Neurowissenschaften - Nutzen und Risiken für die Pädagogik

Autor:in - Hans von Lüpke
Themenbereiche: Medizin
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag bei der 23. Fortbildungstagung der AG Frühförderung im VBS am 23. Januar 2011 in Lübeck
Copyright: © Hans von Lüpke 2011

Plastizität - Hoffnung und Angst

Die Vorstellung von einer Plastizität des Gehirns hat der Pädagogik neue Impulse gegeben. Zu wissen, dass sich im Gehirn Milliarden von Verknüpfungen, Aktivierungen und Blockierungen in jedem Augenblick ändern, ermutigt das eigene Handeln, besonders im Berich der Frühförderung. Noch werden jedoch die gängigen Modelle über das Gehirn dem kaum gerecht. Häufig orientieren sich die Vorstellungen über Hirnfunktion weiterhin an einer Verarbeitungsmaschine: Informationen aus der Umwelt oder dem eigenen Körper gelangen in das Gehirn, das sie in Zentren verarbeitet und über Handlungsimpulse wieder nach außen wirksam werden lässt. Dabei ist die Aufnahme und Verarbeitung dieser Informationen durch ein "richtig verdrahtetes" Gehirn von entscheidender Bedeutung. Bilder von Verdauung, von Kanälen, Filtern, Schaltern sowie die Stabilisierung von Netzwerken bestimmen noch weitgehend die Vorstellung. Die Bewertung von Wahrnehmung als richtig oder gestört orientiert sich daran. Pädagogische Maßnahmen werden danach beurteilt, ob sie durch richtige Angebote und Übungsstrategien solche vermeintlichen Prozesse fördern. Ein solches Modell setzt jedoch eine begrenzte, überschaubare und damit kontrollierbare Anzahl von Verbindungen voraus und ist mit einem konsequenten Konzept von Plastizität nicht vereinbar. Dieser weiterhin fortbestehende Widerspruch ist nicht das Ergebnis von unzureichendem Wissen, sondern eher Folge einer Angst vor dem mit einem solchen Konzept einhergehenden Verlust an Orientierung. Dies führt zur Blockierung der Neugier und Festhalten an überholten Modellen. Dadurch werden viele mit dem Plastizitätsmodell verbundenen Chancen vertan und die Konsequenzen für die Pädagogik in ihrer Bedeutung einerseits überschätzt, auf er anderen Seite noch nicht ausreichend genutzt.

Um die Weiterentwicklung in den Neurowissenschaften in ihrer Bedeutung für die Pädagogik einschätzen zu können, bedarf es zunächst einer Darstellung der neueren Modelle von Hirnfunktion. Daraus sich ergebende Konsequenzen können besonders anschaulich am Thema Wahrnehmung und deren Regulation im Kontext der organischen und funktionellen wie auch der durch Beziehungen bedingtenWirkfaktoren erläutert werden. Auf dieser Grundlage lassen sich dann Konsequenzen für die Pädagogik diskutieren.

Neue Konzepte in der Hirnforschung

Um die neueren Vorstellungen von Aufbau und Funktion des Gehirns zu verdeutlichen, eignen sich als Einstieg die Experimente des Hirnforschers Freeman (1995). Im Gegensatz zu den meisten Hirnforschern ging es ihm nicht darum, in immer kleinere (zelluläre, molekulare) Dimensionen vorzudringen. Er leitete mit einer EEG-Technik Erregungsmuster über größeren Hirnarealen ab und wollte auf diese Weise Funktionszusammenhänge verstehen. Dazu machte er Kaninchen zunächst mit einer Auswahl an Gerüchen vertraut. Es zeigte sich in der bei Verarbeitung von Gerüchen aktivierten Hirnregion - der Regio olfactoria - zu jedem Geruch ein charakteristisches Muster. Eine neu hinzukommende Geruchsqualität führte jedoch nicht - wie man zunächst erwarten könnte - lediglich zur Entwicklung eines zusätzlichen Musters, sondern veränderte auch die bereits bestehenden. Darüber hinaus zeigte sich, dass die neuen Muster nicht allein durch die chemischen Eigenschaften der Gerüche bestimmt waren, sondern auch von der jeweilige Verfassung des Tieres abhingen. Bei Hunger oder erhöhtem Erregungszustand beispielsweise veränderten sich die räumlichen Muster, obwohl die Gerüche gleich blieben. Die veränderten Repräsentanzen von vorher bereits bekannten Gerüchen stellten dabei Modifikationen des früheren Musters dar, es gab also eine "Erinnerung". Die Experimente von Freeman zeigen, dass Wahrnehmungsprozesse nicht einzelnen festgelegten Bahnen und verarbeitenden Zentren zugeordnet werden können.

