Schummeln nicht erlaubt!

Persönliche Zukunftsplanung mit Menschen, die nicht mit ihrer Stimme sprechen

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 67, 04/2013, Seite 25-28 impulse (67/2013)
Copyright: © Margot Pohl und Nicolette Blok 2013

Abbildungsverzeichnis

    Schummeln nicht erlaubt!

    Eine besondere Herausforderung bedeutet eine Zukunftsplanung mit Menschen, denen bislang kaum die Fähigkeit zur Kommunikation zugetraut wurde und die dementsprechend auch keine Angebote aus der Unterstützten Kommunikation erhalten haben. Häufig nimmt die Umwelt die Kommunikationsversuche dieser Menschen nicht wahr oder interpretiert sie falsch. Nichtsprechende Personen sind es gewohnt, ein Leben ohne aktive Sprache zu führen, meist reden ihre Mitmenschen für sie, sofern es ihnen gelingt, auf sich aufmerksam zu machen.

    Verständigung setzt Intuition und Empathiefähigkeit bei den GesprächspartnerInnen, einen starken Willen der „nichtsprechenden“ Person, Geduld, Durchhaltevermögen und Vertrauen darauf voraus, dass Kommunikation auch ohne Lautsprache gelingen kann. Leider erleben alle Beteiligten viele Situationen, in denen Missverständnisse und Fehlinterpretationen auftreten und Momente, in denen Bemühen alleine nicht reicht und tiefere Gespräche kaum oder gar nicht möglich sind. Die beschriebene Personengruppe kann nicht auf verlässliche Kommunikationsformen zurückgreifen und erlebt somit eine große Abhängigkeit von ihrem Umfeld.

    Persönliche Zukunftsplanung baut stark auf Kommunikation, auf die Verständigung über Ziele, Wünsche und Träume und geschieht in einem intensiven Prozess der Auseinandersetzung zwischen Hauptperson und Unterstützungskreis. Ist die Kommunikation erschwert, drängen sich viele Fragen auf:

    • Wie können ModeratorInnen und Unterstützungskreis herausfinden, was die Hauptperson beschäftigt, wovon sie träumt, und welchen Weg sie einschlagen möchte?

    • Wie kann sich die Hauptperson einen wünschenswerten Lebensweg ausmalen, wenn sie bisher nur wenige Erfahrungen sammeln konnte und der Austausch mit dem Umfeld schwierig war?

    • Wie kann eine Hauptperson zwischen verschiedenen Lebensstilen wählen, wenn sie bisher noch nie eine Auswahl treffen konnte, noch nicht einmal in Bezug auf ihre Kleidung oder die Schlafenszeit?

    • Wie kann die Hauptperson- möglicherweise erstmals in ihrem Leben- ihre Gedanken mitteilen?

    • Wie können diese Gedanken zum Tragen kommen, auch wenn sie den Erwartungen des Umfeldes, den vertrauten Kommunikationspartnern widersprechen?

    Die aufgeworfenen Fragen machen bewusst, dass unterstützende Kommunikationsformen eine Voraussetzung für eine gelingende persönliche Zukunftsplanung bilden. Andererseits kann ein Zukunftsfest die Implementierung von Unterstützter Kommunikation erst ermöglichen, indem der Unterstützungskreis diese mitträgt.

    Was kommt zuerst - die Henne oder das Ei?

    Wenn die Entscheidung fällt, für einen Menschen eine Zukunftsplanung zu organisieren, der von seiner Umwelt nicht ausreichend verstanden wird, ist es die größte Herausforderung, MIT der Hauptperson zu planen-nicht für sie und über ihren Kopf hinweg.

    Unterstützte Kommunikation geht radikal davon aus, dass sich alle Menschen entwickeln wollen und können. Ebenso wichtig ist die leitende Annahme, dass alle Menschen uns etwas zu sagen haben, alle Menschen Ideen, Konzepte, Geschichten und Fragen im Kopf haben. Menschen ohne Sprache leben oft in der Situation, dass wir ihre Zeichen, ihre Art sich mitzuteilen nicht verstehen. Sie müssen also beim Finden von passenden Kommunikationsmitteln im Vorfeld einer Zukunftsplanung aktiv eingebunden werden, man macht sich gemeinsam auf die Suche nach geeignete Methoden und Maßnahmen. Im Vordergrund steht: Du kannst!

    Kommunizieren ohne Lautsprache benötigt mehr Zeit und Aufmerksamkeit

    In einem gemeinsamen Prozess versuchen die Vorbereitenden herauszufinden, was die Hauptperson beschäftigt. Verschiedene Materialien wie Bilder, Fotos, Gegenstände können hierbei hilfreich sein.

