Integration in der Hauptschule/AHS

Themenbereiche: Schule, Kultur
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Referat am: 11. Österreichischen Symposium für die Integration behinderter Menschen "Es ist normal, verschieden zu sein", Innsbruck, 6.-8. Juni 1996; Veranstalter: "Tafie - Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung" in Zusammenarbeit mit der "Tiroler Vereinigung zugunsten behinderter Kinder" und dem "Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck".
Copyright: © Roswitha Weingartner 1996

Integration in der Hauptschule/AHS

"Es geht doch um die KINDER!"

sagte der Bär in der Konferenz der Tiere. (Erich Kästner)

Als Volker Schönwiese mich im Frühjahr anrief und bat, über die Erfahrungen und Probleme der Integration in der Sekundarstufe - besonders an der AHS - am Symposium zu berichten, da war meine erste Reaktion: NEIN! ich hab` schon soviel geredet, geschrieben und eigentlich ist die 4. Klasse bald vorbei, der Schulversuch beendet, damit hab`ich nichts mehr zu tun. Mein Augenmerk lag ja schon auf dem "Was dann?", der Schnittstelle Schule/ Weiterführung/ Beruf.

Nach einiger Zeit des Überlegens aber merkte ich, daß ich ja noch mitten drinnen steckte, daß es mir noch einmal ein Anliegen war, über diese intensive Zeit der letzten 4 bzw. 8 Jahre zu sprechen; sei es als Reflexion, Rückschau, Loslassen, sei es als Weitergeben, Vorausschauen, Mutmachen.

Ich erkannte auch, daß der Prozeß der Integration wohl niemals abgeschlossen ist und deshalb soviel mit unserem Leben zu tun hat. Alles ist im Fluß - wir schließen etwas ab und beginnen etwas Neues - wir LERNEN.

Aber alleine wollte ich es nicht machen. Mit Ursl verbindet mich nicht nur die Betroffenheit des Lebensweges als Mutter eines behinderten Kindes und das aktive Einsetzen für Integration innerhalb der Elterninitiativen, sondern auch das gleichzeitige Engagement, eine Intgegrationsklasse an der AHS einzurichten. So starteten wir 1991/92 sozusagen als "Pioniere" in Bruck und in Wien.

Daß sich der mühsame Weg durch den Dschungel der österreichischen Schul- und Gesellschaftspolitik gelohnt hat, zeigt sich daran, daß in der Sekundarstufe die Anzahl der Integrationsklassen , auch an der AHS, ständig zunimmt.

So gibt es heuer in Wien 98 Klassen an der Sekundarstufe, davon 69 an der HS (71%), 18 an der MS (Schulversuch Neue MIttelschule, 18 % ), 6 an der AHS (6%) und 5 am PL(5 %). (Stand Stadtschulrat 1995/96.)

Trotzdem ist Euphorie nicht angesagt, wenn wir uns die Situation der Gesetzesübernahme vor Augen halten, bei der sich viele Fallen und Schlingen und wiederum mühsamer Dickicht bildet.

Durch eine sachliche und mutige, konsequente und optimistische Haltung hoffen wir, gerade auch hier die Weichen für eine positive Übernahme stellen zu können.

Je länger ich mir Gedanken über mein Referat machte , desto mehr kam ich zur Überzeugung, daß nicht trockene Zahlen oder bekannte Fakten den Inhalt bilden sollten, denn dies können Sie (nach)lesen oder erfragen. Spontane Geschichten aus der Praxis und eine kleine Infomappe können das umfangreiche Thema nur ergänzen und die kompetenten Lehrer, Direktoren oder Eltern hier Probleme aus dem HS - Bereich direkt einbringen. Viel wichtiger ist die persönliche Erfahrung und der Entwicklungsprozeß der Lehrer, Eltern und Schüler, aus denen sich hilfreiche Strukturen und Erkenntnisse zur Umsetzung entwickeln können.

Dazu ist ein kurzer Einblick in die Entstehung von Xandis Klasse angebracht.

Diese Klasse war auch als VS Klasse einer der ersten in Wien und schon damals von starkem Engagement gezeichnet. Der Wunsch, auch nach der 4. Klasse zusammenzubleiben, entstand bereits am Ende der 3. Klasse VS und wurde von den Lehrern unterstützt.

Da fast alle Kinder dieser Klasse in eine AHS gehen wollten - vorzugsweise in das Gymnasium Schmelz, als altes Einzugsgebiet dieser VS - entstand die Idee: warum eigentlich nicht an einer AHS?? An der HS wurde Integration schon erfolgreich durchgeführt und die positiven Berichte ermutigten uns, diesen Schritt zu wagen. Es war auch durchaus herauszuhören, daß die HS diese Aufgabe nicht alleine lösen könne und wenn Integration als unteilbar anerkannt wird, keine Schulform auszuschließen sei.

Das neue und revolutionäre in unserem Fall war wohl die Tatsache, daß erstmals sogenannte "geistig" behinderte Kinder ( ich schreibe das deshalb extra unter Anführungszeichen, weil hier der größte Handlungsbedarf einer Sprach - und Menschenbildkorrektur gegeben ist. Xandis GEIST ist ja nicht behindert!) mitgehen wollten . Aber gerade deshalb gingen die Wogen besonders hoch und unser Ansinnen löste ein kleineres Erdbeben in der Schullandschaft aus. An der Schmelz fanden wir ein offenes Ohr und letztlich ein mutiges JA. Der Übergang von der VS in die AHS war spannend wie ein Krimi. Diskussionen, Briefe, Interviews , Sitzungen, Zeitungsartikel, alle angefüllt mit PRO und CONTRA spalteten nicht nur die Schule in 2 Lager.

Da es letzendlich bis zu Juni vor Schulschluß zu keiner politischen Entscheidungsfindung kam und wir nicht wußten wie wir drann waren, gingen wir einfach demonstrieren. Die Schüler malten Traparente und Plakate, die Eltern schrieben einen Brief, schlossen sich mit den Lehrern zusammen und wir marschierten zum damaligen Unterrichtsminister Scholten. Die Kinder fragten und diskutierten mit einer Unbekümmertheit , mit einem Selbstverständnis und umwerfenend einfachen Argumenten, daß selbst der Minister davon berührt war. Den Rest kennen Sie ja. Die "Integrativ- Kooperative Klasse" war mit Bruck/ Steiermark die erste Integrationsklasse mit Kindern verschiedener Behinderungen ( in unserem Fall ein "körperbehindertes", ein "ASO" und 2 "geistig" behinderte Kinder) an einem klassischen Gymnasium. Neben der Hauptschule und dem Schulversuch "Neue Mittelschule" war eine Steinchen mehr im Integrationsmosaik auf der Mittelstufe entstanden und brachte Farbe in die schon reichlich verknöchterte und recht unbewegliche Struktur .

Es waren 4 intensive Jahre. Der Druck waren groß. Ich denke, wir sind unter großen Erwartungen ins Rennen gegangen. Mit vielen Zuschauern. Und wir sind gut angekommen. Wir sind als Mannschaft angekommen. Es ist ein Mannschaftssieg. Wir können die Staffel weitergeben. Wir sind alle an unsere Grenzen gestoßen und haben dennoch oder gerade deshalb gewonnen.

Und wir haben eines erkannt:

Das größte Hindernis ist nicht die Integration an sich , auch nicht die behinderten Kinder, sondern das Schulsystem, die Bürokratie, die Ausbildung der Lehrer, das vorgeformte Menschenbild, die lange Geschichte der Segregation, die geringe Phantasie in unseren Köpfen, unsere Leistungsansprüche, Berührungsängste, Elitedenken und....... nicht zuletzt unsere eigene Persönlichkeit und die damit verbundenen Geschichte.

Denn:

INTEGRATION ERZEUGT VERÄNDERUNG IN JEDE RICHTUNG.

Integration ist etwas DYNAMISCHES.

Und das macht oft ANGST.

Integrationsklassen zeigen Schwächen verschiedener Systeme auf. Wie zum Beispiel die Leistungsgruppen der Hauptschulen. Die Notwendigkeit einer Schule für ALLE im Bereich der 10- bis 14 jährigen. Die Unsinnigkeit der Trennung in HS und AHS reife Kinder. (Denken Sie nur an die vielen Millionen Schillinge, die in Nachhilfestunden schon in den 1.Klassen gesteckt werden ). Die unter den Teppich gekehrten sozialen Probleme der Jugendlichen, wie Drogen, Verhaltensauffälligkeiten, seelische Verarmung,.Schulangst, das Zukurzkommen des sozialen Lernens und des Lernens mit allen Sinnen, des ganzheitlichen Lernens schlechthin, die oft erstarrten Unterrichtsmethoden , das System der Leistungsbeurteilung, die oft spärliche Teamarbeit.

