Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe: Von der Rehabilitation zu Selbstbestimmung und Chancengleichheit.

Autor:in - Volker Schönwiese
Themenbereiche: Recht, Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Einleitungsreferat zur Veranstaltung "Auf dem Weg zu einem Tiroler Chancengleichheitsgesetz für Menschen mit Behinderung", Landhaus Innsbruck 28. Jänner 2009
Copyright: © Volker Schönwiese 2009

1. Historischer Bezug

Nach dem 2. Weltkrieg bis in die 70er-Jahre des 20.Jhd. galt in der Behindertenhilfe das Prinzip der Verwahrung. Pflegen, Schützen und Bewahren in Großeinrichtungen, Anstalten und psychiatrischen Kliniken stand im Vordergrund.

Ab den 60er-Jahren fand ein Wandel in Richtung Förderung und Rehabilitation statt. Nach einem medizinisch-sonderpädagogischen bzw. Modell von Behinderung - analog zu einem (Akut-) Krankheitsmodell - wurden die Defekte von behinderten Personen und die Notwendigkeit von Heilung und Heilpädagogik betont. Es war die große Zeit der Gründung von Sonderschulen und der Therapeutisierung von Behinderteneinrichtungen. Die Folge war eine Definition von Behinderung als lebenslange Therapiebedürftigkeit oder bei Erfolglosigkeit dieses Modells Resignation oder Verwahrungs-ähnliche Betreuung.

Ab der Mitte der 80er-Jahre wandelt sich das Leitbild in der Behindertenhilfe in Richtung Selbstbestimmung und Chancengleichheit. Selbsthilfegruppen von behinderten Personen übten heftige Kritik an den Institutionen der Behindertenhilfe, forderten De-Institutionalisierung, Selbstbestimmung und die Beendigung von Diskriminierungen. Eltern behinderter Kinder kämpften vehement für schulische Integration. Fachlich entwickelte sich ein ganzheitliches Bild von behinderten Menschen bzw. ein soziales Modell von Behinderung. Die Fähigkeit zur Selbstorganisation und die Bedeutung einer normalisierten sozialen Umgebung rückten in den Mittelpunkt, Konzepte der Integration, Begleitung, Unterstützung und Assistenz wurden erarbeitet. (Hähner 1997, S.45)

Der Übergang vom Förderungs- bzw. Rehabilitationsmodell zum leitenden Prinzip der Selbstbestimmung und Chancengleichheit ist noch nicht abgeschlossen.

2. Aktuelle Bezüge

Das Prinzip der Selbstbestimmung nährt sich aus verschiedenen fachlichen und menschenrechtlichen Quellen. Wichtige Beispiele dafür sind z.B.

  • fachlich: die ICF- "Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" der WHO aus dem Jahr 2001. Darin sind Körperfunktionen, Aktivitäten der betroffenen Person und soziale/ gesellschaftliche Partizipation mit Umwelt- und personenbezogenen Faktoren in einem Wechselwirkungsverhältnis verbunden. Behinderung kann dem nach nur in einem komplexen Verhältnis verstanden werden, in dem biologische, psychische und soziale Bedingungen untrennbar miteinander verbunden sind. (WHO 2001)

  • menschenrechtlich: Die auch von Österreich im Jahr 2008 ratifizierte UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. (UN 2006)

Sie beinhaltet:

a) die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit;

b) die Nichtdiskriminierung;

c) die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft;

d) die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit;

e) die Chancengleichheit;

f) die Zugänglichkeit;

g) die Gleichberechtigung von Mann und Frau;

h) die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität.

Im Artikel 19 "Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft" ist formuliert:

"Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass

a) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben;

b) Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist;

c) gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen."

3. Was ist Selbstbestimmung

Die "independent living" -Bewegung (vgl. Miles-Paul 1992) geht davon aus, dass es in der traditionellen Behindertenhilfe eine Dominanz der Helfenden über die behinderten und unterstützungsbedürftigen Personen als strukturelle Schwierigkeit angelegt ist, und es im Netz sozialer Dienste zu den bisherigen Konzepten Alternativen braucht.