Dass es dabei nicht um Besonderheiten bei Kaninchen geht, sondern um ein grundlegend neues Konzept von Hirnfunktion, zeigt die übereinstimmende Vorstellung zahlreicher Hirnforscher (Roth 1999, 2001; Hüther 2001, Thelen & Smith 1998, Beebe et al. 2002) die auf der Grundlage einer Vielzahl von Untersuchungen zur Einschätzung gekommen sind, dass die Arbeitsweise des Gehirns nicht ausschließlich über Bahnen und Zentren organisiert ist, sondern darüber hinaus alle dort ablaufenden Prozesse durch eine nahezu unendliche Vielfalt von ständig sich verändernden Verbindungen mehr oder weniger das ganze Gehirn betreffen. Edelman (nach Leuzinger-Bohleber et al. 1998, 580) vergleicht die Funktionsweise des Gehirns "eher mit einem Gewitter im Urwald als mit einem Computer". Neben den vielfältigen Bahnen innerhalb des Gehirns - besonders zwischen Großhirnrinde und den tieferen Zentren, deren Aktivität mit überwiegend unbewussten Prozessen korreliert - sind subtile Regulationen im elektrochemischen Bereich von Bedeutung. Dazu gehört etwa die Variationsbreite der funktionellen Anpassungsmöglichkeiten von Synapsen, deren Anzahl mit durchschnittlich 10 000 auf jeder Nervenzelle bereits das Vorstellungsvermögen überschreitet. Die Aktivität dieser Synapsen - bahnende und hemmende - werden nicht nur durch die Konzentration von Überträgersubstanzen und dieVernetzung mit anderen Nervenzellen, sondern auch über Feineinstellungen ihrer Empfindlichkeit für diese und übergeordnete Modifikationen durch hormonartige Substanzen - z.B. Endorphine - bestimmt. Daraus ergibt sich, dass die Vielfalt der funktionellen Veränderungen untrennbar verbunden ist mit einem Konzept, nach dem das Gehirn nicht als Resultat von frühen Entwicklungsprozessen "richtig verdrahtet" wird, sondern lebenslang in unzähligen Veränderungen begriffen ist - von den biochemischen Prozessen bis hin zur anatomischen Struktur. So findet man bei Blinden eine Zellvermehrung in den verstärkt bei Tastwahrnehmung aktivierten Hirnarealen, während beispielsweise Londoner Taxifahrer, ihrem besonderen Training für orientierende Gedächtnisleistung gemäß, eine vergleichbare Strukturzunahme in der Hippocampusregion aufweisen. Bei Menschen mit schweren Traumatisierungen hingegen wurde im Hippocampus eine verminderte Zelldichte beobachtet (Bauer 2002). Solche Regionen einer schwerpunktmäßigen Verarbeitung sind in ständigem Austausch mit anderen Hirnarealen und daher nicht mit hierarchisch strukturierten Zentren zu verwechseln. Jedes Zentrum bietet für eine bestimmte Funktion eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung. Ohne Mandelkern keine Angst, aber vom Mandelkern allein lässt sich kein Angstgefühl ableiten - dazu gehört immer der ganze Mensch. Auch die Gene spielen hier lediglich eine im biochenischen Ablauf mitwirkende Rolle: sie bedürfen, um die in ihnen gespeicherte Information in körpereigene Strukturen umsetzen zu können, der Aktivierung durch Umweltfaktoren, organische (Ernährung) wie psychische. Gene können sogar über Generationen hinweg durch Umhüllung mit Methyl-Gruppen abgeschaltet und ebenfalls über Umweltfaktoren erneut wirksam werden. Die Auswirkungen hängen davon ab, ob die ein- oder ausgeschalteten Gene schützende Fuktionen haben (Reparatur-Gene), oder ob sie im Zusammenspiel mit den Umweltfaktoren zu Beeinträchtigungen führen können. Daraus ergibt sich eine für die pädagogische Arbeit wichtige Konsequenz: alle Umweltfaktoren, einschließlich der Interventionen im Kontext von Beziehungen, wirken auf die Hirnstruktur- und Funktion zurück. Jede mit neurowissenschaftlichen Methoden nachweisbare Auffälligkeit kann gleichermaßen Ursache und Folge sein. Es gilt die Frage nach der Henne und dem Ei anstelle der traditionell medizinischen Annahme, dass der Organbefund grundsätzlich als Ursache anzusehen ist.

