Referat am: 11. Österreichischen Symposium für die Integration behinderter Menschen "Es ist normal, verschieden zu sein", Innsbruck, 6.-8. Juni 1996. Veranstalter: "Tafie - Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung" in Zusammenarbeit mit der "Tiroler Vereinigung zugunsten behinderter Kinder" und dem "Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck".
Inhaltsverzeichnis
Vorweg: Diese Zeilen sind keine Anleitung und kein Rezept, wie ein integrativer Mathematikunterricht auszusehen hat und funktionieren muß. Es ist
lediglich das Ergebnis unserer siebenjährigen Erfahrung mit integrativ geführten Klassen an der Hauptschule Untermarkt in Reutte.
Integrativer Mathematikunterricht muß ein Unterricht sein, in dem alle Kinder einer Klasse mit ihren verschiedensten Begabungen und Schwächen ihren Platz haben.
Die Kinder werden nicht nach ihren Schwächen eingeteilt und dann auf "ihrem Niveau" unterrichtet. Jedem Schüler wird alles angeboten!
Die Grundlage eines integrativen Mathematikunterrichtes ist die offene Lerngruppe. Es gibt keine Leistungsgruppen; die Kinder sollen mit ihren verschiedenen
Fähigkeiten vielmehr mit- und voneinander lernen.
Die Kinder werden immer von 2 - 3 Lehrkräften betreut. Dies ist auch unbedingt notwendig, da wir ja Kinder aller Leistungsgruppen und behinderte Kinder
gemeinsam unterrichten. Gelernt wird manchmal im ganzen Klassenverband, dann wieder in Gruppen oder allein. Aber niemals sind es fixe Gruppen, in die ein
außenstehendes Kind nicht hinein darf!
Die schwächeren Kinder profitieren ungemein davon, zusammen mit sehr guten zu lernen, sie bekommen viel nebenher mit und werden angespornt, mehr zu lernen.
Die leistungsstärkeren Kinder werden zu Helfern für die schwächeren. Und auch dabei lernen die guten Mathematiker etwas: denn wie durchschaut man ein Thema
besser, als wenn man es jemandem anderen erklären muß?
Als die einzelnen Bausteine unseres Unterrichts haben sich folgende Bereiche herauskristallisiert:
Diese Bausteine werden im folgenden erläutert.
Die Schüler sind aus ihrer Volksschulzeit gewöhnt, daß ein Wochenthema in fast allen Unterrichtsfächern behandelt wird.
Es geht also zum Beispiel die ganze Woche um den Herbst:
in Mathematik wird mit Äpfeln gerechnet,
in Deutsch schreibt man Sätze über den Herbst,
in Bildnerischer Erziehung wird ein herbstlicher Baum gemalt,
in Werkerziehung wird ein Drache gebastelt,
in Musikerziehung wird ein Herbstlied gesungen, ... .
Die einzelnen Unterrichtseinheiten verschmelzen zu einem großen Untersuchen und Behandeln eines Themas.
In der Hauptschule ist alles anders.
Der 50-Minuten-Unterrichtstakt wird streng eingehalten. Und in jeder Einheit wird das Kind mit etwas total anderem konfrontiert.
Natürlich ist ein fächerübergreifender Projektunterricht in der Hauptschule schwieriger durchzuführen, doch ist es sicher möglich, das eine oder andere Projekt
gemeinsam durchzuführen.
Ein Beispiel:
6. Schulstufe: Fächerübergreifendes Projekt "GELD"
Eine Woche lang beherrschte dieses Thema die zweite Klasse. Bis auf wenige Ausnahmen gelang es uns in fast allen Fächern, daß sich der Unterricht rund ums Geld
drehte:
in Mathematik: Rechnen mit Währungen, Prozentrechnungen und Schlußrechnungen
in Deutsch: Aufsatzthema "Wenn ich Millionär wäre..."
in Englisch: Das englische Geld
in Bildnerischer Erziehung: Mein eigener Geldschein
in Werkerziehung: Herstellen einer Geldbörse
in Geographie und Wirtschaftskunde: Besuch in einer Bank, Sicherheit der Geldscheine
Im herkömmlichen Mathematikunterricht wie auch im Unterricht in anderen Fächern werden die Lerninhalte und Aufgaben oft in Situationen verpackt, mit denen die
Kinder erst später konfrontiert werden.
Sie wären allerdings viel eher bereit, sich mit dem Stoff auseinander zu setzen, wenn man die Aufgaben mit Themen zu tun haben, die die Kinder momentan gerade
beschäftigen, wie Klassenfahrten, Kinofilme, Modeerscheinungen,... .
Dazu ein Beispiel:
Wir schauten uns in einer Klasse den Film "Herr der Fliegen" an, ein Film, in dem eine Gruppe Jugendlicher nach einem Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel
ums Überleben kämpft.
Im Mathematikunterricht stand zur selben Zeit das Koordinatensystem auf dem Programm. So brachten wir den spannenden Film und die trockene Mathematik unter einen Hut.
