Differenzierte Hilfe für Menschen mit Behinderungen in Oberösterreich (1918-1938)

Autor:in - Angela Wegscheider
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Artikel
Copyright: © Angela Wegscheider 2016

Abbildungsverzeichnis

    1 Disability History

    Leben mit Behinderung wurde bislang von der historischen Forschung kaum beachtet.[1] Es finden sich bislang vereinzelt (Selbst-)Darstellungen von Einrichtungen der Behindertenbetreuung, wie im Rahmen von Chroniken oder Jubiläumsschriften. Sie geben uns wenigstens etwas Auskunft über das Leben von Menschen mit Behinderungen in Versorgungseinrichtungen.[2] Zumindest die Vernichtung von Menschen mit Behinderungen und psychisch kranken Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus wurde in Österreich seit den späten 1970er Jahren zum Objekt der historischen Forschung. Die Situation dieser Menschen in der Zeit davor, so auch während der Monarchie, und in den Jahrzehnten nach 1945 – samt den zahlreichen Kontinuitäten – fand hingegen kaum Eingang in die historische Forschung.[3] Dieser Artikel versucht, diese Lücke zumindest für die Zeit der Ersten Republik zu schließen und einen Überblick über die Lebenssituation und die Versorgung von Menschen mit Behinderungen in Oberösterreich zu geben. Die Situation und Versorgung von kriegsversehrten Menschen findet Erwähnung, aber auf eine intensivere Auseinandersetzung mit dieser Thematik wird zugunsten des gewählten Fokus, der Erforschung der institutionellen Versorgung von Personen, die ihre dauerhaften Beeinträchtigungen nicht im Krieg erworben haben, verzichtet.

    Dem Beitrag liegt der Ansatz der Disability Studies zugrunde, dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen, die langfristige körperliche, psychische, intellektuelle oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht. Diese Verbindung kann die betroffenen Menschen an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Dieser Ansatz fand Eingang in die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen.[4] Die Unterscheidung, Ausgrenzung und Beschränkung aufgrund von Behinderung hängt weit weniger als landläufig angenommen von den individuellen Beeinträchtigungen ab, sondern ist, so der Leitgedanke der Disability Studies, vielmehr in Zusammenhang mit rechtlichen, sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen und im eingeschränkten Zugang zur gesellschaftlichen Partizipation zu sehen.[5] Die defizitorientierte und somit abwertende Sprache dieser Zeit ist bezeichnend für den medizinisch- und objektbezogenen Umgang mit dem Phänomen Behinderung. Beispielhaft waren häufig verwendete Begrifflichkeiten wie „kriegsbeschädigt“ oder „kriegsinvalid“. Aber auch „schwachsinnig“ oder „idiotisch“ kamen vor. Sie wurden von medizinischen Diagnosen abgeleitet, die sich in pejorativer und pathologischer Weise auf die individuelle Beeinträchtigungen beziehen. Die Autorin distanziert sich von diesen Begriffen und verwendet sie nur, wenn es nötig ist. Es wird versucht, soweit als möglich die betroffenen Menschen als Subjekte darzustellen und sich zugleich von den traditionellen Erfolgsgeschichten der Medizin, des Bildungswesens, der sozial-karitativen Einrichtungen und der staatlichen Sozialleistungen zu lösen. [6].

    In einem ersten Schritt werden die speziellen Rahmenbedingungen herausgearbeitet und damit Einblicke in Lebens- und Bildungssituation von Menschen mit Behinderungen gegeben. In einem zweiten Schritt wird das Leben von Menschen mit Behinderungen in den oberösterreichischen Versorgungsstrukturen und der Betreuung dargestellt. Der vorliegende Artikel erläutert, wer sich für die Betreuung zuständig fühlte, nach welchen Paradigmen gehandelt wurde und wie das Alltagsleben in den Einrichtungen, die sich in der Ausrichtung und Zielsetzung unterscheiden, ausgestaltet war.

    Der Beitrag legt, sofern dies die Quellenlage zulässt, die als ambivalent zu beurteilenden (Aus-)Wirkungen der Versorgung dar. Von den betroffenen Menschen selbst wissen wir nur wenig. Ihre schriftliche Hinterlassenschaft beschränkt sich auf Ansuchen um Hilfe.[7] Schriftliche Quellen, die zumeist von Institutionen der Betreuung und von der öffentlichen Verwaltung stammen, enthalten kaum Angaben, die die jeweilige Person und ihre konkrete Lebenssituation sichtbar werden lassen. Die Quellen wurden zweckgebunden erstellt und geben meist den Blick von Institutionen oder von professionellen Helfern auf die betroffenen Menschen wieder. Nicht zuletzt wollten sie die Allgemeinheit zum Spenden für die in diesem Feld tätigen karitativ tätigen Vereine animieren.



    [1] Vgl. Plangger, Sascha – Schönwiese, Volker: Behindertenhilfe – Hilfe für behinderte Menschen? Geschichte und Entwicklungsphasen der Behindertenhilfe in Tirol. In: Schreiber, Horst: Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol (Innsbruck 2010) 327–346, hier 327

    [2] Siehe beispielsweise: Rösner, Franka: „Im Dienste der Schwachen“ Die Samariterstiftung zwischen Zustimmung, Kompromiss und Protest 1930-1955 (Nürtingen 2011)

    [3] Eine positive Ausnahme stellt dar: Aus der Schmitten, Inghwio: Schwachsinnig in Salzburg. Zur Geschichte einer Aussonderung (Salzburg 1985), URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/schmitten-schwachsinnig.html (06.12.2015)

    [4] Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Hrsg.): UN-Konvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und Fakultativprotokoll (Wien 2011) 2 und 7

    [5] Disability Studies ist ein trans- und interdisziplinärer Forschungsansatz mit emanzipatorischer Ausrichtung. Im Gegensatz zur traditionellen medizinischen Annäherung an Behinderung setzen sich Forschende, die im Sinne der Disability Studies arbeiten, mit den als behindert eingeordneten Menschen und mit den damit einhergehenden komplexen Benennungs- und Ausgrenzungsprozessen auseinander (vgl. Goodley, Dan: Disability Studies. An Interdisciplinary Introduction (London 2011). Siehe auch Bösl, Elsbeth – Klein, Anne – Waldschmidt, Anne (Hg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte (Bielefeld 2010) und Schmuhl, Hans-Walter – Winkler, Ulrike (Hg.): Welt in der Welt. Heime für Menschen mit geistiger Behinderung in der Perspektive der Disability History (Stuttgart 2013).

    [6] Bösl, Elsbeth: Dis/ability History: Grundlagen und Forschungstand. In: H-Soz-u-Kult, 07. Juli 2009, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009-07-001 (abgerufen am 6. Jänner 2015)

    [7] Z.B. OÖLA, Landesausschuss ALG IV, Sch. 470: Zl. 2105-2390, Ansuchen von Maria Kroiß an die oö. Landesregierung (Brief vom 29. November 1929)

    2 Hilfe im rudimentären Sozialstaat

    Das Auftreten von Behinderung ist nicht an die soziale Klasse gebunden, aber Behinderung und Armut stehen in einer eindeutigen Wechselwirkung. Faktoren der Armut spielen eine wesentliche Rolle für die Entstehung von Behinderung und das Vorliegen einer Behinderung führt zu erhöhtem Armutsrisiko.[8] Insbesondere ohne die ausgleichenden Assistenz- und Transferleistungen des Wohlfahrtsstaates, so aktuellen Daten über Einkommen und Lebenssituation, sind auch in Österreich Menschen mit Behinderungen verstärkt dem Risiko der Armut und sozialen Ausgrenzung ausgesetzt.[9]

    Die Zeit des Ersten Weltkrieges und die darauf folgende Nachkriegszeit waren geprägt von großer Not breiter Bevölkerungsgruppen. Armut, schlechte und unsichere Arbeits- und Lebensbedingungen machten und machen krank und verstärken das Risiko, dauerhafte Beeinträchtigungen zu erwerben. Konkret stellten Hunger und Mangelernährung, mangelnde Hygiene und fehlende ärztliche Versorgung, Kinderkrankheiten, harte und gefährliche Arbeit, sowie Gewalt für Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene - im Besonderen für schwangere Frauen und ihre ungeborenen Kinder - zahlreiche Risiken dar, Körper und Psyche dauerhaft zu „beschädigen“. Auch viele Arten von sozialer Vernachlässigung müssen in Betracht gezogen werden: Manche Kinder wurden beispielsweise mit Suchtmitteln ruhig gestellt oder waren den ganzen Tag alleine und am Tischbein angebunden. Körperliche, intellektuelle, psychische und Sinnes-Beeinträchtigungen waren entgegen der landläufigen Meinung weniger erblich bedingt, sondern wurden im Laufe der Geburt, der Kindheit, im Erwerbsleben und im Alter durch die vorherrschenden Lebens- und Arbeitsumstände, Krankheiten und Unfälle erworben.[10]

    In Notzeiten verbreiteten sich auch wieder Infektionskrankheiten: Im November 1919 verlautbarte die oö. Landesregierung aufgrund des erhöhten Auftretens die Meldepflicht von spinaler Kinderlähmung.[11] Diese virale, höchst ansteckende Entzündungskrankheit des Rückenmarks konnte zu dauerhaften körperlichen Beeinträchtigungen führen. Den Schutz durch Impfung gab es noch nicht. Der Historiker Norbert Ortmayr macht auf das gemeinsame Auftreten hoher Zahlen an „Taubstummen, Blinden und ‚Cretinen‘“ bei Kost- und Ziehkindern und einer hohen Ledigenrate in bestimmten Regionen aufmerksam. Schon zeitgenössische Studien, so analysierte Ortmayr, vertraten die Ansicht, dass der Jodmangel im Wasser nicht der alleinige Grund für ein gehäuftes Auftreten von behinderten Menschen sein konnte. Sie verwiesen schon auf den kausalen Zusammenhang zwischen Beeinträchtigung und den vorherrschenden schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen.[12]

    2.1 Eigene Erwerbstätigkeit und Versorgung in der Familie

    Menschen mit Behinderungen waren durch den rudimentären Sozialstaat, erkennbar durch fehlende staatliche Sozialleistungen, darauf angewiesen, einer eigenen Erwerbstätigkeit nachzugehen und selbstständig oder mit Unterstützung der Familie und Nachbarn zu leben. Es ist anzunehmen, dass viele Menschen mit Behinderungen einer eigenen Erwerbstätigkeit nachgingen und somit mit ihrem Einkommen für ihren Lebensunterhalt sorgten. Nur wenn sie erwerbsunfähig waren oder keine Arbeit fanden, wurden sie in der Familie versorgt. Sie kamen im Vergleich zu heute viel weniger mit der öffentlichen Fürsorge in Kontakt, denn die Familie war der traditionelle Schutzverband im Falle von Alter, Krankheit, Not und Behinderung.

    Beispielhaft war die Situation der Aloisia (Loisi) Leit(h)enmüller (geb. 1926) aus Kleinzell im Mühlkreis. Sie war seit frühester Kindheit hochgradig schwerhörig und kommunizierte nicht verbal. Sie konnte sich mit der Familie „ein bisschen verständigen“[13]. Die Leitenmüllers lebten in Einzellage abseits vom geballten Siedlungsgebiet auf einem „kleinen Sacherl mit zwei Kühen, einer Sau und ein paar Hühnern“[14]. Der Vater arbeitete im Sommer als Strohdachdecker, im Winter flocht er Körbe, schnitzte Holzschuhe und band Besen. Der Vater wie auch Frau und Kinder hatte keine Krankenversicherung, da der Ernährer selbständiger Tagelöhner war. Die Geschwister von Loisi schätzen heute ihre wirtschaftliche Lage damals als durchschnittlich ein. „Man war nicht reich, galt aber auch nicht als sehr arm.“[15] Mit der öffentlichen Fürsorge kamen die Leitenmüllers nicht in Berührung. Aloisa Leitenmüller besuchte auch keine Schule. Ein Schulbesuch wurde nicht versucht, denn sie hätte den Fußmarsch nicht bewältigen können, so die beiden Schwestern. „Loisi war als Kind schlecht zu Fuß. Plattfüße hat sie gehabt.“ Der Fußmarsch dauerte ca. eine Stunde um in die nächstliegende Ortschaft Neufelden zu gelangen, zu dessen Schulsprengel und Pfarrgemeinde das kleine Haus gehörte. Das Mädchen erhielt auch keine Erstkommunion und besuchte wegen dem langen Fußmarsch nicht regelmäßig die Kirche. Das Kind Aloisia Leitenmüller lebte und arbeitete relativ selbstständig im familiären Umfeld. Sie erledigte kleinere Arbeiten wie z.B. den Tisch decken und wieder abräumen sowie Holz holen.[16]

    Problematisch für die Familie als auch die Gesellschaft war der Umgang mit Personen, die einen sehr hohen Unterstützungsbedarf hatten, ein pathologisches oder aggressives Sozialverhalten zeigten oder mit stigmatisierenden Beeinträchtigungen wie mit Epilepsie und intellektueller Beeinträchtigung lebten. Oder wenn die Familienangehörigen sich nicht der Versorgung annehmen konnten oder wollten. Hier agierten der Staat und die Gesellschaft hilflos, wie die Gründungsmotivation für die „Idioten- und Kretinenanstalt“ Hartheim verdeutlicht, worauf in diesem Artikel noch eingegangen wird.

    2.2 Zuordnung zum Armenwesen

    Mit dem Thema Behinderung setzte sich die junge Republik vorerst – außer bei der Versorgung der kriegsversehrten Männer – nicht auseinander. Es gab weder allgemeine öffentliche Sozialleistungen im Falle von Behinderung, noch genügend Plätze in privaten Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Für die sozialdemokratisch dominierte Bundesregierung hatte von 1918 bis 1920, einer Phase reger Arbeits- und Sozialgesetzgebung, die Entwicklung der Gesetze zum Schutz und zur Sicherheit der erwerbstätigen und kriegsversehrten Bevölkerung Priorität, nicht zuletzt um die politische Stabilität zu sichern. Die 1920 in Kraft getretene Bundesverfassung orientierte sich in der Kompetenzverteilung am Grundgesetz über die Reichsvertretung von 1867. In Artikel 11 wurde festgehalten wofür die Reichsvertretung zuständig war, alle in Artikel 11 nicht genannten Politikfelder wurden durch Artikel 12 den Ländern zugeordnet.[17] Der Kompetenzbereich Behinderung fand hier, wie auch in den später folgenden Verfassungsänderungen, keine explizite Erwähnung. Die Festschreibung der Kompetenzen im Jahr 1925 übertrug das Arbeitsrecht, einen Großteil der Gesundheitsversorgung und die Fürsorge für die „Kriegsbeschädigten“, so der zeitgenössische Rechtsterminus, dem Bund.[18] Die Bundesverfassung von 1929 überließ das Armenwesen, Mutterschafts-, Säuglings- und Jugendfürsorge, Volkspflegestätten, Heil- und Pflegeanstalten durch Artikel 12 nun endgültig in Gesetzgebung und Vollziehung den Ländern. Die fehlende eindeutige Nennung und Zuordnung hemmte die Entwicklung eigener gesetzlicher Bestimmungen für die Versorgung aufgrund von Behinderung bis heute.[19]

    Notleidende, erwerbsunfähige Menschen mit Behinderungen wurden an das Armenwesen, für das primär die Gemeinde zuständig war, verwiesen. Die kommunale „Armenpflege“, so ein zeitgenössischer Begriff, war determiniert durch die Gebietszugehörigkeit der Person und subsidiär organisiert. Dem Heimatrechtsprinzip zufolge musste jene Gemeinde, in der die hilfesuchende Person das Heimatrecht hatte, für die Unterstützung oder Versorgung aufkommen. Das Heimatrecht wurde durch Geburt, Verehelichung, durch einen ununterbrochenen zehnjährigen Aufenthalt in einer Gemeinde oder durch Ausübung bestimmter Berufe erworben.[20] Eine Leistung aus der Armenversorgung erhielt nur jemand, der sich nicht selbst helfen konnte oder die erforderliche Hilfe nicht von einer anderen dazu verpflichte Stelle, z.B. durch die gegenseitige Fürsorgepflicht in der Familie, geregelt im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, erhielt. Bei notleidenden und erwerbsunfähigen Menschen musste die Heimatgemeinde Nahrung, Kleidung, Wohnraum und Krankenversorgung bereitstellen, wie auch die Beerdigung übernehmen. Bei Kindern hatte die Gemeinde für die Erziehung zu sorgen. Auf die Ausgestaltung der Maßnahmen hatte der Arme selbst keinen Einfluss.[21] Dieses basale Versorgungssystem organisierte kaum medizinische oder berufliche Rehabilitation, noch mussten adäquate Behelfe wie z.B. Rollstuhl oder Prothesen zur Verfügung gestellt werden. Oft blieb bei Mittellosigkeit und im Falle der Unfähigkeit sich selbst versorgen zu können, nur noch die Option Übersiedlung ins Armenhaus übrig. Die Unterbringung im Armenhaus konnte mit schlechter Kost und Logis, mit Verwahrlosung, Fremdbestimmung und mit sozialer Ausgrenzung verbunden sein.[22] Neben alten Erwerbsunfähigen wurden dort auch junge erwerbsunfähige Menschen untergebracht.[23]

    Ein Bericht aus dem oberösterreichischen Landtag informiert, dass von den 857.234 Einwohnern Oberösterreichs 17.350 (2%) als „Gemeindearme“ registriert waren (Stand 31.12.1919). Davon wurden 4.820 Personen als gänzlich erwerbsunfähig eingestuft, von diesen hätten 1.820 den Bedarf einer „besonderen Pflege“ gehabt. Von den 504 eigenständigen oberösterreichischen Gemeinden betrieben 227 ein Armenhaus. Einige Gemeinden hatten gar nur Häuser oder Wohnungen als Notunterkünfte angemietet. Eine volle Versorgung oder gar Pflege war in den Armenhäusern nicht selbstverständlich: „In 103 von den 227 Gemeindearmenhäusern erhalten die Insassen volle Verpflegung, in 48 teilweise Verpflegung und in den übrigen 76 nur Wohnung, allenfalls auch Licht und Beheizung.“[24] In 61 Gemeinden befanden sich auch private Armenhäuser bzw. Versorgungsanstalten, die von nicht-öffentlichen Trägern (Bürgern, Pfarrgemeinden oder Stiftungen) geführt und erhalten wurden. In einigen öffentlichen, aber insbesondere in den Einrichtungen der freien Wohlfahrt führten christliche Kongregationen (zumeist Schwesternkongregationen) die Anstalt. Häufig waren es Barmherzige Schwestern vom Heiligen Vinzenz zu Paul, aber auch Barmherzige Schwestern vom Heiligen Kreuz und andere.[25]

    Der Bericht über die Armenversorgung führt „bedeutende private Anstalten“ an: „das Katholische Waisenhaus in Linz, die Anstalten des seraphischen Liebeswerkes, die Privat-Blindenlehranstalt und die Blinden-Beschäftigungs- und Versorgungsanstalt in Linz, die Taubstummenlehranstalt in Linz, das Taubstummen-Blindenheim in Raab, die Erziehungsanstalt ‚zum guten Hirten‘ in Linz, das Haus der Barmherzigkeit in Linz, die Anstalten des Vinzentiusvereines und die Idioten- und Kretinenanstalt in Alkoven bei Linz“.[26] Fast alle genannten Einrichtungen versorgten unter anderem oder ausschließlich Menschen mit Behinderungen. Ihre Aufzählung im Bericht über das Armenwesen verdeutlicht den auch in der Verwaltung bestehenden Zusammenhang in der Versorgung von Menschen mit Behinderungen und dem Armenwesen. Viele der privaten Anstalten wurden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder am Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet. Ihre Träger waren private Vereine, ihre Mitglieder waren oftmals Männer aus dem niederen Adel, dem Bürgertum und vor allem dem Klerus. Das neue Vereinsrecht von 1867 erleichterte die Gründung und Finanzierung privater Vereinigungen, die mit spezialisierten Versorgungseinrichtungen diese Versorgungslücke schließen wollten. In vielen Fällen übernahmen Priester die operative Leitung der privaten Anstalten, Ordensschwestern die leibliche und pflegerische Versorgung sowie Bildung oder Ausbildung. Die Familien oder im Armutsfalle die Heimatgemeinde zahlte der Anstalt ein Pflegegeld.

    Im gemeindeeigenen Armen- oder Versorgungshaus konnten vom Armenrat, der Kontroll- und Entscheidungsbehörde der Gemeinde für das Armenwesen, vor allem jene Menschen untergebracht werden, „die einer häuslichen Pflege entbehren und die wegen Alters, Krankheit und des Schwachsinns oder aus anderen Gründen einer besonderen Pflege bedürfen, sich mit monatlichen Unterstützungen nicht fortbringen können und sich für die Einlage nicht eignen“[27]. Die Bewohner der Armenhäuser waren aufgrund von Alter, Krankheit oder Behinderung erwerbsunfähig. Die Armenhäuser wurden zunehmend zu Versorgungshäusern mit Hilfe von dafür beauftragtem Personal, die Vollversorgung und Behindertenhilfe, Kranken- und Altenpflege bereitstellten.

    In 325 Gemeinden gab es noch das System der „Einlage“ mit 977 Einlegern, wobei diese Versorgungsmöglichkeit bereits heftig kritisiert wurde und sich viele Gemeinden dezidiert gegen die Einlage als Versorgungsoption aussprachen.[28] Durch das oberösterreichische Landesarmengesetz waren „a) Kinder unter 14 Jahren; b) Irrsinnige, blinde und krüppelhafte Menschen, die durch ihre Leibesgebrechen in der freien Bewegung gehindert sind; c) Eheleute […] d) Arme, die mit einer ekelhaften oder ansteckenden Krankheit behaftet sind“ von der Einlage ausgenommen.[29] Nicht zuletzt war als eine zusätzliche Versorgungsmöglichkeit den „Gemeindearmen“ in 243 oberösterreichischen Gemeinden offiziell das Betteln an gewissen Tagen der Woche oder des Jahres erlaubt.[30]

    Schon in der Monarchie funktionierte das tradierte System der Armenversorgung, im Speziellen für die Versorgung von Menschen mit Behinderungen, nicht bzw. nicht mehr.[31] Bis zum Ende der Ersten Republik lassen sich, außer in der Versorgung jener Menschen, die im Krieg durch militärische Handlungen eine dauerhafte Beeinträchtigung erworben haben, keine großen Neuerungen verzeichnen.

    2.3 Versorgungsleistungen für die „Kriegsbeschädigten“

    Der Erste Weltkrieg mit seiner hohen Opferzahl markierte österreichweit einen Wendepunkt in der Versorgungs-, Fürsorge- und Behindertenpolitik, was nachhaltige und tiefgreifende Auswirkungen auf die Gestaltung des Sozialstaats hatte.[32] Der Sammelbegriff „Kriegsbeschädigte“ wurde in juristischen Texten für alle Opfergruppen – Kriegsinvalide selbst als auch Opferangehörige und Hinterbliebene - verwendet. Der ältere Begriff der Invaliden entstammt der militärischen Sprache und meinte der Soldat ist für militärische Zwecke wertlos und für den Militärdienst untauglich geworden.[33]

    Insgesamt, so wurde geschätzt, waren ca. 530.000 Menschen (100.000 Kriegsinvalide, 80.000 Kinder von Invaliden, 125.000 Witwen und 225.000 Kriegswaisen (Kinder, die zwar noch eine Mutter, aber keinen Vater mehr hatten)), d.h. etwa 8% der Bevölkerung Deutschösterreichs zu versorgen.[34] Innerhalb der Grenzen von Österreich lebten 1923 über 6,5 Millionen Menschen. Angesichts der großen Anzahl der zu versorgenden Menschen versagte das System der Armenversorgung auf Basis des Heimatrechtes und privater Wohltätigkeit rasch. Viele kriegsversehrte Menschen litten große Not, was die revolutionäre Stimmung zusätzlich anheizte. So versammelten sich in Wien am 13. April 1919 unter kommunistischer Führung Kriegsinvalide, Heimkehrer und Arbeitslose und demonstrierten für eine bessere Versorgung und eine Erhöhung der Geldleistungen. „Die Stimmung war eine äußerst erregte“, berichtete die Tagespost von dem Ereignis am Tag danach.[35] Auch in Linz, wenngleich zeitlich später, fanden Demonstrationen von kriegsversehrten Menschen statt. Die erste Zeit nach dem Krieg kennzeichnete eine Phase großer Unruhe unter den Kriegsbeschädigten, wie unter der Bevölkerung Deutschösterreichs.

    Durch die große Not und durch den Druck der organisierten Interessen von den „beschädigten“ Kriegsheimkehrern verfestigte sich die Auffassung schon während des Krieges, dass es Aufgabe des Staates sei, jene Menschen besonders zu unterstützen, deren Beeinträchtigung in der „Verteidigung des Vaterlandes“ erworben und als etwas „Ehrenhaftes“ angesehen wurde.[36] Es entstand eine äußerst mächtige Invalidenbewegung, gekennzeichnet durch einen hohem Organisierungsgrad, in der Kriegsbeschädigte selbst ihre Stimme erhoben und partizipativ an gesetzlichen Regelungen mitwirkten. Die Grundzüge der österreichischen Kriegsopferversorgung waren schon in den Jahren 1914 bis 1938 festgelegt worden, wo sie vor allem noch durch das Verteidigungsministerium organisiert war. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Versorgung dieser Bevölkerungsgruppe dem Sozialministerium übergeben, in die Zielverwaltung überführt und vor allem in den ersten Nachkriegsjahren ausgebaut.[37]

    Das Kernstück dieser neuen Versorgungsmaßnahmen war das im März 1919 erlassene Invalidenentschädigungsgesetz[38] für die Versorgung der kriegsversehrten Soldaten und der hinterbliebenen Witwen und Waisen. Das Invalidenentschädigungsgesetz ging neue Wege, es normierte die Kriegsopferversorgung bundeseinheitlich und machte daraus einen Rechtsanspruch. International war Österreich damit Vorreiter. Die sogenannte Kriegsinvalidenfürsorge bot „1. Heilbehandlung. 2. Körperersatzstücke und orthopädische Behelfe. 3. Unentgeltliche berufliche Ausbildung zur Wiedererlangung oder Erhöhung der Erwerbsfähigkeit. 4. In gewissen Fällen ein Krankengeld für die Zeit der Heilbehandlung, bzw. Ausbildung, wenn diese eine Erwerbstätigkeit ausschließt. 5. Die Invalidenrente. Für den Fall des Todes des Kriegsbeschädigten werden geleistet: 1. Ein Sterbegeld. 2. Eine Hinterbliebenenrente.“[39] Ein Unterschied zur Krankenversicherung bestand darin, dass die Heilbehandlungen nicht für eine gewisse Höchstdauer, sondern so lange gewährt wurden, als von ärztlicher Seite für notwendig befunden wurden.[40] Ein inhaltliches Novum war auch, dass nun die Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit und die soziale und wirtschaftliche Reintegration verletzter Soldaten in das Zivilleben im Mittelpunkt standen.[41] Das Invalidenentschädigungsgesetz sollte primär Kriegsopfer sozial unterstützen und durch Rehabilitation wieder dazu befähigen, einen Beruf auszuüben.

    Viele im Weltkrieg beteiligte Länder führten neue Unfall- und Militärversorgungsgesetze ein, in deren Zentrum die ärztlich beurteilte bürgerliche (= berufliche) Erwerbsunfähigkeit, die im Zuge der Kriegsdienstleistung entstand. „Entschädigt werden nur die wirtschaftlichen Folgen der Kriegsbeschädigung, nicht die Verwundung an sich oder die erlittenen Schmerzen, nicht Beschwerden an sich oder dergleichen.“[42] Besondere Berücksichtigung bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit (diese wurde mit =100 festgesetzt) fanden der Berufsstand bzw. die frühere Berufsausübung und Möglichkeiten zur beruflichen Rehabilitation.[43] Jedoch funktionierte die Ausbezahlung der Invalidenrente sehr schlecht. Die Behörden waren mit der Administration der neuen und gleichzeitig der alten Militärversorgungsgesetze völlig überfordert. Das Invalidenentschädigungsgesetz wurde seit der Einführung in der Ersten Republik viele Male novelliert, aus budgetären Gründen leider nicht immer zum Vorteil der Leistungsempfänger.[44]

    Die Lebens- und Arbeitsbedingungen für die „kriegsbeschädigten“ Menschen blieben trotz der gesetzlichen Leistungen schlecht und Kriegsopferverbände riefen immer wieder zu Protesten auf. Besonders auf die 1919 einsetzende Hyperinflation wurde in den Augen der Bevölkerung viel zu spät reagiert. In Linz fand am 28. April 1920 eine Demonstration von Kriegsinvaliden aus den Schulungsheimen Petrinum[45] und Garnisonsspital statt, wobei die Demonstranten auch einen Teil des oberösterreichischen Landhauses besetzten. Sie forderten aufgrund der zunehmenden Entwertung der Renten durch die Inflation „eine Teuerungszulage von je 500 K[ronen] und die sofortige Ausfolgung von Bekleidungsstücken“, da in Wien bereits Kleidung verteilt worden wäre. Die Verhandlungen mit oberösterreichischen Regierungsvertretern verliefen relativ friedlich, bis Erdarbeiter „ausgerüstet mit Schaufeln und Krampen, unter Absingen eines Kommunistenliedes“ ebenfalls aufmarschierten. Man einigte sich, auch mangels Zuständigkeit der Landesregierung, die Forderung der Demonstranten beim Staatsamt für soziale Fürsorge zu unterstützen.[46]

    Fast alle Ansuchen um Voll- oder Teilrente waren erst 1923 unter Berufung auf das Invalidenentschädigungsgesetz abgeschlossen. Von den 200.000 bearbeiteten Ansuchen auf Invalidenrente – in Oberösterreich waren es 26.500 – wurden bis 1923 144.916 anerkannt und 54.314 abgewiesen. Leichtversehrte Personen wurden mit einem einmaligen Geldbetrag zwangsweise abgefertigt.[47] Die Zahl der Leistungsempfänger erhöhte sich im Laufe der 1920er Jahre leicht: Im Jahr 1928 bekamen 161.371 und im Jahr 1934 164.708 Personen eine Leistung im Sinne des Invalidenentschädigungsgesetzes. Die Anspruchsberechtigten bekamen je nach Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit eine in fünf Stufen konzipierte Rente.

    Abbildung 1. Abb: Inanspruchnahme der Invaliditätsrente

    Abb: Inanspruchnahme der Invaliditätsrente

    Quelle: Bundesamt für Statistik (Hg.): Statistische Nachrichten 8. Jg. (Wien 1935) H. 11, 242

    Insgesamt wurden 1928 54.800 Renten im Sinne des Gesetzes ausbezahlt, 1923 waren es nur 42.194, 1934 dagegen 57.544 Renten. Der Zuwachs der Rentenbezieher erklärt sich dadurch, dass sich bei vielen Personen, deren Erwerbsminderung mit unter 35% eingeschätzt wurde, die dauerhaften Beeinträchtigungen aus den erlittenen Kriegsverletzungen im Laufe der Zeit verschlechterten. Zusätzlich zu den Renten bekamen noch, wie der Tabelle zu entnehmen ist, blinde und als völlig hilflos eingeschätzte Personen Zuschüsse.[48] Die Invaliden-Entschädigungs-Kommission für Oberösterreich in Linz (Adlergasse 1, ab 1936 Blumauerstraße 2), der auch ein Schiedsgericht beim Landesgericht zu Seite gestellt war, administrierte für den Bund die Organisation der Entschädigungen (die Übernahme von Heilbehandlungen, die Auszahlung von Krankengelder, die Förderung von Körperersatzstücken und orthopädischen Behelfen und die Übernahme der berufliche Rehabilitation) und die Berechnung und Auszahlung von Invaliden- und Hinterbliebenenrenten. 1935 wurde die Bundesbehörde in Landes-Invalidenamt umbenannt und stellte damit die Vorgängerbehörden des Bundessozialamtes und heute als Sozialministeriumsservice benannten Behörde dar.[49]

    Im Oktober 1920 wurde das Invalidenbeschäftigungsgesetz ergänzend beschlossen, das Unternehmen zur Einstellung kriegsversehrter Menschen verpflichtete.[50] Dieses Gesetz kannte bereits eine Beschäftigungsquote und die Vorschreibung einer Ausgleichstaxe bei Nichterfüllung. Es war der Versuch Wirtschaft und Industrie in die Pflicht zu nehmen, sie zu zwingen sich aktiv an der Kriegsbeschädigtenversorgung zu beteiligen. Die Kriegsinvaliden sollten nicht in Ersatzarbeitsmärkte wie eigene Invalidenwerkstätten, die es damals schon gab, abgeschoben werden, sondern durch „Invalidenposten“ sollte die Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtert werden. Im Deutschen Reich gab es schon seit Anfang 1919 ein solches Gesetz. Österreich ging mit der Einführung der Ausgleichstaxe, was eine leichtere Bestrafung bei Nicht-Erfüllung bedeutete, durch den Zugang auch für geringer beeinträchtigte Kriegsinvalide wie auch durch die Festlegung auf 20 bzw. 25 Beschäftigte pro Arbeitsplatz für einen Kriegsbeschädigten eigene Wege. Es gab zahlreiche Widerstände, nicht nur wie erwartet von Unternehmer-Seite, auch die Kriegsinvalidenorganisationen klagten über Unzulänglichkeiten der Regelungen. Manche beklagten sich über die zentrale Rolle der amtlich bestätigten Minderung der Erwerbsfähigkeit und der, wie sie meinten, zugleich damit verbundenen Abwertung der verbliebenen Arbeitsfähigkeit, die unabhängig von der Kriegsverletzung sein konnte. Die juristische Textierung war streckenweise unklar und die ausführenden Behörden waren mit der Administration völlig überfordert. Das Gesetz blieb zahnlos und brachte nicht den erwarteten Erfolg. Dennoch nahm dieses Gesetz zentrale Regelungen des späteren Bundes-Behinderteneinstellungsgesetzes[51] und der österreichischen Beschäftigungspolitik von Menschen mit Behinderungen vorweg.

    Trotz der neuen Kriegsbeschädigtenversorgungsgesetze blieb die Armut der Kriegsopfer groß. Das Invaliditätsentschädigungsgesetz sah zu geringe finanzielle Leistungen vor, die durchwegs niedrigen Renten konnten das Überleben kaum sichern und spätestens ab 1923 wurde der Zugang zu Leistungen restriktiver. Auch das Invalidenbeschäftigungsgesetz funktionierte kaum. Die Arbeitslosigkeit der Kriegsversehrten blieb hoch. Das hohe gesellschaftliche Ansehen mit dem die Kriegsbeschädigten zunächst ausgestattet waren, schwächte sich kontinuierlich ab. Die politischen Entscheidungsträger und die Sozialverwaltung kamen auch zunehmend zu der Erkenntnis, dass auch die Gefahr, die von den organisierten Kriegsbeschädigten ausging – sofern sie auch jemals real war – kontinuierlich abnahm.[52] Viele kriegsversehrte Menschen waren durch die viel zu geringen Sozialleistungen darauf angewiesen, zusätzliche Unterstützung beispielsweise aus der Armenpflege oder dem Bettel zu erhalten. Ferdinand Hanusch weist in einer seiner literarischen Arbeiten das tragische Schicksal von Kriegsinvaliden, die sich durch die im Heeresdienst erworbenen Beeinträchtigungen nicht nur ihrem sozialen Status, sondern auch ihrer Jugend und ihrer Gesundheit beraubt sahen.[53]

    2.4 Gesetzliche Unfall-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung

    Eine noch relativ junge Komponente im System der sozialen Sicherheit stellten die sich entwickelnden Sozialversicherungen dar. Sie waren aber in ihrer Leistungsgewährung kausal an der Erwerbstätigkeit orientiert und umfassten nicht alle Bevölkerungsgruppen. Das Leistungsangebot war berufsständisch organisiert und im Vergleich zu heute sehr limitiert. Die gesetzliche Krankenversicherung von 1888 erfasste sämtliche gewerblichen und industriellen Lohnabhängigen und übernahm für die Versicherten die medizinische Versorgung sowie die verminderte Entgeldfortzahlung.[54] Die fast gleichzeitig eingeführte Arbeitsunfallversicherung kannte dauerhafte Invaliditätsrenten bei Erwerbsminderung durch vom Arbeitgeber verschuldete Arbeitsunfälle.[55] Die Unfallversicherung stellte nach einem Arbeitsunfall auch ersatzweise Prothesen und orthopädische Behelfe bereit. Im Ersten Weltkrieg wurde zusätzlich der Arbeitswegunfall miteinbezogen.[56] Später wurde die von der Unfallversicherung begünstigte Erwerbsgruppe ausgeweitet[57] und die Berufskrankheit[58] als Versicherungsfall gesetzlich anerkannt. Im Jahr 1917 wurde per Gesetz die Möglichkeit zur Mitversicherung der Familien in der Krankenversicherung geschaffen. Die Familienversicherung war vorerst noch eine mehr oder weniger freiwillige Leistung der Krankenkasse und in der Reichweite mehr als bescheiden. Eine Pensionsversicherung wurde 1909 nur für Privatangestellte und –beamte eingeführt.[59] Für Bergarbeiter gab es seit 1889 eine sogenannte Provisionsversicherung, eine Rente für Hinterbliebene und bei dauernder Invalidität („bergfertig“) wegen Krankheit und Alter. Wobei „bergfertig“ im Bruderladengesetz mit der Unfähigkeit zur Grubenarbeit bzw. Leistung schwerer Arbeit im Bergbau verbunden wurde. Die Invalidenprovision betrug im Jahr 1935/1936 600 Schilling.[60] Für die gewerblichen und industriellen Arbeitnehmer wurde 1927 eine Altersversicherung eingeführt, die erst in Kraft treten sollte, wenn Mittel aus der Arbeitslosenfürsorge frei werden sollten. Sie wurde aber wegen der hohen Arbeitslosenzahlen und der prekären ökonomischen Situation, verstärkt seit der Wirtschaftskrise, nicht mehr eingeführt.[61] Die 1920 beschlossene dauerhafte Verankerung der Arbeitslosenversicherung galt nicht für alle Berufs- und Personengruppen, noch dazu wurde es durch verschiedene Novellen in der Leistungsgewährung immer restriktiver. Die 1923 befristet eingeführte Notstandsaushilfe gewährte nur eine Leistung, wenn der Anspruchsberechtigte glaubhaft machen konnte, dass sein Lebensunterhalt gefährdet und er erwerbsfähig war. Als vorläufige Altersversicherung konnte nur die Altersfürsorgerente für bedürftige über 60jährige bzw. über 65jährige eingeführt werden. Sie konnte gewerbliche, industrielle, häusliche sowie land- und fortwirtschaftliche Arbeitnehmer unbefristet vergeben werden und ähnelte der Notstandsaushilfe.[62] Auf Landes- und Bundesebene wurde immer wieder die Einführung von umfassenderen Versicherungsleistungen wie z.B. einer Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung für alle Berufsgruppen diskutiert.[63] Erst nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich wurde mit dem Inkrafttreten der deutschen Reichsversicherungsordnung 1939 die Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung eingeführt und für alle Lohnabhängigen und ihre Familien sozialversicherungsrechtliche Leistungen bereitgestellt.[64]

    2.5 Selbsthilfe der Menschen mit Behinderungen

    Anfang des 20. Jahrhunderts gründeten sich vermehrt verschiedene Selbsthilfevereine, in denen sich die betroffenen Menschen nach Art, oder auch nach Ursache der dauerhaften Beeinträchtigung organisierten. Das Ziel der Vereine war die tätige Selbsthilfe für die Mitglieder und die Organisation der Interessen. Die Organisationen entwickelten häufig ein aktives Vereinsleben und boten Service-, Freizeit- und Bildungsleistungen an. Der Zusammenschluss zu Organisationen zeigt das wachsende Selbstbewusstsein der Personengruppen, das auch durch internationale Vorbilder und Impulse gefördert wurde.[65]

    Gleich nach dem Ersten Weltkrieg gründeten sich Kriegsopferverbände, um ihre Interessen gegenüber dem Staat besser vertreten zu können. Die unterste Ebene, welche auch für die Betreuung der Mitglieder zuständig ist, war die Ortsgruppe. Die Ortsgruppe der Gemeinde Kopfing bestand bereits seit 1919 und hatte 13 Mitglieder, wie von den Beitrittserklärungen nach der Wiedergründung im Jahr 1945 feststellbar ist.[66] Das politische Lagerdenken in der Ersten Republik führte zu einer Zersplitterung der Kriegsopferverbände, welcher der Ständestaat durch die gesetzliche Einführung eines Einheitsverbandes der Kriegsopfer Österreichs im Jahr 1936 und dem Verbot aller übrigen Verbände dieser Art ein Ende setzte.[67] Parallel zu den Kriegsopfern generell gab es auch Vereine für die im Krieg Erblindeten. Im Jahr 1923 wurde versucht, im „Verband der Blindenvereine“ – parallel zu dem seit 1919 bestehenden „Verband der Kriegsblinden“ - alle zivilen und in den Regionen Österreichs aktiven Blindenvereine zusammenzuschließen und die Kräfte für die Durchsetzung von Maßnahmen zur sozialen Besserstellung (z.B. Blindengeld, Steuererleichterungen, Freifahrtscheine, etc.) zu bündeln.[68]

    Der „Reichsverband der Taubstummenvereine Österreichs“ wurde 1913 als Dachverband mit dem Ziel gegründet, die zahlreichen Selbsthilfe-, Bildungs- und Freizeitvereine der gehörlosen Menschen zu koordinieren sowie deren Position bei der Durchsetzung von sozialen und politischen Anliegen zu fördern.[69] Im Jahr 1926 gründete sich in Wien die „Erste österreichische Krüppelarbeitsgemeinschaft“ mit dem Ziel der „Wahrung der geistigen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Krüppel Oesterreichs, durch Geburt, Krankheit und Unfall ohne Rente“, so der Untertitel der Vereinszeitung.[70] Ihr Motto war „Arbeit, nicht Mitleid, Arbeit, nicht Siechenhaus“[71] und die monatlich erscheinende Zeitschrift „Der Krüppel“ (1927-1938) sollte im Besonderen die Gleichberechtigung in der Arbeit und das selbstbewusste, positive Auftreten stärken.[72] Die Themen der Zeitschrift waren die „Krüppelfürsorge“, konkret die soziale und gesundheitliche Versorgung von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen im In- und Ausland, die Bildung und Ausbildung speziell auch von Kindern und Jugendlichen und die Veröffentlichung von Vereinsangelegenheiten. Durch politische Lobbyarbeit versuchte die Krüppelarbeitsgemeinschaft auf die Situation der körperlich

    Im März 1928 forderte die Krüppelarbeitsgemeinschaft in einem Brief die oö. Landesregierung als zuständige Gebietskörperschaft auf, die Bedürfnisse von „Krüppeln“ zu beachten. In der beigefügten Resolution formulierten sie folgende Forderungen: die statistische Zählung der betroffenen Menschen durchzuführen, ein umfassendes „Krüppelfürsorgegesetz“ zu erlassen, die Schulpflicht von „Krüppelkindern“ zu sichern, Beratungsstellen einzurichten, für die berufliche Ausbildung „Krüppelwerkstätten“ zu gründen, Freifahrt und Gesundheitsleistungen wie auch Prothesen- und Hilfsmittelausstattung bereitzustellen.[73] Dieses Schreiben ging an alle Landesregierungen, aber nur Oberösterreich, so die Zeitschrift „Der Krüppel“, meldete sich zurück und gab an, dass „die Zahl der körperlich Beschädigten oder –Behinderten in Oberösterreich mit Ausnahme der Invaliden- und Unfallsrentner insgesamt 2696 mit dem Stichtag 2. Jänner 1929, davon 561 Jugendliche unter 18 Jahren beträgt […].“[74] Der Verfasser des Artikels im „Der Krüppel“ äußerte skeptisch, dass ihm die genannte Zahl der Betroffenen als zu gering erscheine. Die oö. Landesregierung bekundete außerdem die Absicht, eine öffentliche Krüppelfürsorgeanstalt errichten zu wollen.[75]

    Im oö. Landtag wurde tatsächlich ein Bericht mit Vorschlägen zur Durchführung der Krüppelfürsorge in Oberösterreich vorgetragen. Dort wurde insbesondere die Versorgung der „körperlich geschädigten“ Kinder und Jugendlichen thematisiert. Die oben erwähnte Zählung im Jahr 1929 erfasste 530 „jugendliche Krüppel“ (unter 18 Jahren) und ohne Rentenanspruch. Unter öffentlicher „Krüppelfürsorge“, vor allem unter der „öffentliche[n] Fürsorge […] für körperbeschädigte und körperbehinderte Kinder“, verstand der Berichterstatter Gasperschitz „a) die rechtzeitige Auffindung der Krüppel, b) die Behandlung heilbarer und besserungsfähiger Krüppel, c) die Berufsausbildung der Krüppel entsprechend ihrer Arbeitsfähigkeit, d) die Anstaltsunterbringung für solche Krüppel, die ihrer bedürfen“[76]. Der Bericht beklagt, dass es im Gegensatz zu einigen anderen Bundesländern (Wien, Steiermark, Niederösterreich), die bereits gesetzliche Regelungen für „Einrichtungen der Fürsorge für körperlich geschädigte Kinder und Jugendliche“ eingeführt hatten, in Oberösterreich nur private und völlig unzureichende stationäre und ambulante Versorgungsmöglichkeiten gab. Die Versorgung sollte in speziellen Anstalten für Kinder und Jugendliche erbracht werden. Aber sofern es für die Betroffenen möglich sei, sollte die Versorgung in ambulanter Weise, am besten zentralisiert unter Aufsicht der Landesjugendfürsorge organisiert sein. Eine nachhaltige Krüppelfürsorge, so der Bericht, sollte durch Bildung, Ausbildung und durch medizinische Behandlung und vor allem mit der Ausstattung von orthopädischen Behelfen und Prothesen dafür sorgen, „die verkrüppelten Individuen nicht der Bettelei und der Zuwendung von Almosen anheimfallen zu lassen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, entsprechend ihren körperlichen Leistungsfähigkeiten sich einem Berufe widmen zu können, bei dessen Ausübung sie zu vollwerten und nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft werden“[77]. Körperbeeinträchtigte Kinder sollten mit orthopädischen Hilfsgeräten und Korrekturmaßnahmen wie z.B. Korsetts, Stützapparaten und/oder chirurgischen Eingriffen bestmöglich „geheilt“ werden. In Spezialfällen sollte mit orthopädischen Fachärzten oder mit dem orthopädischen Spital in Wien zusammengearbeitet werden. Die von der Landesregierung angedachte, eigens für sogenannte öffentliche Krüppelfürsorge bestimmte Einrichtung wurde nicht umgesetzt, so die Erkenntnis nach der Durchsicht des oberösterreichischen Amtskalenders (1929-1938). Vielmehr war das Landes-Jugendamt für die „Gesundheitsfürsorge“ und daher für die „Anstalts- und Heilstätten-Unterbringung“ der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen zuständig. Der Vollständigkeit halber wird an dieser Stelle nochmals erwähnt, dass behinderte Erwachsene sich, sofern sie in existenzielle Notlage gerieten, an die kommunale Armenfürsorge wenden konnten. Durch militärische Handlungen beeinträchtigte Personen erhielten Unterstützung von der Landes-Invaliden-Kommission (später Landes-Invalidenamt).