Das aktuelle Modell von Hirnfunktion, das sich aus der naturwissenschaftlich orientierten Forschung entwickelt hat, schließt als letzte Konsequenz jede linear-kausale Vorhersagbarkeit aus. Es gilt das Prinzip der Komplexität: jedes einzelne Element erhält seine Bedeutung ausschließlich durch den jeweiligen Kontext - wie das Kohlenstoffatom, das im menschlichen Körper, im Tisch oder im Auto immer das selbe ist (Cilliers 1995). Die einzelnen Elemente in diesem System können sowohl materieller wie geistiger Natur sein. Das Prinzip der Komplexität gilt daher gleichermaßen für naturwissenschaftliche wie für geisteswissenschaftliche Zusammenhänge (von Lüpke 2010). Was ergibt sich daraus für das Thema "Wahrnehmungen"?

Neurobiologie und Wahrnehmung

Auf der funktionellen Ebene entstehen Wahrnehmungen durch die kontinuierliche Abgleichung von bereits Vorhandenem (Gedächtnis) und neu Aufgenommenem. Roth (1999) geht davon aus, dass die aktuelle Wahrnehmung zu weniger als 0,1 % aus neuen Informationen entsteht und damit zum überwiegenden Teil durch Bezugnahme auf bereits bestehende Erfahrungen. Daraus kann immer nur ein individuelles und niemals ein "richtiges" Abbild der Umwelt entstehen, wie es traditionellen Konzepten von Hirnfunktion entspricht. Statt dessen wird Wahrnehmung selbst zum kreativen Prozess, zu "Hypothesen über die Umwelt", wie Roth (1999, 86) es formuliert. Walthes (2011, 271) weist darauf hin, dass der Prozess der Visualisierung eng "an basale motorische Akte gebunden ist." Die sprachliche Wurzel des "Wahr - Nehmens" kommt hier zum Tragen. Physikalisch nicht messbare Phänomene werden wahrgenommen, wie Farben und räumliches Sehen - "Objekte in unserer Umwelt sind nicht farbig; unsere Umwelt ist nicht perspektivisch aufgebaut, d.h. entfernte Objekte sind nicht klein" (Roth 1999, 253) - ; die Wahrnehmung von Bewegung wird korrigiert - etwa die aus den Augenbewegungen resultierende Bewegung der wahrgenommenen Umwelt - ; physikalisch von den Wellenlängen her unterschiedliche Farben erscheinen einheitlich als das Blau des Himmels. Ohne Korrektur der Augenbewegung würden wir die Umwelt wie durch eine Handkamera sehen, bei Wahrnehmung der unterschiedlichen Wellenlängen hätten wir keine Farbkonstanz. Die Unterbrechung des Sehens durch den Lidschlag nehmen wir nicht wahr. Die Konstruktion von Wahrnehmung zeigt sich auch bei dem bekannten Kanizsa-Dreieck: der Illusion eines Dreiecks zwischen drei eingekerbten schwarzen Kreisen. Wahrnehmung hat keinen Ort, sie findet nicht im Kopf statt. Am deutlichsten wird dies bei Wahrnehmungen, die in den Körper lokalisiert werden, ohne dass es zum Kontakt mit dem körpereigenen Nervensystem kommt. Dies zeigt z.B. folgendes Experiment: einer Versuchsperson wird vor dem linken Arm eine Attrappe montiert. Werden nun eine zeitlang gleichmäßig im Wechsel der rechte (reale) Arm und der linke (künstliche) mit einem spitzen Gegenstand berührt, so hat die Versuchsperson schließlich den Eindruck, die Berührung auch auf dem Kunst-Arm zu spüren (O'Regan & Noe 2001). Der Blinde "spürt" an der Spitze des Stocks sein Umfeld, er "verlängert" sich in den Stock. Der Autofahrer hat beim Einparken (wenn es ihm gelingt) ein Gefühl für die Grenzen des Wagens, beim Fahren für die Berührung der Reifen mit der Straße. Bedingt durch das Spiegelneuronensystem, das die Handlungen anderer (soweit sie sinnvoll erscheinen) virtuell nachvollziehen lässt, können wir den Eindruck haben, wir hätten im Büro unseren Laptop bereits zugeklappt, obwohl in Wirklichkeit es der Nachbar mit seinem eigenen getan hat.

