Einübung in Bescheidenheit

Zur Erziehung lernbehinderter Sonderschüler

Autor:in - Rudolf Forster
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 171 - 186
Copyright: © Jugend und Volk 1982

Einübung in Bescheidenheit

Mit der Einweisung in die Sonderschule ist aus dem bisher "schwachen" oder "schwierigen" Schüler ein "anderer" Schüler geworden. Die "Andersartigkeit" der Sonderschüler ist nach der Definition der Sonderschulbehörden in einer Behinderung zu sehen. Diese nunmehr durch ein entsprechend legitimiertes Verfahren festgestellte Behinderung des Schülers wird zu jedem Faktor, der allein - zwar vorerst unentdeckt oder noch nicht schlüssig nachweisbar - aber doch immer schon die Probleme der Regelschule mit diesem Schüler "erklärt". So heißt es in den gesetzlichen Bestimmungen, daß diese Schüler infolge einer Behinderung dem Unterricht in der Regelschule nicht zu folgen vermochten. Die theoretisch postulierte Reihenfolge Diagnose - Selektion wird de facto jedoch umgekehrt. Die starke "Schulzentriertheit" der Lernbehinderung ist zwar theoretisch unbefriedigend, jedoch haben sich alle bisherigen Versuche einer klaren, frühzeitigen und schulleistungsunabhängigen Definition, Diagnose oder Prognose der Lernbehinderung als unrealisierbar erwiesen (TRABANDT 1979, S.41; AAB u.a. 1974, S.21-38; ALTSTAEDT 1977, S.213-218; PREUSS-LAUSITZ 1981, S.26-44).

Das Konstrukt der "Sonderschulbedürftigkeit"

In der Praxis werden Lernbehinderung und Sonderschulbesuch zu gleichbedeutenden Begriffen, auswechselbaren Tatsachen - die "Sonderschulbedürftigkeit" wird zur begrifflichen Brücke. Und die Sonderschul-Praktiker ließen bzw. lassen sich durch die wissenschaftlich-pädagogischen Diskussionen um die Definition der Lernbehinderung auch nicht weiter verunsichern: "Ich denke, wir verstehen uns, wenn wir von Schwachbefähigten sprechen; und jeder, der nicht an Wortklauberei Gefallen hat, wird uns auch verstehen" - erklärte ein Wegbereiter des deutschen Sonderschulwesens schon 1898. "Obgleich keine Einigung über eine einheitliche Definition .... erzielt werden konnte, .... hat man doch den einhelligen Gebrauch der Ausdrücke gebilligt ...., damit man einander versteht ..." - führte eine Arbeitsgruppe des Verbandes Deutscher Sonderschullehrer 1974 in ihrer Arbeit zu den Kriterien der Sonderschulbedürftigkeit aus (Zitate nach TRABANDT 1979, S.29).

Das Konstrukt der Sonderschulbedürftigkeit wird so zugleich zum Instrument, das der Sonderschullehrerschaft und ihren Vertretungen eine Einflußnahme auf die Definition der Klientel der Sonderschule und deren Durchsetzung erlaubt, ohne daß sie ihre Rechtfertigung einer am Zustandekommen ihrer Klientel unbeteiligten, nur auf deren Nöte reagierenden Institution aufgeben muß (TRABANDT 1979, S.38-41). Im Begriff der Sonderschulbedürftigkeit wird die Institution der Sonderschule quasi "überzeitlich verabsolutiert" (JANTZEN 1981, S.26), als einzig mögliche und denkbare Antwort auf das geschichtlich-gesellschaftlich geformte Problem des dauernden Schulversagens suggeriert. Sonderschulbedürftigkeit wird aber auch zu jener Klammer, welche die real - abgesehen von der sozialen Herkunft - durchaus heterogene Zusammensetzung der Schüler des "Sammelbeckens Sonderschule" (KNIEL 1979, S.14) überdeckt und die Gleichartigkeit ihrer Schüler unterstellt.

Das öffentliche Stigma des Sonderschulbesuchs

Für das Regelschulsystem hat die Aussonderung der an seinen Anforderungen gescheiterten Schüler eine konservierende und entlastende Funktion: Die Verlagerung des Schulversagens allein in die Persönlichkeit der Schüler bewahrt dieses System vor der Diskussion über eine grundlegende Neuorientierung. Die Entlastung von den Schülern mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten erlaubt es, die Leistungsanforderungen und die vorherrschende Art zu lehren und zu lernen unhinterfragt fortzusetzen oder gar zu verschärfen (THIMM 1975, S.127). Die Aussonderungsmöglichkeit stellt - aufgrund des geringen Ansehens der Sonderschule und ihrer Schüler - ein Disziplinierungsmittel gegenüber dem Störungspotential jener großen Schülergruppe dar, die den schulischen Anforderungen ebenfalls nur unzulänglich entspricht - die disziplinierende Funktion erzeugt und verstärkt so zugleich die bestehenden Vorurteile gegenüber den Sonderschulen.

Was aber bedeutet und bewirkt die Überstellung in die Sonderschule für die betroffenen Schüler? Bekommen sie nun jene Förderung, die ihnen die Regelschule nicht zu geben vermochte bzw. zu geben bereit war? Erweist sich die Sonderschule für sie als eine andere Art von Schule, bereit und in der Lage, an ihrer Lebenssituation und an ihren Alltagserfahrungen anzusetzen, fähig auch, die durch das Schulversagen und die fortwährende Entmutigung entstandene Schulunlust und Minderung des Selbstwertgefühls wieder aufzuheben?

Für den Betroffenen und seine Umwelt bedeutet die Sonderschulüberstellung zunächst einen sichtbaren Wandel: Die Trennung von den n o r m a l e n, den Durchschnittskindern, zumeist die Unterbringung in einem anderen Schulgebäude mit einem den Unterschied herausstreichenden Namen: S o n d e r-Schule, Schule für "Lernschwache" und "Leistungsbehinderte" - eine a n d e r e Schule, ein a n d e r e r Name, für a n d e r e Schüler.