Das Konzept von "independent living" bzw. das Konzept selbstbestimmter "persönlicher Assistenz" wird in einer klassischen Formulierung so beschrieben:

"Selbstbestimmt leben heißt, KONTROLLE ÜBER DAS EIGENE LEBEN zu haben, basierend auf der Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen, die die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer bei der Bewältigung des Alltags minimieren. Das schließt das Recht ein, seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können, an dem öffentlichen Leben der Gemeinde teilzuhaben, verschiedenste soziale Rollen wahrnehmen und Entscheidungen fällen zu können, ohne dabei in die psychologische oder körperliche Abhängigkeit anderer zu geraten. Unabhängigkeit ('Independence') ist ein relatives Konzept, das jeder persönlich für sich bestimmen muß." (Definition der amerikanischen 'Idependent-living-Bewegung' nach: Frehe 1990, S.37)

Dies ist kein Konzept, das sich auf sowieso schon autonome Körperbehinderte bezieht, es ist ein Konzept, das in seinen Prinzipien für alle behinderten und natürlich alte Menschen mit Unterstützungsbedarf sowie Personen mit dauerhaften psychischen Einschränkungen/ Behinderungen gilt.

Das Konzept "Selbstbestimmt leben" geht davon aus, dass nicht nur HelferInnen, sondern vor allem auch die betroffenen behinderten und pflege-/unterstützungsbedürftigen Personen zu schulen und zu begleiten sind. Es sollen ihre Fähigkeiten unterstützt werden, gegenüber den HelferInnen Anleitungs- bis ArbeitgeberInnen-Funktionen zu erfüllen. Dabei geht es im optimalen Fall um den Erwerb der Kompetenz, HelferInnen zu suchen, auszuwählen, anzuleiten und die Bezahlung abzuwickeln. Eine wichtige Funktion dabei haben AusbildnerInnen, die selbst betroffen sind ("Peer Counseling"). Es geht dabei nicht darum, selbständig zu werden, sondern dass jede behinderte Person in Relation zu den eigenen Lebens-Bedingungen die ihr möglichen Schritte setzt. Zentren für ein selbstbestimmtes Leben und Assistenz-Genossenschaften können hier wichtige unterstützende Organisationen sein.

Auch die Selbstvertretungsgruppen von Personen mit Lernschwierigkeiten (nach der trad. Terminologie geistig behinderte Personen - oder: "Menschen mit besonderen Fähigkeiten", wie sie sich auch nennen - vgl. Köbler u.a. 2003, S.19) in der "people first"-Bewegung fordern Selbstbestimmung und persönliche Assistenz.

Sie verlangen dabei z.B.:

"Bei der inhaltlichen Unterstützung hat die Unterstützungsperson eine aktivere Rolle. Hier geht es darum, sein gesamtes Wissen zur Verfügung stellen.

Das kann sein:

  • Informationsquelle zu sein

  • Aktivitäten unterstützend vor- und nachzubereiten

  • Neutral die Aktivitäten zu reflektieren

  • Sicherheit im Hintergrund zu vermitteln

  • Zu beraten

  • Komplexe Abläufe zu strukturieren

  • An Termine zu erinnern

  • Zu erfragen, welche Hilfen gebraucht werden

  • Ideen und Ratschläge zu geben

Wichtig ist bei alledem, dass alle Entscheidungen, was gemacht wird, grundsätzlich bei den betroffenen Personen liegen." (Göbel/ Puschke, o.J.)

Das ist keine Forderung nach Entprofessionalisierung sondern die Forderung, dass das professionelle System der Behindertenhilfe und der psychosozialen Dienste sich diesen Forderungen konsequent stellen müssen. Leitend sind dabei z.B. das Konzept des Empowerment (vgl. Keupp 1995; Stark 1996) und in dessen Folge für psychosoziale Dienste und Sozial-Psychiatrie das Recovery-Konzept (vgl.: Amering/ Schmolke 2006). Es gibt sicher Diskussionsbedarf, wie sich dieses Konzept im Rahmen Sozialer Psychiatrie bei Krisenintervention, Fremd- und Selbstgefährdung usw. umsetzt. Das Prinzip des Verstehens, Unterstützens und Begleitens, des kontinuierlichen und beziehungsorientierten ‚Dranbleibens' gilt in der Sozial-Psychiatrie aber ebenso wie in der Pädagogik mit behinderten Menschen.

Den Geldfluss von öffentlichen Geldern über die betroffenen Personen und nicht über Betreuungsorganisationen abzuwickeln, wie es die Grundidee des Pflegegeldes ist, entspricht ebenfalls einer wichtigen strukturellen Konsequenz aus der Forderung nach Selbstbestimmung. Über den Begriff des "persönlichen Budgets" liegt diese Forderung im internationalen Trend (vgl.: Persönliches Budget, im Internet und als Beispiel: Jahncke-Latteck 2007).