Die Neubewertung einzelner Elemente bei der Wahrnehmung durch den Kontext als Kennzeichen komplexer Systeme führt konsequent zu der Frage, welche Kriterien es - nach dem Verlust der linear-kausalen Beziehung - sein könnten, die aus den Elementen eine Bedeutung, so etwas wie einen "Sinn" zusammenfügen. In erster Annäherung geht es zunächst um das Prinzip der Kohärenz: Themen wie Farbkonstanz, Kontinuität des optisch vermittelten Umfelds, kohärente Formen anstelle beziehungsloser Fragmente, Bezug zum Umfeld. Bedeutung im Sinne von Kohärenz hat einen gleichermaßen biologischen wie geistig-psychischen Aspekt: nur durch die Kohärenz von Organstrukturen und -funktionen wird Leben auf der körperlichen Ebene überhaupt möglich, nur durch eine Kohärenz im Austausch von Beziehung entsteht geistiges Leben. Damit die Einzelelemente zu Vermittlern von Bedeutung werden, bedarf es der Differenz. Biologisch sich kann diese Differenz als die thermodynamische oder als die zwischen Auf- und Abbauprozessen zeigen. Für Beziehungen würde dem die Differenz zwischen den Mitteilungen der Partner (Vorschlag und Gegenvorschlag: Milani Comparetti 1996) entsprechen. Als einen weiteren Aspekt, der im komplexen System Bedeutung schafft, benennt Derrida neben der Differenz die zeitliche Kohärenz, die Kontinuität, den Bezug zur Vergangenheit, zur Geschichte. Er spricht hier von "Spuren" (Cilliers 1998). Stern (2007) hat in diesem Zusammenhang das Modell des Episodengedächtnisses aufgegriffen und präzisiert. Die einzelnen Elemente einer erlebten Episode werden durch Beziehungserfahrung eingefärbt und erhalten als Teilaspekte von Erinnerung ihre Bedeutung. Das Stillen beim Säugling wird nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie durch die Erfahrung der Sättigung bestimmt, sondern durch das emotionale "Wie" dieses Vorgangs. Alle Elemente der Szene - andere Personen, deren Stimmen, die Beziehung zu ihnen, zwischen ihnen, das Licht, die Temperatur, vielleicht eine Musik - werden gemeinsam mit dem Erleben der Beziehung gespeichert, über weitere Erfahrungen verstärkt, abgeschwächt, variiert und sind später durch jede Einzelheit dieser Szene aktivierbar. Gelegentlich können ganze Szenen allein durch einen Raum, einen Geruch, einen Geschmack erinnert werden - wie in der klassischen Beschreibung von Marcel Proust. Hier führt der Geschmack eines in Tee getauchten Kuchens (einer Madeleine) zum Wiedererleben einer Szene aus der Kindheit (Proust 1985, Bd. 1, 63-65). Gelegentlich verdichtet sich nur ein intensives Gefühl von "Déjà vu", ohne dass eine konkrete Szene erinnert wird. Es liegt auf der Hand, dass Lernprozesse dadurch gesteuert werden: bei positiven Erinnerungen gefördert, bei angst- oder schambesetzten und vor allem bei traumatisch erlebten blockiert.