Die öffentliche Meinung setzt an diesem Wandel an: Aus dem, den Betroffenen fast immer aufgezwungenen Sonderschulbesuch werden umfassende und stereotype Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der Sonderschüler gezogen: In den Augen von Schülern der Regelschulen ist die Sonderschule eine "Bewahranstalt für hoffnungslos Dumme oder eine Art Strafanstalt für besonders Faule" (HÖHN 1967, S.181), die Öffentlichkeit "verknüpft mit der Sonderbeschulung .... eine intellektuelle Abstempelung und diskreditierende charakterliche Einschätzung" (HOMFELDT 1974, S.94).

Diese umfassende Stigmatisierung zwingt den Schülern und ihren Eltern eine defensive Rolle auf, d.h. im Extrem die Verleugnung des Sonderschulbesuchs oder zumindest die Vermeidung abwertender Interaktionen. Die in der Regel hohe Sichtbarkeit des Sonderschulbesuchs trifft in entscheidender Weise die außerschulischen Interaktionsmöglichkeiten des Sonderschülers, lastet ihm eine "Unzahl von Identifikations- und Verhaltensproblemen" auf: "Und zwar nicht nur vormittags, sondern auch nach Schulschluß. Sonderschüler ist man ganztags" (KORTE 1980, S.13). Die Außenseiter-Stellung verschiebt sich vom innerschulischen Bereich in das umfassendere soziale Bezugsfeld (KNIEL 1979, S.154).

Die Sonderschullehrer und -verantwortlichen - auch in Österreich - sind sich der geringen Wertschätzung ihrer Schule in der öffentlichen Meinung und der da mit verbundenen Folgen für ihre Schüler durchaus bewußt (FORSTER 1981, S.221). Sie fordern verstärkte Aufklärung und positive Darstellungen in den Massenmedien, um diesen Vorurteilen zu begegnen. Daß sie selbst wesentlich an der Produktion dieser Vorurteile beteiligt sein könnten, bleibt außerhalb ihrer Reflexion. So ist etwa die in Österreich seit Mitte der 60er-Jahre verstärkte Tendenz zur organisatorischen Verselbständigung der Sonderschulklassen in eigenen Sonderschulen (FORSTER 1979, S.35-43) als desintegrierende Maßnahme zu betrachten, welche die soziale Diskriminierung der Sonderschüler verstärkt haben dürfte (vgl. auch eine diesbezügliche Resolution oberösterreichischer Sonderschullehrer in SCHULHEFT 24/1981, S.61-64).

Die von den Sonderschulverfechtern in Aussicht gestellte Befreiung von Mißerfolgen und Demütigungen in der "seelisch bergenden, tragenden Gruppe von annähernd Gleichgearteten" (der oberösterreichische Sonderschulinspektor FUCHS 1971, S.43), die positiven Effekte des Prinzips von den "Gleichen unter Gleichen" bleiben bestenfalls auf den innerschulischen Bereich beschränkt. Die Betroffenen selbst wissen auch überwiegend, was sie von dieser "Befreiung" zu halten haben: Bei einer Untersuchung im Raum Wien-Niederösterreich meinte nur etwa die Hälfte der befragten Sonderschulabhänger und ihrer Eltern bei Schulabgang, daß es besser gewesen sei, die Sonderschule zu besuchen; bei einer im Rahmen der gleichen Studie befragten Personengruppe, deren Sonderschulbesuch neun Jahre zurücklag, deklarierte sich nur etwa die Hälfte der Befragten als ehemalige Sonderschüler und nur etwa ein Viertel dieser Personen betrachteten den Sonderschulbesuch positiv (FORSTER u.a.1981, S.28f).

Nicht zuletzt durch die ablehnenden und diskriminierenden Reaktionen seiner Umwelt erfährt der Sonderschüler, daß er "ein anderer" geworden ist, nicht mehr der ist, der er vorher war. Welche Ansatzpunkte bietet ihm nun die Sonderschule zur positiven Entwicklung seiner Fähigkeiten und seines Selbstwertgefühls? Dazu soll zunächst der gesellschaftliche Rahmen der Sonderschule umrissen werden, d.h. die vorherrschenden Ziele, Vorstellungen und Ideologien.

Das ideologische Gerüst der Sonderschule für Lernbehinderte

Drückebergerei und Großmannsucht - das sonderpädagogische Defizitmodell

Mit dem Eintritt in die Sonderschule wird das bisher als abweichend bewertete Verhalten des Sonderschülers zum erwarteten Verhalten. Die Interaktion mit dem Schüler erfolgt nun auf der Basis der im Überweisungsverfahren "nachgewiesenen" Defizite und Beeinträchtigungen, die auch aufgrund der häufig festzustellenden Unschärfe der "Diagnosen" leicht zu einem Bild des global und unbeeinflußbar beeinträchtigten Kindes verallgemeinert werden. Dieses, die sonderpädagogische Theorie von ihrem Anfang an beherrschende "Defizitmodell" hat verschiedene Wandlungen durchgemacht - vom medizinisch-psychiatrischen Schwachsinnskonzept über das psychologische Intelligenzschwächemodell zum soziologischen Konstrukt vom soziokulturell benachteiligten Schüler; neuerdings werden diese verschiedenen theoretischen Bruchstücke in einem unverbundenen Mehrfaktorenansatz aufgehoben (zur Kritik vgl. PREUSS-LAUSITZ 1981, S.37-40). In allen seinen Ausprägungen ist es aber ein "Negativmodell" geblieben - das schon deshalb, weil ja die Eigenständigkeit der Institution Sonderschule mit dem Eigencharakter der Schüler begründet wurde und wird (ALTSTAEDT 1977, S.215). Die sonderpädagogische Literatur sieht den Sonderschüler als "abhängig von egozentrischtriebhaften Einflüssen", ohne "überpersönliche Sinnmotive und überdauernde Fernziele", "extrem außengesteuert", der "Stufe des Nützlichkeitsdenkens" verhaftet, es kennzeichnen ihn "Roheit und Jähzorn und andererseits Zimperlichkeit und Wehleidigkeit ... Drückebergerei und Großmannsucht, Unsorgfältigkeit und Unsauberkeit, Empfindlichkeit", es fehlt ihm an der Fähigkeit "zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umgebung wirkungsvoll auseinanderzusetzen" (Zitate aus einer Zusammenstellung von TRABANDT 1979, S.27).

Verwertung und Anpassung - die sonderpädagogischen Erziehungsziele

Die Erziehungsziele der Sonderschule sind darauf abgestellt, ihren Schülern das "innerhalb und unter Anerkennung der Defizite ... Mögliche" zu vermitteln (TRABANDT 1979, S.30): "Was not tut, ist die Entwicklung und Nutzbarmachung der vorhandenen Fähigkeiten" (Zitat aus einer Sonderschulbroschüre nach JEGGE 1979, S.96).

Seit ihrem Bestehen hat die "Hilfsschule" die Erwerbsbefähigung ihrer Schüler angestrebt, damit öffentliche Unterstützung für ihr Konzept gesucht, und die tatsächliche Erreichung dieses Ziels als eine ihrer vorrangigen Leistungen reklamiert. Die gesteckten Ziele waren allerdings immer schon bescheiden, sie bleiben zumeist auf eine berufliche Eingliederung in den untersten beruflichen Positionen ausgerichtet. Dabei dient die tatsächliche berufliche Stellung ehemaliger Sonderschüler, die überwiegend als Hilfsarbeiter oder angelernte Arbeiter tätig sind, als Maßstab, an dem die in der Schule zu vermittelnden Fähigkeiten und Motivationen auszurichten sind. Dieser Zirkelschluß bestimmt nicht nur Lehrinhalte und -methoden der Sonderschule, er beeinflußt nicht nur das Selbstverständnis der Betroffenen, sondern etwa auch die Erwartungen von Arbeitgebern oder von Arbeitsvermittlern der Arbeitsämter.

Während und weil sich die Sonderschule hinsichtlich des anzustrebenden Fähigkeits- und Qualifikationsniveaus bescheiden gibt, legt sie großen Wert auf die Erziehung zur Anpassung und Konformität. Der Tugendkatalog nimmt sich dann etwa so aus:

"Anstelligkeit,

Anständigkeit,

Ehrlichkeit,

Sauberkeit,

Exaktheit,

Stetigkeit,

Pünktlichkeit,

Ausdauer,

Fleiß,

nimmermüder Leistungswille."

(Sonderpädagogik-Professor BERG 1975, S. 767)

Neben der Erziehung zu diesen Arbeitstugenden wird auch der Heranbildung weiterer traditioneller Tugenden großes Gewicht beigemessen gemäß der Auffassung: "Der Schwache hat nur dann eine Integrationschance, wenn er sich fraglos unterwirft oder ...: Wer schon dumm ist, soll dieses Manko wenigstens durch Bravheit wettmachen." (KOBI 1975, S.157) Die Lebenstüchtigkeit der Sonderschüler soll gefördert werden, indem besonderer Wert gelegt wird auf:

"den freundlichen Gruß,

das Den-Erwachsenen-den-Vortritt-lassen,

das Jemandem-die-Tür öffnen und das behutsame Schließen derselben,

das sich Vorstellen,

die richtige Haltung im Gespräch,

die korrekte Antwort auf Fragen,

das anständige Essen,

das verträglich und hilfsbereit sein,

das Gehorchen ohne Zank und Widerrede,

die sauberen Hände und geputzten Fingernägel,

die anständige und saubere Kleidung...."

(aus einer Sonderschulbroschüre, zitiert nach JEGGE 1979, S.97)

All diese Werte hält die Sonderschule hoch und sie wird dadurch im Bewußtsein mancher ihrer Vertreter geradezu zu einem Bollwerk in einer (Schul-)Welt, die von anderen Gesetzen regiert wird. Die Sonderschule wird zu einer Gegenkultur, in der es keinen "Einbruch antiautoritärer Erziehungsformen, Erniedrigung des Lehrers zum reinen Instruktor, Hintanstellung der Erziehungsaufgaben" gibt (BERG 1975, S.767), die zeigen kann, daß Erfolg nicht alles ist: "Vielleicht ist sie eines Tages der letzte Hort für die Pflege von Bescheidenheit, Geduld und Treue im Kleinen ...." (HÖHN, zitiert nach TRABANDT 1979, S.44).

Hier werden somit die objektiven Funktionen der Sonderschule - Erziehung zur Verwertbarkeit als Arbeitskraft minderer Güte und zur Unterwerfung unter Obrigkeit und Autorität - mittels einer konservativen Gesellschaftskritik gerechtfertigt.

In den meisten Selbst- und Rechtfertigungsdarstellungen von Sonderschulvertretern und -verfechtern ist von dieser Funktion allerdings nicht die Rede. Vielmehr wird das Bild von der Sonderschule als einer helfenden Institution gepflegt, die sich der "Sorgenkinder" annimmt. Das Defizitmodell vom lernbehinderten (andersartigen) Schüler, das Organisationsmodell der separierten Erziehung und das Selbstverständnis der helfenden Institution fügen sich widerspruchslos in das gängige und auch von der Sonderschule selbst propagierte Image.

So notwendig dieses Image für die Interessen der Sonderschule als Institution ist, so unerfreulich sind manche seiner Folgen: Die Arbeit mit einer gesellschaftlich so gering geschätzten Personengruppe wird ihrerseits gesellschaftlich gering geschätzt. Was als Besorgnis über die Vorurteile gegenüber den Schülern ausgegeben wird, ist wohl auch zum Teil die Besorgnis um die mangelnde Anerkennung der eigenen Tätigkeit. Ein Ausweg aus diesem Dilemma stellte für die Sonderpädagogen als Berufsgruppe stets die "maßlose Überidealisierung ihrer selbst und ihrer Arbeit" dar (TRABANDT 1979, S.44).

Aufopfernder Dienst am Kind - das Berufsbild des Sonderschullehrers

Die idealistische Überhöhung der Sonderschule als Institution zieht entsprechende Forderungen an die einzelnen Lehrer nach sich. Für Lehrer generell wurden "Tugendkataloge" erstellt, welche die Betroffenen nur mehr verunsichern können:

"Vitalkraft und Lebendigkeit, aber auch Geduld und Selbstbeherrschung,

Großzügigkeit, aber auch Genauigkeit,

Heiterkeit und Humor, aber auch Nie-mit-sich-zufrieden-sein und ernstes Verantwortungsbewußtsein,

Sympathie, aber auch Gerechtigkeit,

Verständnis und Anpassungsfähigkeit, aber auch Führen, innere Klarheit,

Selbständigkeit, aber auch Selbstkritik,

Güte, aber auch Strenge,

unreflektierter Glauben an das Leben, aber auch Weisheit."

(Zitiert nach SCHWARZ u.a. 1981, S.174)

Für Sonderschullehrer gelten die Anforderungen noch verschärft, der Beruf wird "fast ins Mystische" entrückt (a.a.O., S.188).

Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß unter den Berufswahlmotiven von Studenten der Sonderpädagogik die "Hilfe für Sonderschüler" an der Spitze rangiert (a.a.O. S.189). Die hohen Anforderungen legen die Annahme nahe, daß die notwendigen Charaktereigenschaften nicht erst im Studium erworben werden können, sondern bereits mitzubringen sind: "Ein 'geborener Hilfsschullehrer' braucht sich nicht mehr anzueignen, was er schon besitzt" (a.a.O., S.191). Nicht unerwartet ist daher das soziale Rekrutierungsfeld für Sonderschullehrer hauptsächlich die Ober- und obere Mittelschicht, vergleichbar der sozialen Herkunft der Gymnasiallehrer (a.a.O., S.187). Nicht unerwartet ist auch das Schwergewicht, das in der Ausbildung auf den Erwerb diagnostischer Fähigkeiten, also etwa auf Testpsychologie und Psychopathologie, gelegt wird:

"Die besondere Qualifikation der Lehrer .... besteht darin, in ein wissenschaftliches Mäntelchen verkleidete Etikettierungen auf ihre Schüler anlegen zu können, sie mit Testverfahren ... in 'Schubladen' zu sortieren und eine Reihe von pädagogischen Verfahren anzuwenden, die sie für das spezielle Inventar einer Sonderschulpädagogik halten." (JANTZEN 1981, S.13)

Lebensnotwendiges Wissen, anschaulich vermittelt Lehrinhalte und -methoden der Sonderschule

Nach den vorherrschenden Auffassungen der Sonderschulpädagogik ist der Lernbehinderte in seiner Lernkapazität beschränkt, zur Abstraktion, zu logischem Denken und zur Übertragung des Gelernten auf neue Situationen nur schwer in der Lage. Konsequenterweise wird daher der Umfang des Lernstoffes reduziert und bei den Vermittlungsmethoden an die "Funktionsreste" des Schülers angeknüpft (TRABANDT 1979, S.30 und 32):

"Dem Minus-Kind ist logischerweise ein Minusunterricht angemessen." (Kobi 1975, S.149)

Das "Reduktionsprinzip" der Sonderpädagogik (a.a.O., S.148-164) ist etwa in einem Sonderschulskriptum folgendermaßen formuliert:

"... ein beschränkter Fundus an verläßlichem Wissen, an indiskutablen Einstellungen und Gewohnheiten, an sicheren Fertigkeiten statt: vielfältigen Ahnungen, Vorsätzen, Dilletantismen ..." (zitiert nach SCHULHEFT 24,1981, S.73)

Das Verläßliche, Indiskutable, Sichere wird - so wie bei den Erziehungszielen - im Zirkelschluß aus dem "begrenzten, überschaubaren Lebenshorizont" des Sonderschulkindes abgeleitet (KLAUER 1970, S.35). Die Auswahl lebenswichtiger und lebenspraktischer Stoffe setzt immer schon eine Vorstellung vom möglichen Leben des Kindes voraus und begrenzt es zugleich auf das Mögliche.

Die spezifischen Vermittlungsmethoden der Sonderschule sind eine tragende Säule ihres Selbstverständnisses. Ob allerdings Lernen durch ständiges Üben, Beispiel und Gewöhnung, Anschauung und Wiederholung eine spezifische Wirksamkeit entfaltet, ist empirisch unbewiesen und theoretisch zweifelhaft (TRABANDT 1979, S.33). JANTZEN (1981, S.12) betrachtet im Lichte neuer Untersuchungen die Methoden der Unterrichtung in der Sonderschule als "häufig besonders dilletantisch". Wenn das Denken der Schüler als unabänderlich gegenstandsbezogen angesehen wird, kann die Methode der Veranschaulichung leicht zum Selbstzweck werden (HOMFELDT 1974, S.104). Wenn dem Schüler Abstraktionsfähigkeit abgesprochen wird, werden die Inhalte so vermittelt, daß Techniken der Informationsaufnahme nicht entwickelt werden können (TRABANDT 1979, S.34). Den "wunden Punkt" dieser Konzeption charakterisiert Jürg JEGGE (1979, S.99) wie folgt:

"Der Zustand, in dem sich diese Kinder befinden, wird als etwas Unabänderliches gesehen. Daraus kann man natürlich so etwas wie eine Pädagogik entwickeln. Dieser Zustand aber bleibt so nicht nur unveränderlich, er wird im eigentlichen Sinne 'betoniert'."

