Seelisch behindert oder was?! - Wir sind Psychiatrie-Erfahrene

Autor:in - Julie Tränkle
Themenbereiche: Kultur, Geschlechterdifferenz
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: WeiberZEIT, Zeitung des Projektes "Politische Interessenvertretung behinderter Frauen" des Weibernetz e.V. Ausgabe Nr. 11, 2006, Seite 6-7. WeiberZeit (11/2006)
Copyright: © Verein Weibernetz e.V. 2006

Seelisch behindert oder was?!

Die Lebenssituation von Frauen mit Psychiatrieerfahrung wird bislang weitestgehend tabuisiert. Auch innerhalb der Bewegung behinderter Frauen kommen sie so gut wie gar nicht vor. In dieser Ausgabe der WeiberZEIT lassen wir eine psychiatrie-erfahrene Frau zu Wort kommen, welche im Folgenden ihre Erfahrungen schildert:

Frauen werden fast doppelt so häufig als psychisch krank diagnostiziert wie Männer. Auch die Verordnung von Psychopharmaka betrifft Frauen doppelt so häufig. Warum?

Weil die Rollenerwartung an Frauen ein Bild der "gesunden Frau" voraussetzt, das dem des "gesunden Menschen" (fast identisch mit dem des "gesunden Mannes") diametral entgegensteht. Erfragt wurden diese Rollenbilder bei Klinikern. Die "gesunde" Frau ist demnach weniger unabhängig, leichter zu beeinflussen, weniger aggressiv, leichter erregbar bei kleinen Krisen, weniger dem Konkurrenzkampf zugeneigt, weniger objektiv und emotionaler. Frauen, die von diesem Rollenbild abweichen, werden schnell pathologisiert. Ihm hingegen zu entsprechen, hat aber ebenfalls seine Tücken, geht mit erhöhter Ängstlichkeit, Depressionen und, vor allem nach Gewalterfahrungen, der Neigung, Aggressionen gegen sich selbst zu richten, einher. So sind viele Frauen in der Psychiatrie, weil sie akut suizidal oder selbstverletzend sind.

Ich komme aus der Selbsthilfeszene der Psychiatrie-Erfahrenen, habe aber auch in einer Kontaktstelle mit diesem Personenkreis gearbeitet. Im Folgenden gebe ich den Konflikt zwischen unseren Selbstbezeichnungen und den offiziellen Zuschreibungen wieder. Es ist allgemein üblich im psychosozialen Bereich, uns als "seelisch-" oder "psychisch behindert" oder aber als "(chronisch) psychisch krank" zu bezeichnen. Ohne diese Zuschreibungen wird kaum ein Projekt finanziert.

Mir ist hingegen in einem Jahr Kontaktstellenarbeit (die wenigsten Besucher hatten Kontakt zur Selbsthilfe) nur ein Betroffener begegnet, der den Begriff "seelisch behindert" von sich aus für sich wählte und als zutreffend empfand. Auch kam es sehr selten vor, dass sich jemand freiwillig als "psychisch krank" bezeichnete. Vielmehr überwog die leidvolle Auseinandersetzung mit dem Stigma durch diese Begriffe. Beispiel ist eine Lehrerin, die sich nach einem Psychiarieaufenthalt damit auseinandersetzten musste, dass das Kultusministerium jetzt ganz bestimmte Vorstellungen hatte, die ihr Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt bereiteten.

Hingegen wird gerade der Begriff "psychisch krank" inflationär verwendet, sobald man als Patientin die Psychiatrie betritt. Er wird aufgebaut im Gegensatz zu "normal", was die MitarbeiterInnen mit dem Brustton der Überzeugung für sich selbst in Anspruch nehmen. Ihr Weltbild ist oft sehr unreflektiert bürgerlich. Sie zählen auf, was alles im Gegensatz dazu "krank" an uns sein soll. Das Ausmaß an Stigmatisierung, das in einem solchen Verhalten liegt, schien psychiatrischen MitarbeiterInnen gar nicht klar zu sein. Es ist schwer, sich unter solchen Bedingungen sein Selbstbewusstsein zu erhalten.