4. Politische Positionen

Bei der Einführung des Pflegegeldes ging es um Verhandlungen, an denen der Bund, die politischen Parteien, die Interessensvertretungen, die Sozialversicherungen und die Länder beteiligt waren. Die Situation stellte sich damals wie heute - heute allerdings mit großen Verschärfungen - folgendermaßen dar:

Auf der einen Seite wird unter dem Titel "Subsidiarität" Selbsthilfe, Regionalisierung, mehr Verantwortung für den Einzelnen, Eigenvorsorge und Familienunterstützung unterstützt, wobei diese Politik deutlich unter der Priorität von Sparpolitik steht. Auf der anderen Seite ist unter dem Titel "Solidarität" ein "Sachleistungs-" Ausbau bis zu einer Monopolisierung der institutionalisierten Versorgung zu beobachten. Gegenüber der Forderung von Selbsthilfeorganisationen nach einem radikalen Umbau der Sozialen Dienste von zentralen Großinstitutionen zu dezentralen, kleinen und flexiblen Einrichtungen und zum Prinzip Selbstbestimmung und persönliche Assistenz sind sehr unterschiedliche Reaktionen zu bemerken, von völligen Ablehnung bis zur Ratlosigkeit und vorsichtiger Diskussionsbereitschaft.

Beide oben genannten politischen Positionen - Subsidiarität und Solidarität - , die sich nicht immer trennscharf auf die verschiedenen österreichischen Parteien, Interessensvertretungen und Länder verteilen lassen, vereinen im Sinne einer Politik für ein selbstbestimmtes Leben und Chancengleichheit richtige und falsche Aspekte.

So ist das Konzept der Eigenverantwortung sehr zu begrüßen, wenn es nicht durch Sparpolitik auf ein "hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott" reduziert wird.

Und so ist es auch natürlich richtig, dass professionelle soziale Dienste flächendeckend benötigt werden. Wenn diese Dienste aber mehr Bedürfnisse von behinderten Personen regulieren und sich weniger als Service- und Dienstleistungsinstitutionen im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen verstehen, bleibt der traditionelle Zustand der institutionellen Entmündigung der betroffenen behinderten und pflegebedürftigen Personen mit ihren vielfältigen persönlichkeitsschädigenden Folgen aufrecht.

5. Fragen zur Finanzierung

Es ist die Frage, ob fundamentale Menschenrechte - wie das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben - überhaupt nach Kosten-Nutzen-Rechnungen zu bewerten sind. Die Frage von gesellschaftlicher Verteilung ist politisch zu diskutieren und zu beantworten und nicht im Rahmen begrenzter Kosten-Nutzen-Rechnungen. Dennoch möchte ich davon ausgehen, dass erhöhte Kosten für sozialpolitische Maßnahmen sich durchaus auch in einer Kosten-Diskussion rechtfertigen und begründen lassen. Mein Eindruck ist, dass in der derzeitigen Sozialpolitik die Diskussion zur Begrenzung der Sozial-Ausgaben von sehr immanenten politischen Argumenten und auch schwer zu durchschauenden Mythen getragen ist. Kosten für die Schaffung verbesserter sozialer Bedingungen werden sehr schnell als "verlorene" Kosten gewertet.

Ich fürchte, dass insbesondere langfristige präventive und sozial-strukturelle Effekte gegenüber kurzfristigen budgetpolitischen Argumentationen vernachlässigt werden. Auf Langfristigkeit wird nur über düstere demografische Prognosen Bezug genommen. Als ob die Demografie über unsere Zukunft entscheiden könnte. Da gibt es aber wohl andere Dimensionen auch noch.

Solange nicht auf den folgenden Ebenen glaubwürdig argumentiert und gehandelt wird, kann ich die Begründungen der derzeit vorherrschenden Sparpriorität nicht nachvollziehen. Die Dimensionen sind:

  • Umverteilung: Bei der Diskussion um die steigenden Kosten sozialer Versorgung wird nicht unterschieden zwischen einem quantitativen Ausbau bestehender zentraler Institutionen (kostenintensiv) und einem Auf- und Ausbau dezentraler, gemeindenaher sozialer Hilfen (personalintensiv). Bei einer Umverteilung können nach einer Übergangsphase viele Kosten der zentralen Einrichtungen gespart werden.