Alltag in der Sonderschule

Schulsituation und Lebenssituation - die Kluft bleibt

Aus allen bisher ausgeführten Rahmenbedingungen geht hervor, daß die Sonderschule von ihren Zielen, Konzepten und Ideologien her keine an den spezifischen Bedürfnissen und Lebenserfahrungen ihrer Schüler ansetzende Institution ist. Die Stoffgebiete sind nicht anders als in der Regelschule, lediglich umfangmäßig reduziert. Die Methoden sind die gleichen, an denen die Schüler schon einmal in der Regelschule gescheitert sind, nur auf niedrigerem Niveau. Die sachlichen Ausgangspunkte entstammen der dem Schüler aus benachteiligten Verhältnissen schon einmal unverstanden gebliebenen und suspekt gewordenen Welt der herrschenden Kultur. In der Person des Lehrers, dessen soziale Distanz zu seinen Schülern aufgrund seiner Herkunft in der Sonderschule so groß ist wie in sonst keinem Schultyp, wird ihm diese Welt - "zwar verdünnter, aber sonst unversehrt" angeboten (HOMFELDT 1974, S.87). Am Beispiel der Tagesabläufe zweier seiner Schüler schildert KORTE (1980, S.35-41) die Kluft zwischen Lebenswirklichkeit und Schulalltag. Zu Hause: Mithelfen im Haushalt, Hilfsdienst für die Erwachsenen, Fernsehen, dazwischen rasch Hausaufgaben erledigen, Streit mit den Geschwistern, Schläge vom Vater - in der Schule: den Klang einer Violine vom Klang einer Bratsche unterscheiden lernen, am Beispiel eines Gedichtes lernen, daß es aus Strophen besteht, die Funktion des menschlichen Magens lernen, Gliederung des Zahlenraums bis Tausend usw.:

"Kinder, die so gewaltige Probleme mit sich herumschleppen, können sich wohl kaum fünf Stunden auf Rechnen, Schreiben, Lesen und anderes Sachliches konzentrieren." (a.a.O., S.41)

Die eigentlichen Probleme der Kinder bleiben also auch in der Sonderschule vor der Türe, die Schule ist ähnlich unterrichtszentriert und nach außen abgegrenzt wie die Regelschule.

Die doppelte Distanz zwischen Schüler und Lehrer

Bieten schon der Lernstoff und die Lehrmethoden dem Sonderschüler wenig Ansätze zur besseren Kenntnis und Bewältigung seiner Lebenssituation, so stellen Haltung und Verhalten der Lehrer - trotz bester Absichten - häufig einen weiteren Faktor zur Fixierung in Unkenntnis und Abhängigkeit dar. Die Lehrer neigen dazu, ihre Leistungsanforderungen gegenüber Lernbehinderten vorschnell herabzuschrauben (TRABANDT 1979, S.34); aufgrund der Erwartung von Beeinträchtigungen werden die Gefahren von selektiver Wahrnehmung und Fehleinschätzung gesteigert (HOMFELDT 1974, S.105); die den Schülern zugeschriebenen Mängel lassen leicht einen übermäßig lenkenden, einengenden und die Selbstverantwortung der Kinder ausschaltenden Unterrichtsstil entstehen (a.a.O., S.105; ABE & PREUGEL 1979, S.22). Es ist zu erwarten, daß die Lehrer das in der Ausbildung vermittelte idealisierte Berufsbild des Sonderschullehrers zum Teil in ihr Selbstbild übernommen haben. Diese "gebende Haltung und Gesinnung" erzwingt eine entsprechende Nehmerhaltung der Schüler (JANTZEN 1981, S.25), macht Zuwendung abhängig vom Wohlverhalten und Anpassung. Der Versuch, die soziale Ausgeliefertheit der Sonderschüler durch pädagogische Zuneigung aufzulösen, hat letztlich einen konservierenden Effekt, da er "den Kindern die Kenntnis ihrer Lebensrealität vorenthält und sie zur unkritischen Anpassung an eine unhinterfragt vorgegebene 'Normalität' zwingt" (a.a.O.). Zur Kluft zwischen Lehrer und Schüler kommt die Kluft zwischen Diagnostiker/Therapeut und einem "Halbkranken"/Behinderten.

Die Eigendynamik der sozialen Selektion

Im pädagogischen Konzept der Sonderschule spielen die Mitschüler, der soziale Raum der Klasse, eine ähnlich geringe Rolle wie in der Regelschule. Zwar ist die homogene Leistungsgruppierung ein zentrales Charakteristikum der Institution Sonderschule, doch die angestrebte Homogenisierung des intellektuellen Niveaus und der Schulleistungen soll ja vor allem dem Lehrer die Aufgabe eines adäquaten Stoffangebots für alle Schüler erleichtern. Obwohl die Homogenisierung nach Intelligenz und Schulleistung in der Sonderschule nicht wie gewünscht gelingt und die Variation oft größer ist als in der Regelschule (KNIEL 1979, S.81-83), ist doch für die Schüler das Ausmaß und das Spektrum an unterschiedlichen Anregungen deutlich reduziert. Schüler, die mit ähnlich schlechten anderen Schülern zusammen unterrichtet werden, stellen ihre Leistungsbereitschaft auf die neue Gruppennorm ein. Das Ergebnis ist oft eine Senkung des durchschnittlichen Leistungsniveaus (TRABANDT 1979, S.34; HOMFELDT 1974, S.97f). Da aber Homogenität in der sozialen Herkunft sehr wohl gegeben ist, erhalten die Kinder vor allem Identifikationsangebote für ihre eigenen Probleme und Verstärkung für ihre eigenen unzulänglichen Versuche, damit umzugehen. Denn die meisten der in die Sonderschule überstellten Kinder haben ja nicht nur Probleme mit der Aneignung des Lernstoffes, sondern auch psychische Schwierigkeiten und soziale Probleme, die ihnen das Zusammenleben mit anderen erschweren.

