Die Internationale Klassifikation von Behinderung der Weltgesundheitsorganisation

Autor:in - Martina Puschke
Themenbereiche: Medizin
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: WeiberZEIT, Zeitung des Projektes "Politische Interessenvertretung behinderter Frauen" des Weibernetz e.V. Ausgabe Nr. 07, April 2005, Seite 4 - 5 WeiberZeit (07/2005)
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Die Internationale Klassifikation von Behinderung der Weltgesundheitsorganisation

Es hatten sich noch nicht einmal alle daran gewöhnt, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) "Behinderung" dreigliedrig definiert, da wurde uns eine Überarbeitung vorgelegt. Noch mal zur Erinnerung: Die bisherige Definition von 1980 - kurz ICIDH genannt - ging von dem Dreiklang Schädigung, Funktionsbeeinträchtigung, soziale Beeinträchtigung aus. Dabei war mit Schädigung (impairment) der körperliche (oder mentale) "Defekt" gemeint. Mit Funtkionsbeeinträchtigung (disability) wurden die individuellen Auswirkungen der Schädigung (z.B. dass aufgrund der Blindheit eine Frau keine Schwarzschriftbücher lesen kann) bezeichnet. Und mit soziale Beeinträchtigung (handicap) war die gesellschaftliche Benachteiligung durch Barrieren gemeint. Alles zusammen ergab die Behinderung.

Die neue Einteilung der WHO heißt übersetzt "Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" - kurz ICF und ist inzwischen auch schon nicht mehr so neu. Sie wurde bereits im Jahr 2001 verabschiedet, ist aber noch nicht in alle Sprachen übersetzt. In deutscher Sprache liegt bislang eine vorläufige Endfassung vom Oktober 2004 vor, mit der sich schon arbeiten lässt. Derzeit werden MitarbeiterInnen der Sozialleistungsträger im Umgang mit der ICF geschult. Wir beleuchten hier kurz, was hinter der neuen Klassifikation steht und inwieweit sie Chancen z.B. für eine verbesserte Rehabilitation behinderter Frauen bieten kann.

Wie ihr Vorgänger geht die ICF von einer Dreigliedrigkeit der Behinderung aus, jedoch wurden z.B. die Begrifflichkeiten und mit ihr die Definitionen geändert:

  • Schädigung (körperlich, z.B. fehlender Arm)

  • Aktivitätsbeeinträchtigung (individuell, z.B. beidhändig Klavier spielen mit einem Arm)

  • Partizipationseinschränkung (gesellschaftlich, z.B. gesellschaftliche Normen schließen aus, dass einarmige Frau Konzertpianistin wird)

Neu an der ICF ist die Einbeziehung von Umweltfaktoren wie Assistenz- oder Heilmittelbedarf. Auch personelle Faktoren wie die Geschlechtszugehörigkeit, Alter, Ethnie sollen hinzugezogen werden. Vereinfacht gesagt wird bei der Ermittlung der ICF ein sehr umfassender Fragenkatalog ausgefüllt. In jeder Kategorie wird eingeteilt, ob z.B. die körperliche, individuelle und gesellschaftliche Behinderung kein Problem, ein geringes, gemäßigtes, schweres oder vollständiges Problem ist. Gemessen wird übrigens an der Norm von Menschen ohne Behinderung. Hier liegt auch ein Kritikpunkt der Behindertenbewegung.

Jedenfalls ergeben alle Ergebnisse zusammen ein umfassendes Bild über die Gesundheitscharakteristiken des Menschen mit Behinderung. Oder sagen wir nach der Definition besser Mensch mit Aktivitätsbeeinträchtigung oder doch behinderter Mensch? Dazu äußert sich die WHO ganz klar: Manche bevorzugen die Bezeichnung "behinderte Menschen", andere "Menschen mit Behinderungen". Der Grundsatz der WHO lautet: "Menschen haben ein Recht darauf, so genannt zu werden, wie sie es wünschen!" Übrigens wird in der ICF der Begriff "geistig behinderte Person" nicht verwendet. Stattdessen wird von der "Person mit einem Problem im Lernen" gesprochen.[1]