"Willst Du wirklich etwas wissen, frage einen Erfahrenen, nicht einen Gelehrten"

Wir hingegen bezeichnen uns als "Psychiatrie-Erfahrene". Dieser Begriff beinhaltet die Möglichkeit, auch ohne "Krankheitszustand" hospitalisiert zu werden. Beispiel wäre die Frau, die zwangseingewiesen wurde, weil sie im Sozialamt auf den Tisch gehauen hat.

Die Betonung liegt bei dem Begriff auf dem Wort "Erfahren". Das chinesische Sprichwort. "Willst du wirklich etwas wissen, frage einen Erfahrenen, nicht einen Gelehrten" ist zum geflügelten Wort in der Selbsthilfe geworden. Eine große Bedeutung hat in den Selbsthilfegruppen die Sinnsuche. Es geht darum, die Relevanz des Erlebten für das eigene Leben herauszufinden. Welcher psychische Zustand auch immer - die Erfahrungen haben für uns in jedem Fall eine lebensgeschichtliche Bedeutung und es kann daraus eine ganze Menge gelernt werden. Wie aus dem Psychiatrieaufenthalten auch, sind doch die unterschiedlichsten Menschen mit den verschiedensten Biographien zusammen untergebracht.

Leider wird in der Psychiatrie nicht zu knapp Krankheitseinsicht eingefordert, was zu Auswüchsen wie dem führen kann, dass jemand eine Erfahrung, die ihm dort nicht geglaubt wird, verleugnen muss, um entlassen zu werden. So in meinem Fall eine jahrelange Bedrohung. Für die bin ich "Chronikerin", wiederum ein Begriff, auf dem viele Zuschreibungen beruhen wie die, dass "Chroniker" nie wieder richtig auf die Füße kommen und lebenslänglich auf Neuroleptika (Psychopharmaka) angewiesen sind. Im Grunde ist aber meine Geschichte ein Fall chronischer Missachtung. Die Gründe meiner Krisen musste ich mir in der Selbsthilfe und in den selbst gesuchten Therapien und Beratungen weitab der Psychiatrie erarbeiten. Zum Begriff "seelisch behindert" hier die Autorin Sibylle Prins. Danach ist die Seele ein "Begriff, der zumindest früher, etwas mit Religion und Metaphysik zu tun hatte - der Teil des Menschen, der ihm mit einer wie auch immer gedachten Transzendenz verbindet: Als solcher wird er ja auch in der Literatur und Musik aller Zeiten immer wieder besungen."

Psychiatrie-Erfahrene entwickeln oft grade durch ihre Erlebnisse in und mit den Krisen spirituelle Drähte. Die eher nüchterne, einem rationalistischen Weltbild sich verpflichtet fühlende Institution Psychiatrie erkennt nicht das Potential dieser Erfahrungen, sondern bezeichnet sie als Teil der "seelischen Behinderung". Das bedeutet eine Entwertung von Erlebnisdimensionen, die sehr bereichernd sein können. Kernaufgabe der Selbsthilfe ist daher u.a. eine Aufwertung der Erfahrungen, die in Krisen gemacht werden sowie die politische Kritik an den Begrifflichkeiten einer stigmatisierenden Psychiatrie.

Getriebe

Leicht Lesen

Diesen Text gibt es auch in Leichter Sprache: http://bidok.uibk.ac.at/library/wzl-11-06-traenkle-seelisch.html

Quelle:

Julie Tränkle: Seelisch behindert oder was?! - Wir sind Psychiatrie-Erfahrene

erschienen in: WeiberZEIT, Zeitung des Projektes "Politische Interessenvertretung behinderter Frauen" des Weibernetz e.V. Ausgabe Nr. 11, Juli 2006, Seite 6-7.

http://www.weibernetz.de/weiberzeit.html

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 14.04.2009

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation