Die Stellung der Kirche zur Aussonderung

Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: TAFIE (Hrsg.): Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. 5. Gesamtösterreichisches Symposium 1989, S. 171 - 174
Copyright: © Herlinde Pissarek-Hudelist 1989

Wie steht die Kirche zur Aussonderung/Integration, wie kann christlich gehandelt werden?

1. Meine eigenen Erfahrungen mit diesem Themenbereich stammen aus drei Quellen: als junge Theologiestudentin unterrichtete ich vier Jahre lang Religion an einem Schulversuch Hauptschule-Sonderschule; von daher ist mir unvergeßlich, wie ausgrenzend und diskriminierend die Kinder die Bezeichnung "Sonderschule" empfanden. Auch hat mich tief beeindruckt, wie sehr ein schwieriges häusliches Milieu - die Kinder waren nach heutiger Terminologie lernbehindert, zum Teil verhaltensgestört - Schulverhalten und Schulleistung von Kindern beeinflussen kann. Daher bot ich später innerhalb meiner schulpraktischen Übungen auch Übungen für den Religionsunterricht an Sonderschulen an. Durch die Schulbesuche und Unterrichtsversuche einer kleinen, aber sehr engagierten Gruppe von Studierenden sah ich Bemühungen, Chancen und Grenzen im Bereich der verschiedenen Formen von Sonderschulen. Hier fiel mir auf, daß Unterricht an Sonderschulen gleichsam mit dickem Pinselstrich die Notwendigkeit jedes Unterrichtens unterstreicht: z.B. Anschaulichkeit, Lebendigkeit, kindgemäße Sprache.

Schließlich habe ich noch drei Diplomarbeiten von Studierenden mit Teilfragen des Themenbereichs wissenschaftlich begleitet.

2. Da ich als Frau in der Kirche mich immer für Frauen einsetze, erlebe ich selbst, daß ich als Frau - wie Kinder, Jugendliche, Ausländer und eben auch Behinderte - zu den "Anderen" gehöre, zu den Fremdartigen, Sonderbaren, von der männlichen Norm Abweichenden, die daher Angst, Abwehr und Aggression erleben.

3. Das Wort "Kirche" meint in seiner vollen Bedeutung alle Getauften: Wenn wir mit Recht sagen, daß wir alle Kirche sind, müssen wir doch im gleichen Atemzug zugeben, daß wir in dieser Kirche nicht alle gleichviel zu sagen haben! Wenn wir auf die Kirche als Amtskirche hinblicken, sehen wir eine Kirche von Amtsträgern, die eheliche Lebensform nicht teilen, nicht mit Kindern leben, schon gar nicht mit behinderten. Von daher gibt es so viele prinzipielle und abstrakte, von und außen kommende Äußerungen zu Fragen des konkreten Lebens. Wir sind oft auch die "Anderen", die "Fremden". Daß es auch unter den Amtsträgern solche gibt, die "mit den Menschen" leben, bleibt dabei unbestritten.

Dazu paßt, daß kirchliche Verlautbarungen gerne das Bild Hirt-Herde für das Verhältnis von Amtsträgern und Laien strapazieren. Dieses biblische Bild ist aber keineswegs das einzige. Bei Paulus findet sich der Vergleich vom Leib mit seinen Gliedern, bei Johannes von Weinstock und Rebe. Mein eigenes Kirchenbild, mit dem ich leben kann, ist das vom durch die Jahrhunderte pilgernden, ja stolpernden, sündigen Volk Gottes: "sich in und mit der Kirche auch als Sünder(in) unterwegs zu wissen und daher mit diesem stolpernden Zug durch die Jahrhunderte ebensoviel Geduld und Hoffnung zu haben wie mit und für sich selbst. Das Bild vom Volk Gottes hat eine integrierende Kraft, die einen heutigen Menschen in seinem Leiden an der Kirche trösten kann: Diese Kirche ist unterwegs, aber mit verschiedenem Tempo; sie ist unterwegs, also: sie bewegt sich doch; sie ist unterwegs, so daß es auch Umwege, Irrwege, Stocken, Aufenthalt geben kann. Ihre Menschen begleiten einander, stützen einander, preschen vor, bleiben zurück, fallen, werden einander zum Ärgernis und zur Versuchung und sind ausnahmslos alle Sünderinnen und Sünder, aber gehalten von der Liebe Gottes. Sie haben ein Ziel vor sich: die Zukunft Gottes.

4. Diese Vorbetonung eines bestimmten Kirchenbildes zeigt, daß die "offizielle" Kirche, 25 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil, immer noch oder gar wieder mehr Schwierigkeiten hat, Mündigkeit, Selbständigkeit, Autonomie, Subjektsein bei ihren Gläubigen anzunehmen. Die geschlossene christliche Gesellschaft von früher, in der Kirche, Staat und Schule weltanschaulich an einem Strang zogen, begünstigte Verhaltensweisen wie Gehorsam und Anpassung, wobei Gehorsam gegen Gott nicht selten mit Gehorsam gegen die Kirche gleichgesetzt wurde.

Daher gibt es in der Kirche eher den Ruf nach Hilfe und Liebe als nach Gerechtigkeit. Dies galt für die verschiedenen Hilfsorganisationen im Lauf der Jahrhunderte, die - oft als einzige - Großartiges geleistet haben, aber im Grunde aus dem "Betreuungsdenken" nicht herauskamen.