Wahrnehmung erscheint damit als ein Phänomen, bei dem auf der Grundlage von vorangegangenen Kommunikationserfahrungen im wechselseitigen Austausch Bedeutungen geschaffen werden. Über die Sinnhaftigkeit dieser Bedeutungen entscheidet das gemeinsame Gefühl von Stimmigkeit (von Lüpke 1998). Dieses ist nicht kalkulierbar und gilt nur für den Augenblick (Stern 2005). Im Kontext der Diskussion über die Bedeutung der Neurobiologie stellt sich die Frage nach der Rolle hirnorganischer Befunde. Von besonderem Interesse sind hier die Beobachtungen von Oliver Sacks - nach seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit den Folgen neurologischer Veränderungen bei anderen jetzt bei sich selbst. Ein Tumor im rechten Auge reduzierte zunächst lediglich das Gesichtsfeld. Nach der Operation schien ihm "dann alles verzerrt. Menschen waren dünn und in die Länge gezogen, fast wie Insekten sahen sie aus. Und Gesicher hatten eigentümlich amöbenartige Auswüchse" (Spiegel-Gespräch mit Oliver Sacks 2011a). Als sich im erkrankten Auge ein Netzhautödem entwickelte und das zentrale Sehen ebeinträchtigte, tauchten "innerhalb des Skotoms ... ständig unwillkürliche Bilder aller Art auf - Gesichter, Figuren, Landschaften." (Sacks 2011b, 167). Ein als Autist diagnostizierter Mann beschreibt seine Wahrnehmungen mit den Worten: "Oft kommen beugende Linien und hämisch mich ärgernde beugende Bilder bis zum Nichtmehrerkennen hässlich zwischen das bis dahin Gesehene" (zit. nach Schirmer 2001,5). Ähnliche Besonderheiten der optischen Wahrnehmung beschreibt Walthes (2011,272 ) bei Kindern mit zerebral bedingten Sehstörungen: "An Gegenständen ‚vorbei-sehen', weil peripheres Sehen mehr Informationen ermöglicht". Dazu wieder Autisten, die an Gesichtern vorbei sehen, weil sie nur die Peripherie erkennen (Schirmer 2001). Wieder Walthes (2011,272 ): "Texte nicht lesen können, weil crowding vorliegt, d.h. die Textbestandteile nicht diskriminiert werden können". Ist dies vielleicht auch ein Problem bei manchen Kindern, die als lese-rechtschreib-schwach eingestuft werden? Für andere sind die visuellen Wahrnehmungen ständig in Bewegung - sie setzen sich dann selbst in Bewegung, um ihre Wahrnehmung zu stabilisieren. Kinder mit "ADHS" zeigen diese Auffälligkeit. Ablenkbarkeit kann das Ergebnis überstarker akustische Wahrnehmung sein: Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen in der Umgebung: "Aus dem Nebenzimmer konnte ich alle Gespräche hören, auch wenn ich sehr weit entfernt war. Zu Hause hörte ich durch Decken, Wände, Türen", schreibt wiederum ein Mann mit der Diagnose Autismus (Schirmer 2003, 5).