    Die GesprächspartnerInnen müssen genau beobachten und eigene Vorannahmen kritisch hinterfragen. Kleinste Äußerungen und Reaktionen wie Mimik, Körperspannung, Atmung können von großer Bedeutung sein.

    Selbstverständlich nehmen die engsten Vertrauten beim Zukunftsfest eine wichtige Rolle ein. Meist verstehen sie den Menschen ohne Lautsprache am besten. Allerdings entsteht gerade hier auch eine gewisse Gefahr: Eltern, die ihr Kind ohne Worte verstehen, haben es schwer damit, die Verständigung über immer verwendeten Laute bzw. Zeichen nach vielen Jahren doch in Frage zu stellen und weiterzuentwickeln. Die Kommunikation basiert zum Großteil auf ihren Erwartungen, was im Alltag sehr effizient sein kann und viel Zeit spart.

    Bei der Verständigung über die Zukunft können Erwartungen und eingeschliffene Kommunikationsmuster die Hauptperson aber stark behindern. Wenn es ihr gelingt, Mut zu fassen und vertraute Wege zu verlassen, können sich Abhängigkeitsverhältnisse verändern und neue Möglichkeiten eröffnen. Dazu müssen die vorbereitenden Personen viele Fragen stellen, den Mensch und den Prozess in den Vordergrund stellen und Vertrauen aufbauen: Vertrauen in die Fähigkeiten, das Können und Wissen der „nichtsprechenden“ Person, in den Unterstützungskreis und den gemeinsamen Prozess.

    Die Vorbereitung eines Zukunftsfests

    In einer ersten Phase bauen planende Person und ModeratorInnen eine Beziehung auf. Die ModeratorInnen müssen die Hauptperson verstehen lernen. Hier können das Kommunikationsprofil (Kristen 2004, S.12.017.001 - 12.038.001) und das Manual Soziale Netzwerke (Blackstone & Hunt Berg 2006) helfen, vor allem, wenn die Erfahrungen mehrerer Bezugspersonen mit einfließen und die Hauptperson selbst befragt wird. Diese Informationen dienen dazu, die Hauptperson besser in den Prozess mit einzubeziehen beziehungsweise in der Vorbereitungsphase dem Umfeld beratend zur Seite zu stehen, wenn es zum Beispiel darum geht, notwendige Begriffe zur Verfügung zu stellen, die den Dialog über Zukunft ermöglichen sollen.

    Die planende Person benötigt ein umfangreiches Vokabular zu zukunftsrelevanten Themen, das vorab mit ihr erarbeitet werden muss. In der Vorbereitungsphase erarbeitet die Hauptperson Symbole (Objekte, Piktogramme, Gebärden u.ä.) und integriert sie in ihr Kommunikationssystem. Die Begriff e können durch entsprechende Erfahrungen (Aufsuchen verschiedener Berufsfelder, Teilnahme an Freizeitaktivitäten, Gespräche mit Freunden über ihre Beziehungen, Wohnformen, Berufe...) mit Bedeutung gefüllt werden. Dies ist insbesondere bei Menschen wichtig, die in Sondereinrichtungen aufwachsen und deren Erfahrungen sich auf das Leben in Institutionen beschränken (vgl. Woldrich & Pohl 2012, S. 73). Vorrangiges Ziel ist es, Entscheidungsgrundlagen zu schaff en, indem die Hauptperson Vorstellungen von möglichen Zukunftsszenarien entwickelt. Hierfür eignet sich beispielsweise an die Bedürfnisse nicht lautsprachlich kommunizierender Menschen angepasste Materialien aus bEO - berufliche Erfahrung und Orientierung und Talente der Hamburger Arbeitsassistenz.