    Die „Erste Österreichische Krüppelarbeitsgemeinschaft“ hatte in Wien mehrere Ortgruppen, sowie Ortsgruppen in Hainburg, St. Pölten, Baden und Salzburg. Im Mai 1930 wurde zuerst eine sogenannte „Zahlstelle“[78], dann die Ortsgruppe Linz gegründet, wie ein Bericht über die stattgefundene Weihnachtsfeier kundtut.[79] Die Krüppelarbeitsgemeinschaft hatte im Jahr 1931 österreichweit 1.589 Mitglieder.[80] Nachdem aber einige Mitglieder den Ortsverein Linz vom Wiener Hauptverein trennen wollten, wurden sie ausgeschlossen und ein neuer Vorstand gewählt.[81] Die Ortsgruppe Linz wurde in den weiteren Ausgaben von „Der Krüppel“ nicht wieder erwähnt, es scheint als sei das Vereinsleben in Linz eingeschlafen. In Steyr wurde am 29. Juni 1934 durch das Engagement von Josefine Stocher (Gründberg, Gemeinde Sierning) wieder eine Ortsgruppe mit Namen „Gründberg und Umgebung“ gegründet.[82] Sie hatte wahrscheinlich nicht lange Bestand, da sie später in der Vereinszeitung keine Erwähnung mehr findet. Der Wiener Hauptverein reflektierte kritisch, dass er durch mehr Betreuung und Information vor Ort die Auflösung einiger Ortsgruppen hätte verhindern können.[83] Generell waren die Selbsthilfevereine vor allem in Wien und Umgebung aktiv und ihre Lobbyarbeit blieb – so wie die Stagnation in Sachen Behindertenpolitik auf Bundesebene während der Ersten Republik vermuten lässt – politisch bedeutungslos. Generell fanden Menschen mit Behinderungen noch in der Zwischenkriegszeit nur mangelhaft Unterstützung durch öffentliche Institutionen und gesetzliche Maßnahmen. Nur für Menschen, die ihre Beeinträchtigungen im Krieg erworben hatten, wurden Versorgungsgesetze, wenngleich mit bescheidener finanzieller Förderung und Wirkung, eingeführt.



    [8] WHO: World Report on Disability (Geneve 2011)

    [9] Wegscheider, Angela: Armut und Behinderung. Zur Situation von Menschen mit Behinderung in Österreich. In: Blaha, Barbara -Weidenholzer, Josef (Hg.): Gerechtigkeit. Beiträge zur Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik (Wien 2009) 55-70. Die Daten der SILC Erhebung geben Auskunft über die Beschäftigungssituation und das Einkommen der Haushaltsmitglieder, die Ausstattung der Haushalte, die Wohnsituation einschließlich der Ausgaben für das Wohnen, aber auch Bildung, Gesundheit und Zufriedenheit und lassen den Rückschluss auf die Lebensbedingungen verschiedener Bevölkerungsgruppen zu.

    [10] Weniger als 5% der derzeit lebenden Menschen mit Behinderungen haben ihre Beeinträchtigungen vorgeburtlich erworben (Goodley: Disability Studies 1).

    [11] Kundmachung der Landesregierung für Oberösterreich vom 9. November 1919, betreffend die Anzeigepflicht der übertragbaren Krankheit „Poliomyelitis anterior acuta“ (Akute spinale Kinderlähmung). Landesgesetz und Verordnungsblatt für Oberösterreich, Nr. 149/1919, B7494/5

    [12] Ortmayr, Norbert: Sozialhistorische Skizzen zur Geschichte des ländlichen Gesindes in Österreich. In: Ortmayr, Norbert (Hg.): Knechte (Wien 1995) 297-376, hier 354

    [13] Gespräch der Autorin mit Rosa Kitzmüller (geb. 1920) und Stefanie Pusch (geb. 1921), Schwestern von Aloisia Leitenmüller, Steyregg am 08. Mai 2014. Mit einer Behinderung zu leben stellt, meiner Ansicht nach, keinen Grund zur Anonymisierung personenbezogener Daten dar. Die Anonymisierung aufgrund der Behinderung würde die betroffenen Menschen nach aktueller Auffassung viel eher stigmatisieren und nicht zuletzt diskriminieren (vgl. dazu das Diskriminierungsverbot in der Bundes-Verfassungsgesetz Artikel 7 und im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz Artikel 4).

    [14] Protokolliertes Telefongespräch der Autorin mit Mag. Karl Brandstötter, Großneffe von Aloisia Leitenmüller (31. März 2014)

    [15] Gespräch der Autorin mit Rosa Kitzmüller (geb. 1920) und Stefanie Pusch (geb. 1921), Schwestern von Aloisia Leitenmüller, Steyregg am 08. Mai 2014. Das nächste Zitat ist ebenso daraus entnommen.

    [16] Zu ihrem weiteren Lebensweg: In der NS-Zeit (1939) wurde die 13jährige in die Einrichtung der Schwestern vom Guten Hirten nach Baumgartenberg (Bezirk Perg) gebracht. Aloisa Leitenmüller, so auch der Wunsch der Familie, sollte eine Ausbildung in der Hauswirtschaft bekommen und dann wieder der Familie auf dem Bauernhof helfen. Dazu sollte es nicht mehr kommen, sie wurde im Oktober 1940 mit 15 Jahren in der Tötungsanstalt Hartheim ermordet (siehe auch, die Lebensgeschichte von Aloisia Leitenmüller aus den Erinnerungen ihrer Schwester Rosa Kitzmüller (geb. 1920), verfasst von Mag. Karl Brandstötter, Dokumentationsstelle Hartheim des OÖLA, Sammlung „Lebensspuren“).

    [17] Gesetz vom 21. Dezember 1867, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird, RGBl. 141/1867, 22. Dezember 1867

    [18] Obinger, Herbert: Föderalismus und wohlfahrtsstaatliche Entwicklung. Österreich und die Schweiz im Vergleich. Politische Vierteljahresschrift, 43. Jg. (2002) H. 2, 235-271, hier 241-243

    [19] Wegscheider, Angela: Politik für Menschen mit Behinderung am Beispiel Österreichs (Diss. Univ. Linz 2010) 97-98

    [20] Gesetz, betreffend die Regelung der Heimatverhältnisse, RGBl. Nr. 105/1863, 10. Dezember 1863. Das Heimatrechtsgesetz wurde in Bezug auf Erhalt und Verlust des Heimatrechtes mehrmals novelliert z.B. RGBl. Nr. 222/1896

    [21] Mischler, Ernst: Einleitung: Uebersicht über die öffentliche Armenpflege und die private Wohlthätigkeit in Oesterreich. In: Heger, Hans (Red.): Oesterreichs Wohlfahrts-Einrichtungen 1848-1898. Festschrift zum 50jährigen Regierungs-Jubiläum von Kaiser Franz Joseph I. (Wien 1899) 14

    [22] Eder, Dieter: Die Geschichte eines Dorfes und seiner Menschen (Schönau 2006) 310

    [23] Die Armenhäuser sind die Vorläufer der Altenheime. Dort werden auch heute noch pflegebedürftige junge Menschen untergebracht (siehe Flieger, Petra: Fehlplatziert im Alternsheim. In: Monat 36 Jg. (2011) 1 und 3.

    [24] Landtag Oberösterreich, Beilage Nr. 527 zum stenografischen Protokolle des oö Landtages, XII Wahlperiode, I. Session, 1920/2, Bericht des Landesrates über den Stand der Armenpflege in Oberösterreich von Eduard Euller (5. Jänner 1921). Die nachfolgenden direkten Zitate sind diesem zweiseitigen Dokument entnommen.

    [25] Speziell zur Tätigkeit der Barmherzigen Schwestern u.a. in Oberösterreich siehe Hlawati, Franz: Die Barmherzigen Schwestern von Wien-Gumpendorf 1832-1932 (Wien 1932)

    [26] Die Diakonissenanstalt (heute: Diakoniewerk Gallneukirchen) in Oberösterreich wird interessanterweise in dem Bericht nicht angeführt.

    [27] Landtag Oberösterreich, Beilage Nr. 527, Bericht Armenpflege in Oberösterreich 1

    [28] Ebenda 2

    [29] § 26 Oö. Landesarmengesetz

    [30] Landtag Oberösterreich, Beilage Nr. 527, Bericht Armenpflege in Oberösterreich 2

    [31] Zur Armenversorgung in Oberösterreich im Detail, siehe den Beitrag von Elisabeth Riegler und Angela Wegscheider in dieser Reihe.

    [32] Für eine ausführliche Darstellung der Versorgung der „Kriegsbeschädigten“ während und nach dem Ersten Weltkrieg: Pawlowsky, Verena - Wendelin, Harald: Die Wunden des Staates. Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938 (Wien 2015)

    [33] Pawlowsky - Wendelin: Die Wunden des Staates 38

    [34] Leisch-Prost, Edith - Pawlowsky, Verena: Kriegsinvalide und ihre Versorgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. In: Kuprian, Hermann (Hg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung (Innsbruck 2006) 367–380, hier 368

    [35] Tagespost 14. April 1919, 2. Hautmann, Hans: Geschichte der Rätebewegung in Österreich: 1918-1924 (Wien 1987) 763

    [36] Leisch-Prost - Pawlowsky: Kriegsinvalide und ihre Versorgung in Österreich 367–380, hier 369-373

    [37] Pawlowsky - Wendelin: Die Wunden des Staates 193 - 363

    [38] Gesetz über die staatliche Entschädigung der Kriegs-Invaliden, -Witwen und -Waisen (Invalidenentschädigungsgesetz), StGBl 245/1919, 25. April 1919. Das Kriegsinvalidenentschädigungsgesetz enthält zwar den Terminus „Invaliden“ im Namen, seine Leistungen galten aber für einen viel größeren Personenkreis, das heißt, neben den Kriegsinvaliden auch für Witwen, Waisen, unversorgte Eltern, Großeltern etc.

    [39] Bundesamt für Statistik (Hg.): Statistische Nachrichten. 8. Jg. (Wien 1935) H. 11, 241-243

    [40] Fahringer – Büsch: Ansprüche nach den Sozialversicherungs- und sozialen Entschädigungsgesetzen 113

    [41] Leisch-Prost - Pawlowsky: Kriegsinvalide 367. Wegscheider, Politik für Menschen mit Behinderung 96-97

    [42] Deutschösterreichisches Staatsamt für Volksgesundheit: Anleitung zur Feststellung der Erwerbseinbuße beim Kriegsbeschädigten. Hg. von Adolf Deutsch (Wien 1919) 6

    [43] Ebenda 5-8

    [44] Pawlowsky - Wendelin: Die Wunden des Staates 323-367

    [45] Das bischöfliche Privatgymnasium Petrinum wurde unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Militär-Reservespital für verwundete Soldaten umfunktioniert. Nach Ende des Krieges blieb es Militärspital, „Zerstreuungsstation“ für Heimkehrer und Schulungsheim für „Kriegsbeschädigte“. Ab September 1920 wurde es dann wieder als Schule genutzt (Honeder, Josef: Das Kollegium Petrinum. Ein geschichtlicher Überblick. In: Oberösterreichische Heimatblätter, 39. Jg. (1985) H. 1, 7-19, hier 11-12.

    [46] Tagespost 29, April 1920, 4

    [47] Bundesamt für Statistik (Hg.): Statistische Nachrichten. 1. Jg. (Wien 1923) H. 6, 133. Detaillierte Daten für die Bundesländer sind den Publikationen des Bundesamtes für Statistik nicht zu entnehmen.

    [48] Bundesamt für Statistik (Hg.): Statistische Nachrichten 8. Jg. (Wien 1935) H. 11, 241-243. Das fünfstufige Rentensystem der Kriegsopfer diente als Vorlage für das Pflegegeldgesetz von 1993.

    [49] Oberösterreichischer Amtskalender: Der Oberösterreicher. Auskunfts- und Geschäftshandbuch für das Jahr 1934 (Linz 1933) 88-91. Oberösterreichischer Amtskalender: Der Oberösterreicher. Auskunfts- und Geschäftshandbuch für das Jahr 1935 (Linz 1934) 82

    [50] Gesetz über die Einstellung und Beschäftigung Kriegsbeschädigter (Invalidenbeschäftigungsgesetz), StGBl 459/1920. Siehe insbesondere Pawlowsky - Wendelin: Die Wunden des Staates 414-430

    [51] Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) BGBl. Nr. 721/1988

    [52] Pawlowsky - Wendelin: Die Wunden des Staates 429

    [53] Hanusch, Ferdinand: Der Invalide. In: Österreichische Gewerkschaftskommission (Hg.): Ferdinand Hanusch. Der Mann und sein Werk (Wien 1924) 134-148

    [54] Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, RGBl. Nr. 33/1888

    [55] Gesetz, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, RGBl. Nr. 1/1888

    [56] Gesetz, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen über die Unfallversicherung der Arbeiter, RGBl. Nr. 363/1917

    [57] Bundesgesetz vom 11. April 1924, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen über die Unfallversicherung der Arbeiter (XIV. Novelle zum Unfallversicherungsgesetz), BGBl. Nr. 146/1924

    [58] Bundesgesetz vom 16. Februar 1928, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen über die Unfallversicherung der Arbeiter (XVII. Novelle zum Unfallversicherungsgesetz), BGBl. Nr. 50/1928

    [59] Gesetz betreffend die Pensionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten, 16. Dezember 1907

    [60] Hammerl, Josef – Kraus, Hans: Handbuch des Arbeitslosenrechts. Einschließlich der Altersfürsorge (Wien 1936) 174-175. Fahringer, Franz – Büsch, Friedrich: Die Ansprüche nach den Sozialversicherungs- und sozialen Entschädigungsgesetzen (Wien 1930) 34-39

    [61] Kepplinger, Brigitte: Die Auseinandersetzung um die Alterssicherung in der Ersten Republik. In: Seckauer, Hansjörg – Stelzer-Orthofer, Christine – Kepplinger, Brigitte: Das Vorgefundene und das Mögliche. Festschrift für Josef Weidenholzer (Wien 2015) 77-88

    [62] Siehe dazu ausführlich: Hammerl – Kraus: Handbuch des Arbeitslosenrechts. Fahringer– Büsch: Ansprüche nach den Sozialversicherungs- und sozialen Entschädigungsgesetzen

    [63] Landtag Oberösterreich, Berichte über die Verhandlungen des oberösterreichischen Landtages nach den stenografischen Aufzeichnungen, XIII. Periode, I. Session 1923. 9. Sitzung, am 13. Dezember 1923, Antrag der Landtagsabgeordneten Wokral, Strasser und Genossen betreffend die Alters- Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung, 19-20. Talos, Emmerich: Staatliche Sozialpolitik in Österreich. Rekonstruktion und Analyse (Wien 1981) 143-248

    [64] Talos: Staatliche Sozialpolitik 292. Zur Situation der Sozialversicherungen in Oberösterreich im Detail, siehe den Beitrag zu den Sozialversicherungen von Angela Wegscheider in dieser Reihe.