"Da sitzen meine 19 Kinder. 19 sogenannte Lernbehinderte, die schon in jungen Jahren erfahren mußten, was das bedeutet, auf einem wichtigen Gebiet des Lebens versagt zu haben. Kinder, die sich ewig mit Besseren vergleichen lassen müssen. Kinder, die dauernd zu kurz gekommen sind, im Elternhaus, in der Schule, in der weiteren sozialen Umwelt. Aufgewachsen in einer Umgebung, die allzuoft von verständnislosen Erwachsenen geprägt wird, von nörgelnden Eltern, von prügelnden Vätern und neurotischen Müttern. Aufgewachsen in einem Milieu des Mangels. Des Mangels an Liebe, Wärme, Zuwendung, Verständnis. Aber auch des Mangels an geistiger Anregung und sozialer Erfahrung. Und oft auch des Mangels an Bedürfnisbefriedigung im materiellen Bereich. Diese Kinder haben es in ihrem Leben nicht leicht gehabt. Sie haben Entbehrungen und Entsagungen ertragen müssen. Nun sind sie in der Sonderschule gelandet, und ich kann ihnen nicht garantieren, daß sich nun ihre Lebenssituation verbessert." (KORTE 1980, S.28)

Zumeist standen schon die familiären Verhältnisse der Schüler der Entwicklung einer stabilen und positiven Selbsteinschätzung entgegen. Die Erfahrungen in der Regelschule haben sie häufig darin bestätigt, daß sie "dumm" und "schlimm" sind. Sie geraten häufig mit anderen Kindern und Erwachsenen in Konflikt: "Viele scheinen die Erfahrung gemacht zu haben, daß sie die Aufmerksamkeit ihrer erwachsenen Bezugspersonen und anderer Kinder am ehesten dadurch erringen, daß sie gegen Gebote und Verbote verstoßen" (KORTE 1980, S.34). In seiner eindrücklichen Darstellung vom "Alltag in der Sonderschule" hat KORTE (1980) die Schlußfolgerung gezogen:

"Ein schwieriges Kind in der Klasse kann nicht nur verkraftet, sondern sogar integriert werden. Zwei schwierige Kinder können verkraftet werden. Drei verhaltensauffällige Kinder können mit Mühe und pädagogischen Tricks gebändigt werden. Aber vier und mehr schwierige Kinder machen Lehrer und Unterricht kaputt" (S.28).

Der Mythos vom Helfen und der Sonderschulalltag

Auf die Problematik des idealistisch begründeten Helferverständisses der Sonderschullehrer wurde schon hingewiesen. Problematischer wird dies noch dadurch, daß es in der Praxis des Alltags kaum bruchlos durchzuhalten ist. Denn der häufig erlebte Mißerfolg in der Arbeit mit den Kindern sowohl im Leistungs- als auch im sozialen Bereich, die Schwierigkeit, trotz geringerer Klassengröße auf den Einzelnen einzugehen, weil es soviel Energie braucht, den Unterricht überhaupt über die Runden zu bringen, die geringen Erfolge in der Einbeziehung der Eltern u.a.m. (KORTE 1980), lassen dem Lehrer oft nur die Wahl, diese Situation als Ergebnis persönlichen Versagens zu begreifen oder aber sich resignativ den vorherrschenden Ansichten anzupassen und die Schuld bei den Schülern und ihren Eltern zu suchen. Die Flucht in ein distanziertes, diagnostizierendes Verhältnis zu den Schülern ist ein möglicher Lösungsversuch (SCHWARZ u.a., 1981, S.204). Die durch eine "unmögliche Situation" notwendigerweise entstehenden Kommunikations- und Beziehungsschwierigkeiten werden - wie schon einmal - dann auch in der Sonderschule in Persönlichkeitseigenschaften des Schülers aufgelöst:

"Die geistig-seelische Entwicklung hat sich bei H.J. bis zur Schulentlassung nur wenig gebessert und es bestehen auch weiterhin, trotz normaler Lernintelligenz, extreme Störungen im Konzentrations- und Willensgefüge, sowie eine auffallende Fehlentwicklung im psychischen Bereich. Die erheblich herabgesetzte Antriebsschwäche mindert die Voraussetzungen für den Leistungserwerb in der Schule. Besonders sind Aufmerksamkeit, Konzentration, Wille stark geschwächt und haben nur geringe Spannkraft und Ausdauer. Weiterhin fallen mangelnde Einsicht in das eigene schlechte Verhalten, übertriebene Kritik an dem Verhalten seiner Umwelt und Einordnungsschwierigkeiten in der Gruppe auf. Bei der vorhandenen Intelligenz kennt er seine Rechte sehr genau, über seine Pflichten kann er sich leicht hinwegsetzen. Er führt sie nur notgedrungen, nachlässig und unter Druck aus. In der Gemeinschaft möchte er im Mittelpunkt stehen, den starken Mann spielen. Dabei ist er feige und ein kleiner, durchtriebener Großsprecher."

"Hans war ein labiler Schüler. Er handelt in allem gefühlsbetont. Durch Wutausbrüche kann er sich selbst und einer Mannschaft Schaden zufügen. Trotz seiner normalen Intelligenz kommt er durch flüchtiges Arbeiten nie zu einem guten Resultat. Dabei ist der Junge äußerst eifrig, ja übertrieben eifrig. Da alle Belehrungen in seinem obigen erklärten Arbeitsverhalten negativ waren, ist kaum mit größeren Berufserfolgen zu rechnen. Hans will Tankwart werden. Ich halte ihn dafür ungeeignet."

"G. muß sich immer hervortun. Findet er beim Lehrer keine Anerkennung, so sucht er die Anerkennung in der Klasse. Dann, vor allem im letzten Falle, kann er es bis zur Lächerlichkeit, zum Lügen und Boshaftigkeiten treiben. Er bringt teilweise recht gute Gedanken, um dann aber wieder völlig daneben zu denken. G. muß als ein völlig labiler Typ angesprochen werden."

