Die UN-Behindertenrechtskonvention:

ihre Bedeutung für Ämter, Gerichte und staatliche Stellen

Autor:in - Valentin Aichele
Themenbereiche: Recht
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen als: Positionen Nr. 6 der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention
Copyright: © Deutsches Institut für Menschenrechte 2012

Abbildungsverzeichnis

    Vorbemerkung

    Diesen Text in Leichter Sprache finden Sie unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/aichele-positionen6-l.html

    Das Deutsche Institut für Menschenrechte: Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser Prinzipien der Vereinten Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den Aufgaben des Instituts gehören Politikberatung, Menschenrechtsbildung, Information und Dokumentation, angewandte Forschung zu menschenrechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen. Das Institut verfügt über eine öffentliche Fachbibliothek.

    Die Monitoring-Stelle: Die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention begleitet die Umsetzung der Konvention in Deutschland. Sie setzt sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein und macht diese in Deutschland weiter bekannt. Die Monitoring-Stelle berät Politikerinnen und Politiker, leistet angewandte Forschung und organisiert Veranstaltungen zu Themen der Konvention. Sie wurde im Mai 2009 im Deutschen Institut für Menschenrechte eingerichtet und wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert.

    Der Autor: Dr. Valentin Aichele leitet die Monitoring- Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention. Er ist Experte für die Auslegung der UN-Behindertenrechtskonvention sowie für den Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte.

    Stellung der Konvention in der deutschen Rechtsordnung

    Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK, die Konvention) gilt seit 2009 auch in Deutschland. Sie hat als völkerrechtliche Norm dadurch Eingang in die deutsche Rechtsordnung erhalten, dass der Bundestag unter einstimmiger Zustimmung des Bundesrates ein so genanntes Vertragsgesetz verabschiedet und Deutschland die Ratifikation erklärt hat. Die Konvention wird damit nicht in Gesetzesrecht überführt, sondern bleibt Völkerrecht und hat lediglich in ihrer Gesamtheit – als Normkomplex – den Rang von Bundesrecht erhalten.

    Abbildung 1. Abbildung 1

    Fotographie eines  Mannes und zweier Frauen die im Wohnzimmer auf
dem Sofa sitzen

    Behindertenheim oder eigene WG? Laut UN-Behindertenrechtskonvention können Menschen mit Behinderungen selbst entscheiden, wie sie leben möchten

    Der entscheidende Unterschied zwischen einem Bundesgesetz und Völkerrecht mit dem Rang von Bundesrecht liegt darin, dass sich der Inhalt der Normen der UN-BRK nach dem völkerrechtlichen Verständnis richtet und insbesondere die Auslegung nach den völkerrechtlichen Auslegungsmethoden erfolgen muss. Behörden und Gerichte können bei ihren Entscheidungen die Bestimmungen der Konvention also nicht kontextlos auslegen, sondern müssen darüber hinaus die internationale Diskussion, etwa die Auslegung des UN-Ausschusses zur UN-BRK, einbeziehen.

    Die menschenrechtlichen Normen innerstaatlich zur Anwendung zu bringen, ist rechtstaatlich geboten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sieht in der Entscheidung über das Vertragsgesetz in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die Grundlage des verfassungsrechtlichen Gebots, die UN-BRK anzuwenden (gemäß Artikel 59 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz). Es spricht in ständiger Rechtsprechung von einem Rechtsanwendungsbefehl. Dieser richtet sich an alle staatlichen Stellen der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt. Gebunden sind Behörden und Gerichte in Bund und Ländern, darüber hinaus auch Körperschaften des öffentlichen Rechts wie Universitäten, die Träger der gesetzlichen Versicherungen und die Kirchen, soweit ihnen hoheitliche Aufgaben übertragen sind.

    Anwendung durch Behörden, Gerichte und Körperschaften

    In Verbindung mit dem Grundgesetz verpflichtet die Konvention die jeweilige staatliche Stelle, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen einzuhalten und umzusetzen (siehe Artikel 4 UN-BRK). Staatliche Stellen haben dabei unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten. So entscheiden Behörden oder auch Körperschaften bei der Vergabe von Leistungen oder bei der Zulassung zur Regelschule etwa in Form von Verwaltungsakten; Gerichte entscheiden regelmäßig in Form von Beschlüssen oder Urteilen. Im Rahmen der Rechts- und Entscheidungsfindung sind die Behörden und Gerichte gehalten, die menschenrechtlichen Normen der UN-BRK mit in ihre Entscheidungen einzubeziehen. Dabei haben sie konkret zwei Möglichkeiten:

    Anwendung der UN-BRK: zwei Varianten

    Es bieten sich zwei Varianten, menschenrechtliche Normen der UN-BRK anzuwenden: Die erste Variante ist die „unmittelbare Anwendung“ menschenrechtlicher Normen. Der zweite Fall beschreibt die Anwendung in der Form, dass die menschenrechtliche Norm in die Rechts- und Entscheidungsfindung einbezogen wird, insbesondere zur Auslegung von bundes- oder landesrechtlichen Bestimmungen oder zur Begründung der Entscheidung genutzt wird.

    Die unmittelbare Anwendung

    Bei dieser Anwendungsvariante bildet die menschenrechtliche Norm die alleinige Rechtsgrundlage für eine Entscheidung, mit der für staatliche Stellen verbindliche Rechtsfolgen begründet werden. Ob die menschenrechtliche Norm als Entscheidungsgrundlage taugt, hängt von ihrer inhaltlichen Bestimmtheit ab. Diese ist im Wege der Auslegung zu ermitteln. Maßgeblich sind dabei die völkerrechtlich verbindlichen Sprachfassungen der UN-BRK; bekanntlich gehört die deutsche Übersetzung nicht dazu.

    Für diese Auslegung sind die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden anzuwenden. Die Auslegungsansätze beziehen sich entweder auf den Wortlaut, die Systematik, die Entstehungsgeschichte oder auf den Sinn und Zweck der jeweiligen Bestimmung. Ein Beispiel für eine unmittelbar anwendbare Norm ist Artikel 2 in Verbindung mit Artikel 5 UN-BRK, wonach die Versagung angemessener Vorkehrungen als Diskriminierung zu werten ist (siehe dazu auch Positionen Nr. 5). Menschenrechtlichen Normen die unmittelbare Anwendbarkeit pauschal abzusprechen, ist völkerrechtlich nicht vertretbar. Richtig ist vielmehr anzuerkennen, dass alle menschenrechtlichen Vertragsnormen das Potential haben, unmittelbar anwendbar zu sein. Die Entscheidung darüber ist vom Auslegungsergebnis abhängig, das im Blick auf einen konkreten Lebenssachverhalt zu ermitteln ist.

    Menschenrechtskonforme Auslegung

    Bei der anderen Anwendungsvariante, der menschenrechtskonformen Auslegung, bildet Bundes-oder Landesrecht die alleinige Grundlage der Entscheidung. Dabei wird die menschenrechtliche Norm zur Rechts- und Entscheidungsfindung herangezogen. Sie dient als Auslegungsmaßstab des innerstaatlichen Rechts und spielt im Rahmen behördlicher und gerichtlicher Ausführungen als Element der inhaltlichen Begründung eine Rolle. Die Grenze der menschenrechtskonformen Auslegung bildet der Wortlaut der auszulegenden innerstaatlichen Norm. Die menschenrechtliche Norm dient als Auslegungsmaßstab und als Begründungselement. Diese dem Völkerrecht gegenüber offene Praxis fällt unter den Begriff der Anwendung menschenrechtlicher Normen.