    [65] Fuchs, Petra: Entwicklung des Selbsthilfebundes der Körperbehinderten (1919-1945) und der Biographie Hilde Wulffs (1898-1921) (Diss. TU Berlin 1999) Wiederveröffentlichung im Internet unter URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/fuchs-krueppel-diss.html (abgerufen am 06. Jänner 2015)

    [66] Privatarchiv Klaffenböck, Beitrittskarte von Franz Wipplinger, „Kriegsbeschädigter“ aus dem Krieg 1914-1918, zum Österreichischen Kriegsopferverband (1945)

    [67] Klaffenböck - Wasner: Der Kriegsopferverband 73-74

    [68] Schmid, Erich: Chronologie der Blindenselbsthilfe in Österreich. In: Bundes-Blindenerziehungsinstitut (Hg): 200 Jahre Blindenbildung im deutschen Sprachraum, 1804-2004. Festschrift (Wien 2004) 70-74

    [69] Krausneker, Verena: The Austrian Deaf Community during National Socialism 1938-1945. Unveröffentlichte Vortragsunterlage präsentiert auf der Konferenz Deaf History International (Washington D.C 2000)

    [70] Der Krüppel H. 1 (1927) 1

    [71] Der Krüppel H. 2 (1927) 1. Später wird als Motto nur mehr „Arbeit, nicht Mitleid“ erwähnt. Der Krüppel H. 5/6 (1935) 17

    [72] Der Krüppel H. 1 (1927) 2

    [73] Landtag Oberösterreich, Berichte über die Verhandlungen des oberösterreichischen Landtages nach den stenografischen Aufzeichnungen, XIII. Periode, Brief der Ersten österreichischen Krüppelarbeitsgemeinschaft an die oö. Landesregierung LH-Stv. Dr. Josef Schwinner, 2. März 1928

    [74] Der Krüppel H. 5/6 (1930) 2 (Auszug des Briefes der oö. Landesregierung an die Krüppelarbeitsgemeinschaft wurde abgedruckt). Mit dieser Zählung wurden nur körperbehinderte Menschen erfasst, die keine Leistungen aus der Kriegsinvalidenversorgung und Rentenversicherung bezogen.

    [75] Der Krüppel H. 5/6 (1930) 1-2

    [76] Landtag Oberösterreich, Berichte über die Verhandlungen des oberösterreichischen Landtages nach den stenografischen Aufzeichnungen, XIII. Periode, Beilage 484/1930 zum stenogr. Protokolle des oö. Landtages. Bericht der Landesregierung betreffend Vorschläge zur Durchführung der Krüppelfürsorge in Oberösterreich. Berichterstatter: Gasperschitz (8. April 1930) 1-2

    [77] Ebenda 3

    [78] Der Krüppel H. 7/8 (1930) 7

    [79] Der Krüppel H. 1/2 (1931) 8

    [80] Der Krüppel H. 5/6 (1931) 7

    [81] Der Krüppel H. 9/10 (1931) 8

    [82] Der Krüppel H. 7/8 (1934) 34

    [83] Der Krüppel H. 3/4 (1937) 17

    3 Institutionen für die „Bildungsfähigen“

    3.1 Die öffentliche Hilfsklasse und Hilfsschule

    Das Sonderschulwesen hatte sich, so ein historischer Überblick von Hans Radl, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ohne gesetzliche Grundlage auf Basis humanitärer Einzelinitiativen entwickelt. Die Schulpflicht für Kinder mit Behinderungen wurde 1881 festgeschrieben und dabei auch die Möglichkeit der segregierenden Beschulung eingeführt. Die Grundlage für die Entwicklung des Sonderschulwesens bildete die Österreichische Schul- und Unterrichtsordnung für allgemeine Volksschulen und Bürgerschulen vom 29. September 1905.[84] Explizit „können für den Unterricht nicht vollsinniger oder schwächer veranlagter Kinder, wo es die Verhältnisse erfordern, mit Bewilligung der Landesschulbehörde besondere Hilfs- oder Förderklassen eingerichtet werden“[85]. Die organisatorische Konstruktion des Schultyps „Hilfsschule“ als eigene Schulform erfolgte in vielen Bundesländern in den ersten Jahren der Republik. Mit dieser Trennung wollte man zum einen die Qualität des Unterrichts fördern, andererseits den behinderten Kindern eine nach ihren Bedürfnissen differenzierte Schulausbildung ermöglichen. Die Trennung zwischen behinderten und nicht-behinderten Kindern in Hilfs- und Regelschule scheint nicht strikt vollzogen worden zu sein. Zeitzeuge Hubert Dopf erinnerte sich, dass in der ländlichen Gemeinde Roitham (Bezirk Gmunden) während seiner Schulzeit körperbeeinträchtige wie auch lern- und entwicklungsbeeinträchtigte Kinder in die Regelschule gingen. „Bei ihnen war man etwas nachlässiger. Nicht so streng“. Man hätte die behinderten Kinder als Faktum hingenommen und nicht an Heil- oder Therapiemöglichkeiten gedacht. Eine Ausgrenzung oder Segregation, so Dopf, hätte es nicht gegeben. In Roitham war auch keine Organisation tätig, die sich um behinderte Kinder gekümmert hätte.[86]

    Obwohl es nur mehr mit Ausnahmegenehmigung möglich war, blieben trotzdem noch viele behinderte Kinder vom Schulunterricht befreit, denn von der Aufnahme in die Hilfsschule (oder Hilfsklasse) waren „Kinder, die an Schwachsinn höheren Grades oder an Blödsinn leiden“ ausgeschlossen, ebenso „blinde, taubstumme und epileptische Kinder“[87]. Für blinde und gehörlose Kinder war zwar der Besuch von Spezialschulen in Linz vorgesehen, trotzdem waren, so eine Studie, die Daten aus dem Jahr 1910 analysierte, über die Hälfte der blinden und gehörlosen Menschen Analphabeten.[88] Man war sich durchaus bewusst, dass in Oberösterreich die Zahl der spezialisierten Hilfs- und Sonderschulplätze viel zu gering in Bezug auf den Bedarf sei.[89]

    Im Land Oberösterreich wurden in der Zeit der Ersten Republik mehrere zusätzliche Hilfsklassen bzw. Hilfsschulen gegründet. Die Gemeinde Ebensee verfügte 1925 über eine einklassige Hilfsschule mit 16 Schülern und 8 Schülerinnen. In Ried im Innkreis gab eine „Hilfsklasse für Schwachsinnige“ mit 20 Schülern und in Steyr eine Hilfsschule mit 40 Schülern und 31 Schülerinnen.[90] Auffällig ist, dass diese Statistik mehr Knaben als Mädchen als Hilfsschulkinder anführt. Die Vermutung liegt nahe, dass auf die Schulbildung der lernbeeinträchtigten Mädchen noch weniger Wert gelegt wurde. Auch in der Linzer Altstadt gab es eine große Hilfsschule (Tummelplatz 18).[91] Der Direktor Matthias Paroubek führte dort pädagogische Neuerungen wie z.B. das Anlegen eines Schulgartens[92] oder die Organisation einer Waldschule in den Sommermonaten[93] ein. Verschiedene Ansuchen an den Stadtschulrat machten aber auch deutlich, dass sich die Schulausstattung in einem schlechten Zustand befand, das Haus war zugleich an Unternehmer vermietet, deren rege Geschäftstätigkeit den Unterricht störte und zudem herrschte an vielen Dingen Mangel.[94]

    3.2 Die Hilfsschule der Waisenkolonie in Hart

    Die Waisenkolonie in Hart (Leonding) des Katholischen Waisenhauses (Seilerstätte, Linz) unterstützte explizit „schwach begabte und kränkliche“ Kinder, heute würde man von Kindern mit Lernschwierigkeiten sprechen. Zu diesem Zweck kaufte der Direktor des Waisenhauses Konsistorialrat DDr. Leopold Kern im Jahr 1902 zwei Bauernhöfe in Hart, um dort ein Heim, eine Schule und eine Ausbildungsstätte einzurichten. In der anstaltseigenen Hilfsschule wurden die Kinder unterrichtet und anschließend in der angeschlossenen Landwirtschaft ausgebildet.[95]

    Die Bildungs- und Ausbildungsanstalten des Seraphischen Liebeswerkes

    Das Seraphische Liebeswerk spezialisierte sich u.a. auf die Bildung und Erziehung von „krüppelhaften“, aber als „bildungsfähig“ festgestellten Kinder und Jugendlichen. Am 29. März 1903 referierte der Kapuziner-Ordenspriester Pater Cyprian Fröhlich aus Altötting/Bayern am Linzer Bischofshof über den Verein Seraphisches Liebeswerk (SLW)[96], den er 14 Jahre zuvor (1889) gegründet hatte und der vor allem in der Kinder- und Jugendfürsorge tätig war und ist.[97] Noch 1903 wurde der Verein „Seraphisches Liebeswerk für Österreich in Linz“ gegründet und bei der Diözese Linz angesiedelt. Als zentrale Aufgaben definierte der Verein die Unterbringung, katholische Erziehung und Ausbildung von als vermuteten „sittlich und religiös gefährdeten“ und armen Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien oder Erziehungsanstalten.[98] Der auf Kinder- und Jugendfürsorge fokussierte Verein Seraphisches Liebeswerk wollte im Sinne der katholischen Soziallehre subsidiär wirken und nur dann eingreifen, wenn die Eltern die Kinder nicht mehr versorgen konnten.[99] Neben der Arbeit mit sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen erschienen dem Seraphischen Liebeswerk die große Anzahl „krüppelhafter, bildungsfähiger Kinder“ und die fehlenden Versorgungsmöglichkeiten dieser Kinder als ein wachsendes Betätigungsfeld.[100] Durch die Vereinstätigkeit sollte verstärkt Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen eine Schulbildung wie auch eine geschlechtsspezifische Ausbildung (ein handwerklicher Beruf für Buben und Nähen, Haus- sowie Gartenarbeit für Mädchen) ermöglicht werden.[101] Als größere Einrichtung betrieb das Seraphische Liebeswerk das „Krüppelheim“ mit Volks- und Hilfsschule für rund 60 schulpflichtige Mädchen und Knaben in Stadl-Paura.[102] Die operative Leitung der Anstalt unterstand den Schwestern vom heiligen Karl Borromäus (Borromäerinnen). Die Kinder hatten dort die Möglichkeit, entweder die „Hilfsschule für die schwachbegabten Schützlinge“ oder die „Schule für die normalen Anstaltskinder“[103] zu besuchen. Die einklassige Hilfsschule besuchten 1925 16 Schüler.[104] Das Seraphische Liebeswerk nutzte für die körperbeeinträchtigten Schulkinder auch die Fortschritte in der Medizin, allen voran der Orthopädie, und damit verbundene Therapieübungen. Anfang der 1930er Jahre hospitierte die staatlich geprüfte Hilfslehrerin Sr. Augusta aus dem Liebeswerkheim in Stadl-Paura im Orthopädischen Spital Wien des bekannten Arztes und Universitätsprofessors Hans Spitzy, wo sie u. a. im orthopädischen Turnen geschult wurde.[105] Wöchentlich wurden die Kinder und Jugendlichen in Stadl-Paura nun, nach den damaligen physiotherapeutischen Methoden, mit Sandsacktragen, Übungen mit der Decke, Kriechübungen etc. therapiert.[106]

    Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sollte in den Einrichtungen des Seraphischen Liebeswerkes, so das Ziel, eine Schulbildung wie auch eine geschlechtsspezifisch ausgerichtete Ausbildung ermöglicht werden. Dazu betrieb der Verein ein Heim mit Lehrwerkstätte für körperbehinderte, schulentlassene Personen in der Hafnerstraße 28 in Linz, in dem ständig 40 bis 50 Personen wohnten. Die Jugendlichen wurden in der hauseigenen Schneiderei, Schusterei, Korbflechterei und Bürstenbinderei ausgebildet. Die Anstaltsleitung oblag den Marienbrüdern, die Heimversorgung den Kreuzschwestern.[107] In Gallneukirchen befand sich ein Liebeswerkheim mit 26 Betten für die Versorgung „erwerbsunfähiger und krüppelhafter, schulentlassener Knaben“[108], so eine offizielle Beurteilung, das aber wahrscheinlich Ende der 1920er Jahre aufgelöst wurde. In Gallneukirchen wurde dann das St. Elisabeth-Heim für schulentlassene Mädchen eröffnet. Dort wohnten 40 bis 50 körper- und sinnesbeeinträchtigte Mädchen, die in der Haus- und Gartenarbeit wie auch in Maschinenstrickerei und Schneiderei, manche bis hin zur Gesellenprüfung, ausgebildet wurden. Das Mädcheninternat mit Lehrwerkstätte wurde 1931 gegründet und von den Kreuzschwestern geführt.[109] Die häufige Inanspruchnahme der beiden Ausbildungsanstalten Hafnerstraße und Elisabethheim zeigten, so ein Bericht des Seraphischen Liebeswerkes aus dieser Zeit, dass der Bedarf an Plätzen groß war.[110] Es gab auch Kritik an den von dem Verein der Diözese geführten Bildungseinrichtungen. Diese bezog sich insbesondere auf jene Einrichtungen für nicht-behinderte Kinder. In der Zwischenkriegszeit begannen die Einrichtungen der Kinderfürsorge des Seraphischen Liebeswerkes statt wie früher an Platzmangel nun an Kindermangel zu leiden. Das Oö. Landesjugendamt, so formulierte es das Seraphische Liebeswerk selbst, mied „die caritativen Anstalten für normale Kinder“ und schätzte die pädagogischen Einrichtungen als „minderwertig“ ein.[111]

    3.4 Die Blindenlehranstalt

    Neben den öffentlichen Hilfsschulen gab es eine Reihe an privaten Spezial- und Anstaltsschulen. Eine „Privat-Blindenlehranstalt“ wurde 1846 in der Blumauerstraße 2 in Linz von Diözesanpriestern eröffnet. Blinde und sehbehinderte Kinder wurden hier – so die anstaltseigene Beurteilung – nach den neuesten pädagogischen Methoden unterrichtet. Im Jahr 1889 besuchten 23 männliche und 20 weibliche blinde Schulkinder die Spezial-Volksschule. Ab 1932 wurde eine eigene Klasse für „sehschwache“ Kinder angeboten.[112] Schwestern vom Heiligen Kreuz (Kreuzschwestern) betreuten und unterrichteten die Kinder. Der Priester und Lehrer Dr. Johann Gruber (1889 – 1944) wurde 1934 zum Direktor der Blindenlehranstalt bestellt. Er war auch gleichzeitig der Direktor der privaten Blindenbeschäftigungs- und -versorgungsanstalt in Linz. Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme führte er pädagogische und strukturelle Reformen in den Institution durch. Er lockerte die strikte Trennung von Burschen und Mädchen im Heim und zwang die „Zöglinge“ nicht mehr zum täglichen Besuch der Messe. Er übersiedelte 1935 die Blindenlehranstalt in die Volksgartenstraße 14 und legte diese mit der Blindenbeschäftigungs- und –versorgungsanstalt auch räumlich zusammen.[113]

