Offener Unterricht

Autor:in - Hans Wocken
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: aus: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988, S. 359-378
Copyright: © Curio Verlag 1988

Einleitung

(Überschrift von bidok)

Der offene Unterricht ist nicht irgendeine neue Methode, die man bruchlos in beliebige schulische Kontexte verpflanzen und neben vielen anderen Methoden auch noch anwenden könnte. Er bezeichnet ein umfassendes pädagogisches Konzept, das alle Variablen schulischen Lehrens und Lernens betrifft. Ein dogmatischer Purismus ist dem Konzept des offenen Unterricht fremd und abträglich; es bezeichnet vielmehr ein flexibles, idealtypisches pädagogisches Programm, das ausdrücklich Variationen zuläßt, nicht festgelegt ist und immer nur annäherungsweise verwirklicht werden kann.

1. Leitideen

Der Hintergrund der open-education ist eine pragmatische Erziehungsphilosophie, die weitreichende Auswirkungen auf das Verständnis von Unterricht und Erziehung hat.

An erster Stelle steht die Wertschätzung des Kindes als einem menschlichen Individuum, die radikale Überzeugung vom Eigenwert der Kindheit, der tiefgehende Respekt vor dem Subjekt Schüler. Kinder sind "schon hier und heute ernstzunehmende Persönlichkeiten, die ein Recht auf Glück und Zufriedenheit haben" (CALLIES 1976, 200). In der Dreiheit Kind - Gesellschaft - Wissenschaften ist das Kind die tonangebende Curriculumdeterminante. Schule und Unterricht sind vor allem zuständig für eine erfüllte Gegenwart der Kinder. Indem sie hier und jetzt Chancen für die Befriedigung aktueller Bedürfnisse und für die Entfaltung von Subjektivität, Freiräume für selbstbestimmtes Lernen und eigenverantwortliches Handeln gewähren, bereiten sie am besten auf zukünftige Lebenssituationen und Anforderungen des Erwachsenenlebens vor. Schule und Unterricht sind Gelegenheiten, die Mündigkeit der Lernenden vorwegzunehmen, statt sie auf eine unbestimmte Zukunft zu vertagen.

Kinder lernen vor allem, weil sie selbst lernen wollen. Die offene Schule ist für Kinder Raum und Gelegenheit, das naturgegebene Potential an Entdeckungsfreude, Wißbegierde, Spontaneität und Tatendrang zu aktualisieren. Im offenen Unterricht ist das Kind der Agent seiner eigenen Sozialisation, das im selbsttätigen Umgang mit den Lerngegenständen und im freien Verkehr mit seinen Lehr- und Lernpartnern bedeutsame Lernerfahrungen sammelt.

Befriedigende Sozialbeziehungen sowie positive Gefühle, Emotionen und Stimmungen sind der Mutterboden für kognitive Lernprozesse. Die Schule darf sich nicht nur um die intellektuelle Förderung der Kinder kümmern, sondern muß die umfassende Persönlichkeitsentwicklung im Auge haben. Das Wie des Lernens, das Lernklima und die Lerntechniken sind wichtiger als das Was. Dem Erwerb grundlegender Einstellungen, kommunikativer und sozialer Fähigkeiten, motivationaler Bereitschaften und basaler Fertigkeiten kommt größeres Gewicht zu als der Aneignung von Wissensmengen. Die Förderung der Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz bilden im offenen Unterricht eine pädagogische Einheit.

2. Organisation

Der augenfälligste Unterschied zwischen geschlossenen und offenen Schulen sind die organisatorischen Lernbedingungen.

2.1. Räumliche Organisation

Die traditionelle Architektur schulischer Lernorte besteht aus optisch und akustisch abgegrenzten Raumeinheiten. Die Lehrer und Lerngruppen sind durch geschlossene Klassenzimmer sozial isoliert, die Lerngegenstände sind vielfach durch gesonderte Raumangebote voneinander getrennt. Für Spielen und Lernen, Unterricht und Freizeit, Werken und Naturwissenschaft, motorisches und kognitives Lernen werden separate Raum- und Flächenreservate bereitgehalten.