    Die menschenrechtskonforme Auslegung ist eine vom Bundesverfassungsgericht anerkannte und rechtsstaatlich gebotene Methode. Sie folgt aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Der Grundsatz der Bundestreue verlangt, dass die staatlichen Stellen der Länder sich diese Herangehensweise zu eigen machen. In der Praxis ist das bislang zu selten der Fall.

    Auch das BVerfG praktiziert diese Variante der Anwendung der Menschenrechte bei der Auslegung der Grundrechte. Das Gericht hat dies insbesondere im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention wiederholt bekräftigt, was in der Rechtswissenschaft breite Zustimmung gefunden hat. In seinem Beschluss vom 23.03.2011 hat das BVerfG ausgeführt, dass auch die UN-Behindertenrechtskonvention „als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann”.

    Selbst die Grundrechte des Grundgesetzes sind im Lichte der völkerrechtlich verbrieften Menschenrechte, die nach der Ratifikation bekanntlich „nur“ den Rang einfachen Bundesrechts haben, auszulegen. Dies war bis vor kurzem lediglich für die Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkannt. In einer Entscheidung vom März 2011 hat das Bundesverfassungsgericht diese Verpflichtung ausdrücklich auf die Rechte der UN-Behindertenrechtskonvention erstreckt.

    Beispiel für die menschenrechtskonforme Auslegung: § 13 Absatz 1 SGB XII

    Beispielsweise kann § 13 Absatz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) XII menschenrechtskonform ausgelegt werden. Die Vorschrift aus dem sozialrechtlichen Leistungsrecht regelt, dass ambulante Leistungen Vorrang vor teilstationären und stationären Leistungen haben. Die Vorschrift führt in Satz 3 weiter aus: „Der Vorrang der ambulanten Leistung gilt nicht, wenn eine stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist.“ Darauf, dass diese als „Mehrkostenvorbehalt” bekannte Regelung mit dem Recht auf Leben in der Gemeinschaft (Artikel 19 der UNBRK) in Konflikt geraten kann, wurde in der öffentlichen Diskussion bereits mehrfach hingewiesen. Der Konflikt besteht darin, dass Menschen sich entscheiden, unabhängig von einer Einrichtung in einer eigenen Wohnung mit ambulanter Unterstützung leben zu wollen, Behörden sie jedoch in eine stationäre Einrichtung verweisen möchten.

    Das Recht auf Leben in der Gemeinschaft (nach Artikel 19 UN-BRK) formuliert dem Wortlaut nach klar, dass kein Mensch zu einem Leben in einer Einrichtung gezwungen werden darf. Legt man § 13 SGB XII konsequent menschenrechtskonform aus, ist es dem Antragsteller nicht mehr „zumutbar“, an eine stationäre Einrichtung verwiesen zu werden. Die Frage der unverhältnismäßig hohen Mehrkosten ist unbeachtlich. Hierfür spricht auch das Recht auf die freie Wahl des Wohnortes im Sinne des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte (siehe Artikel 12 UN-Zivilpakt), dessen Rechte keinem Ressourcenvorbehalt unterliegen. In Folge kann die menschenrechtskonforme Auslegung dazu führen, dass einer Behörde kein Ermessen mehr zusteht, den Antrag auf Wohnen mit ambulanter Unterstützung abzulehnen. Es handelt sich dann um den Fall einer „Ermessensreduzierung auf null“.

    Ob eine Behörde die völkerrechtskonforme Auslegung fachgerecht durchgeführt hat, prüfen die zuständigen Gerichte. Sie kontrollieren in Grenzen die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und auch die Ausübung von Ermessen. Dem Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung beispielsweise ist nur dann Genüge getan, wenn eine Behörde die völkerrechtlichen Aspekte ordnungsgemäß in die Ermessensentscheidung einbezogen hat.

    Zur Diskussion über die Anwendbarkeit menschenrechtlicher Normen

    In Deutschland ist zu beobachten, dass die Anwendbarkeit menschenrechtlicher Normen immer wieder in Frage gestellt wird. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob eine Norm die Qualität einer unmittelbar anwendbaren Norm hat.