Durch die Anwesenheit der behinderten Mitschüler und eines zweiten Lehrers in der Integrationsklasse ist Umdenken geradezu zwingend erforderlich.

Gerade diese Veränderungen haben in vielen Gesprächen mit Eltern und Lehrern schöne, neue und bewegende Momente ausgemacht, andererseits auch sehr viel Engagement und Anstrengung erfordert.

INTEGRATION erzeugt ÖFFNUNG

Es entstehen nicht nur neuen Lernformen, sondern ebenso neue Beziehungen auf menschlicher Ebene. Zwischen Lehrern und Lehrern, vor allem durch die Teamarbeit und das 2, bzw. 3 Lehrersystem.

Zwischen Eltern und Lehrern durch vermehrtes Zusammentreffen in konfliktreichen wie schönen Situationen.

Zwischen Schülern und Lehrern , die sich in Wechselbeziehung wesentlich ungeschminkter und offener erkennen und begegnen können.

Zwischen Eltern und Eltern durch das Austauschen und Erleben der gemeinsamen Arbeit und dem Bekennen zu einem gemeinsamen Ziel.

Zwischen Schule und Umfeld.

Zwischen Schulen und Schulen. Zwischen Behörden und Eltern/ Lehrern/Schülern.

Neue Versuche machen Mut und setzen erhebliches Potential frei.

Auch und gerade für neue Modelle an der Schnittstelle Schule/ Beruf.

INTEGRATION erzeugt MITEINANDER statt NEBENEINANDER

Ein neues Gefühl der Solidarität und Zusammengehörigkeit entwickelt sich auf den verschiedensten Ebenen.

Ich denke da z. B. an das Zusammentreffen der Klassen Wien - Bruck. Zuerst trafen sich die Lehrer . Dann wurde die Brucker Klasse nach Wien eingeladen. Gemeinsame Aktivitäten wie Schwimmen, Stadtbesichtigung, Einladung in die Schule mit der selbsteinstudierten Aufführung des Musicals " Elisabeth" gemeinsames Grillen, Übernachten bei den Familien der Kinder vertiefte das Miteineander. Umgekehrt lud Bruck die Wiener Klasse ein, bei der die Kinder eine Exkursion zum steirischen Erzberg, eine wunderbare Wanderung in die Bärenschützklamm mit Übernachtung auf der Hütte und wiederum Kontakt zu den Gastfamilien erlebte.

INTEGRATION ermöglicht DAS REVIDIEREN VON VORURTEILEN

und Menschenbildern. Alex , Xandi und Peter haben diese 4 Jahre geholfen aus ihren vorgeformten Bildern herauszugehen und damit Eltern und Lehrern Mut gemacht diesen Weg zu beschreiten.

Auch wenn wir kein Kind mit dem anderen und keine Integrationsklasse mit einer anderen vergleichen können und sollen, so haben sich doch für alle Kinder grundlegende positive Veränderung und Fortschritte ergeben.

Diese müssen wir weitergeben und transparent machen!

Peter lernte in der 2. Klasse Lesen und macht heuer in allen Gegenständen bis auf D, M und E den Hauptschulabschluß. Alex und Xandi haben ungeheure Fortschritte in Schrift und Sprache gemacht. Xandi fährt vollkommen selbständig mit einer Gruppe von Kindern zur Schule und nach Hause. Die Vielfalt der Gegenstände und Themen waren eine große kognitive und emotionale Herausforderung für die Kinder und Lehrer. Auf Grund der anderen Lernformen ( fächerübergreifend und Projektunterricht - das Herzstück , das alles möglich macht!!) konnten auch schwierige Themen ( mit enormen Einsatz des Sonderschullehrers, der überhaupt eine Drehscheibe ist ) auf der jeweiligen Ebene verarbeitet und verstanden worden. (Beispiel : Projekt Krieg und Frieden, Besuch in Mauthausen, Krieg früher -heute, Kriegs- Nachkriegszeit, nachzulesen in unserer Klassenzeitung).

Ist es vermessen, dies alles und noch vieles mehr als ein Verdienst der Integration

zu sehen ?

Die Schule ist ein Schiff, das sehr schwerfällig ist. Ich bin überzeugt, daß die Reise dadurch einfach schneller vor sich geht. Einiges an Ballast ist abgeworfen und neue Mannschaften sind dazugekommen.

Aus vielen Gesprächen mit den Eltern und Lehrern unserer Klasse unter dem Motto " Rosen und Dornen" ist ein großer Blumenstraß entstanden.