Anstatt die Kinder irgendwelche Punkte in ein einfaches Koordinatenkreuz eintragen zu lassen, zeichneten sie alle wichtigen Schauplätze, die im Film vorkamen, in
den Plan ein: die Feuerstelle, die Hütte, ein Grab, ... .
Ich habe in letzter Zeit alle Schulbücher, die ich irgendwie bekommen konnte, gesammelt.
In den verschiedenen Büchern werden die Themen oft in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden behandelt. So findet man für jeden Schüler Aufgaben, die seinem
Wissen und seiner Fähigkeit entsprechen.
Ebenfalls verwende ich die entsprechenden ASO-Bücher. Hier werden die Inhalte einfach und sehr anschaulich erklärt. Das ist oft bei sehr schwachen Kindern eine
große Hilfe, diese Kinder können dann oft Aufgaben aus einem normalen Mathematikbuch bewältigen.
Jede Hausübung ist eine Wiederholung des in der Schule Gelernten. Meine Schüler bekommen jeden Tag eine Aufgabe, die sie nach der Schule lösen müssen. Ich
sehe sehr viele Vorteile in einer täglichen Hausübung:
* Jede Wiederholung trägt zur Festigung des Stoffes bei!
* Die Schüler beschäftigen sich noch einmal mit dem Stoff, der am Vormittag behandelt wurde. Die Zeitspanne, in der sich das Kind nicht mit dem Thema
beschäftigt, wird kürzer, es bleibt gegenwärtiger!
* Durch die tägliche Hausübung stellt sich für die Kinder nicht die Frage, ob sie eine Hausaufgabe haben oder nicht. "Vergessen" wird seltener!
* Die Eltern sehen, daß auch in Integrationsklassen gearbeitet wird! (Allzuoft habe ich schon den Vorwurf gehört, daß man in Integrationsklassen weniger lernt als in
Regelklassen!)
Damit die Kinder die nachmittäglichen Wiederholungen zu ihrer eigenen und zur Zufriedenheit des Lehrers ausführen können, müssen sie natürlich einige
Bedingungen erfüllen:
* Hausübungen müssen kurz und überschaubar sein!
* Die Schüler dürfen aus verschieden schwierigen Übungen auswählen. Jeder macht das, was er schafft! So gibt es keine Ausrede: 'Ich habe mich nicht ausgekannt!'
* Hausübungen werden jeden Tag kontrolliert. Der Schüler muß merken, daß sie dem Lehrer wichtig sind!
Unter dem Motto "Den Schularbeiten den Schrecken nehmen" habe ich versucht, die Schularbeiten für die Kinder möglichst angenehm zu machen, wenn ich schon
auf dieses zweifelhafte Mittel der Wissensüberprüfung nicht verzichten darf.
Die Schüler bekommen eine Woche vor dem Schularbeitentermin einen genauen Übungsplan.
Übungsplan für die 4. M-Schularbeit 4c
27. Schulwoche, vom 11.- 16. März 1996
1. Anwendungen des Pythagoräischen Lehrsatzes
Mathematikbuch, ab Seite 111:
Rechteck: 474, 475, 476, 477, 479, 482
Quadrat: 489, 490, 491, 492, 499
gleichschenkliges Dreieck: 502, 504
gleichseitiges Dreieck: 513, 514, 515
2. Gleichungen
Mathematikbuch, ab Seite 88:
358 - 365, 366, 367, 368, 369 - 371
Arbeitsblatt 'Gleichungen' (Aufgaben mit * ist der schwierigere Zusatzstoff)
3. Kreis - Kreisteile
Kreis:
Formeln für Kreisumfang und Kreisfläche
Umformungen der Formeln für Kreisumfang und Kreisfläche
Mathematikbuch, ab Seite 196:
Umfang: 718, 719, 723.a), 728, 729
Fläche: 747, 749, 751, 752, 760, 761, 762
Kreissektor:
Formeln für Kreissektorumfang und Kreissektorfläche
Mathematikbuch, ab Seite 206:
765, 767, 770.a)b)
Kreisring:
Formeln für Kreisringfläche
Mathematikbuch, ab Seite 208:
771, 773.a)-d), 775
Arbeitsblatt 'Kreis' (Aufgaben mit * ist der schwierigere Zusatzstoff)
Dies ist der Stoff und die dazugehörigen Übungen für die 4. M-Schularbeit.
Die fettgedruckten Aufgaben müssen von allen Schülern gelöst werden können; die normal gedruckten
Aufgaben sind schwierigere Beispiele, für jene Schüler gedacht, die bisher "A-Schularbeiten"
geschrieben haben und natürlich für jene, die nach der Hauptschule eine weiterführende Schule besuchen möchten. Letztere sollten alle Aufgaben lösen können.
Auf den Arbeitsblättern sind jene Übungen ohne * für alle Schüler, die mit * sind wieder Zusatzstoff!