Wenn es nach der WHO geht, soll die Klassifikation nie ohne die Einwilligung und Zusammenarbeit der betreffenden Person angefertigt und nie zur Etikettierung eines Menschen verwendet werden. Sie soll auch nicht dazu genutzt werden, vorhandene Rechte oder Leistungen einzuschränken, sondern nach Möglichkeit die individuellen Wahlmöglichkeiten und Teilhabechancen zu erhöhen. [2]



[1] Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information, DIMDI. WHO-Kooperationszentrum für die Familie Internationaler Klassifikationen (Hg.): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Final Draft. Stand Oktober 2004, Internetfassung: www.dimdi.de, S. 170

[2] ebd. S. 172 ff.

Kompromiss aus medizinischem und sozialem Modell

Mit der ICF ist die WHO den Weg des Kompromisses zwischen dem medizinischen und dem sozialen Modell von Behinderung gegangen. Während das medizinische Modell besagt, dass die Behinderung ein persönliches Problem ist und entsprechend die Einschränkung an der Teilhabe des gesellschaftlichen Lebens eine Folge der Schädigung ist, dreht das soziale Modell von Behinderung den Spieß herum. Dieses Modell sieht das Problem in der Umwelt, infolge derer der Mensch behindert wird. Die WHO sagt mit der ICF: Eine Behinderung kann aus Barrieren in der Umwelt resultieren oder eben aus einer Schädigung. Es muss jedoch kritisch angemerkt werden, dass sowohl die körperliche Funktionsfähigkeit, als auch die gesellschaftliche Teilhabe immer an der Norm des Menschen ohne Beeinträchtigung gemessen wird.

Das Maßband

Welche Bedeutung hat die Klassifikation für die Praxis?

Wenngleich die medizinische Sicht der Behinderung in der Klassifikation nach wie vor einen hohen Stellenwert hat, wäre es ein Fortschritt, wenn in der medizinischen Akutbehandlung und der Rehabilitation diese Klassifikation eingesetzt und entsprechend gehandelt würde. Denn wenn nach der ICF gehandelt wird, kann einer alleinerziehenden behinderten Mutter, die im ländlichen Bereich lebt und entsprechend häufig mit Barrieren in ihrer Umgebung konfrontiert ist, nicht zugemutet werden, während des Heilungsprozesses nach Hause entlassen zu werden, wenn sie dies nicht möchte. Ob die Kosten- und Leistungsträger die Situation genauso beurteilen würden, bleibt nach den Erfahrungen des Sparmodells namens "Gesundheitsreform" fraglich. Und selbst bei einer Befürwortung der ICF lässt sich daraus für die einzelne Frau kein Rechtsanspruch ableiten. Denn die Sozialgesetze, die sich in der Behinderungsdefinition leider nur an die ICF anlehnen, gelten weiterhin. Es sei denn, wir können die Politik doch davon überzeugen, dass die medizinische Sicht von Behinderung international nicht mehr angesagt ist und entsprechend die Definition im SGB IX und Bundesgleichstellungsgesetz geändert werden muss. Hier gibt es bereits Anstrengungen einiger Behindertenverbände.

Bis es soweit ist, sollten wir die ICF für die sozial- und behindertenpolitische Argumentation des Abbaus gesellschaftlicher Barrieren und für eine verbesserte Rehabilitation nutzen.

Martina Puschke

Literatur:

Hirschberg, Marianne: Die Klassifikation von Behinderung der WHO, Gutachten erstellt im Auftrag des Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW), Berlin 2003

Leicht Lesen

Diesen Text gibt es auch in leichter Sprache: http://bidok.uibk.ac.at/library/wzl-7-05-puschke-recht.html

Quelle:

Martina Puschke: Die Internationale Klassifikation von Behinderung der Weltgesundheitsorganisation

erschienen in: WeiberZEIT, Zeitung des Projektes "Politische Interessenvertretung behinderter Frauen" des Weibernetz e.V. Ausgabe Nr. 07, April 2005, Seite 4 - 5

http://www.weibernetz.de/weiberzeit.html

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Stand: 21.04.2009

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