Die Rosen waren wohl die vielen Gemeinschaftserlebnisse, das wirklich stattgefundene soziale Lernen von und miteinander, das Sich Wohl Fühlen der Kinder, der natürliche Umgang mit behinderten Menschen, die große Persönlichkeitsentwicklung aller Beteiligten, das vielfältige Bildungsangebot für die behinderten Kinder, das neue und schöne Gefühl der Teamarbeit , das Umsetzen neuer Ideen, großer Einsatz der Beteiligten und noch einiges mehr.

Die Dornen waren wohl das noch recht unbewegliche oft starre (aussondernde) Schulsystem , Überforderung , die noch zuwenig stattfindende Differenzierung und Förderung der Schüler, Frust, mangelnde Anerkennung, die zu hohe und manchmal auch unrealistische Erwartungshaltung , die schwierige und oft zuwenig unterstützte Position des Sonderschullehrers und auch hier noch so manche Dornen mehr.

Dieser Strauß wird wohl in jeder Klasse etwas anders ausschauen.

Daß in der allgemeinen Situation die Dornen überwiegen liegt unter anderem auch an

  • den zu großen Teams

  • Personalproblemen

  • Bürokratie

  • Belastung der HS

  • unbefriedigende Schnittstelle nach der Schule und vieles mehr.

Spezielle die AHS kann als das noch schwierigste Umfeld - (aber mit großen Bemühungen)

gesehen werden : wenig flexibler Stundenplan, kein Einbinden anderer Kollegen (HS) , geringes Umsetzen neuer Lernformen, Elitedenken.....

Vielleicht ist es nun auch wichtig, einige Gedanken weiterzugeben....

Für die Eltern : weniger Druck und Erwartenshaltung und mehr Vertrauen zu den Lehrern.

Für die Lehrer : mehr Transparenz und Gesprächsbereitschaft mit den Eltern.

Für beide : Gemeinsames Erlernen einer Gesprächs- und Streitkultur. Konfliktbereitsschaft. Ertragen von Kritik, Erlernen von Selbstkritik, Staunen und Freude an Fortschritten, Wachsen lassen, mit beiden Beinen in der Realität stehen .

Für die Schüler : Durchschaubare, klare Strukturen und gleiches Recht für alle, d. h. kein Bevorzugen der behinderten Kinder, mehr Übertragen verantwortunsvoller Aufgaben.

Für die politisch Verantwortlichen: Unterstützung, Qualitätssicherung

Für ALLE GEMEINSAM : Erfreuen wir uns vor allem an dem , was gelingt, ohne von unseren "Ideal"vorstellungen abzuweichen. Lassen wir doch Fehler und Rückschläge zu und den Perfektiosnwahn zu Hause!

So möchte ich zu einem Ende kommen und an Ursl das Wort weitergeben, auch wenn die Informationen und das Referat nicht vollständig , unperfekt, eben wie die Arbeit in einer Integrationsklasse ist.

Und die Kinder??

Sie alle lesen diese Artikel nicht, sie brauchen keine Symposium und keine Semiare und haben keine Ausbildung. Sie sind und sie tun. Wenn wir sie lassen.

Sie können unsere großen Helfer sein. Wenn wir sie lassen.

Xandi drückt es eben so aus: " Ich liebe die Schüler und die Schülerinnen!"

Deshalb gilt mein großer Respekt ihnen, nicht nur weil sie unsere Gegenwart mitgestalten , sondern auch unsere Zukunft mitverändern.

In der Konferenz der Tiere von Erich Kästner, in der die Menschen nicht imstande sind Frieden zu machen, beschließen die Tiere, daß es höchste Zeit sei, sich einzumischen. Daraus folgendes Gespräch:

Esel: ( schon leicht enerviert) " Was gehen uns denn die Menschen an? Sollen sie sich doch zugrunde richten, wenn es ihnen Spaß macht!"

Alois, der Löwe: " Die Menschen? Die können uns gestohlen bleiben."

Bär (nachdenklich) " Es geht doch um die Kinder!"

Das Kamel: "He, he, willst du vielleicht sagen, daß du Menschen und Kinder trennst?"

Bär : " Nein. Die Kinder von den Menschen."

In diesem Sinne gehört dieser Applaus den Kindern.

Quelle:

Roswitha Weingartner: Integration in der Hauptschule/AHS

Referat am: 11. Österreichischen Symposium für die Integration behinderter Menschen "Es ist normal, verschieden zu sein", Innsbruck, 6.-8. Juni 1996

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 04.05.2006

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