Der räumlichen Parzellierung entsprechen zeitliche, inhaltliche und professionelle Zuständigkeiten; der Fachunterricht in Physik/Chemie wird von einem Fachlehrer in einer besonderen Fachstunde und eigenem Fachraum abgehalten.

Klassenzimmerskizze 1

Offener Unterricht hat eine Veränderung der ökologischen Lernbedingungen zur Voraussetzung. Die ideale Raumorganisation der offenen Schule ist ein gegliederter Großraum. Die Wände, Türen und Milchglasscheiben des traditionellen Klassenzimmers werden ersetzt durch leichte Raumteiler, fahrbare Regale und mobile Pinnwände. Die Raumorganisation muß offen sein, um wechselnde Gruppenbildungen und gruppenübergreifende Lehrer- und Schülerkontakte zu ermöglichen, und sie muß strukturiert sein, um verschiedenen Lerngruppen zur gleichen Zeit unterschiedliche Lernaktivitäten zu ermöglichen. Der Lernraum einer Stammgruppe (Klasse) wird als anregungsintensive Lernumgebung und erlebnisreiche Erfahrungswelt gestaltet, die zum Entdeken, Fragen und Handeln auffordert. Gemütliche Sitzecken mit ausrangiertem Mobiliar vermitteln eine freundliche Atmosphäre. Abschließbare Fächer oder Schränke für jeden einzelnen Schüler zur Aufbewahrung persönlicher Dinge steigern den privaten Wohnwert des Lernraumes und das Zugehörigkeitsgefühl. Die Strukturierung des Curriculums in Lernbereiche bildet sich in einem Lernraum mit funktionsdifferenzierenden Teilzonen ab. Neben Leseecke, Ruhezone, Spielfläche, Werk-, Bastel- und Malzentrum, Kochnische, Kleinzoo, Gesprächskreis, Studio mit Fernsehen, Radio, Plattenspieler, Cassettenrecorder und Kopfhörern kann auch ein Zentrum für Forschen und Experimentieren eingerichtet werden. In diesem Labor findet naturwissenschaftliches Lernen als Interaktionsprozeß mit der physikalisch präsenten Umwelt statt. Zur Veranschaulichung offener Raumgestaltung können Raumskizzen für die Eingangsstufe des Primarbereichs der Peter-Petersen-Schule in Hannover (HOFFMANN & MEERGANS 1977, 181) und der Wartburg-Grundschule in Münster (RAMSEGER & SEELIGER-MÜHL 1987) dienen.

Klassenzimmeraufteilung 2

2.2. Zeitliche Organisation

Die Zeitplanung ist nicht auf synchrone Lernprozesse der gesamten Lerngruppe mit festem Stundenrhythmus angelegt, sondern wird situativ spontanen Lernbedürfnissen und ungeplanten Lernvorhaben angepaßt. Im offenen Unterricht wird der Stundenplan der traditionellen Unterrichtsorganisation durch freie Arbeitsstunden und freie Arbeitstage ("integrated day") aufgelockert. In den Stunden und Tagen der "freien geistigen Arbeit" (MONTESSORI) dürfen die Schüler lernen, was sie interessiert und wie lange sie wollen. Die freie Arbeit wird sehr häufig durch Wochenarbeitspläne strukturiert. Die Wochenarbeitspläne beinhalten eine genaue Aufgabenübersicht für jedes einzelne Kind; sie dienen den Kindern zur Erinnerung, was sie binnen einer Woche erledigen sollen, und sind zugleich für die Lehrer ein Instrument, das über den aktuellen Lern- und Arbeitsstand jedes Kindes informiert. Eine teilflexible Zeitplanung wird in der Peter-Petersen-Schule in Hannover praktiziert (BÖNSCH 1977). Die Zeitstruktur einer Ganztagsgrundschule zeigt der Plan der Wartburg-Grundschule in Münster (RAMSEGER & SEELIGER-MÜHL 1987).