5. Das II. Vatikanische Konzil hat innerhalb der Kirche eine Bewegung von Emanzipation und Mündigkeit ausgelöst. Es wurde erkannt, daß Menschen nicht nur Objekte, sondern Subjekte auch seelsorglichen Handelns sind. Das gilt für die Menschen der Dritten Welt, für die Frauen, für die Schüler und Schülerinnen im Religionsunterricht, für die Jugendlichen, für die alten Menschen und, wie ich meine, weithin auch für die behinderten Menschen. Die Erkenntnis "i bin a wer" (ich bin auch jemand), die eine Frau von einer Veranstaltung der Katholischen Frauenbewegung mitnahm, gilt auch hier.

6. Diese Kirche erlebt nun, wie mir scheint besonders bei uns in Tirol, eine Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit (K. Rahner), eine Ungleichzeitigkeit des Wandels (P. M. Zulehner) und eine Gleichörtlichkeit der Ungleichzeitigkeit (H. Pissarek-Hudelist). Das bedeutet: Menschen am gleichen Ort leben zur selben Zeit nach sehr verschiedenen Leitbildern und Einstellungen. Dies bewirkt dann auch in unserer konkreten Farbe von schulischer Aussonderung oder Integration die Neigung zur einen oder anderen Lösung.

7. Daher müssen nun vorrangig die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Es muß ein Ende nehmen, daß ständig für sie statt mit ihnen gesprochen wird. Mit ihnen soll gesprochen werden, und sie selbst sollen sprechen.

In der Kirche der Dritten Welt (in Lateinamerika) ist sehr viel von einer Option für die Armen die Rede. Die Suche nach den Belasteten der Ersten Welt kommt mir oft vor wie das Herumfuchteln mit einer Stange im Nebel; weithin wird nicht erkannt, daß z.B. das Antlitz der Armut bei uns oft weiblich ist, also vor allem (alleinerziehende, geschiedene, alte) Frauen betroffen sind. Weithin wird nicht erkannt, daß auch der Umgang mit Behinderten Last und Kraft an die übrige Gesellschaft weiterzugeben hat.

8. Darum sollen und müssen Sie als Eltern und LehrerInnen Ihre Erfahrungen zu dieser Frage "Schulische Aussonderung oder Integration" mitteilen. Sie erleben die Sorgen, Schwierigkeiten, aber auch Freude und Erfolg, die die anderen nicht kennen. Daher ist es Ihre unverzichtbare und unvertretbare Aufgabe: In Kirche und Gesellschaft immer wieder Ihre Erfahrungen hineinzusagen, zu Gehör zu bringen.

Sie leben in einer Situation schwerer Belastung, gehen schöpferisch damit um, schieben die Grenzen dessen, was menschlich möglich ist, hinaus. Wenn Sie also konkret aufgrund ihrer positiven Erfahrungen meinen, für schulische Integration eintreten zu müssen, dann sollen Sie es tun! Für beide Seiten gilt: Mit Ernst, Sachverstand den eigenen Standpunkt verteidigen und damit das Anhören und Erwägen der anderen Seite zu verbinden. Nur so gibt es einen echten Fortschritt in Gespräch und Handeln.

Mir scheint, daß die Probleme, Fragen, Schwierigkeiten, Erfolge jeder schulischen Erziehung damit zugleich in den Blick kommen, d.h. die Frage nach Aussonderung oder Integration behinderter Kinder nur das schärfer konturiert und deutlicher wahrnehmbar macht, was Ziel jeden Unterrichts ist.

9. Der Kirche müßten solche Gedanken ja vertraut sein: Sie beruft sich auf einen, auf Jesus Christus, der für seine Mutter wahrhaftig ein Außenseitersohn war. In einer Umwelt, die die Sippe über alles stellte, geht er als Erwachsener allein seinen Weg - in deutlicher Absetzung von seinen Verwandten. Zugleich ist es dieser, der so sehr für die Kleinen, die Schwachen, die Kranken eingetreten ist, daß sich nicht für diese, sondern für die "Reichen" die radikale Frage stellt, wie sie ihr Heil erlangen.

Aus dieser Sicht kann sich auch eine letzte Gelassenheit des Engagements für uns alle ergeben: Es kommt auf jede(n) einzelne(n) von uns an, aber es kommt nicht nur auf uns an.

Von Ihnen aber haben die anderen in der Kirche zu lernen, was Hoffen heißt, was es heißt, sich einzusetzen ohne Fanatismus, was es heißt, Mut aufzubringen in Situationen, wo es keine Regel gibt, kein Vorbild. Sie halten in Kirche und Gesellschaft die Frage wach, wer die eigentlich Behinderten sind.

Sie alle sind es, die an die Kirche die Gewissensfrage stellen: Welches Bild von Frau und Mann, krank und gesund, hast du? Diese Frage aber ist untrennbar verbunden mit der letzten und tiefsten: Welches Bild von Gott hast du?

Quelle:

Herlinde Pissarek-Hudelist: Die Stellung der Kirche zur Aussonderung

Erschienen In: TAFIE (Hrsg.): Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. 5. Gesamtösterreichisches Symposium, S. 171 - 174

Autoreneigenverlag TAK, Innsbruck 1990

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 20.04.2006

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation