Von Streiks, guten Ideen und der Realität behinderter Frauen

Autor:in - Brigitte Faber
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: WeiberZeit, Zeitschrift des Projektes "Politische Interessenvertretung behinderter Frauen" des Weibernetz e.V., Ausgabe 2/Januar 2004, S.4-5 WeiberZeit (02/2004)
Copyright: © Verein Weibernetz e.V. 2004

Von Streiks, guten Ideen und der Realität behinderter Frauen

"Behinderte Frauen auf dem Weg in eine selbstbestimmte Zukunft", so der Titel der Tagung des Weibernetz im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung am 31.10.03 in Bonn. Insgesamt hatten rund 100 Frauen mit und ohne Behinderung oder chronischer Erkrankung aus der ganzen Bundesrepublik an dieser Veranstaltung teilgenommen. Die Stimmung war eine Mischung von guter Laune und erwartungsvoller Neugier. Alte Bekanntschaften wurden aufgefrischt und neue geschlossen - Neuigkeiten wurden ausgetauscht und verbreitet. Es summte und brummte wie in einem Bienenstock.

Der Vormittag galt in erster Linie einem Überblick - denn es wichtig zu wissen, was wir bereits mit den Jahren erreicht haben. Christel Riemann-Hahnewinckel, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, betonte in ihrer Rede, wie wichtig es ist, auch im Sinne eines Gender Mainstreamings die spezifischen Belange behinderter Frauen in der Politik, in Gesetzen und Regelungen zu berücksichtigen. Dabei gab sie einen Überblick über bereits Erreichtes, aber auch über die noch anstehenden Themen wie z.B. das Recht auf Pflege und Assistenz durch eine Person des gleichen Geschlechts oder die Kriterien für die Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins. Ausgesprochen spannend war auch die Beschreibung zweier langjähriger Aktivistinnen, die von ihren persönlichen Anfängen und Erlebnissen mit der behinderten Frauenbewegung berichteten. So erfuhren die Teilnehmerinnen u.a. von Streiks im zweiten Schuljahr und von der Situation in der früheren DDR.

In den anschließenden Arbeitsgruppen wurden zu konkreten Themen Perspektiven erarbeitet. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: welche die Mädchen auch interessieren. Und dies sind in der Regel nicht politische oder gesellschaftskritische Themen

  • Die Vorstellungen und Wünsche für Leben und Wohnen im Alter sind so vielfältig und bunt, wie das Leben selbst. Fest steht, dass dieses Thema zunehmend an Bedeutung gewinnt - werden wir doch alle nicht jünger. Als bedrohlich wurde die Tatsache empfunden, dass behinderte Menschen im Alter ihre Assistenz nicht mehr finanziert bekommen und quasi ins Altersheim abgeschoben werden können.

  • Zu barrierefreien Frauenorten war die einstimmige Meinung, dass sie erheblich zu selten sind. Gründe hierfür wurden nicht nur in den fehlenden finanziellen Mitteln für entsprechende Umbauten oder Dolmetschdienste gesehen. Auch Unkenntnis und Unsicherheit bei den nichtbehinderten Frauen stehen einem Angebot für Alle oftmals im Weg. Verstärkter Austausch sowie vermehrte Zusammenarbeit von behinderten und nichtbehinderten Frauen ist hier geplant.

  • Die eindeutige Bilanz für die Umsetzung des SGB IX aus der Sicht behinderter Frauen war: sie geschieht schlecht bis gar nicht. Den MitarbeiterInnen der Servicestellen sind in aller Regel frauenspezifische Belange sowie die entsprechenden Paragrafen unbekannt oder sie halten sie für irrelevant. Die Instrumente der Klage oder der Selbstbeschaffung von Hilfsmitteln werden von den Frauen nicht genutzt, da sie mit einem hohen Risiko und finanzieller (Vor-) Leistung verbunden sind. Die Regelung zu den Kursen zur Stärkung des Selbstbewusstseins ist bislang absolut unbefriedigend.

  • Leistungen für die Erziehungs- oder die Familienarbeit müssen auch unabhängig von einer Erwerbsarbeit gewährt werden. Ebenso müsste das Ehrenamt in diesem Bereich mit der Erwerbsarbeit gleichgestellt werden, da viele Frauen mit Behinderung auf diesen Bereich der Tätigkeit ausweichen. In beiden Bereichen leisten die Frauen für die Gesellschaft unendgeltlich viele wichtige Arbeiten, ohne von dieser zumindest eine Unterstützung aufgrund der Behinderung oder chronischen Erkrankung zu erhalten.

  • Bei dem Thema Zielvereinbarungen nach dem Behindertengleichstellungsgesetz wurde deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, für diesen Bereich frauenspezifische Vereinbarungen zu formulieren. Die Teilnehmerinnen wurden dennoch fündig. Rollitaugliche Kinderwagen, barrierefreie Wickelräume in Einkaufszentren oder BHs und Bodies, die vorne zu verschließen sind, waren nur einige der pfiffigen Ideen. Zu den Zielvereinbarungen wird es noch einmal eine eigene Arbeitsgruppe geben.

So viel zu den Ergebnissen und Plänen. Die vielen positiven Rückmeldungen haben gezeigt, dass Tagungen wie diese wichtig für den politischen als auch persönlichen Alltag von Frauen mit Behinderung und auch für den Austausch mit nichtbehinderten Frauen sind. Entsprechend groß war auch die Anfrage nach weiteren Tagungen.

Abschließen möchte ich diesen Bericht mit der Feststellung der AG "Wünsche, Träume, Utopien". Im Alltag nehmen wir uns oft keine Zeit mehr für unsere Wünsche und Träume - sie haben keinen Raum. Doch es ist wichtig, dass wir unsere Träume, unsere Utopien nicht vergessen. Denn sie sind der Antrieb für Veränderungen.

Und mit der Gründung des Netzwerks in Baden-Württemberg und Brandenburg sind wir einem Wunsch schon ein kleines Stückchen näher gekommen: Netzwerke von Frauen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung in allen Bundesländern. Lassen wir unsere Träume wahr werden!

Brigitte Faber

Fotos von der Tagung

Eine Dokumentation der Tagung erscheint in den nächsten Wochen. Auf unserer Homepage http://www.weibernetz.de/ können bereits jetzt die Reden der Tagung eingesehen werden.

Leicht Lesen

Diesen Text gibt es auch in leichter Sprache: http://bidok.uibk.ac.at/library/wzl-2-04-faber-streiks.html

Quelle:

Brigitte Faber: Von Streiks, guten Ideen und der Realität behinderter Frauen

Erschienen in: WeiberZeit, Zeitschrift des Projektes "Politische Interessenvertretung behinderter Frauen" des Weibernetz e.V., Ausgabe 2/Januar 2004, S.4-5

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 21.04.2009

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