Offene Eingangsphase

Kreisgespräch

Gelenkte Arbeit

Frühstück

Offene Phase

Gelenkte Arbeit

Mittagessen

Offene Phase

Gelenkte Arbeit

Wochenplanunterricht

2.3. Soziale Organisation

Offener Unterricht wird in flexiblen sozialen Organisationsformen durchgeführt. An die Stelle der starren Jahrgangsklassen treten tendenziell altersübergeifende Lerngruppen ("family groups"). Den großen inter- und intraindividuellen Unterschieden der Schüler entsprechen heterogene und wechselnde Gruppierungen. Alle Versuche, die Schüler nach Leistung oder Intelligenz zu homogenisieren, unterbleiben. Das Differenzierungskriterium sind die Bedürfnisse und Interessen der Schüler. Die Schüler differenzieren sich selbst, arbeiten in selbstgewählten Kleingruppen und schaffen sich selbst die passende Individualisierung. Im offenen Unterricht arbeitet ein pädagogisches Team mit einer größeren Grundgruppe auf einer gemeinsamen Stammfläche zusammen. Kollegiale Kooperation und wechselseitige Absprachen sind unerläßlich. Durch die Zusammenarbeit mehrerer Lehrpersonen ergeben sich vielfältige Möglichkeiten zum Austausch von Erfahrungen, zur gegenseitigen Beratung, zur Ergänzung pädagogischer Kompetenzen und zu beiläufigen Fachgesprächen, in die die Experten ihre Spezialkenntnisse einbringen können. Der Unterricht ist auch offen für die Mitarbeit der Eltern und anderer Laienpädagogen, die sich in zwangloser Weise an der Herstellung der Materialien, der Gestaltung der Lernumgebung und der Betreuung von Interessengruppen beteiligen können.

3. Interaktion

Das Bezugssystem der Schule trägt familiäre Züge. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist machtarm und reversibel. Die Schüler sind nicht gezwungen, mit einem bestimmten Lehrer zu kommunizieren, sie können ihre Interaktionspartner frei wählen und sich auch zurückziehen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Im informellen Unterricht hat der Lehrer keineswegs eine passive Rolle, aber er tritt nach außen weniger in Erscheinung und agiert mehr im Hintergrund als Gestalter der Lernumwelt. Gerade weil die Schüler zur gleichen Zeit unterschiedliche Themen in selbstgewählten Kleingruppen bearbeiten, kann der Lehrer als Berater und Helfer denjenigen Schüler zur freien Verfügung stehen, die ihn am meisten brauchen. Die variierenden Gruppengrößen schaffen die organisatorischen Voraussetzungen für Einzelfallhilfe.

4. Medien

Schülerorientierter und differenzierender Unterricht ist ohne Medien kaum zu realisieren. Die Steuerung der Lernprozesse im offenen Unterricht geht zu wesentlichen Teilen vom Lehrer auf die Schüler, die Raumgestaltung und nicht zuletzt das Materialangebot über. Das Material-und Medienarrangement ist eine Hauptaufgabe des Lehrers. Das Klassenzimmer wird als "vorbereitete Umgebung" (MONTESSORI) gestaltet. Die Lehr- und Lernmittel müssen vom Lehrer in sinnvoller Ordnung und themengebundener Auswahl präsentiert werden, damit die Entscheidungs- und Selbststeuerungsfähigkeit der Schüler nicht überfordert wird. Etwa im wöchentlichen Wechsel finden die Schüler auf dem "Entdeckungstisch" ein ausgewähltes Materialangebot vor, das zu bestimmten Erkundungen und Aktivitäten veranlaßt.

Unter dem Aspekt der Schülerorientierung haben etwa im naturwissenschaftlichen Unterricht jene Materialien vorrangige Bedeutung, mit denen der Schüler ohne Gefährdung seiner Person und ohne nennenswerte Wertschädigung der Gebrauchssache umgehen kann. Komplizierte Experimentiergeräte, kostbare Baukästen und Versuchsmaterialien machen lehrerabhängig. Wertloses Verbrauchsmaterial, Industriemüll, defekte Haushaltsgeräte, robuste Werkzeuge und einfache Energiequellen kommen einer selbsttätigen Sachauseinandersetzung entgegen.

5. Methoden

"Der Lernprozeß muß als Wechsel zwischen offenen Lernsituationen, vom Lehrer initiierten gemeinsamen Projekten der Stammgruppe und formaler organisierten Kursen oder Lernsequenzen gestaltet werden, um für alle bestimmte basale Lehrerfahrungen zu garantieren" (GREIMEL 1977, 120). Formale Lehrgänge dienen vor allem dem intensiven Training im Lesen, Schreiben und Rechnen, im übrigen sind Gesprächskreise, entdeckendes Lernen und Projektunterricht die methodischen Hauptformen des offenen Unterrichts. RAMSEGER & SEELIGER-MÜHL (1987) verdeutlichen durch folgende Abbildung den Zusammenhang der verschiedenen Unterrichtsformen.

Im Sachunterricht ist häufig ein Material- und Ausstellungstisch der Ausgangspunkt des Unterrichts. Der Lehrer lenkt über eine ausreichende Strukturierung der Problemstellung und das themenbezogene Materialarrangement indirekt. Frontalunterricht ist im offenen Unterricht schon aus räumlichen Gründen kaum möglich und mit entdeckendem Lernen unvereinbar.

Das Lernen in Projekten kann durch eine Liste der Aktivitäten verdeutlicht werden, die bei einem Unterrichtsprojekt "Go - cart" mit erwa 9 Schülern des 3. bis 5. Schuljahres in der Glocksee - Schule ausgeführt wurden (HERMANN 1977):

  • Konstruktion unterschiedlicher Fahrgestelle;

  • Montage von Motor, Keilriemenantrieb, Kupplung, Gas und Bremse;

  • Zerlegung und Zusammenbau eines Fahrradhilfsmotors;

  • Analyse der Funktionsweise des Motors

  • (Entstehung des Zündfunkens, Verbrennungsvorgänge bei reinem Benzin und Benzin-Luft-Gemisch);

  • Löschungsmöglichkeiten bei Benzinbränden;

  • Berechnung der Geschwindigkeit in km/h aus Umdrehungszahl und Radumfang;

  • Erarbeitung und Durchführung von "Führerscheinkursen" für nicht am Projekt beteiligte Schüler;

Verkehrsplanung auf dem Schulhof für Fußgänger, Radfahrer und Go-cart-Fahrer. Anfertigung einer maßstabsgerechten Schulhofskizze und Abstimmung über die Planskizze.

Mathematisches, technisches, naturwissenschaftliches, zeichnerisches, soziales und sprachliches Lernen geschieht bei Projekten im Zusammenhang und mit einsehbarem Gebrauchswert.

6. Curriculum

Geschlossene Curricula sind - in extremer Ausprägung - vorfabrizierte und erprobte Unterrichtseinheiten, die von der Feinplanung der Lernziele über minutiöse Zeitangaben, obligate Lernsequenzen, vorgebahnte Kommunikationswege, detaillierte Medienangaben bis hin zu standardisierten Lernzielkontrollen den gesamten Unterrichtsprozeß vorprogrammieren. Lehrer und Schüler haben eigentlich nur die Aufgabe, die "Ware Curriculum" in kompletter Form zu konsumieren und den Unterricht drehbuchartig zu exekutieren.

"Im geschlossenen Unterricht geht es unter der Leitidee der "Optimierung von Lernprozessen" darum, Lernziele auf möglichst ökonomische und rationelle Weise zu erreichen. Zu diesem Zweck ist es notwendig, von klar definierten - möglichst operationalisierten - Lernzielen auszugehen, Inhalte, Unterrichtsverfahren und Medien auf sie zu beziehen und den Erfolg des Unterrichts mit lernzielorientierten Kontrollverfahren zu überprüfen. Diese Kriterien lassen sich nur erfüllen, wenn die Unterrichtssequenzen in einer Planung festgelegt sind. Das Beziehungssystem von formalen Variablen determiniert den Unterricht so sehr, daß er den Charakter der Geschlossenheit erhält" (KLEWITZ & MITZKAT 1977, 7).

Die mit "Curricula in Dosen" (WAGENSCHEIN 1975a, 113) verknüpften Hoffnungen haben sich vor allem wegen der fehlenden Interpretations- und Mitwirkungschancen der Lehrer und Schüler nicht erfüllt. Dem offenen Curriculum liegen zweierlei Prämissen zugrunde:

  1. Unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse sind nur in Grenzen wissenschaftlich analysierbar und wegen ihrer Komplexität, Situations- und Subjektgebundenheit nur bedingt kalkulierbar. Die Wahrscheinlichkeit gelingender Unterrichtsprozesse kann durch Planung zwar erhöht, aber nicht garantiert werden.

  2. Die Entscheidungen über Unterrichtsprozesse müssen zu wesentlichen Anteilen denen übereignet werden, denen sie gehören und die von ihnen betroffen sind. Curricula sollen offen sein für die subjektiven Erfahrungszusammenhänge der Unterrichtsteilnehmer, für die situativen Gegebenheiten des konkreten Schulalltages; sie sollen Freiräume enthalten für spontane Interessenartikulation, inhaltliche und methodische Alternativen. Damit aber Unterricht nicht in reine Situationspädagogik und fachlichen Dilettantismus abgleitet, sind curriculare Vorgaben und ausgearbeitete Unterrichtsanregungen notwendig. Offene Curricula sind eine lockere, themengebundene Collage von Lernaufgaben, Bildern, Texten, Arbeitsmitteln, Materialhinweisen, Übungsblättern, Verfahrensgrundsätzen usw.; das konkrete Curriculum entsteht erst im Unterrichtsprozeß durch gemeinsames Handeln der Lehrer und Schüler. Im schülerorientierten Unterricht verlieren Lernziele ihre dominante, verlaufsregulierende Stellung. Lernziele "dürfen nicht störend zwischen Lehrer und Schüler treten. Der Lehrer muß sie im Kopf haben, aber nicht soweit vorne, daß er sie mehr im Auge hat als die Kinder und ihre Bedürfnisse " (Science 5/13; zit. nach KLEWITZ & MITZKAT 1977, 14).

7. Evaluation

Im offenen Unterricht erhalten die Kinder kontinuierlich Rückmeldung über ihre Lernfortschritte. Bezugsnormen der Beurteilung sind der Vergleich mit der individuellen Ausgangslage (Individualnorm). Formelle Leistungsprüfungen werden auf ein unerläßliches Minimum beschränkt, da sie das Klima angstfreien Lernens und sachmotivierter Lernbereitschaft beeinträchtigen können. Grundanliegen offener Evaluation ist, den engen Zusammenhang schulischen Lernens mit permanenten Kontrollen, Prüfungen und Benotungen zu verdünnen. Soziale Vergleiche und soziale Selektion, also normorientiertes Testen, hierarchische Einstufungen und Sitzenbleiben, sind konzeptwidrig. Persönliche Gespräche, informelle Beobachtungsbögen und beschreibende Beurteilungsverfahren haben Vorrang. Der Lernstand der Kinder kann in Lernziel-, Aufgaben- und Materiallisten festgehalten werden. Mit wachsender Selbständigkeit können die Schüler eigene Berichtshefte führen, in denen sie die Erledigung vereinbarter Pflichtaufgaben vermerken. Die Schüler erhalten Gelegenheit, sich anhand gemeinsam erarbeiteter Kriterien in der Selbstbewertung zu üben und dadurch die Verantwortung für die eigenen Lernprozesse zu übernehmen.

Es sei abschließend hervorgehoben, daß der offene Unterricht ein idealtypisches Konzept ist, die einzelnen Variablen eine kontinuierlich abgestufte Skala von starr bis offen bezeichnen, in der konkreten Praxis auch unterschiedliche Offenheitsgrade der einzelnenDimensionen miteinander kombiniert werden können, und jeglicher Rigorismus und Perfektionismus der Flexibilität des Programms schadet.