Wahrnehmungs-"Störungen"

Entsteht Wahrnehmung nicht durch die "richtige" oder "falsche" Verarbeitung von Inputs, so stellt sich zunächst die Frage, ob die Vorstellung von einer kreativ aus jeweils unkalkulierbar vielfältigen Elementen konstruierten Wahrnehmung zum einen voraussetzt, dass es um mehr geht als nur eine Verarbeitung der über definierte Sinnesorgane aufgenommenen Impulse. Zum anderen fragt sich, inwieweit Modelle wie die vom Episodengedächtnis zur Voraussetzung haben, dass die verschiedenen Sinnesmodalitäten ursprünglich einheitlich ("amodal") und erst im Laufe der Entwicklung durch Reflexionsmöglichkeiten, nicht zuletzt über Sprache, auch getrennt oder in ihrem wechselseitigen Zusammenwirken ("kreuzmodal, transmodal") wahrgenommen werden können. Neurowissenschaften und Säuglingsforschung gehen heute von dieser Vorstellung aus (Thelen & Smith 1998, Stern 2007). Nach Untersuchungen von Stern (2007) erfolgt die Mehrzahl der Abstimmungen zwischen Mutter und Säugling transmodal: "Wenn der Säugling sich stimmlich äußerte, war die Abstimmung der Mutter in der Regel gestischer oder mimischer Art. Umgekehrt galt das gleiche. In 39 Prozent der beobachteten Abstimmungen benutzten die Mütter eine ganz andere Modalität als die Säuglinge. ... Die mütterlichen Abstimmungen waren also in 87 Prozent der Fälle teilweise, wenn nicht ganz, transmodaler Art" (S. 211). Brazelton et al. (1975) beschreiben die Interaktion zwischen einer von Geburt an blinden Mutter und ihrem Säugling. Die Mutter zeigte auch beim Sprechen kaum Mimik. Der Säugling wendete den Kopf zur Seite, wenn sie mit ihm sprach. Sie selbst bemerkte dies daran, dass sie in die Richtung, aus der seine Laute und sein Atem kamen, einschätzen konnte. Wenn die Autoren mit dem Säugling Kontakt aufnahmen, blickte er ihnen in die Augen und folgte jeder Bewegung. Sie hatten den Eindruck, dass im Verlauf der ersten acht Wochen sich eine wechselseitig befriedigende Interaktion zwischen Mutter und Kind entwickelte. Zwar blieb die anfängliche Auffälligkeit, die Kommunikation entwickelte sich jedoch intensiv und erfolgreich über andere Modalitäten, besonders die akustische. Bei ihren Studien über die Entwicklung von Beziehungs- und Sozialverhalten in unterschiedlichen Kulturen beobachteten Goldberg (1972) in Sambia und Brazelton (1972) bei den Maya-Indianern, dass der direkte Blickkontakt im Vergleich zum Hautkontakt kaum eine Rolle spielt. Mütter in Kulturen mit eher körperbezogener Kommunikation erkennen bereits über den Hautkontakt, wenn ihre am Körper getragenen Säuglinge kurz davor sind, die Blase zu entleeren. Sie können diese dann rechtzeitig "abhalten". Wenn sie dazu nicht in der Lage sind oder zu spät reagieren und nass werden, gilt dies als Schande für die Mütter. Diese amodalen/transmodalen Verflechtungen werden ergänzt durch eine nie abgrenzbare Vielfalt von Wahrnehmungen jenseits der über die 5 Sinnesorgane vermittelten. Hier geraten wir an die Grenzen anschaulicher Vorstellungen und sprachlicher Darstellbarkeit, was in Begriffen wie "die Chemie stimmt / stimmt nicht" deutlich wird. Sheldrake konnte eine Wahrnehmung dafür, von hinten angesehen zu werden, nachweisen. Nicht zufällig hieß ein Sender zur Verkehrssicherheit "Der siebte Sinn". Pränatale Kommunikation geschieht noch ohne den Austausch von Blicken. Auch bei den verschiedenen Varianten des Blind-Sehens ("blind-sight") - der Wahrnehmung von optischen Vorgängen, ohne sich dessen bewusst zu werden oder dem ansatzweisen Erkennen von Objekten trotz Blindheit - könnten transmodale, letztlich multimodale Wechselwirkungen eine Rolle spielen. Aus all dem ergibt sich, dass die Vorstellung von Wahrnehmungsstörungen und ihrem Bezug zu hirnorganischen Daten neu überdacht werden muss.