(Abschlußgutachten der Sonderschule, zitiert nach HOMFELDT 1974, S.89f)

Auf die "disziplinären" Schwierigkeiten mit ihren Schülern werden Sonderschullehrer durch ihre Ausbildung nicht vorbereitet. Sie machen daher schnell die Erfahrung, daß sie diesen Problemen mit einer gütigen Helferhaltung hilflos gegenüberstehen. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß in der deutschen Sonderpädagogik die Diskussion über die Prügelstrafe wieder öffentlich geführt wird, nachdem diese offenbar trotz theoretischer Ablehnung und rechtlichem Verbot von vielen Lehrern praktiziert wird (JANTZEN 1981, S.12). Und konservative Sonderpädagogen beginnen diese Praxis auch bereits zu legitimieren:

"Wehe der Schule, in der der Stock regiert; aber auch wehe der Schule, in der er nicht als letztes Zufluchtsmittel benutzt werden darf." (BERG 1975, S.763)

Im Alltag der Sonderschule entstehen offenbar Situationen, in denen alle überfordert sind, die für alle unerträglich werden. Dann müssen die Mythen und Ideologien von Hilfe, Förderung, Aufopferung, Dienst am Kinde aufgegeben werden, um der Logik der Schule zum Durchbruch zu verhelfen, denn: "Schule für Lernbehinderte ist in erster Linie Schule, und nicht therapeutische Institution" (KORTE 1980, S.64). Und um dies zu unterstreichen, ist auch manchmal die "Demonstration physischer Überlegenheit" angezeigt:

"Demonstration physischer Überlegenheit heißt nicht Prügelstrafe. Sie ist vielmehr Einsatz der körperlichen Überlegenheit zur Beendigung einer unerträglichen Situation. Sie ist eine spürbare körperliche Beeinflussung, die sehr plötzlich, spontan und wirkungsvoll eingesetzt werden muß. Der Schüler muß gleichsam in die Ecke gedrängt werden und für eine kurze Zeit der Entscheidung physich und psychisch überwältigt werden. Der Lehrer sollte den Schüler mit intensivem Blickkontakt fixieren, ihm laut und eindringlich klar machen, was an dem gegenwärtigen Verhalten unerträglich ist und was zum Einschreiten zwingt. Er sollte auf ihn zugehen und ihn schließlich so anfassen, daß er merkt, daß er sich in der Gewalt des Lehrers befindet. Ich halte es für durchaus richtig, ihn am Kragen zu packen und durchzurütteln. Das Kind soll spüren, daß dies ernst ist." (KORTE 1980, S.67)

Die negative "Leistungsbilanz"

Das gewichtigste Argument gegen die nachteiligen Folgen der Separation ist die (vorgeblich) bessere schulische Förderung der Kinder in einem für sie geeigneten Schultyp. Die besonderen Erfolge der Sonderschule erweisen sich allerdings im Lichte verschiedener empirischer Untersuchungen als "Mystifizierungen", die von "Sonderschullehrern und -theoretikern aus Angst vor Statusverlust vertreten und von Volksschullehrern aus schlechtem Gewissen allzu gutgläubig übernommen werden" (ABE & PREUGEL 1979, S.7) So ist die Rückführungsrate in die Regelschule minimal (AGNEW 1979, S.294); Schulstufenwiederholungen finden in der Sonderschule sogar noch häufiger Anwendung als in der Regelschule; und die Schullaufbahnverluste der Sonderschüler sind außergewöhnlich hoch, ein großer Teil der Schüler verläßt die Pflichtschule ohne Schulabschluß (FORSTER 1979, S.66-73). Aber auch die Ergebnisse vergleichender Untersuchungen mit lernschwachen Schülern, die in Regelschulen verblieben waren, lassen starke Zweifel an der besonderen Wirksamkeit des Unterrichts in Spezialklassen aufkommen (KNIEL 1979). Dies gilt für die kognitiven Leistungen noch stärker als für soziale Lernvollzüge, wo zumindest auf den innerschulischen Bereich beschränkte Effekte nachgewiesen wurden (HOMFELDT 1974, S.100-102). Die zur Rechtfertigung eigener Schulen bzw. Klassen ins Treffen geführten Besonderheiten wie geringere Klassengrößen, homogene Leistungsgruppen, besonders qualifizierte Lehrer, besondere Curricula, Unterrichtsmethoden und -mittel (KNIEL 1979, S.28-32) scheinen somit entweder nicht ausreichend realisiert bzw. realisierbar oder - wie z.T. ausgeführt - durch nicht vorhergesehene andere Faktoren in ihrer Wirkung beeinträchtigt, überlagert oder aufgehoben zu werden. In ihrem positiven Effekt außer Streit zu stellen ist lediglich die kleinere Klassengröße (JANTZEN 1981, S.13).

Sonderschule als "strukturelle Gewalt"

Die aufgezeigten Rahmenbedingungen und Alltagsmechanismen der Sonderschule für Lernbehinderte lassen den Schluß zu, daß diese Schule nicht Ausgleich oder Alternative zum bestehenden Schulsystem ist, sondern für die Schüler eine weitere - mehr oder weniger bewußte - Erfahrung von gewaltsamer Integration in eine grundsätzlich nicht anders strukturierte Welt, eine Art "Scheinpartizipation", ist:

"Im wesentlichen werden die Schüler nicht sozialisiert im Sinne ihrer Selbstverwirklichung, sondern pazifiziert für den Lebensbereich, aus dem sie kommen." (HOMFELDT 1974, S.87 bzw.105)

Der pädagogische Pessimismus der Sonderschule mit der Konsequenz der Einschränkung der Bildungsziele, die unter der Verklärung als Wohltat an Behinderten geleistete Erziehungsarbeit in Richtung Anpassung und Verwertbarkeit, die Absonderung von Kindern anderer Sozialschichten, verhindert letztlich die Erkenntnis der eigenen sozialen Lage (TRABANDT 1979, S.53f) und die Entwicklung eines auf gemeinsame Lösungen ausgerichteten gesellschaftlichen Bewußtseins (PREUSS-LAUSITZ 1981, S.82). Nicht nur die Ausübung unmittelbarer, formell nicht geregelter Gewalt, die Demonstration physischer Überlegenheit, ist es daher, die JANTZEN (1981, S.24f) zur Einschätzung der Sonderschule als "Institution der Gewalt" veranlaßt. Die Struktur der Sonderschule als ausschließende Institution, ihre gesellschaftlichen Funktionen der minimalen Qualifikation und reibungslosen Eingliederung schwieriger Kinder und ihre "therapeutische" Ideologie beinhalten ein hohes Ausmaß "struktureller Gewalt" (GALTUNG 1975).