Offener Unterricht ist reale Möglichkeit und mit unterschiedlichem Annäherungsgrad an etwa 30% der englischen Primarschulen konkrete Wirklichkeit. Wie steht es um die Eignung für Schüler mit Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen? Die "absolut eindeutige Einstellung auf das Kind" (HOFMANN 1961, 675) und der "Bezug zur Eigenwelt" (BEGEMANN 1970) sozial benachteiligter Kinder sind programmatische Leitideen, die sich in der gegenwärtigen Verfassung der Sonderschule für Lernbehinderte nur mühsam wiederfinden lassen.

Der offene Unterricht ist eine pragmatische Chance, die theoretischen Postulate der Lernbehindertendidaktik praktisch einzulösen. Die offene Schule hat ihrem Selbstverständnis nach eine "sozialerzieherisch-therapeutische Funktion" (GRIEMEL 1977, 94). Sie schafft die notwendigen Vorbedingungen für eine wirksame "Therapie und Prophylaxe von Lern- und Verhaltensstörungen. Sie ist Realisierung des Konzepts einer umfassenden Milieutherapie" (MOLL-STROEBEL 1977, 177). Informelles Lernen kommt lern- und verhaltensgestörten Kindern entgegen,

  • weil die Schüler auf selbstgewähltem Anspruchsniveau ohne Furcht vor intellektuellen Niederlagen, deklassierenden Benotungen und sozialer Auslese arbeiten und in einem Klima angstfreien Lernens Leistungszuversicht und Selbstvertrauen aufbauen können;

  • weil der persönliche Arbeitsrhythmus, die individuellen Interessen, privaten Bedürfnisse, sozial- und lebensgeschichtlichen Erfahrungen in der Schule zu ihrem Recht kommen und dadurch die Lernbereitschaft gefördert und die Entfaltung der Subjektivität ermöglicht wird;

  • weil die informellen Gruppen und die wohnliche Lernumwelt emotionale Sicherheit und Geborgenheit vermitteln;

  • weil die Schüler in informellen Kontakten ihre Sprechängste verlieren, sich in gewohnten Kommunikationsmustern verständigen und ihre Sprachkompetenz in konkreten Handlungskontexten und praktischen Verwendungssituationen erweitern können.

Konkretisierungen des open-education-Konzepts und erste Erfahrungen mit offenem Unterricht liegen vor (HALBFAS, MAURER & POPP 1976; KLEWITZ & MITZKAT 1977; NUBER 1977 RAMSEGER 1977; SCHELL 1978; KASPER & PIECHEROWSKI 1978; KASPER 1979; BENNER & RAMSEGER 1981; BUSCHBEK u. a. 1982). Zahlreiche Unterrichtsbeispiele findet man in den Zeitschriften "Die Grundschule" und "Die Grundschulzeitschrift". Eine vorzügliche praxisorientierte Einführung verdanken wir H. SCHWARZ (1987). Eine Fundgrube an Ideen und Anregungen sind die Bücher von SENNLAUB (1984 und 1985).

Literatur

BEGEMANN, E.: Die Bildungsfähigkeit des Hilfsschülers. Berlin (Marhold) 1970

BENNER, D. & RAMSEGER, J.: Wenn die Schule sich öffnet. München (Juventa) 1981

BÖNSCH, M.: Grundzüge eines offenen und kommunikativen Unterrichtskonzepts. Die Deutsche Schule 1977, 709-719

BURK, K.H. & HAARMANN, D. (Hrsg.): Wieviele Ecken hat unsere Schule. Band 1: Frankfurt 1979. Band 2: Frankfurt 1980

BUSCHBECK, H., ERNST, K. & REBITZKI, M. (Hrsg.): (K)eine Schule wie jede andere. Weinheim (Beltz) 1982

CALLIES, E.: Open education in der englischen Primary School. In: HALBFAS, MAURER & POPP (Hrsg.) 1976, 196-207

GREIMEL, J.: Modelle für die Reform der Unterrichtsorganisation. In: NUBER (Hrsg.) 1977a, 37-67