Zur Frage der Bedeutung von Organfaktoren

Die oben geschilderten Beispiele zeigen, dass ähnliche Wahrnehmungs-Phänomene bei unterschiedlichen Organveränderungen auftreten können. Selbst bei den eindeutig organisch bedingten optischen Wahrnehmungen von Sacks sind diese nicht unmittelbar durch die Organveränderung zu erklären. Sie ähneln Wahrnehmungen von Autisten, bei denen - wenn überhaupt - völlig andere Organveränderungen vorliegen (Straßburg et al. 2008). Auch die zentralen Sehstörungen, wie Walthes sie beschreibt, gehen zu einem hohen Anteil mit Organveränderungen einher. So werden nach periventrikulärer Leukomalazie (einer durch Sauerstoffmangel bedingten, besonders bei frühgeborenen Kindern auftretenden Störung) 80% der Kinder und bei 40 - 60 % der Kinder mit Zerebralparese zentral bedingte Sehstörungen beschrieben (Walthes 2011). Aber auch hier kann der neurologische Befund die visuellen Veränderungen nicht erklären. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass auch "Symptome" lediglich Elemente in einem komplexen System sind, deren Bedeutung sich erst im Kontext ergibt und nicht mechanistisch unmittelbar aus einem Organbefund abgeleitet werden kann. In letzter Konsequenz gilt dies auch für die mit "Diagnosen" verbundenen Vorstellungen. "Die bisherigen Kenntnisse über zentral bedingte Sehstörungen im Kindesalter ... stellen bisherige Interpretationsverfahren über kindliche Verhaltensweisen vehement in Frage", schreibt Walthes (2011, 272).

Für den pädagogischen Umgang mit der Thematik folgt daraus, dass die Rolle des Organbefundes für die Förderung von nachrangiger Bedeutung zu sein scheint (soweit der Organbefund nicht selbst einer direkten Behandlung zugänglich ist, wie der Tumor bei Oliver Sacks). Natürlich gilt es, vorhandene Fähigkeiten (sehen, hören etc.) so früh wie möglich zu fördern. Zu fragen bleibt nur, ob eine rein übende Förderung gelegentlich die Entwicklung mehr behindert als fördert. Hier kommt die Rolle der Bedeutung bei der Interpretation von Wahrnehmungsstörungen zum Tragen: das Prinzip von Milani Comparetti (1996), bei den Stärken und nicht bei den Schwächen anzusetzen. So gilt es, zunächst zu verstehen, dass ein Kind, das nur periphere Strukturen erkennen kann, wenig davon profitiert, wenn man es dazu bringen will, im Falle des Crowding sich auf ein Chaos von verschwimmenden Formen zu konzentrieren. Auch wird man einem autistischen Menschen nicht gerecht, wenn man seine Vermeidung des Blickkontakts als primär emotional bedingte Kommunikationsstörung deutet und behandelt. Sind die wahrgenommenen Bilder ständig in Bewegung, hat auch die Bewegungsunruhe eines Kindes mit "ADHS" ihren Sinn. Ein solcher Sinn kann auch darin liegen, dasss ein Kind sich durch sein Verhalten vor verwirrenden oder störenen Eindrücken durch Abwenden oder Blockieren schützen will und dadurch als "dumm", möglicherweise geistig behindert diagnostiziert wird. Schon allein das Bemühen, in den "Störungen" einen Sinn, Ansätze zu Problemlösungen zu finden, schafft die Grundlage für eine Kommunikation, die auch Veränderungen für das Kind als sinnvoll erscheinen lassen und eine wechselseitige dialogische Kooperation ermutigen. "Störungen" sind nicht mehr der Makel, das Defizit des "Kranken", sondern im Sinne von Walthes (1993) etwas zwischen Personen, das für alle Beteiligten eine Herausforderung an die Kommunikation bedeutet. Dazu gehört die Nutzung des multimodalen Raumes: die Nutzung der Vielfalt verbliebener Kommunikationswege - wie an den Beispielen oben dargestellt - anstelle der Fixierung auf vorhandene Einschränkungen. Gelegentlich kann das Kind bereits spontan die Chancen einer transmodalen Wahrnehmung entdecken, etwa wenn es sich bei Schwierigkeiten der Formenerkennung Gegenstände anhand ihrer Farben merkt.