    So wird die Auffassung vertreten, die Anwendbarkeit menschenrechtlicher Normen durch Behörden und Gerichte setze grundsätzlich einen (weiteren) Akt der Transformation voraus, insbesondere durch die Landesparlamente, wenn der zu entscheidende Sachverhalt in den Zuständigkeitsbereich der Länder falle. Auch Verwaltungsgerichte vertreten diese Position. Dies ist allerdings nicht überzeugend, da die Auffassung die der Verfassungsrechtsprechung zugrunde liegenden Vollzugslehre verkennt. Danach ist zwar eine gesetzgeberische Umsetzung nicht ausgeschlossen. Jedoch ist für eine Anwendung durch Behörden und Gerichte eine wie auch immer geartete Transformation nicht mehr notwendig, weil der Rechtsanwendungsbefehl den Vollzug allen staatlichen Stellen unabhängig von der bundesstaatlichen Kompetenzordnung abverlangt. „Lediglich“ die Umsetzungsmaßnahmen, insbesondere die Anpassung der Gesetzeslage, richten sich nach der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung; die Anwendung der völkerrechtlichen Normen durch Behörden und Gerichte darf damit nicht vermengt werden.

    Überwindung existierender Praxisprobleme

    Verfassungsgerichtliche Klärung

    Die Divergenzen innerhalb der deutschen Rechtsprechung in Bezug auf die Stellung und Bedeutung der UN-BRK, die von dem oben genannten verfassungsgerichtlichen Ansatz abweichen, sind besonders auffällig und verwundern angesichts der gefestigten Grundaussagen des BVerfG zu Geltung und Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen. Dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern in vielen Fällen diesem Ansatz nicht folgt und damit die Anwendbarkeit der UN-BRK ablehnt, weil sie der überkommenen Transformationstheorie anhängt, ruft nach einer verfassungsgerichtlichen Klarstellung im Sinne des Bundesverfassungsgerichts, dass auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Bund wie Ländern diesem Ansatz zu folgen hat.

    Praktische Hinweise und Fortbildungsangebote

    Überdies sind Maßnahmen zu entwickeln, wie die bestehenden Probleme gelöst werden können, die beim Umgang mit völkerrechtlichen Normen auftreten. Um eine gute Praxis zu fördern, bietet es sich an, Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogramme für Mitarbeitende in der Verwaltung, Richter- und Anwaltschaft zu entwickeln und durchzuführen. Dies wird von menschenrechtlichen Fachgremien immer wieder gefordert. Konkrete Instrumente wie Verwaltungsvorschriften, Anwendungsverordnungen, Arbeitshilfen oder Hintergrundinformationen, die es zu entwickeln und zu verbreiten gilt, bieten den im Rechtsvollzug Verantwortlichen außerdem eine wichtige Orientierung.

    Fazit

    Bei der Frage, ob und wie menschenrechtliche Normen im innerstaatlichen Bereich anzuwenden sind, geht es nicht um ein Theoretisieren über randständige Rechtsphänomene. Es geht um die Grundlagen unserer Rechtsordnung, die über die Bedeutung und Tragweite der Menschenrechte innerhalb der deutschen Rechtsordnung mitbestimmen. Behörden und Gerichte in Bund und Länder sollten die UN-Behindertenrechtskonvention im obigen Sinne bei Sachverhalten anwenden, in denen es um elementare Fragen der Gleichstellung behinderter Menschen und bisweilen um menschenrechtlich sensible Bereiche geht.

    Quelle

    Valentin Aichele: Die UN-Behindertenrechtskonvention: ihre Bedeutung für Ämter, Gerichte und staatliche Stellen. Erschienen als: Positionen Nr. 6 der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention

    Original verfügbar unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/_migrated/tx_commerce/positionen_nr_6_die_un_behindertenrechtskonvention.pdf

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 13.06.2016

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