    3.5 Das Taubstummeninstitut

    Ebenfalls von einem Priester wurde das private Taubstummeninstitut (Kapuzinerstraße 40, Linz) 1812 gegründet. Die Michael-Reitter-Landesschule trägt heute den Namen ihres Gründers. Die Schule erlangte 1821 das Öffentlichkeitsrecht[114] und ab 1846 wurden die Schulkinder im angeschlossenen Internat untergebracht. Ende 1918 besuchten 95 Schüler (57 Knaben und 38 Mädchen) die Schule, davon waren 88 im Internat untergebracht. Die Direktoren Alois Walcher (1888-1917) und Karl Mittermayer (1929-1937) leiteten, so eine interessante Verbindung, neben dem Taubstummeninstitut auch die Idioten- und Kretinenanstalt in Hartheim.[115] Seit September 1918 arbeiteten ebenfalls Kreuzschwestern als Lehrerinnen und Erzieherinnen der Kinder. Hinsichtlich der Unterrichtsmethode wurde, im Gegensatz zu Wien, wo zur selben Zeit die Gebärdensprache forciert wurde, in Linz der lautsprachliche Unterricht, der auch als Deutsche Methode bekannt war, besonders gefördert.[116] Bis zum heutigen Tag gibt es unterschiedliche Ansichten, ob der lautsprachlichen oder der gebärdensprachlichen Erziehung der Vorzug zu geben sei, wobei immer häufiger beide Modelle nebeneinander angeboten werden.[117]



    [84] Radl, Hans: Zum Geleit. In: Leitner, Josef: Die Wiener Hilfsschule 1920-1970 (Wien 1971) 7-8

    [85] Artikel 6, Verordnung des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 29. September 1905 womit eine definitive Schul- und Unterrichtsordnung für allgemeine Volksschulen und Bürgerschulen erlassen wird, RGBl. 159/1905, 14. Oktober 1905

    [86] Telefongespräch mit Prof. Dr. Hubert Dopf SJ (geboren 1921), Sohn von Ignaz Dopf, Oberlehrer in Roitham, am 14. Mai 2014

    [87] Linthoudt, Kurt van: Das ländliche Sonderschulwesen seit 1900, insbesondere nach 1945 im Zusammenhang mit der Landschulbewegung. In: Lalics, Peter (Hg.): Schulwirklichkeit und Schulerneuerung in Österreich. Festschrift zum 75. Geburtstag von Sektionschef Dr. Ludwig Lang (Wien 1977) 224-245, hier 227

    [88] Gehrmann, Viktor: Die Blinden und die Taubstummen in Österreich am Ende des Jahres 1910. In: Statistische Zentralkommission (Hg.): Statistische Monatsschrift H 1-4 (Wien 1919) 83 und 99

    [89] Land Oberösterreich, Berichte über die Verhandlungen des oberösterreichischen Landtages nach den stenografischen Aufzeichnungen, XII. Periode, 1 Session, 38 Sitzung, 20. Dezember 1920, Redebeitrag Landtagsabgeordneter Kornelius Flir, 848

    [90] Linthoudt: Das ländliche Sonderschulwesen 229

    [91] AStL, Mat 32, Schulen Hilfsschule 1897-1926, Sch. 285: Schreiben der Direktion der Hilfsschule in Linz an den Stadtschulrat (19. Jänner 1926)

    [92] AStL, Mat 32, Schulen Hilfsschule 1897-1926, Sch. 285: Schreiben der Direktion der Hilfsschule in Linz an den Stadtschulrat (17. November 1923)

    [93] AStL, Mat 32, Schulen Hilfsschule 1897-1926, Sch. 285: Schreiben der Direktion der Hilfsschule in Linz den Magistrat der Landeshauptstadt Linz (22. Jänner 1925)

    [94] AStL, Mat 32, Schulen Hilfsschule 1897-1926, Sch. 285: Schreiben der Direktion der Hilfsschule in Linz an den Stadtschulrat (27. August 1925(; Schreiben der Direktion der Hilfsschule in Linz an den Stadtschulrat (1. April 1925); Schreiben der Direktion der Hilfsschule in Linz an den Stadtschulrat (19. Jänner 1926)

    [95] Vgl. Assmann, Gertraud: St. Isidor: eine Spurensuche nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Kindern mit Beeinträchtigungen. Begleitbroschüre zur Ausstellung (2011) 27-30, hier 28. Siehe Ausstellung „Spurensuche St. Isidor“, 26. März bis 10. Juli 2011, Turm 9 - Stadtmuseum Leonding.

    [96] DAL, CDL (Caritas der Diözese Linz) Seraphisches Liebeswerk (SL) , Sch. 1, Fasz. 1: Promemoria über die Einführung des „Seraphischen Liebeswerkes“ in Österreich [o.J. wahrscheinlich 1903]

    [97] SLW: Der Verein. URL http://www.slw.de/cms_das_slw/verein.php (aufgerufen am 06. Jänner 2015)

    [98] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 1a: Satzung des Vereins Seraphisches Liebeswerk für Österreich, 1903

    [99] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 1b: „Von welchen Grundsätzen muß die wahre Kinderfürsorge geleitet sein?“ Linzer Diözesanblatt, LIV. Jg. (1908) H. 7, 51-55, hier 51-52

    [100] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 2: Bericht für die internationale Liebeswerkvertretertagung in Solothurn und über die Tätigkeitsjahre 1931 und 1932 des Seraphischen Liebeswerkes Linz

    [101] DAL, CDL SL, Sch. 8, Fasz. 5d: Schreiben vom Vorstand des Seraphischen Liebeswerkes, 1928

    [102] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 2: Bericht über die Einrichtungen des Seraphischen Liebeswerkes z.Z. der Auflösung 1938 (o.A, o.J)

    [103] DAL, CDL SL, Sch. 9, Fasz. 5e: Schreiben an die Provinzvorstehung der Schwestern v. Hl. Karl Borromäus (8. Juli 1922)

    [104] Linthoudt: Das ländliche Sonderschulwesen 229

    [105] Der international angesehene Orthopäde Hans Spitzy (1872-1956) war bekannt für seine Arbeiten im Bereich der Hüftgelenksverrenkung, der Nerven- und Knochenchirurgie, der körperlichen Erziehung, der Chirurgie und der Knochen-Tuberkulose. Sein Buch „Die körperliche Erziehung des Kindes" (1914) war weit verbreitet (Stadt Wien, 6.3.1953: Ehrenring der Stadt Wien für Univ.-Prof. Dr. Hans Spitzy, URL: http://www.wien.gv.at/rk/historisch/1953/maerz.html, aufgerufen am 06. Jänner 2015).

    [106] DAL, CDL SL, Sch. 9, Fasz. 5e: Schreiben des Seraphischen Liebeswerkes für Österreich an den Bezirksschulrat in Wels, Zahl 3112 (18. September 1930)

    [107] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 2: Bericht über die Einrichtungen des Seraphischen Liebeswerkes z.Z. der Auflösung 1938 (o.A, o.J)

    [108] OÖLA, Landesausschuss, Sch. 223: G 614-6034, Schreiben der oö Landesregierung (am 27. September 1927)

    [109] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 2: Bericht über die Einrichtungen des Seraphischen Liebeswerkes z.Z. der Auflösung 1938 (o.A, o.J)

    [110] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 2: Bericht für die internationale Liebeswerkvertretertagung in Solothurn und über die Tätigkeitsjahre 1931 und 1932 des Seraphischen Liebeswerkes Linz.

    [111] DAL, CDL SL, Sch. 8, Fasz. 5d: Schreiben vom Vorstand des Seraphischen Liebeswerkes, übergeben durch Josef Kolda (1928)

    [112] Vgl. Wagner, Helmut: Dr. Johann Gruber. Priester – Lehrer – Patriot (1889 - 1944) (Linz 2011) 101

    [113] Ebenda 104ff

    [114] Schließleder, Johann: 150 Jahre Taubstummen-Institut Linz a.d. Donau (Linz 1961) 19-20. Das Gehalt des Lehrkörpers wurde von der öffentlichen Hand getragen. Bis 1955 war die Bildungseinrichtung eine Privatschule.

    [115] Msgr. Johann Schließleder war von 1937 bis 1958 Schuldirektor und von 1937 bis 1960 Anstaltsdirektor, jedoch nur mehr für die Taubstummenschule und das Internat zuständig.

    [116] Schließleder: 150 Jahre Taubstummen-Institut Linz

    [117] Siehe Michael-Reitter-Landesschule. URL: http://michaelreitter.eduhi.at/ (aufgerufen am 06. Jänner 2015)

    4 Die spezialisierten Versorgungsanstalten

    Die Frage wann und aufgrund welcher Entscheidung und Voraussetzung Menschen mit Behinderungen in eine geschlossene Versorgungsanstalt kamen, hängte vom Einzelfall ab. Wie heute sind je nach Fall verschiedene Faktoren und Umstände für die Aufnahme in eine Einrichtung ausschlaggebend. Manche konnten zuhause aus verschiedenen Gründen nicht mehr versorgt werden. In manchen Fällen kamen die Personen wegen der besseren medizinischen und pflegerischen Versorgung in eine spezielle Institution. Es darf aber nicht vergessen werden, dass viele Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungsarten und auch komplexem Unterstützungsbedarf in Privathaushalten lebten, einer Beschäftigung nachgingen und sich selbst versorgten oder von ihren Familien mitversorgt bzw. gepflegt wurden.

    Behinderte Erwachsene wurden auch in der Zeit der Ersten Republik im Armutsfalle noch ohne spezielle heilpädagogische Versorgung in kommunalen, teilweise konfessionell geführten Armen-, Siechen- und Versorgungshäusern untergebracht. In diesen Einrichtungen lebten mittellose und erwerbsunfähige Erwachsene jeden Alters zusammen. Die intentionelle Versorgung musste auch nicht immer kontinuierlich verlaufen sein. Der an Epilepsie erkrankte Johann Topf (geb. 1895) besuchte keine Schule, erlernte keinen Beruf und blieb zu Hause bei seiner Mutter. Als 19jähriger (1914) kam Top in die „Idioten- und Kretinenanstalt“ Hartheim. Dort war er mit leichten häuslichen Arbeiten beschäftigt. Nach vier Jahren (1918), noch vor Ende des Krieges und wahrscheinlich aufgrund der schlimmen Versorgungslage in der Anstalt, wurde der nun 23jährige von seiner Mutter zu sich nach Hause geholt. Nachdem seine Mutter gestorben war, kam er im Jahr 1935 als 40jähriger in das Welser Versorgungshaus, wo er bis 1938 blieb.[118]

    Die unterschiedlichen Anstaltskonzeptionen bewegten sich zwischen einer einfachen Verwahrung, die auch als gesellschaftlicher Schutz gesehen wurde und eine auf Heilung und Rehabilitation abzielende „Verbesserung“ der Individuen. Die Unterbringung in den Anstalten erfolgte nach Geschlechtern und nach dem Alter getrennt. Behinderte Menschen wurden auch anhand der ihnen zugeschriebenen Fähigkeiten bzw. anhand der ärztlichen Diagnose in unterschiedlichen Abteilungen oder Anstalten untergebracht. Die Unterbringung nach Art der Diagnose konnte unter besonderen Umständen auch variieren. In der Idioten- und Kretinenanstalt, später auch als Anstalt für Schwachsinnige in Hartheim bekannt, ist die Unterbringung eines Mann dokumentiert, der als „apathisch“, an „Geistesstörung“ bzw. „Schizophrenie“ leidend und als „unheilbar, aber nicht gemeingefährlich“ wie auch ständiger Aufsicht bedürfend beschrieben wird. Er war in Hartheim, weil die Irrenanstalt Niedernhart überbelegt war und die Versorgung im Armenhaus Wels, wie auch vorübergehend versucht wurde, nicht passend war.[119]

    4.1 Die „Idioten- und Kretinenanstalt“ in Hartheim

    Die vom Oberösterreichischen Landes-Wohltätigkeitsverein geschaffene sogenannte Idioten- und Kretinenanstalt in Hartheim war zur Zeit der Ersten Republik bereits eine große Anstalt für die „Fürsorge für die unglücklichen schwach- und blödsinnigen Menschenkinder“[120]. Der Verein gründete sich 1893 eigens mit dem Ziel, eine Einrichtung für die Unterbringung und Versorgung armer behinderter Kinder zu schaffen und begann mit dem Sammeln von Geld. Auf der Generalversammlung 1895 wird der Vereinszweck, die Gründung einer Anstalt, die „menschenwürdige Pflege und nach Möglichkeit auch lebenslängliche Versorgung“[121] anbieten soll, erläutert. Besonders jene Kinder sollten versorgt werden, die von ihren Familien nicht ausreichend versorgt bzw. vernachlässigt und misshandelt wurden, keine Schule besuchten und nicht erwerbstätig sein konnten. Als Motivation für die Wohltätigkeit wird vor allem auf das Engagement Alois Walchers und auf tragische Einzelschicksale von Menschen mit Behinderungen hingewiesen. Fürst Starhemberg schenkte 1896 dem Verein zum Anlass des 50jährigen Kronjubiläums im Jahr 1898 das (desolate) Schloss Hartheim mit ca. 1 Hektar Grund im Wert von 16.000 fl. und einer Kaufoption für den dazugehörigen übrigen landwirtschaftlichen Grund (15 Hektar).[122]Wie bereits darauf hingewiesen, führte der Diözesanpriester und Direktor des Taubstummeninstituts Alois Walcher seit der Eröffnung im Jahr 1898 bis zu seinem Tod (1917) die Anstalt als Direktor. 1919 wurde der Diözesanpriester Karl Mittermayer sein Nachfolger. Mittermayer hält in seiner Amtsantrittsrede fest: "Hartheim pflegt Schwachsinnige aller Altersstufen und verschiedener Religionsbekenntnisse. Für irgendwelche Art von Unterrichtsbetrieb ist nichts vorgesehen; die Anstalt ist ausschließlich Pflegestätte, die grundsätzlich den allerhilfsbedürftigsten und tiefstehenden Geistesarmen ihre Tore öffnet. Gesuche, die mit einer Schule für Schwachsinnige rechnen, müssen ihre Adresse anderswohin richten.“[123] Für die Pfleglinge, so eine übliche Bezeichnung für Bewohner geschlossener Anstalten, wurde bis zu ihrer Schließung durch die Nationalsozialisten 1940 keine Schulbildung angeboten.

    Das Schloss war bei der Übernahme durch den Verein stark renovierungsbedürftig und entsprach in seinem Zustand nicht dem zeitgemäßen Standard.[124] Vorerst wurden nur Erdgeschoss und 1. Stock notdürftig adaptiert und bezogen. Durch den sukzessiven Ausbau des Gebäudes konnten im Schloss in der Zeit der Ersten Republik mehr als 200 Personen untergebracht werden. 1906 wurde eine Wasserleitung installiert, 1908 der 2. Stock renoviert, 1921 folgte die elektrische Beleuchtung, 1926 die Erneuerung der Toiletten, 1928 die Renovierung des 3. Stocks und der Einbau eines Krankenlifts, 1930 die Errichtung einer modernen Anstaltswäscherei und in den 1930er Jahren die Erneuerung der Stallungen.[125] Zur Übernahme der Pflege wurden die seit 1841 in Linz tätigen Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vinzenz von Paul (Barmherzige Schwestern), die vor allem in der Krankenpflege und Armenversorgung tätig waren und sind, gewonnen.