GREIMEL, J.: Informeller Unterricht. In: NUBER (Hrsg.) 1977b, 88-126

GRODDECK, N.: Offener Unterricht. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Band 8, Stuttgart (Klett) 1983, 621-625

HAARMANN, D.: Was heißt hier "offen"? Grundschule 1988, 6, 37-41

HALBFAS, H., MAURER, F. & POPP, W. (Hrsg.): Neuorientierung des Primarbereichs. Band 5: Lernwelten und Medien. Stuttgart (Klett) 1976

HERMANN, H. D.: Mathematik im Projektunterricht. In: NUBER (Hrsg.) 1977, 229-242

HOFFMANN, E. H. & MEERGANS, G.: Soziales Lernen in der Eingangsstufe. In: NUBER (Hrsg.) 1977, 173-197

HOFMANN, W.: Besondere Fragen der Hilfsschule. In: Handbuch für Lehrer. Band 2. Gütersloh 1961, 673-688

KASPER, H. (Hrsg.): Vom Klassenzimmer zur Lernumgebung. Ulm (Vaas) 1979

KASPER, H. & PIECHEROWSKI, A. (Hrsg.): Offener Unterricht an Grundschulen. Ulm (Vaas) 1978

KASPER, H.: Offener Unterricht in der Diskussion. Grundschule 1988, 5, 62-66

KLAßEN, TH. F.: Eine Grundschule in England. Gießen 1981

KLEWITZ, E. & MITZKAT, H. (Hrsg.): Entdeckendes Lernen und offener Unterricht. Braunschweig (Westermann) 1977

KUNERT, K.: Theorie und Praxis des offnen Unterrichts. München (Kösel) 1987

LAUN, R.: Freinet - 5o Jahre danach. Schriesheim (Publikoop) 1983

MEIER, R. & BAHNS, M.: Miteinander lernen: Differenzierung und Freie Arbeit in der Grundschule. Stuttgart: Klett 1981

MÜLLER-BARDORFF, H.: Grundschüler auf dem Weg zur Freien Arbeit. Weinheim (Beltz) 1986

NEHLES, R.: Offenheit. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Band 3, Stuttgart (Klett) 1986

NUBER, F. (Hrsg.): Informeller Unterricht - Modell für die Grundschule. München (Urban & Schwarzenberg) 1977

POPP, W.: Offenheit im Unterricht. Grundschule 1988, 7/8, 70-73

RAMSEGER, J.: Offener Unterricht in der Erprobung. München (Juventa) 1977

RAMSEGER, J.: Offener Unterricht. In: IPFLING, H.J., ECKINGER, L. & GRÖSCHEL, H. (Hrsg.): Aktuelles Handbuch für Lehrer und Erzieher. München (Domino) 1987

RAMSEGER, J.: Neun Argumente für die Öffnung der Grundschule. Die Grundschulzeitschrift 1987, 1, 6-7

RAMSEGER, J. & SEELIGER-MÜHL, H.: Individualisierung und Wochenplanunterricht. Begleitmaterial zum Videofilm. Münster 1987.

REINARTZ, A. & SANDER, A. (Hrsg.): Schulschwache Kinder in der Grundschule. Band 1: Frankfurt 1977. Band 2: Frankfurt 1978

REINARTZ, A. & SANDER, A. (Hrsg.): Schulschwache Kinder in der Grundschule. Weinheim (Beltz) 1982

RÖDLER, K.: Vergessene Alternativschulen. Weinheim (Beltz) 1987

SCHEEL, B.: Offener Grundschulunterricht. Weinheim (Beltz) 1978

SCHWARTZ, H.: Prinzipien und Formen einer offenen Grundschule. Seelze (Friedrich) 1987

SENNLAUB, G. (Hrsg.): Mit Feuereifer dabei. Heinsberg (Dieck) 1985, 2. Auflage

SENNLAUB, G. (Hrsg.): Feuer und Flamme. Heinsberg (Dieck) 1984

WAGENSCHEIN, M.: Verstehen lehren. Weinheim (Beltz) 1975

Quelle:

Hans Wocken: Offener Unterricht

In: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988; S. 359-378

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.07.2002

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