Bilanz und Perspektiven des Schulversuchs Integrationsklassen

Autor:in - Hans Wocken
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: aus: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988, S. 49-60
Copyright: © Curio Verlag 1988

1. Grundprinzipien der Integration

Der Modellversuch Integrationsklassen weist Merkmale auf, die als theoretisch richtig und praktisch bewährt gelten können. Die konstitutiven Reformelemente gilt es vorab bekräftigend darzustellen und vor der Vergeßlichkeit zu bewahren.

1.1 Das Prinzip der offenen Aufnahmetoleranz

Nach den Bestimmungen der Behörde für Schule und Berufsbildung können all jene Kinder mit Behinderungen in Integrationsklassen Aufnahme finden, bei denen gewährleistet ist, daß sie dort "ihren Möglichkeiten entsprechend" gefördert werden können. Der Fortschrittlichkeit dieser Formulierung darf historischer Rang zugesprochen werden. Die Offenheit des Aufnahmekriteriums erspart absurde Diskussionen der Frage, welche behinderten Kinder als integrationsfähig anzusehen sind und welche nicht. Sie bewahrt auch vor einer starren Dogmatik, daß jedes behinderte Kind unter allen Umständen integrierbar ist und in jedem Fall zu integrieren sei.

Die Integration behinderter Kinder kann vernünftigerweise immer nur eine begründete Einzelfallentscheidung sein, die die gegebenen und veränderbaren Umstände in Rechnung stellt und die vor dem gleichberechtigten Anspruch des behinderten Kindes und seiner Mitschüler auf eine ihnen gemäße pädagogische Förderung zu verantworten ist.

Die Verteilung der Behinderungsarten (STOBBE 1987) kann belegen, daß der Hamburger Schulversuch die Chance, Kinder aller Behinderungsarten und -grade aufzunehmen, nutzt und praktisch einzulösen bemüht ist. Die offene Aufnahmetoleranz hebt den Hamburger Versuch vorteilhaft ab von vielen anderen Integrationsprojekten in der Bundesrepublik und im europäischen Ausland, die nicht selten geistig- und schwerstbehinderten Kindern grundsätzlich eine schulische Integration verweigern.

Im Hamburger Integrationsklassenkonzept nimmt das Prinzip der offenen Aufnahmetoleranz den Rang einer verfassungsgebenden Grundnorm ein. Auch dann, wenn die praktische Verwirklichung dieses Grundsatzes an Grenzen stößt, muß die verbriefte Zusicherung der Integrationsfähigkeit aller Kinder mit Behinderungen ein unumstößliches Prinzip bleiben.

1.2 Das Prinzip des zieldifferenten Lernens

Das pädagogische Kernstück der Integrationsreform ist das zieldifferente Lernen. Bis in die Gegenwart hinein verfahren alle Schulen mehr oder minder nach dem fragwürdigen Prinzip, von ungleichen Schülern das Gleiche zu verlangen. Schüler, die das Klassenziel verfehlen oder das Ziel der Schule nicht erreichen, werden nicht versetzt oder der Schule verwiesen. Die innere Logik der hergebrachten Schule ist das Lernen im Gleichschritt. Eine integrative Schule ist dagegen eine nichtselektive Schule, die Ungleichheit von Schülern zuläßt und zugleich die Gemeinsamkeit der Verschiedenen anstrebt. Integrative Schulen verstehen sich als gänzlich notenfreie Schulen und verwirklichen das grundschulpädagogische Reformanliegen einer verbalen Beurteilung von Schülern. Darüberhinaus ist das Sitzenbleiben sowohl behinderter wie nichtbehinderter Schüler grundsätzlich nicht mit dem Integrationskonzept vereinbar. Integrationsklassen sind Stammgruppen, die während der ganzen Grundschulzeit als konstante Lerngruppe zusammenbleiben. Erst am Ende der Grundschulzeit ist festzustellen und zu entscheiden, welche Empfehlungen für die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe auszusprechen sind.

Es ist erstaunlich, wie wenig diese ideelle Revolution einer zieldifferenten pädagogischen Förderung außerhalb und auch innerhalb des Modellversuchs gesehen und verstanden wird. Das "Recht auf Unterschiedlichkeit (WOCKEN 1987, 76) hat in beeindruckender Weise der ehemalige Senator GROLLE (1987, 42f) zum Ausdruck gebracht: "Es gilt für jedes Kind ein eigener Maßstab. Jedes Kind darf zu sich selbst kommen." Und: "Seinen Möglichkeiten entsprechend, das heißt, auf jede generelle Norm zu verzichten und stattdessen die Lebensfreude, aber auch die zerbrechliche Individualität jedes Einzelnen zum Maßstab pädagogischer Förderung zu nehmen."

