Herausforderung und Problemlage sofort eine Antwort, Konsequenz und Maßnahme zur Hand zu haben. Und das gilt für jedwede GeistigbehindertenpädagogIn, unabhängig davon, ob er/sie in einer Schule für Geistigbehinderte oder in einer Integrationsklasse arbeitet.

Walther DREHER schließt an die Überlegungen von Johannes ELBERT drei Aufgaben an, die sich als Herausforderungen für die Geistigbehinderten- wie die Integrationspädagogik stellen:

"1. Wir müssen die Verhaltensweisen des geistigbehinderten Menschen als sinnvoll und berechtigt anerkennen.

2. Wir müssen erkennen, daß Formierungsversuche der Umwelt und Akte der Gegenwehr den Geistigbehinderten und das geistigbehinderte Selbst produzieren.

3. Dies richtet an uns die Forderung, neue Möglichkeiten zu suchen, die gestörten Interaktionsstrukturen zwischen 'Geistigbehinderten' und 'Normalen' aufzubrechen und zu verändern" (1987, 23).

Zu ergänzen wäre eine vierte Forderung: Wir müssen lernen, uns aus den Fesseln des medizinischen Modells und der Umklammerung medizinisch-psychiatrischer Denkweisen zu befreien und Gemeinsamkeiten zwischen der Schulpädagogik, insbesondere im Hinblick auf Schulreformbestrebungen, und der Geistigbehindertenpädagogik (wieder) zu entdecken. So gesehen könnte die Integrationsentwicklung mit den ihr innewohnenden Chancen der Persönlichkeitsentwicklung für Menschen mit 'Geistiger Behinderung' ein Anstoß sein für eine pädagogische Neuorientierung der Geistigbehindertenpädagogik.

Sie könnte dazu beitragen, daß Vera auch im Krankenhaus die Chance zu echten Dialogsituationen erhält, Rany nicht unangemessen kleinkindlich angesprochen und ihr zugestanden wird, sinnvoll am gemeinsamen Thema 'Koordinatenkreuz' sinn- und lustvoll teilzuhaben, Jörg ohne schulische Übergriffe seine Freizeit (und seine Mutter) genießen kann und für Lars weniger Notwendigkeit zur Rebellion gegen seine Sonderpädagogin besteht. Ihnen ist ein pädagogisches Milieu zu wünschen, wie Lilly und Markus es bereits geboten bekommen - und das auch mit allen Unsicherheiten und kritischen Rückfragen der PädagogInnen. Und eine pädagogische Neuorientierung der Geistigbehindertenpädagogik könnte auch die (un)heimlichen Vorteile mancher Professioneller überflüssig machen.

Literatur

BACH, Heinz: Die heimlichen Bitten des Peter M. Berlin: Edition Marhold 19892

BOBAN, Ines: Integration schwerst-, anders- und nichtbehinderter Kinder - eine Frage des Selbstverständnisses. In: BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE (Hrsg.): Schwerstbehinderte Kinder in Integrationsklassen - eine Herausforderung. Marburg: Lebenshilfe 1992, 109-125

BOBAN, Ines & KÖBBERLING, Almut: Der Weg wird, indem wir ihn gehen. Kinder mit Behinderungen in der Sekundarstufe I. Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 14, 1991, H.5, 5-21

BRONFENBRENNER, Urie: Ökologie der menschlichen Entwicklung. Frankfurt am Main: Fischer 1989

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DEPPE-WOLFINGER, Helga, PRENGEL, Annedore & REISER, Helmut: Integrative Pädagogik in der Grundschule. Bilanz und Perspektiven der Integration behinderter Kinder in der Bundesrepublik Deutschland 1976-1988. München: DJI 1990

DREHER, Walther: Integration und Schule für Geistigbehinderte - Ein Reizwort oder realistische und notwendige Perspektive auf dem Weg zur Schule für alle Kinder und Jugendlichen? Sonderschule in Niedersachsen 1987, H.2, 21-24

ELBERT, Johannes: Geistige Behinderung - Formierungsprozesse und Akte der Gegenwehr. In: KASTANTOWICZ, Ulrich (Hrsg.): Wege aus der Isolation. Heidelberg: Schindele 19862, 56-105

HETZNER, Renate & STOELLGER, Norbert: Geistigbehinderte Kinder in der allgemeinen Schule? Behindertenpädagogik 24, 1985, 406-417

HINZ, Andreas: Braucht die Pädagogik einen Behinderungsbegriff? Zeitschrift für Heilpädagogik 42, 1991, 126-127

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NIEDECKEN, Dietmut: Namenlos. Geistig Behinderte verstehen. München: Piper 1989

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REISER, Helmut: Ergebnisse der Untersuchung. In: DEPPE-WOLFINGER, PRENGEL & REISER 1990a, 259-272

REISER, Helmut: Überlegungen zur Bedeutung des Integrationsgedankens für die Zukunft der Sonderpädagogik. In: DEPPE-WOLFINGER, PRENGEL & REISER 1990b, 291-310

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Quelle:

Ines Boban/Andreas Hinz: Geistige Behinderung und Integration

Erschienen in: Zeitschrift für Heilpädagogik 44, 327-340

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.05.2005

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