Natürlich bedeutet diese Einschätzung nicht, daß der Sonderschulalltag in jedem Fall in der skizzierten Art und Weise ablaufen muß. Natürlich werden einzelne Lehrer die durch die gesellschaftliche und schulpolitische Abseitsstellung der Sonderschule entstehenden Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten nützen können (ABE & PREUGEL 1979, S.31-34), lassen sich für die Sonderschulpraxis sehr eindrucksvolle Beispiele alternativer Pädagogik nachweisen (für Österreich z.B. die im SCHULHEFT 24/1981, S.73-83 dargestellten Beispiele von Freinet-Pädagogik). Aber mit hoher Wahrscheinlichkeit werden viele Lehrer in der Sonderschule, trotz und vielleicht gerade wegen ihrer subjektiv-idealistischen Motivation, der Logik der Institution verfallen. Persönliche Erfahrungen mit Reaktionen auf eine empirische Studie, als deren Ergebnisse die ungünstigen Lebens- und Berufschancen der Sonderschulabgänger verdeutlicht wurden (FORSTER u.a. 1981), scheinen mir dies zu bestätigen: Kritische Infragestellung der Sonderschule als Institution - nicht der subjektiven Motivation und des Engagements der Lehrpersonen - bewirken ein umso stärkeres Festhalten an den psychologischen Defiziten der Schüler ("diese Schüler sind aber wirklich behindert"), eine pseudo-humanistische Rechtfertigung der benachteiligten beruflichen Stellung ("auch Hilfsarbeiter sind Menschen"), bis zur Negation empirischer Ergebnisse durch persönliche Erfahrungen ("aus allen meinen Schülern ist etwas geworden").

Den Sonderschülern selbst bleibt neben der zumeist erfolgenden resignativen Anpassung wohl nur Rückzug, Distanzierung und Indifferenz als letzter Ausweg gegenüber dem Zugriff der herrschenden Gesellschaft.

Literaturverzeichnis

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AGNEW, G., Die Aufnahme in die Allgemeine Sonderschule - eine exemplarische Studie in Wien, in: Normalisierung oder Ausschließung über die Berufsfindung und das Lebensschicksal von Sonderschulabgängern, l. Ergebnisbericht, Institut für Höhere Studien, Wien 1979, S.255-301 (unveröffentlichter Projektbericht).

ALTSTAEDT, I., Lernbehinderte. Kritische Entwicklungsgeschichte eines Notstandes: Sonderpädagogik in Deutschland und Schweden, Rowohlt, Reinbek 1977.

BERG, K. H., Separierung der Heilerziehung, eine Chance für die Behinderten, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 26,1975, Heft 11, S.759-768.

FORSTER, R., Materialien zur Struktur und Entwicklung der österreichischen Sonderschulen - unter besonderer Berücksichtigung der Allgemeinen Sonderschule, in: Normalisierung oder Ausschließung - über die Berufsfindung und das Lebensschicksal von Sonderschulabgängern, l. Ergebnisbericht, Institut für Höhere Studien, Wien 1979, S.1-75 (unveröffentlichter Projektbericht).

FORSTER, R., Wem nützt die Sonderschule? Kritische Anmerkungen zur Praxis der Aussonderung lernbehinderter Kinder in eigene Schulen, in: M. NEIDER, A. RETT (Hrsg.), Behindertenpolitik - Politik für Behinderte? Jugend & Volk, Wien-München 1981,S.205-230.

FORSTER, R., u.a., Normalisierung oder Ausschließung - über die Berufsfindung und das Lebensschicksal von Sonderschulabgängern, Endbericht, Institut für Höhere Studien, Wien 1981.

FUCHS, J., Das Aufnahmeverfahren in die Sonderschule, in: Erziehung und Unterricht 121,1971, S.44-54.

GALTUNG, J., Strukturelle Gewalt, Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Rowohlt, Reinbek 1975.

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JANTZEN, W., Gesellschaftliche Funktion der Schule für Lernbehinderte und demokratische Berufspraxis: Eine Problemskizze, in: ders. (Hrsg.), Soziologie der Sonderschule, Beltz, Weinheim und Basel 1981, S.11-32. JEGGE, J., Dummheit ist lernbar - Erfahrungen mit "Schulversagern", Zytglogge, Bern 1979 (10. Auflage).

KLAUER, K. J., Lernbehindertenpädagogik, Marhold, Berlin 1970.

KNIEL, A., Die Schule für Lernbehinderte und ihre Alternativen - Eine Analyse empirischer Untersuchungen, Schindele, Rheinstetten 1979.

KOBI, E. E., Die Rehabilitation der Lernbehindeten, Ernst Reinhardt, München und Basel 1975.

KORTE, J., Alltag in der Sonderschule - über die Schwierigkeiten im Umgang mit sogenannten Lernbehinderten, Beltz, Weinheim und Basel 1980.

PREUSS-LAUSITZ, U., Fördern ohne Sonderschule - Konzepte und Erfahrungen zur integrativen Förderung in der Regelschule, Beltz, Weinheim und Basel 1981.

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SCHWARZ, M., B. GODDAR, G. STIRN, Auswirkungen der sozialökonomischen Verhältnisse auf die Verhaltensweisen von Sonderschullehrern, in: W. JANTZEN (Hrsg.), Soziologie der Sonderschule, Beltz, Weinheim und Basel 1981, S.169-207.

THIMM, W.,Lernbehinderung als Stigma, (Stand:11.05.2005, Link aktualisiert durch bidok) in: M. BRUSTEN, J. HOHMEIER (Hrsg.), Stigmatisierung 1 - Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Hermann Luchterhand, Neuwied und Darmstadt 1975, S.125-144.

TRABANDT, H., Wem hilft die Sonderschule? Untersuchungen über die Herstellung und Verwaltung von Dummheit, Anton Hain Meisenheim, Königstein 1979.

Quelle:

Rudolf Forster: Einübung in Bescheidenheit. Zur Erziehung lernbehinderter Sonderschüler

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 171 - 186

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 10.07.2002

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