Genau dieser Aspekt einer zieldifferenten Grundschule markiert einen fundamentalen Unterschied zwischen Prävention und Integration. Alle präventive Förderung zielt darauf ab, daß die von Aussonderung bedrohten Kinder in ihren Leistungen wieder Anschluß an die Klasse finden und in ihrem Verhalten ein akzeptiertes Maß an Normalität erreichen. Die Norm der Normalität ist die unüberwindbare Grenze und letztlich unumstößliche Zielvorgabe präventiver Arbeit.

Gerade darin besteht nun der tiefgreifende Wandel, daß innerhalb einer integrativen Erziehung nicht mehr die Schule die maßgebende Norm für die Kinder, sondern umgekehrt das Kind die gestaltgebende Norm für die Schule ist. Integration ist nur dann möglich, wenn allen Kindern mit und ohne Behinderungen das Recht auf Ungleichheit und Anderssein zugestanden wird.

1.3 Das Prinzip der multiprofessionellen Versorgung

Integrationsklassen sind Lerngruppen mit einer extremen Heterogenität, wie sie in keinem anderen pädagogischen Feld anzutreffen ist. Die Spannweite reicht gegebenenfalls vom geistigbehinderten bis zum hochbegabten Kind, von Kindern aus sozial benachteiligten Familien bis hin zu Kindern aus gehobenen Schichten, von körper- und sinnesbehinderten bis hin zu unbeeinträchtigten Kindern. Die extreme Vielfalt kindlicher Entwicklungsbedürfnisse und -möglichkeiten erfordert, soll allen Kindern gleiches Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit zugestanden werden, unterschiedliche pädagogische Kompetenzen. In Hamburg werden - als Besonderheit in der Bundesrepublik - Integrationsklassen durch drei professionelle Kompetenzen betreut. Für die Förderung der nichtbehinderten Kinder ist grundschulpädagogische Kompetenz, für die Förderung der behinderten Kinder ist sonderpädagogische Kompetenz vonnöten.

Für die neue Aufgabe integrativer Erziehung, eine ganzheitliche allseitige Bildung anzuregen, ist eine sozialpädagogische Orientierung der Grundschule unabdingbar; sie wird durch die Mitwirkung einer Erzieherin oder eines Erziehers gewährleistet. Dieses Prinzip einer multiprofessionellen Betreuung von Integrationsklassen kann durch die Erfahrungen des Schulversuchs als notwendig und bewährt angesehen werden. Ungeachtet der unstrittigen Gültigkeit des Grundsatzes ist gegenwärtig die praktische Umsetzung noch mit mancherlei Problemen und ungeklärten Fragen verbunden. Die bestmögliche Form einer befriedigenden und nutzbringenden Kooperation verschiedener pädagogischer Kompetenzen ist noch nicht gefunden und eine klärungsbedürftige Entwicklungsaufgabe des Schulversuchs.

1.4 Das Prinzip der Freiwilligkeit

Alle Beteiligten - Eltern, Lehrer und Schüler - nehmen aus freien Stücken an dem Schulversuch teil. Das Prinzip der Freiwilligkeit ist zunächst in dem rechtlichen Status von Schulversuchen, die Zustimmung und Einwilligung zwingend voraussetzen, begründet. Eine weitere Begründung des Freiwilligkeitsprinzips geht auf Vorstellungen zurück, wie schulpädagogische Innovationen wirkungsvoll implementiert und ohne unnötige Reibungsverluste umgesetzt werden können. Schulversuche zur gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder sind höchst sensible Projekte. Eine wichtige Bedingung für das Gelingen von Integrationsvorhaben ist ein Grundkonsens der Beteiligten in zentralen pädagogischen Fragen. Wenn dagegen im näheren Umfeld der Beteiligten innere Gegenwehr und emotionales Unbehagen vorhanden sind, dann werden sich diese ungünstigen Einstellungen sicherlich auch ihren Weg bahnen, nach Ausdrucksmöglichkeiten suchen und sich störend auf den gesamten Versuch auswirken. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt muß man im schulischen Bereich gegen eine gesetzlich verfügte und bürokratisch umgesetzte Integration von oben schwere Bedenken haben. Das Prinzip der Freiwilligkeit ist daher für die Startphase schulischer Integrationsvorhaben unverzichtbar; es sichert Akzeptanz und erlaubt der Gesellschaft, in geduldigen Lernprozessen sich ohne Zwang und Zeitdruck dem Anliegen der Integration zu öffnen und zu nähern.

Das Freiwilligkeitsprinzip hat allerdings nur eine begrenzte historische Gültigkeit. Es ist allein durch die Strategie der Innovation begründbar, nicht jedoch grundsätzlich gerechtfertigt. Eltern behinderter Kinder haben kein Recht, ihr behindertes Kind abzulehnen. Lehrer haben kein Recht, ausländische Kinder abzulehnen. Längerfristig können weder Eltern noch Lehrer noch Grundschulen die Aufnahme behinderter Kinder ablehnen und sich gegen eine gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder aussprechen. Integration ist keineswegs ein Gnadenakt, der großzügig gewährt oder auch rechtens verweigert werden könnte; sie ist eine humane und demokratische Verpflichtung, die alle angeht.

2. Perspektiven und Entwicklungsaufgaben

Im folgenden sollen in aller Kürze einige Perspektiven und Entwicklungsaufgaben angesprochen werden, die sich für den Schulversuch Integrationsklassen und für die Primarstufe insgesamt abzeichnen.

2.1 Warnung vor der "schwarzen" Integration

Seit den 70er Jahren hat die Grundschule - maßgeblich vorangetrieben durch den "Arbeitskreis Grundschule" - erhebliche Fortschritte gemacht. Kleinere Klassen und eine bessere Lehrerversorgung haben die Tragfähigkeit der Grundschule für lernschwache Schüler erhöht. Die Öffnung der Grundschule für Schüler mit besonderen Entwicklungsproblemen und Lernschwierigkeiten ist nachdrücklich zu begrüßen und zu bestärken. Mögliche Fehlentwicklungen dürfen indes nicht übersehen werden. Um der zurückgehenden Bereitschaft von Eltern, ihre Kinder in Sonderschulen zu geben, entgegenzukommen, kommt manche Grundschule in die Versuchung, auch solche Kinder zu behalten, deren besonderem Förderbedarf sie trotz der verbesserten Rahmenbedingungen nicht gerecht werden kann. Die sicherlich gut gemeinte "schwarze" Integration einzelner behinderter Kinder stellt viele zufrieden: Die Schulverwaltung, weil das integrative Engagement der Schulen nichts kostet; die Eltern, weil ihre Kinder nicht ausgesondert werden, und hier und da auch die Schule, weil die schwachen Schüler infolge des drastischen Schülerrückgangs der eigenen Selbsterhaltung zugutekommen. Der integrative Druck von Eltern, ihr Wille zur Nichtaussonderung, dürfte in den kommenden Jahren eher zu- als abnehmen. Auch wenn die stillschweigende Integration sondererziehungsbedürftiger Kinder im Einzelfall gelingen mag, sie kann schlechterdings die generelle Linie einer integrationsorientierten Grundschulreform sein.

2.2 Integrationsklassen als Regelangebot

Mit dem Schuljahr 1987/88 geht der Modellversuch "Integrationsklassen" zu Ende. Dies bedeutet, daß die finanzielle Förderung durch die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung ausläuft. Der Schulversuch selbst wird den Bezeugungen der politisch Verantwortlichen zufolge in bisheriger Weise fortgeführt. Die wachsende Größe des Schulversuchs und seine praktische Bewährung lassen es nun immer weniger sinnvoll erscheinen, von einem Schulversuch zu sprechen. Schulversuche dienen der Erprobung neuer pädagogischer Konzepte; sie sind der Sache nach zeitlich begrenzt und lassen vorerst die Frage einer breiteren bildungspolitischen Umsetzung offen.

Der Hamburger Senat kann, gestützt auf die praktische Bewährung des Schulversuchs, seinen bildungspolitischen Willen für integrative Schulen nun durch gesetzliche Regelungen zum Ausdruck bringen und sollte dies beizeiten tun. Integrationsklassen sind als ein legitimes Kind der Grundschule rechtlich anzuerkennen und als alternatives Regelangebot der Grundschule im Schulgesetz festzuschreiben. Der Rechtsstatus eines alternativen Regelangebots der Grundschule beendet den Versuchscharakter von Integrationsklassen und legalisiert die Normalität von Integration.

2.3 Fortführung integrativer Kindergartengruppen

Der Senat der Hansestadt Hamburg plant im Elementarbereich ein flächendeckendes System integrativer Kindergruppen, das die bestehenden Sondereinrichtungen ersetzen soll (EHLERS 1987). In den darauffolgenden Jahren dürften - die Verwirklichung und das Gelingen der Integrationsreform im Elementarbereich vorausgesetzt - in breiterem Umfange integrationswillige Eltern an die Tore der Grundschulen klopfen und um eine Fortsetzung der Integration im Primarbereich nachsuchen. In der Schulbehörde müssen folglich beizeiten Überlegungen angestellt werden, welche Antwort die angefragten Grundschulen auf das Integrationsbegehren der Eltern dann geben können und sollen.

2.4 Notwendigkeit unterstützender Systeme

Die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder ist eine neue pädagogische Herausforderung. Bei dieser Grundschulreform geht es keineswegs um eine schlichte Änderung institutioneller Rahmenbedingungen (z.B. Einführung der 5-Tage-Woche) oder um eine curriculare Innovation (z.B. Einführung der Mengenlehre). Es geht darum, die über Jahrhunderte getrennten Wege der allgemeinen Pädagogik und der Behindertenpädagogik produktiv zusammenzuführen. Ein solches geschichtliches Reformwerk kann nicht über Tag gelingen und ist mit mancherlei Mühen, Problemen und Schwierigkeiten verbunden.

Die große Aufgabe einer integrativen Grundschulreform kann nicht allein dem Engagement der Beteiligten überantwortet werden. Eine Schulreform von so grundsätzlicher Tragweite bedarf unterstützender Systeme: Fortbildung, Beratung, fachliche Dienste, ambulante Hilfen u.a.. Die konkrete Gestalt der unterstützenden Systeme bedarf freilich gründlicher Überlegungen. Das Augenmerk für kreative Problemlösungen sollte dabei keineswegs vordergründig auf die Schaffung neuer Planstellen oder gar neuer Institutionen gerichtet sein, sondern wird die intensive Nutzung und den allmählichen Wandel vorhandener Unterstützungssysteme (Institut für Lehrerfortbildung, Dienststelle Schülerhilfe, Sonderschulen, Universität u.a.) einbeziehen müssen.

2.5 Einbeziehung sozialer Brennpunkte

Die Einrichtung von Integrationsklassen ist in Hamburg und andernorts in aller Regel von Elterninitiativen ausgegangen. Der Elternwille war das entscheidende Movens für den Beginn der Integrationsreform in der Grundschule. Dies wird auf längere Zeit auch wohl noch so bleiben und bleiben müssen. Gegenwärtig zeichnet sich immer noch nicht ab, daß Bildungspolitik, Schulverwaltung, Grund- und Sonderschulpädagogik aus eigenem Antrieb Integration voranbringen wollen.

Der unverzichtbare Weg über die Elterninitiative ist allerdings auch mit Nachteilen behaftet. In Elterninitiativen finden sich vornehmlich bildungsinteressierte und politisch artikulationsfähige Eltern zusammen. Es verwundert daher nicht, daß die Integrationsbewegung bislang im wesentlichen eine bürgerliche Bewegung ist. Die Arbeiterschaft, ausländische Mitbürger und benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind derzeit nicht in einem Maße beteiligt, wie es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht und wie es die Idee der Integration zwingend fordert. Grundschulen mit Integrationsklassen sind zur Zeit nicht in sozialen Brennpunkten anzutreffen, dort, wo die soziale Not von Familien und die Schulprobleme ihrer Kinder am größten sind (AUERSWALD 1987). Um der Bildungsgerechtigkeit willen sind daher schon jetzt bildungspolitische Korrektiven vonnöten. Das Modell der Elterninitiative bedarf einer Ergänzung durch das Modell der Schulinitiative. In der kommenden Zeit sollten mehr und mehr Grundschulen in sozialen Brennpunkten eine integrative Beschulung aller Kinder ihres Wohngebiets beantragen und dann auch realisieren dürfen.