  • Prävention: In der derzeitigen Kosten-Diskussion wird immer nur langfristig ein steigender Bedarf an zentralen Institutionen festgestellt und der präventive Charakter qualitativ verbesserter sozialer Dienste und autonomer Lebensmöglichkeiten (z.B. konsequente Schaffung von barrierefreien Lebenswelten) ausgeklammert. Die Kostenersparnisse bei präventivem Arbeiten sind kaum abzuschätzen.

  • NutzerInnen: Die Auswirkungen von Autonomie und Selbstbestimmung stützenden Hilfen auf das Umfeld einer betroffenen Person ist zu berücksichtigen. Jede Art von Aussonderung und Überforderung (z.B. Familie mit einem Kind/ Jugendlichen/ Erwachsenen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf) führt zu weiteren psycho-sozialen Problemen - im Sinne einer Kettenreaktion - in Familien und sozialen Netzwerken. Insofern ist die ev. teure individuelle Hilfe immer Hilfe für ganze soziale Systeme und damit sehr effizient präventiv.

  • Arbeitsmarkt: Zusätzliche Personalaufwendungen mit entsprechenden Fixkosten sind volkswirtschaftlich keineswegs verlorene Kosten, wenn sie in ein entsprechendes Wirtschaftskonzept eingebaut sind. Der Umbau in Richtung Dienstleistungsgesellschaft geht in einer historischen Entwicklung weiterhin rasant voran, eine Steuerung in Richtung sinnvoller Dienstleistung ist besonders sinnvoll.

Die langfristigen Folgen der Stützung von Selbstbestimmung und Integration sind in ihren positiven sozialen und finanziellen Konsequenzen zu berücksichtigen. Dagegen hat die jetzt noch vielfache Dominanz von Aussonderung sicher hohe Folgekosten (z.B. lebenslange Karrieren als abhängige Personen, Zerstörung von familiären und sozialen Netzen mit seinen psychischen, sozialen und somatischen Folgen) die auch einmal seriös berechnet werden müssten.

Nachdem diese Argumentation meist schwer empirisch zu untermauern ist, möchte ich zumindest zwei Beispiele anführen, die auf die meine Argumentation untermauern können:

1. Eine aktuelle Langzeitstudie aus Kanada, die die gesundheitliche Entwicklung von Kindern (entsprechend dem Gesundheitsbegriff der ICF der WHO) in inklusiven Klassen mit der Gesundheitsentwicklung von Kindern in Sonderklassen vergleicht, ergibt eine signifikante gesundheitlich bessere Entwicklung von Kindern in inklusiven Klassen:

aus: Wagner/ Timmons 2008a (vgl. auch dies. 2008b)

2. Eine bedeutsame Studie im Auftrag der Europäischen Kommission analysierte den Übergang von Großeinrichtungen zum selbstbestimmten Wohnen in der Gemeinde, wobei Qualität und Kosten analysiert wurden. Es handelt sich um die umfangreichste Studie dieser Art, die jemals durchgeführt wurde, Daten aus 28 europäischen Staaten wurden verarbeitet.

Die AutorInnen (Mansell, J. u.a. 2007, S.12) stellen in der Zusammenfassung ihrer Studie fest:

"Bei teureren Großeinrichtungen können Entscheidungsträger davon ausgehen, dass Bewohner mit leichteren Behinderungen im Rahmen guter gemeindeintegrierter Dienste bei gleicher oder besserer Versorgungsqualität zu niedrigeren Kosten versorgt werden können. Die Kostenwirksamkeit des gemeindeintegrierten Modells ist hierbei also besser. Eine gute gemeindeintegrierte Versorgung von Menschen mit schwereren Behinderungen aus teureren Großeinrichtungen wird genau so viel kosten, wobei die Versorgungsqualität besser sein wird. Folglich ist auch hier die Kosteneffizienz des gemeindeintegrierten Modells besser."

Abbildung (ebd.)

Nach Umstellung auf gemeindeintegrierte Dienste

     
 

Kosten

Qualität

Kosteneffizienz

Kostengünstige Einrichtung

     

Weniger behinderte Person

Gleich oder niedriger

Gleich oder höher

Gleich oder besser

Schwerer behinderte Person

Höher

Höher

Gleich oder besser

       

Teurere Einrichtung

     

Weniger behinderte Person

Niedriger

Gleich oder höher

Besser

Schwerer behinderte Person

Gleich oder niedriger

Höher

Besser

Was die Qualität betrifft wurde auf Folgendes Ergebnis hingewiesen, :