Die Schüler üben die ganze Woche frei und die Lehrer sind da, um Fragen zu beantworten und um zu helfen. Jeder Schüler übt mindestens die fettgedruckten
Aufgaben, wenn möglich auch die dünn gedruckten oder die Aufgaben mit Sternchen.
Bei der Schularbeit gibt es dann drei verschieden schwierige Arbeiten. Jeder Schüler wählt für sich aus, welche Arbeit er versuchen möchte. Und - das hat mich
selbst verwundert - fast alle Schüler wählen die Schularbeit, die sie sich gerade noch zutrauen, und nicht etwa eine möglichst leichte!
Kopfrechnen:
Das Kopfrechnen ist meiner Meinung nach ein Bereich im Mathematikunterricht, der so wichtig ist, daß man fast jeden Tag einige Minuten dafür verwenden sollte.
Ich bevorzuge dabei Kopfrechenspiele, bei denen sich alle Kinder gleichermaßen beteiligen können, ob leistungsstark, schwach oder behindert.
Ein Beispiel: "Kopfrechenfußball"
Folgende Overhead-Folie wird aufgelegt (in Farbe natürlich!):
Auf die Tore des Fußballfeldes werden zwei
Zahlen geschrieben z.B. 28 und 24. Dann wird
die Klasse in zwei Gruppen geteilt,
begabungsmäßig möglichst gleich stark.
Es beginnt jede Gruppe mit den Zahlen von 1 - 9
und den Rechenoperationen +, -, * und :
möglichst viele Rechnungen zu bilden, bei denen
ihr Ergebnis herauskommt. Wer nach einigen
Minuten mehr Rechnungen (also mehr Tore
geschossen) hat, ist Gewinner.
Hier können auch sehr schwache Schüler ihren
Beitrag leisten, z.B. mit Rechnungen wie 6 + 6 +
6 + 6 = 24.
Stärkere Schüler werden vielleicht auf
Rechnungen kommen wie 3*4+2*6=24.
Wir haben unsere Integrationsklassen (3 von 12 Regelklassen an unserer Schule) alle mit 1 bis 2 Computern ausgestattet. Diese nützen wir neben der
Textverarbeitung sehr stark im Mathematikunterricht.
Es gibt mittlerweile eine Fülle von Lernprogrammen, die sich hervorragend dazu eigenen, das Kopfrechen zu trainieren, den Umgang mit Winkeln zu üben oder die
Welt des Bruchrechnens zu durchschauen.
Auch für sehr schwache oder behinderte Kinder gibt es gute Lernprogramme, die durch ihre bunte Aufmachung die Kinder zum Rechnen verlocken. Als ein Beispiel
wären hier die "Budenberg"-Programme zu nennen, die neben Mathematik auch für Deutsch und Englisch reichlich Übungsspiele bieten.
Dies ist eines der wichtigsten Elemente im integrativen Mathematikunterricht. Wir verwenden dazu auch immer mehr Zeit, momentan ist das eine Stunde pro Tag.
Freiarbeit muß allerdings erst gelernt werden. Schrittweise werden die Kinder zu einem selbständigen und verantwortungsbewußten Arbeiten hingeführt. Die Schüler
sollen lernen, daß allein sie für ihren Lernerfolg verantwortlich sind.
Als Einstieg in die freie Arbeit bekommen die Kinder Pläne, auf denen Pflicht- und Wahlaufgaben stehen. Sie können sich aussuchen, wann sie was erledigen.
Später werden die Pflichtaufgaben immer weniger und die Wahlaufgaben immer mehr. Langsam werden die Schüler dahin geführt, sich nach einiger Zeit selbst einen
Wochenplan zu erarbeiten.
Damit das funktionieren kann, muß natürlich ausreichend Lernmaterial in der Klasse vorhanden sein. Wir haben in unsere Schule in den Integrationsklassen 1 - 2
Computer, zahlreiche Lernspiele (selbstgebastelte Rechenpuzzles, Gummispannspiele, LÜK-Kästen, Paletti-Spiele), Mathematikbücher, Karteikästen mit
Arbeitsblättern, usw. Diese Sammlung wird von Schülern und Lehrern ständig erweitert.
Die Aufgaben jeden Spieles werden dann noch in die Freiarbeitsmappe eingetragen - als zusätzliche Festigung und als Kontrolle für den Lehrer.
So lernen die Schüler selbständig zu arbeiten, sich die Zeit gut einzuteilen und anderen zu helfen. Außerdem kann jedes Kind seine eigenen Stärken entdecken und
sich in freigewählten Inhalten vertiefen.
Gibt es einen erfolgversprechenderen Weg, Kinder zum Lernen zu bringen?
Quelle:
Andreas Werth: Prinzipien und Gestaltung eines integrativen Mathematikunterrichtes
Referat am: 11. Österreichischen Symposium für die Integration behinderter Menschen "Es ist normal, verschieden zu sein", Innsbruck, 6.-8. Juni 1996
bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet
Stand: 14.06.2006