2.6 Auflösung der Grundstufe der Förderschule

Die Hamburger Schulversuche "Sonderschullehrer an Grundschulen" und "Integrationsklassen" belegen überzeugend, daß Schüler mit Lernbehinderungen bei entsprechenden Rahmenbedingungen auch in der Grundschule angemessen gefördert werden können. Aus diesen Erfahrungen ergibt sich für mich persönlich die Konsequenz, alle Primarschüler mit Lernbehinderungen in der Grundschule zu fördern. Die Auflösung der Grundstufe der Förderschule ist an zwei Voraussetzungen zu knüpfen:

1. Das Prinzip des zieldifferenten Lernens (1.2) muß uneingeschränkte Gültigkeit haben. Ohne die Chance individueller Lernfortschritte kann die Integration lernbehinderter Kinder nicht gelingen. Aufkommende Hoffnungen, man könne durch Prävention oder durch Integration Lernbehinderungen als solche in nennenswertem Maße vermindern oder vermeiden, müssen von vornherein enttäuscht werden.

Etwaige Versprechungen einer "heilpädagogischen" Normalisierung lernbehinderter Schüler sind sachlich nicht gerechtfertigt. Alle wissenschaftlichen Befunde zur Wirksamkeit kompensatorischer Maßnahmen (BOURDIEU & PASSERON; BRONFENBRENNER; COLEMANN; JENCKS; REISER) weisen einhellig aus, daß ungleiche Lernvoraussetzungen von Schülern durch sonderpädagogische Künste nicht in nennenswerter Weise ausgeglichen werden können und Lernbehinderungen letztlich nicht aus der Welt zu schaffen sind. Die Idee der Integration fordert, die Realität von Lernbehinderungen anzuerkennen.

2. Alle materiellen und personellen Ressourcen, die derzeit der Grundstufe der Förderschule zur Verfügung stehen, sind im Zuge der Reform schrittweise an die integrative Grundschule zu verlagern.

Die gegebene Reformanregung bedarf einer breiten Diskussion in der bildungspolitisch interessierten Öffentlichkeit. In Bremen ist als erstem Bundesland eine sukzessive Auflösung der Lernbehindertenschule in Planung. Nach meinem Dafürhalten ist die Bremer Planung für den Bereich der Sekundarstufe voreilig. In der Sekundarstufe hat eine profilierte Förderschule auf längere Sicht eine sinnvolle und notwendige Funktion.

Die Auflösung der Grundstufe der Förderschule wäre ein bedeutsamer Meilenstein auf dem Wege zu einer Grundschule für alle Kinder. Ein derartiger Reformschritt dürfte auf Gesprächsbereitschaft und anteilnehmendes Interesse lernbehindertenpädagogischer Institutionen und Organisationen hoffen.

Ein gravierender Vorteil einer integrativen Grundschule mit lernbehinderten Kindern dürfte sein, daß sich erst am Ende der Grundschulzeit für alle Schüler in gleicher Weise die Frage der weiterführenden Bildung in Sekundarschulen stellt - für Gymnasiasten ebenso wie für Sonderschüler. Das Sonderschulaufnahmeverfahren wäre um einige Probleme entschärft. Die Überweisung zur Förderschule wäre dann eingebunden in die allgemeine Aufgabe der Schullaufbahnberatung für die Sekundarstufe.

Literatur

AUERSWALD, M.: Prävention - ein Fehlstart? Hamburger Lehrerzeitung 1987, 4, 25-26

GROLLE, J.: Grußwort zum Bundeselterntreffen. In: HINZ & WOCKEN (Hrsg.) 1987, 40-44

HINZ, A. & WOCKEN, H.: Gemeinsam leben - gemeinsam lernen beim Hamburger Integrationszirkus. Hamburg: Curio-Verlag 1987

EHLERS, J.: Integration in Hamburger Kindertagesstätten.In: HINZ & WOCKEN (Hrsg.) 1987, 45-51

STOBBE, Th.: Integration: Freudiger, eifriger, vielseitiger lernen. Hamburger Lehrerzeitung 1987, 11, 16-19

WOCKEN, H. & ANTOR, G. (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburg. Solms-Oberbiel: Jarick 1987

Quelle:

Hans Wocken: Bilanz und Perspektiven des Schulversuchs Integrationsklassen

In: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988; S. 49-60

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.05.2005

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