"Gleichzeitig stellte sich jedoch auch heraus, dass die Umstellung auf gemeindeintegrierte Dienste nicht automatisch eine Garantie für bessere Ergebnisse ist: Unter Umständen werden die Versorgungsmethoden der Großeinrichtungen unabsichtlich übernommen. Die Entwicklung geeigneter gemeindeintegrierter Dienste ist eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für bessere Ergebnisse". (ebd. S. 5)

6. Unterstützungsstrukturen

Ich möchte daran erinnern, dass der von Sozialpartnern, Ländern, Parlamentsparteien, InteressensvertreterInnen und ExpertInnen erstellte Bericht der Arbeitsgruppe "Vorsorge für pflegebedürftige Personen" (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Mai 1990), der die Vorraussetzungen für die Einführung des Pflegegeldes erarbeitete, durchaus weiterhin wichtige und bis jetzt nicht wirklich umgesetzte Grundsätze formuliert. Dazu prägnante Zitate:

Kapitel "Förderung autonomer Entscheidungen":

"Ein selbstbestimmtes Leben der hilfs- und pflegebedürftigen Menschen muß Richtschnur aller Maßnahmen sein. Die Voraussetzungen dafür müssen allerdings vielfach erst geschaffen werden, so unter anderem

a) durch die Auszahlung eines ausreichenden und den individuellen Bedarf abdeckenden Pflegegeldes direkt an die Betroffenen (u.a. zur Sicherung der Persönlichen Assistenz);

b) durch Training und Schulung der Betroffenen zur eigenständigen Organisation und Anleitung von Hilfen im Sinn Persönlicher Assistenz; und

c) indem die hilfs- und pflegebedürftigen Menschen auf ein Angebot an qualifizierter Hilfe in einer geregelten Dienstleistungsbeziehung zurückgreifen können."

Kapitel über Großheime:

"Großheime (Heime mit über 30 Pflegebetten) sollen (ÖAR und Grüner Klub: dürfen) nicht mehr neu gebaut werden. Der Schwerpunkt der Neubaubestrebungen muß unbedingt in der Schaffung von Wohngruppen liegen. Mehrheitlich wurde die Auffassung vertreten, daß für geistig, körperlich, psychisch und sinnesbehinderte Personen ausschließlich Wohngruppen vorzusehen sind (die Vertreter der Länder sprechen sich gegen diese Ausschließlichkeit aus, ÖAR und Grüner Klub wollen sie auch auf die Gruppe der alten pflegebedürftigen Menschen ausgeweitet sehen)."...."....In diesem Zusammenhang .... ist auch ein Zeitpunkt festzulegen, ab dem keine Neueinweisungen in Großheime mehr erfolgen dürfen."

Es ist wichtig Qualitätskriterien für Institutionen und deren Durchlässigkeit in Richtung inklusive Settings und persönliche Zukunftsgestaltung zu entwickeln, z.B.: statt Beschäftigungstherapie mit Taschengeld Anstellungsverhältnisse und unterstütze Beschäftigung, Persönliche Zukunftsplanung, MitarbeiterInnenbeteiligung und Selbstvertretung wie z.B. WG-SprecherInnen oder Werkstatträte, Peer-Beratung, neue ambulante Angebote für Wohnen, Mobilität/Freizeit, PartnerInnenberatung, Bildungsbegleitung usw.

Ein Chancengleichheitsgesetz muss auch ein Instrument der Steuerung der Angebote beinhalten, es dürfen traditionelle Einrichtungen, die noch dem Verwahrkonzept oder einem ungebrochen Rehabilitationskonzept verpflichtet sind, keine Existenzgarantie haben. Historische Verdienste reichen nicht aus. Nicht mehr oder weniger lineare Kürzungen sondern verantwortungsbewusste Steuerung nach nachvollziehbaren und fachlich begründbaren Kriterien müssen ermöglicht werden.

7. Grundsätze

die in einem Chancengleichheitsgesetz umgesetzt werden sollten:

• Grundsatz: ambulant vor stationär

• Rechtsanspruch auf bedarfsgerechte, einkommensunabhängige Persönlichen Assistenz zur Erlangung einer selbstbestimmten Lebensführung, im Sinne der Rechtssicherheit und der Wahlfreiheit

• Möglichkeit der Gewährung eines trägerübergreifenden Persönlichen Budgets

• Einrichtung von unabhängigen Interessensvertretung(en) in den Einrichtungen der Behindertenhilfe

• Objektiviertes Verfahren zur Bedarfserhebung (Assistenz- / Zukunftskonferenz)

• Bedarfserhebung entkoppelt von Entscheidung.