    Die Versorgung in den Wohltätigkeits-Einrichtungen, gerade in den schlimmen Notzeiten der Ersten Republik, waren von Ressourcenknappheit, Krankheitsanfälligkeit, unzureichender Versorgung und z.T. hohen Sterberaten unter den Bewohnern mit Behinderungen geprägt. Die höchste Sterberate wurde beispielsweise in der Anstalt in Hartheim im Kriegsjahr 1917 verzeichnet. Damals starb mehr als ein Viertel der Pfleglinge (27%).[126] 1919 starben noch 18% der Betreuten (von 122 waren das 22 Personen).[127] Für die Jahre 1920 bis 1925, hier gibt es keine genauen Aufzeichnungen, war die Sterberate aufgrund der allgemeinen schlechten Versorgungslage noch immer hoch und lag annähernd bei 20%. In den Anstaltsberichten aus den 1930er Jahren wird von einer mittlerweile normalisierten Sterberate berichtet.[128] Trotzdem war Hartheim meist vollständig belegt, manchmal sogar überbelegt und die Anzahl der Pflegeplätze wurde ständig erweitert. Die meisten Bewohner der vom katholischen Landes-Wohltätigkeitsvereines geführten Idioten- und Kretinenanstalt in Hartheim waren aus Oberösterreich (1933 kamen nur 15% aus dem restlichen Österreich und 5% aus dem Ausland) und katholisch, ganz wenige hatten einen evangelischen (1933 4 Personen) oder jüdischen Glauben (1933 gab es einen „mosaischen Pflegling“ in der Anstalt).[129]

    4.2 Die Oberösterreichische Landes-Irren-Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart-Linz

    In der staatlichen „oö. Landes-Irren-Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart-Linz“ (Eröffnung 1867) waren neben psychisch kranken Patienten, auch Personen untergebracht, deren Diagnose „Schwachsinn“, „Blödsinn“, Epilepsie oder ähnliches lautete. [130] Den ersten Statuten der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart zufolge sollte die Aufnahme von „bloß epileptischen Kranken“, „Idioten“ oder „Cretins“ ausgeschlossen sein.[131] Bereits zehn Jahre nach der Eröffnung war die Anstalt eigentlich ständig überbelegt. Der Primararzt der Landes-Irrenanstalt Dr. Schasching hielt fest, dass bei zwölf von 124 (10%) im Jahr 1872 aufgenommenen Patienten die Diagnose „(angeborener) Blödsinn“ lautete.[132] Bei Betrachtung der Berichte über die Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart fällt auf, dass auch in der Zwischenkriegszeit Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen in der Anstalt Aufnahme fanden.[133] Beispielsweise wurden im Jahr 1924 bei einen Gesamtstand von 1081 Pfleglingen zehn Personen mit der Diagnose „angeborener Blödsinn, Idiotie“, 48 mit „angeborenem Schwachsinn, Imbizilität“, 451 mit „erworbenem Blödsinn, Dementia“ und 89 mit „epileptischer Geistesstörung, Psychosis cum epilepsia“ betreut.[134] Die seit 1894 bestehende Anstalt Gschwendt in Neuhofen an der Krems, eine Filiale der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart, wurde zur „Pflege unheilbarer, nicht gemeingefährlicher Irrsinniger“ verwendet. Es kann vermutet werden, dass diese Definition auch Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen einschloss. Die Filialanstalt Gschwendt hatte „mehr den reinen Charakter einer Detentions- und Versorgungsanstalt“ und eine „besondere ärztliche Behandlung“ schien deshalb „nur selten“ nötig.[135] Eine direkte organisatorische oder personelle Verbindung zwischen der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart und der Idioten- und Kretinenanstalt Hartheim, gab es, so auch die Einschätzung von Markus Rachbauer, vor der NS-Zeit nicht.

    4.3 Die Diakonissenanstalt in Gallneukirchen

    Eine breit ausgerichtete Fürsorgeinstitution war die Diakonissenanstalt in Gallneukirchen, die verschiedene Dienste für unterschiedliche hilfsbedürftige, insbesondere evangelische Bevölkerungsgruppen anbot. Der evangelische Pfarrer Ludwig Schwarz und einige Mitglieder seiner Pfarrgemeinde gründeten 1874 in Gallneukirchen den Verein für Innere Mission, mit dem Ziel, Schriften zu verbreiten, ein Krankenhaus einzurichten und Waisen zu versorgen.[136] Um in Bezug auf den evangelischen Glauben vertrauensvolle und kostengünstige Arbeitskräfte für die Pflege zu haben, wurde das Diakonissenwesen in Gallneukirchen eingeführt und das Mutterhaus Bethanien gegründet. In der Diakonissenanstalt waren später auch überwiegend, so lässt die Durchsicht der Aufnahmebücher erkennen, Personen mit evangelischem Bekenntnis, viele auch aus anderen Bundesländern und ehemaligen Kronländern, untergebracht.[137]

    In Gallneukirchen wurde 1884 das Haus Zoar eröffnet, in dem bis zum Ersten Weltkrieg alte und „sieche“ Menschen, Kinder wie auch „schwachsinnige, geisteskranke und epileptische“ Männer und Frauen untergebracht waren. In der Zwischenkriegszeit diente das Haus Zoar als Alters- und Pflegeheim und als Unterkunft für Kleinkinder. In der Zeit der Ersten Republik waren dort auch noch „krüppelhafte“ Kinder untergebracht.[138] Im Jahr 1890 wurde im ehemaligen Hofbauerngut auf dem Linzerberg, etwas außerhalb des Ortes Gallneukirchen, das Martinstift, das sogenannte „Asyl für Epileptische und Blöde“, eingerichtet.[139] Im Martinstift waren vorerst männliche und weibliche behinderte Erwachsene untergebracht. Im selben Haus wurden dann auch 25 behinderte Kinder versorgt.[140] Die Diakonissen betrieben im Martinstift für die als bildungsfähig eingestuften Pflegekinder eine Hilfsschule.

    Arbeitsfähige jugendliche und erwachsene Pfleglinge arbeiteten sowohl im Haushalt als auch in der dem Martinsstift angeschlossenen Landwirtschaft mit.[141] Die Männerabteilung im Martinstift übersiedelte 1920 in ein als Versorgungsanstalt adaptiertes ehemaliges Fabrikgebäude, das fortan Friedenshort genannt wurde. Hier waren Diakone mit der „Pflege, Aufsicht und Versorgung“ betraut.[142] Ein Bewohner des Friedenhortes war der aus Salzburg stammende Hans (Johann) Böckl (geb. 1921). Er kam mit 14 Jahren in die Einrichtung nach Gallneukirchen.[143] Seinem Bruder zufolge war Hans Böckl ein „folgsames Kind, das zuhause der Mutter im Haushalt zur Hand ging“ und „gemacht hatte, was man ihm anschaffte“. In Salzburg besuchte Hans Böckl eine Hilfsschule im Schloss Mirabell, aus der er jedoch nach nicht einmal einem Jahr wegen „Bildungsunfähigkeit“ wieder ausgeschult wurde. Mitte der 1930er Jahre wurde Böckl in einer Behinderteneinrichtung in Bruck an der Glocknerstraße (Pinzgau) untergebracht. Nach ein paar Monaten, so erinnert sich sein Bruder ohne genaue Gründe nennen zu können, holten ihn aber seine Eltern aufgrund der schlechten Behandlung von dort wieder ab.[144] Am 5. Juli 1936 kam Hans Böckl in den Friedenshort nach Gallneukirchen.[145] Der Vater und die beiden Geschwister besuchten Hans Böckl dort einmal. Die Familie hatte insgesamt einen guten Eindruck von der Einrichtung in Gallneukirchen und war mit der Betreuung zufrieden.[146] Die ärztliche Diagnose lautete auf „Schwachsinn“, in seiner Beschreibung hieß es: „grinst vor sich hin, reibt sich grinsend die Hände, zeitweise aber streitsüchtig und aufgeregt“, „unheilbar“.[147] Der Bruder meinte, dass Hans Böckl in der Familie nicht als streitsüchtig, sondern als sehr umgänglich bekannt war.[148] In der Anstalt wurde er zum Holz- und Wassertragen eingesetzt. Nach seiner scheinbaren Verlegung machte sich seine Familie Sorgen, schrieb an den Hausvater in Gallneukirchen und fragte nach.[149]

    Das Martinstift, das größte Heim für Menschen mit Behinderungen der Diakonissen, wurde für die hohe Anzahl an Betreuten immer wieder zu klein. Nach pädagogischen und therapeutischen Überlegungen wollte man die Pfleglinge auch besser nach Fähigkeiten, Alter und Geschlecht trennen. Im Jahr 1921 wurde das Elise Lehner-Haus eröffnet und mit zehn von den Schwestern als „nicht mehr bildungsfähig“ eingestuften Kindern bezogen[150]. Elise Lehner war neben Elisabeth Obermeir erste Diakonisse in Gallneukirchen. Später war sie die erste Oberschwester.

    In der Kinderabteilung des Elise Lehner-Hauses lebte die aus Wien stammende Hedwig Elisabeth Gemperle (geb. 1923). Die Eltern und ihr Bruder besuchten Hedwig jährlich im Sommer für längere Zeit und übernachteten dabei in der Pension Waldfrieden in Gallneukirchen, die ebenfalls zur Diakonissenanstalt gehörte. Der Kontakt zwischen Hedwig und der Familie scheint – obwohl sie in der Anstalt in Gallneukirchen lebte – sehr gut gewesen zu sein.[151] Im Jahr 1937 übersiedelten wieder aus Platzgründen einige Pfleglinge des Elise Lehner-Hauses in den neu eröffneten Fliednerhof.[152]

    Neben der Errichtung verschiedener Anstalten in Gallneukirchen gab es in ganz Oberösterreich auch kleinere evangelische Einrichtungen, die die Versorgung von Kindern, aber auch alten, kranken und behinderten Menschen übernahmen (z.B. in Gosau oder Bad Goisern) und der Diakonissenanstalt in Gallneukirchen unterstanden. In den evangelischen Pfarren waren Gemeindeschwestern mit Fürsorge- und Pflegeaufgaben betraut.

    4.4 Die Heilanstalt für epileptische Kinder und Taubstummblinde

    Nur kurze Zeit gab es in der Marktgemeinde Raab im Bezirk Schärding die Heilanstalt für epileptische Kinder und Taubstummblinde, das sogenannte Marienstift. Der Priester Paul Schneiderbauer (1867-1929) kaufte im Jahr 1918 im Namen des Reichsvereines Fürsorge für Epileptische in Wien das ehemalige Heilbad mit Gasthaus und richtete dort die Spezial-Anstalt ein.[153] Das Gastgewerbe wurde weitergeführt, das Gebäude adaptiert und verschiedene Ausbildungswerkstätten eingerichtet. Im Marienstift gab es für junge, als „bildungsfähig“ eingestufte Männer und Frauen die Möglichkeit, das Korbflechten und Bürstenbinden zu erlernen und in der Gärtnerei und Landwirtschaft sowie in der Hauswirtschaft (Nähen, Waschen und Bügeln) zu arbeiten. Eigens angestellte Mitarbeiter versorgten die ca. 15 bis 20 zu betreuenden Personen. Die Einrichtung sollte sich durch den Verkauf der Erzeugnisse, aus den Erlösen des angeschlossenen kleinen landwirtschaftlichen Betriebes und aus Spenden und Einnahmen der Gastwirtschaft finanzieren. Nach dem Tod des Direktors (1929) wurde die Anstalt wegen fehlender Leitungsnachfolge und aufgrund ihrer großen Schuldenlast aufgelöst.[154]

    4.5 Die Blindenbeschäftigungs- und –versorgungsanstalt

    Eine Blindenbeschäftigungs- und –versorgungsanstalt wurde 1883 in der Linzer Volksgartenstraße 14 eingerichtet. Blinden Mädchen wurde nach der Schule Unterkunft und Beschäftigung gegeben. Ab 1893 wurden auch junge blinde Männer in der Anstalt aufgenommen.[155] Später war die Einrichtung explizit für alle blinden Menschen, auch für Späterblindete, offen.[156] Der seit 1934 auch in der Schule für sehbehinderte und blinde Menschen tätige Johann Gruber verfasste neue Statuten für die Blindenbeschäftigungs- und –versorgungsanstalt. Er hielt fest, dass die Einrichtung „solche[n] in einem Blindenberufe ausgebildeten Blinden“ als „Zufluchtstätte“ in sozialen Notlagen dienen sollte, „wo sie unter gemeinsamer Aufsicht ihr Gewerbe ausüben oder sich sonstiger nützlicher Beschäftigung widmen können“. Sie sollte jungen Männern die Möglichkeit zur beruflichen Praxis geben und den Übergang zwischen Lehr- und Meisterprüfung erleichtern. Sie sollte auch späterblindeten Männern und Frauen anbieten, eine Tätigkeit zu erlernen oder falls das nicht möglich sei, ein „menschenwürdiges Unterkommen zu sichern“[157] .

    4.6 Das Haus der Barmherzigkeit für arme unheilbar Kranke

    Der konservative Katholikenverein gründete 1849 die „St. Vinzenzkonferenz unter dem Schutze des Hl. Vinzenz v. Paul in Linz“ mit dem Ziel der Ausübung der „christlichen Nächstenliebe und der damit verbundenen Selbstheiligung seiner Mitglieder“ durch die Bereitstellung umfassender Hilfen für arme Menschen. Der Vinzenzverein organisiert sich in Konferenzen, die sich am Pfarrbezirk orientiert. Charakteristisch für den Verein war der persönliche Besuch der Armen durch seine Mitglieder.[158] Ende 1883 wurde das „Haus der Barmherzigkeit für arme unheilbar Kranke“ in der Schubertstraße 11 eröffnet. Bald darauf übersiedelte die Pflegeanstalt im Jahr 1893 in ein neu errichtetes Gebäude in der Nähe des Linzer Allgemeinen Krankenhauses. Im Jahr 1927 beschäftigte das Haus der Barmherzigkeit 26 Pfleger und verfügte über 246 Betten eingesetzt.[159] Wie aus den vorhandenen Unterlagen der Vinzenzkonferenz, welche heute das Pflegeheim Sonnenhof in Linz betreibt, ersichtlich ist, wurden besonders arme kranke und ältere Männer und Frauen betreut. In den Unterlagen findet sich aber auch eine nicht zu übersehende Anzahl jüngerer bzw. Personen mittleren Alters, die sich aufgrund von chronischer Erkrankung oder dauerhafter Beeinträchtigungen nicht mehr selbst versorgen konnten, arm waren und dauerhaft Pflege brauchten.[160] Auch Kinder mit Beeinträchtigungen konnten in der Anstalt gepflegt werden. Im Jahr 1926 sollte die elfjährige Marie Himmelbauer in das Haus der Barmherzigkeit aufgenommen werden. Marie Himmelbauers Vater war im Krieg gefallen. Sie wohnte „in äusserst schlechten Wohnverhältnissen“ mit ihrer Mutter und dem Stiefvater im Barackenlager Ramingstein in St. Ulrich bei Steyr. Aufgrund einer Muskelerkrankung konnte sie nicht stehen und frühere Heilbehandlungen brachten keinen Erfolg. Die Mutter legte ein Mittellosigkeitszeugnis vor, damit sollten die Pflegekosten von der Armenfürsorge übernommen werden.[161] Ob sie wirklich im Haus der Barmherzigkeit Aufnahme fand, konnte nicht mehr ermittelt werden.



    [118] Rachbauer, Markus: Die Welser Opfer der NS-„Euthanasie“-Verbrechen. In: Stadt Wels (Hg.): Wels im Nationalsozialismus 2 (Wels 2012) 129-202, hier 187-188. Im September 1942 wurde Johann Topf mit der Diagnose „Schwachsinn mit epileptischen Anfällen“ in die Irrenanstalt Niedernhart eingewiesen. Kurz darauf verstarb er in Niedernhart am 15. Oktober 1942 im 48. Lebensjahr. Als Todesursache wurde ein epileptischer Anfall angegeben, wahrscheinlicher ist aber, dass er ein Opfer der dezentralen Euthanasieaktion wurde.