    Material aus Unterstützter Kommunikation

    Foto: Hans Peter Dusel piqs.de CC-BY-SA-3.0

    Von großer Bedeutung für den Planungsprozess ist das Angebot von gesprächssteuerndem Vokabular, dessen Handhabung in der Vorbereitungsphase trainiert wird. Damit erhält die Hauptperson die Möglichkeit, den Gesprächsverlauf gezielt zu beeinflussen. Hier geht es nicht um Begriffe, die persönliche Bedürfnisse betreff en (wie Toilette, Hunger, Durst...) sondern um Aussagen wie „Cool“, „Bitte wiederhole das!“ „Darüber muss ich noch nachdenken.“ u.ä. Wenn die Kommunikationsformen der Hauptperson dem Unterstützerkreis nicht ausreichend bekannt sind, kann es sinnvoll sein, diese zu dokumentieren und den Eingeladenen auszuhändigen. Dabei entsteht ein persönliches Gebärdenlexikon für eine Person, die sich vorwiegend über Handzeichen mitteilt, eine Liste aller Laute bzw. Worte, die eine Hauptperson spricht und deren möglichen Bedeutungen, eine genau Beschreibung und Fotodokumentation der Körperhaltungen, der Atmung und anderer Körperfunktionen und wie enge Bezugspersonen diese interpretieren. Bei allen organisatorischen und inhaltlichen Fragen in Bezug auf das Zukunftsfest ist die Entscheidung der Hauptperson ausschlaggebend. Es ist Aufgabe der Umgebung, beim Treff en dieser Entscheidungen zu assistieren. Größtes Augenmerk muss bei der Vorbereitung auf die Selbstbestimmung der Hauptperson gelegt werden. »Bei Selbstbestimmung geht (es) zentral darum, Kontrolle über das eigene Leben zu entwickeln. Assistenz ist eine der möglichen Unterstützungsformen, dies zu unterstützen bis zu verwirklichen.« (Schönwiese 2010, S. 70)

    Die Durchführung eines Zukunftsfestes

    Um die barrierefreie Kommunikation zu gewährleisten, muss der Hauptperson ein/e „DolmetscherIn“ zur Verfügung gestellt werden, der ihre Kommunikationsformen genau kennt, aber möglichst nicht der engeren Familie angehört. Der/die DolmetscherIn achtet auf kleinste Zeichen oder Äußerungen der Person ohne Lautsprache und stoppt womöglich den Prozess, wenn er/sie bemerkt, dass etwas so nicht stimmt, auch wenn er/sie noch keine Ahnung hat, worauf die Hauptperson reagiert. Es braucht außerdem die Möglichkeit, eine Wahl zu treffen und den Gesprächsverlauf zu beeinflussen, durch entsprechendes Vokabular, gezielte Fragen durch die/den ModeratorIn und ausreichend Zeit. (vgl. Hömberg 2008 S. 01.050.001ff )

    ModeratorInnen bekommen bei einem Zukunftsfest mit einer Person ohne Lautsprache eine bedeutende Rolle. Ihre Aufgabe ist es, alle mit einzubeziehen, darauf zu achten, dass die Hauptperson wirklich im Mittelpunkt steht und nicht der Unterstützungskreis. Sie müssen Manipulationen vermeiden und dafür sorgen, dass die Äußerungen der Person behutsam und verantwortungsvoll interpretiert werden und. Sie benötigen viel Geschick, Erfahrung und die Fähigkeit, alle Beteiligten und den Prozess im Blick zu behalten. Grundkenntnisse über Unterstützte Kommunikation sind in dieser Situation sehr hilfreich. Bei der Anwendung der Methode MAPs sammeln alle Anwesenden die Stärken und Ressourcen der Hauptperson. Oft sind nahe Bezugspersonen überrascht, wenn kommunikative Fähigkeiten zur Sprache kommen. Aus vier verschiedenen Zukunftsfesten mit unterstützt kommunizierenden Menschen stammen folgende Aussagen:

    „Sie drückt vieles aus.“, „Sie bringt ihre Umgebung dazu, sie zu verstehen.“, „Er kann mit wenigen Worten unglaublich viel ausdrücken.“, „Er ist kommunikativ.“, „Er ist ausdrucksvoll.“, „Sie neckt so manchen gerne.“, „Sie kann gut trösten.“, „Sie ist einfühlsam.“, „Man kann gut mit ihr diskutieren.“, „Er ist diskret.“, „Er ist der König der nonverbalen Kommunikation.“

    Daraufhin werden jene Bedürfnisse der Person festgehalten, die es ihr ermöglichen sollen, sicher zu leben, sich weiterentwickeln und ihre Stärken zur Geltung zu bringen. Erfahrungsgemäß kommt genau hier das Bedürfnis zur Sprache, verstanden zu werden und teilzuhaben, z.B. in den Formulierungen: „gehört werden“, „Verstanden werden“, „Normal mit ihm reden“, „mitreden“, „Verständnis“, „in Kontakt bleiben“...

    Dies bereitet häufig den Boden für eine (erneute) Suche nach angemessenen Kommunikationsformen bzw. -hilfen, welche die Partizipation an der Gesellschaft erst ermöglichen beziehungsweise verstärken. Mit Hilfe der Methode PATH werden konkrete Schritte auf dem Weg zu einer selbstbestimmten Kommunikation geplant.