Was bringt die Neurobiologie nun der Pädagogik?

Die Tatsache, dass die mit der Plastizität des Gehirns einher gehenden Chancen zur Veränderung in ihrer unendlichen Vielfalt sich letztlich daran orientieren, was für den Menschen Bedeutung hat und diese wiederum von der jeweiligen Beziehungskonstellation abhängt, kann dialogisch-kreative Ansätze ermutigen. Oft ist es wichtiger, sich Zeit zu lassen, auch einmal Pausen zu machen, als in der guten Absicht, zu fördern, mehr oder weniger verschleiert den eigenen Druck weiterzugeben ("Jetzt wollen wir mal ... spielerisch ..."). Dieser Zugang ist von außen durch gesellschaftliche Erwartungen, die über Familien, Kollegen und andere Professionen vermittelt werden, und von innen durch die mit dem Fehlen klarer Handlungsstrategien einher gehende Unsicherheit gefährdet. Methoden behalten ihre Bedeutung, aber nur als "Buchstaben" oder "Grammatik". Die Sprache muss in jedem Augenblick neu gefunden, in ihrer Stimmigkeit überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Angst und vorübergehende Unsicherheit sind unvermeidlich, besonders bei behinderten Kindern, die uns nicht durch erkennbare Fortschritte "belohnen". Auch zum Dialog gehört Angst. Depression und Resignation können sich einstellen. Hier ist es hilfreich, nicht nur die Klarheit zu haben, dass menschliche Beziehungen grundsätzlich unkalkulierbar sind, sondern zu wissen, dass wir es auch auf der Ebene der naturwissenschaftlich begründeten Neurobiologie mit einem komplexen System zu tun haben, dessen Struktur und Gestaltungsmöglichkeit sich nicht von der menschlicher Beziehungen unterscheidet. Dies mag Hoffnungen an neue Möglichkeiten des Lernens auf der Grundlage einer noch stark mechanistisch bestimmten Neurodidaktik (etwa bei Spitzer 2002) enttäuschen. Die zunehmende Orientierung an einer solchen Neurowissenschaft als "Leitwissenschaft", die geisteswissenschaftliche Diziplinen wie Pädagogik, Psychologie, Psychotherapie etc. vom "Segen der Hirnforschung" abhängig macht, führt eher zur Verarmung dieser Disziplinen als zu neuen Entwicklungen. Andererseits muss jeder Organbefund als Elemente des komplexen Systems in die Betrachtung einbezogen werden, seine Bewertung jedoch ergibt sich erst aus der Betrachtung des ganzen Systems.

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Quelle:

Hans von Lüpke: Neurowissenschaften - Nutzen und Risiken für die Pädagogik.

Vortrag bei der 23. Fortbildungstagung der AG Frühförderung im VBS am 23. Januar 2011 in Lübeck

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 14.03.2012

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