Literatur:

Amering, Michaela/ Schmolke, Margit: Hoffnung - Macht - Sinn. Recovery-Konzepte in der Psychiatrie. In: Managed Care Nr 1., 2006, Seite 20-22. In: http://www.tellmed.ch/include_php/previewdoc.php?file_id=2153 (21.1.09)

Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Bericht der Arbeitsgruppe "Vorsorge für pflegebedürftige Personen" an das Parlament, Wien, Mai 1990

Frehe, Horst: Thesen zur Assistenzgenossenschaft. In: Behindertenzeitschrift LOS Nr. 26/1990

Göbel, Susanne/ Puschke, Martina: Was ist Unterstützung für Menschen mit Lernschwierigkeiten in Abgrenzung zu Assistenz? o.J. Im Internet: http://www.people1.de/02/t/05forderungskatalog.shtml (19.1.2009)

Hähner, Ulrich: Von der Verwahrung über die Förderung zur Selbstbestimmung. Fragmente zur geschichtlichen Entwicklung der Arbeit mit "geistig behinderten Menschen" seit 1945. In: Hähner, Ulrich u.a. (Hg.): Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung. Marburg (Lebenshilfe Verlag) 1997, S. 25-51

Keupp, Heiner: Gesundheit als Lebenssouveränität - ein sozial ungleich verteiltes Gut. In: Störfaktor. Zeitschrift kritischer Psychologinnen und Psychologen, Heft Nr. 31, 2/1995, S. 5-28

Jahncke-Latteck, Änne-Dörte/ Rösner, Martin / Weber, Petra: Persönliches Budget: Chance für ein selbstbestimmtes Leben? Trägerübergreifendes Budget bei hohem Assistenzbedarf. In: standpunkt: sozial 3/2007, Seite 81 - 89. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/roesner-budget.html (19.1.2009)

Miles-Paul, Ottmar: Wir sind nicht mehr aufzuhalten. Behinderte auf dem Weg zur Selbstbestimmung. 1992. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/miles_paul-peer_support.html (19.1.09)

Persönliches Budget. Stichwort in wkipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Pers%C3%B6nliches_Budget (19.1.09)

Köbler, Reinhard u.a.: "Ich sehe mich nicht als behindert". Studie über die Lebensbedingungen von Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Projekt Freiraum, Verein TAFIE Innsbruck Land, 2003

Mansell, James / Knapp, Martin / Beadle-Brown, Julie / Beecham, Jennifer: Übergang von Großeinrichtungen zum selbstbestimmten Wohnen in der Gemeinde - Ergebnisse und Kosten: Bericht einer europäischen Studie. Teil 1: Zusammenfassende Darstellung. Canterbury (Tizard Centre der University of Kent) 2007. Im Internet: http://ec.europa.eu/employment_social/index/vol1_summary_final_de.pdf (25.1.2009)

Stark, Wolfgang: Empowerment. Neue Handlungskompetenzen in der psychosozialen Praxis. Freiburg i.B. (Lambertus Verlag) 1996

Timmons, Vianne/ Wagner, Maryam: Inclusion and Health: A Study of the Partizipation and Activity Limitation Survey [PALS]. University of Prince Edward Island, Canada, unveröffentlichte Tagungspräsentation, 2008a

Timmons, Vianne/ Wagner, Maryam: The Connection Between Inclusion and Health. In: Professional Dvelopement Perspektives. 2008b, Vol. 7, Issue 3, S. 20-24. Im Internet:  http://www.ctf-fce.ca/e/publications/pd_newsletter/PDP_Summer2008_7_3_EN_Web.pdf   (19.1.2009)

UN: Convention on the Rights of Persons with Disabilities, 2006. Im Internet: http://www.un.org/disabilities/default.asp?navid=12&pid=150 (19.1.2009) und http://www.parlament.gv.at/PG/DE/XXIII/I/I_00564/pmh.shtml (19.1.2009)

WHO: ICF - Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, 2001. Deutschsprachige Übersetzung Stand Oktober 2005, im Internet: http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/ (19.1.2008)

Ich danke für Informationen für diesen Beitrag: Robert Fiedler, Petra Flieger, Ulrike Gritsch und Gerhard Walter.

Quelle

Volker Schönwiese: Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe: Von der Rehabilitation zu Selbstbestimmung und Chancengleichheit.

Einleitungsreferat zur Veranstaltung "Auf dem Weg zu einem Tiroler Chancengleichheitsgesetz für Menschen mit Behinderung", Landhaus Innsbruck 28. Jänner 2009

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.05.2009

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