    Johanna, eine junge Frau mit Seh- und Hörbehinderung erhielt durch ihr Zukunftsfest die Gelegenheit, den Umgang mit taktilen Gebärden und taktilen Symbolen zu erlernen. Marcus, der bislang auf alle Fragen mit „Ja“ geantwortet hatte, konnte zeigen, dass er mit MultipleChoice-Fragen gut zurecht kommt. Lisa und Lukas erprobten ein Kommunikationsgerät mit Augensteuerung, Matthias bekam ein iPad, das ihm die Möglichkeit eröffnete, über Skype mit seinen Freunden in Kontakt zu bleiben.

    Diese Erfolgsgeschichten machen Mut, Zukunftsplanung auch unter erschwerten Bedingungen zu wagen.

    Abbildung 1. Margot Pohl

    Portraitfoto von Margot Pohl.

    Margot Pohl

    ist Integrationslehrerin an einer Grundschule in Südtirol. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind inklusiver Unterricht in Klassen mit Kindern und Jugendlichen und Unterstützte Kommunikation (AAC)

    Kontakt und nähere Informationen: mt.pohl@rolmail.net

    Abbildung 2. Nicolette Blok

    Porträtfoto von Nicolette Blok.

    Nicolette Blok

    arbeitet als Frühförderin, systemische Beraterin, UK-Pädagogin, hat Führungserfahrung in verschiedenen sozialen Organisationen und ist PZP-begeistert, Moderatorin und Referentin

    Kontakt und nähere Informationen: E-Mail: n.blok@aon.at

    Literatur

    Blackstone, Sarah & Hunt Berg, Mary (2006): Manual Soziale Netzwerke. Ein Instrument zur Erfassung der Kommunikation unterstützt kommunizierender Menschen und ihrer Kommunikationspartnerinnen und -partner. Deutsche Ausgabe herausgegeben und übersetzt von Susanne Wachsmuth. von Loeper Literaturverlag: Karlsruhe

    Hamburger Arbeitsassistenz (2006): /bEO, Berufliche Erfahrung und Orientierung – Methoden und Materialien zur Berufsorientierung./Hamburg: Hamburger Arbeitsassistenz gGmbH

    Hamburger Arbeitsassistenz (2008): Talente. Ein Angebot zur Förderung von Frauen mit Lernschwierigkeiten im Prozess beruflicher Orientierung und Qualifizierung. Hamburg: Hamburger Arbeitsassistenz gGmbH

    Hömberg, Nina (2008): Verständigungen über die Zukunft. Persönliche Zukunftsplanungen und Unterstützte Kommunikation. In: Von Loeper Literaturverlag/ISAAC (Hg.): Handbuch der Unterstützten Kommunikation. Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag, S. 01.050.001-01.055.001. Verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/hoemberg-verstaendigungen.html#id3962815 (Stand 29.09.2013)

    Kristen, Ursi (2004): Das Kommunikationsprofil – Ein Beratungs- und Diagnosebogen. In: Handbuch der UK Kommunikation. Karlsruhe, S. 12.017.001 - 12.038.001

    Schönwiese, Volker (2009): Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe: Von der Rehabilitation zu Selbstbestimmung und Chancengleichheit. Einleitungsreferat zur Veranstaltung »Auf dem Weg zu einem Tiroler Chancengleichheitsgesetz für Menschen mit Behinderung«, Landhaus Innsbruck 28. Jänner 2009. Verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/schoenwiese-paradigmenwechsel.html (Stand 29.09.2013)

    Woldrich, Angela, Pohl Margot (2012): Persönliche Zukunftsplanung in der Praxis/. In: Grunick, Gerhard & Maier-Michalitsch, Nicola (Hrsg.): Leben Pur – Wohnen Erwachsen werden und Zukunft gestalten mit schwerer Behinderung./Düsseldorf: Verlag selbstbestimmtes leben, S. 72-87

    Pohl, Margot (2011): Schau mir in die Augen... Persönliche Zukunftsplanung mit alternativen Kommunikationsformen. In: Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung e.V. Eine Chance für viele: Arbeitsmöglichkeiten für psychisch kranke Menschen (Hrsg): impulse – Das Fachmagazin der BAG UB. Hamburg, September 2011, S.21-26

    Quelle

    Margot Pohl: Schummeln nicht erlaubt! Persönliche Zukunftsplanung mit Menschen, die nicht mit ihrer Stimme sprechen . Erschienen in: impulse Nr. 67/2013, Seite 25-28. impulse (67/2013)

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    Stand: 5.7.2016

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