    [119] StAW, VoF Volkswohlfahrt - Fürsorgeamt, Sch. 2809, F 6 Varia: Fürsorgeakt Johann Meier, hier u.a. Schreiben der Direktion der oö. Landes-Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart-Linz an das Gemeindeamt der Stadt Wels (19. Februar 1936)

    [120] Archiv der GSI; OÖ:LWV: 1. Jahresbericht der Idioten- und Cretinenanstalt in Hartheim für das Jahr 1898/99. In: Jahresbericht für das Vereinsjahr (1898) 13

    [121] Archiv der Gesellschaft für Soziale Initiativen (GSI), Oberösterreichischer Landes-Wohltätigkeitsverein (OÖ.LWV): Jahresbericht für das Vereinsjahr 1985, Nachdruck der Rede zur Bedeutung und Wichtigkeit dieses Vereines während der Generalversammlung am 18. April 1895 von Canonicus Anton Helletsgruber (1. Obm.-Stellvertreter des OÖ.LWV) 5-14, hier 6

    [122] Archiv der GSI, OÖ.LWV: Jahresbericht für das Vereinsjahr 1896 (Linz 1897) 14-15

    [123] Amtsantrittsrede von Dir. Karl Mittermayr (wahrscheinlich 1919). In: Zehethofer, Florian: Chronik des Oberösterreichischen Landes-Wohltätigkeitsvereines (unveröff. Manuskript) o. S.

    [124] Es fehlten Türen, Fenster, Böden, Einrichtung, etc. (Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Anstaltsbericht, Hauptversammlung des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines pro 1934 (9. Mai 1935) 7).

    [125] Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Anstaltsbericht, Hauptversammlung des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines pro 1934 (9. Mai 1935) 7-10

    [126] Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Hauptversammlung/Anstaltsberichte des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines für die Jahre 1933, 1934, 1935 und 1936

    [127] Archiv der GSI, OÖ.LWV: Jahresbericht für das Vereinsjahr 1919 (Linz 1920) 14-15

    [128] Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Hauptversammlung/Anstaltsberichte des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines für die Jahre 1933, 1934, 1935 und 1936

    [129] Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Hauptversammlung des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines pro 1933 (am 17. Mai 1934) 1-3

    [130] Die Versorgung der psychisch kranken Menschen in der Ersten Republik wird in einem eigenen Artikel behandelt. Vgl. Markus Rachbauer – Vom Verwahrungsort zur Heilanstalt? Die psychiatrische Anstalt Niedernhart 1918-1938 – in diesem Band.

    [131] OÖLA, Landesausschuss, Sch. 1452: J IV C 6 148, §19 Erlass an sämtliche Gemeindevorstehungen des Erherzogtums Oesterreich ob der Enns, Auszug aus den Statuten von 1867 (20. September 1887)

    [132] Schasching, Mathias: Die oberösterreichische Landes-Irrenanstalt zu Niedernhart bei Linz (Linz 1873) 164

    [133] Erst das Unterbringungsgesetz von 1991 untersagte ausdrücklich die dauerhafte Unterbringung von Menschen mit Behinderungen in psychiatrischen Krankenhäusern. Dennoch waren bis Mitte der 1990er Jahren in Österreich noch über 1.000 Menschen mit Behinderungen in psychiatrischen Anstalten dauerhaft untergebracht. In der Landesnervenklinik Wagner-Jauregg waren es 38 intellektuell beeinträchtigte Personen (Tiesler, Johannes: Hoffnung macht, dass die Aufgabe erkannt ist. Enthospitalisierung in Österreich. In: Bradl, Christian – Steinhardt, Ingmar (Hg.): Mehr Selbstbestimmung durch Enthospitalisierung (Bonn 1996) 94-101).

    [134] OÖLA, Wagner Jauregg Kh, Nachlass Böhm, Sch. Chroniken etc. 1898-1939: Mappe Chronik 1924, Bericht über Irrenanstalten für das Jahr 1924, Pfleglingsbewegung

    [135] OÖLA, Landesausschuss, Sch. 1454: J IV C 6 539 22, Referat von Dr. Rudolf Feßl, Gemeindearzt in Neuhofen, Ansuchen um Erhöhung seiner Entlohnung für die Landesirrenbewahranstalt Gschwendt (14. Februar 1914)

    [136] Schwarz (1833-1910) kam 1871 als Vikar in die gerade von Weikersdorf nach Gallneukirchen verlegte Filialgemeinde. Heute heißt die von ihm geschaffene Anstalt Evangelisches Diakoniewerk Gallneukirchen.

    [137] Archiv des Diakoniewerkes Gallneukirchen, Aufnahmebücher der Jahre 1918-1938

    [138] Landtag Oberösterreich, Berichte über die Verhandlungen des oberösterreichischen Landtages nach den stenografischen Aufzeichnungen, XIII. Periode, Beilage 484/1930 zum stenogr. Protokolle des oö. Landtages. Bericht der Landesregierung betreffend Vorschläge zur Durchführung der Krüppelfürsorge in Oberösterreich, 1

    [139] Heute Wohnhaus Altes Martinstift. Weitere Einrichtungen des Vereins: 1881 wurde ein Waisenhaus in Weikersdorf eröffnet. 1906 wurde in Linz das evangelische „Kranken- und Altersasyl“(heute Diakonissen-Krankenhaus Linz) eröffnet. 1918 wurde das Stationsgebäude der ehemaligen Pferdeeisenbahn Linz - Budweis in Gallneukirchen angekauft und zu einem Heim für „gefährdete“ Mädchen und einer Wäscherei (heute Waldheimat) umgestaltet. Ab 1921 wurde in der Mühle, die vom Verein zur Eigenversorgung betrieben wurde, ein Säuglings- und Kleinkinderheim untergebracht. Gleich daneben befand sich das Haus Gottesgarten, wo auch Kinder untergebracht waren.

    [140] Archiv des Diakoniewerkes Gallneukirchen, 24. Jahresbericht über das Diakonissen-Mutterhaus Gallneukirchen (September 1918 - September 1919, Linz 1919) 9

    [141] Archiv des Diakoniewerkes Gallneukirchen, 30. Jahresbericht über das Diakonissen-Mutterhaus Gallneukirchen (September 1925 - September 1926, Linz 1925) o. S.

    [142] Obermeier, J.: Männerheim „Friedenshort“. In: Saul, Friedrich: Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der evangelischen Diakonissenanstalt in Gallneukirchen (Gallneukirchen 1927) 32-34, hier 33

    [143] Dokumentationsstelle Hartheim des OÖLA, Lebenslauf von Johann B. verfasst von Bruder Josef B. (14. April 2010)

    [144] Telefongespräch mit Josef Böckl (Bruder) am 20. März 2014

    [145] Dokumentationsstelle Hartheim des OÖLA, Krankengeschichte Johann Böckl, Diakonissenanstalt Gallneukirchen (o.J.)

    [146] Telefongespräch mit Josef Böckl (Bruder) am 20. März 2014.

    [147] Dokumentationsstelle Hartheim des OÖLA, Krankengeschichte Johann Böckl

    [148] Telefongespräch mit Josef Böckl am 20. März 2014

    [149] Dokumentationsstelle Hartheim des OÖLA, Brief an den Hausvater von Onkel Josef Böckl (21. Jänner 1941). Ob eine Antwort aus Gallneukirchen erfolgte, ist der Autorin nicht bekannt. Hans Böckl wurde am 31. Jänner 1941 in der Tötungsanstalt Hartheim ermordet (Dokumentationsstelle Hartheim des OÖLA, Krankengeschichte Johann Böckl).

    [150] Evangelisches Diakoniewerk Gallneukirchen (Hg.): 125 Jahre Diakoniewerk. Nächstenliebe in unserer Zeit (Gallneukirchen 1999) 254

    [151] Dokumentationsstelle Hartheim des OÖLA, Sammlung „Lebensspuren“. Hedwig Gemperle wurde im Jänner 1941 in ihrem 18. Lebensjahr in der Tötungsanstalt Hartheim ermordet.

    [152] Archiv des Diakoniewerkes Gallneukirchen, Anstalts-Chronik des Diakonissen-Mutterhauses in Gallneukirchen bei Linz, unveröff. Manuskript (Gallneukirchen o.J.) 45

    [153] Nach der Schließung der Anstalt (Bründl 2) wurde es ein Armenhaus bzw. Altersheim, dann ein Wohnhaus der Gemeinde, das 1992 abgetragen wurde.

    [154] Emailauskunft von Reinhard Lindlbauer, Gemeindeamtsleiter i.R. in Raab, Konsulent für Allgemeine Kulturpflege, am 29. September 2011. Siehe auch: Brandl, Manfred: Gedenktage der Diözese Linz, Historischer Pfarrschematismus 1785-1985 (Linz 1986) 497

    [155] Vgl. Wagner: Dr. Johann Gruber 101-102

    [156] DAL, CA/10, Sch. 32, Fasz. L/38, Bestätigung für Konsistorialrat Florian Oberchristl, Domkapitular in Linz (26. August 1930)

    [157] DAL, CA/10, Sch. 32, Fasz. L/38, Statuten der Privat-Blinden-Anstalt in Linz (Linz 1936) 8-9. Grubers reformpädagogische und wirtschaftliche Ideen führten zu einem Konflikt mit dem konservativen katholischen Umfeld der Einrichtung, der sich als wesentliche Vorgeschichte zu seiner Verhaftung durch die Nationalsozialisten, zu seiner Verurteilung wegen Aufwiegelung und Unzucht und schlussendlich zu seiner Internierung in den Konzentrationslagern Dachau, Mauthausen und Gusen entwickelte. Im KZ Gusen konnte der als „Papa Gruber“ bekannte Priester ein umfassendes Hilfswerk aufbauen. Am 7. April 1944 starb Dr. Johann Gruber nachdem er grausam gefoltert und wahrscheinlich vom Lagerkommandanten Seidler selbst tödlich verletzt wurde. Seine Ermordung wurde von der Lagerführung anschließend als Selbstmord getarnt (Wagner: Dr. Johann Gruber 395-397).

    [158] Engel, Friedrich: Die charitativen und humanitären Vereine Oberösterreichs (Wien 1905) 45-51

    [159] Zischkin, Johann: Der Verein vom heiligen Vinzenz von Paul in Österreich (Wien 1927) 34-35

    [160] Archiv Sonnenhof, Journalbuch 1932-1937, Journal 1930/1931 des Vinzenz-Vereins von der Pfarre St. Josef: Siehe auch: Diverse ausgefüllte Gesuch-Formulare im Archiv Sonnenhof

    [161] OÖLA, Landesausschuss, Sch. 1473, Akte Marie Himmelbauer

    5 Der Alltag in den Anstalten

    Die Einrichtungen wurden in vielen Fällen abseits der Städte und Ballungszentren bzw. am Land angesiedelt. Ruhe und Naturverbundenheit sollten auf die zu betreuenden Personen wohltuend wirken, zugleich förderte die Abgeschiedenheit die Ausgrenzung und Segregation. Wenn möglich sollten die Pfleglinge durch Abgeschiedenheit und schöne Landschaft, christliche Fürsorge und sittliche Strenge wie auch durch Arbeit in den Werkstätten, im Garten und in der Landwirtschaft - je nach den ihnen zugeschriebenen Fähigkeiten - therapiert bzw. erzogen werden.

    Die Versorgung der Personen in den Institutionen war geprägt von Motiven der Barmherzigkeit, der christlichen Nächstenliebe und der Hinführung zu einem christlich-sittlichen Lebenswandel und dessen Einhaltung. Wichtig waren den Betreuenden „die Pflege des Leibes“ und die „Seelen der uns Anvertrauten“[162]. Man sorgte sich einerseits um die körperlichen Bedürfnisse und das Lernen von Sauberkeit und Ordnung und andererseits um eine sittsame und fromme Lebensführung. Dr. Johann Gruber, der Leiter der Anstalten für blinde Menschen in Linz, spöttelte über die katholischen Ordensschwestern und ihre (wie ihm schien) weltabgewandte frömmelnde Spiritualität. Neuen heil- und reformpädagogischen Ideen, wie sie in Wiener Anstalten und an der Universität propagiert wurden[163], standen die Schwesternkongregationen wie auch die Diözese, die keineswegs die auf der Höhe der Zeit befindlichen pädagogischen Ansichten vertraten, vielfach ablehnend gegenüber.[164]

    Auch die evangelische Erziehungsarbeit in den Einrichtungen der Diakonie diente in ihrer Intention weniger dazu, soziale oder ökonomische Selbstständigkeit zu erreichen, sondern zielte eher auf eine „sittliche Hebung“, um den Menschen eine freie Willensentscheidung zur Konfirmation und Annahme des Evangeliums zu ermöglichen. Dem evangelischen Verein für innere Mission war es wichtig, dass möglichst viele Pfleglinge die Bibel lesen und verstehen konnten. Aus diesem Grund gab es in den evangelischen Einrichtungen auch bald Hilfsschulen für Kinder, die als „schwachsinnig“, aber noch „bildungsfähig“ eingestuft wurden. In weiterer Folge dehnten die Einrichtungen der Diakonissen ihre im Sinne der inneren Mission ausgeübte „Rettungsarbeit“ auf als „bildungsunfähig“ eingestufte Menschen aus und versuchten, ihnen die Bibel und den Katechismus näher zu bringen.[165]

    Die Idioten- und Kretinenanstalt in Hartheim versuchte ihren Pfleglingen auch als Erwachsene eine Grundversorgung bis zum Lebensende anzubieten.[166] Obwohl eine größere Anzahl von „Pfleglingen“ nicht pflegebedürftig war, mussten, so die Anstaltsleitung, alle „unter ständiger Aufsicht und Überwachung stehen“[167]. Das Leben in den Einrichtungen, sei es für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, entsprach dem in dieser Zeit üblichen Erziehungsstil: streng und disziplinierend. Ein strukturierter Alltag wurde als therapeutisches und pädagogisches Prinzip verstanden. Es ist anzunehmen, dass die Betreuerinnen durch die schwere Arbeit sowie die geringe Personalzahl und die nicht vorhandene (behinderten-)pädagogische Ausbildung überfordert waren. So waren beispielsweise 1933 in der Anstalt Schloss Hartheim bei 175 Pfleglingen 16 Schwestern, ein Verwalter, ein Werkmeister, ein Gärtner, ein Schuster, drei Knechte und 13 weibliche Dienstboten beschäftigt. Die Landwirtschaft bestand aus ca. 30 ha Grundbesitz und 7 ha Pachtgrund, mit großem Gemüsegarten und großen Stallungen.[168]

    5.1 Das Personal in den Einrichtungen

    Am Ende des Ersten Weltkrieges waren ca. 200 Barmherzige Schwestern in der Diözese Linz tätig. Sie versorgten „270 Kranke und 540 verwaiste Kinder in zwei Anstalten, 150 Arme in zwei Armenhäusern, rund 950 Kranke in sechs Spitälern, fast 800 Geisteskranke, über 200 Unheilbare und rund 100 körperlich und geistig Behinderte“[169]. Für die Frauen, die oftmals aus einfachen Verhältnissen kamen, war der Eintritt in die christliche Glaubens-, Dienst- und Lebensgemeinschaft die Möglichkeit, einer glaubensmotivierten Berufung nachzugehen. Durch den Dienst an den Armen und Ausgegrenzten brachten sie ihre Liebe zu Gott und den Menschen zum Ausdruck. Die geistlichen Personen waren hochangesehen, wie die übliche Anrede „ehrwürdige Schwester“ darlegt.

    Für ihre Arbeit erhielten die Barmherzigen Schwestern eine Ausbildung in der Krankenpflege, auch die Diakonissen waren ausgebildete Krankenschwestern. Ausgewählte Schwestern durften zur Visitation in andere Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen fahren. Der Diakonisse Charlotte von François war der Aufenthalt in Deutschland als Vorbereitung für ihre Arbeit in der Betreuung und Pflege von behinderten Menschen dennoch zu wenig.[170] Der Professionalisierung durch die Ausbildung zum Behindertenbetreuer bzw. zur Behindertenbetreuerin gelang erst in den 1980er Jahren ihr Durchbruch. Bis dahin unterstand das angelernte Hilfspersonal der Leitung von den zur Krankenpflegerinnen ausgebildeten Ordensschwestern. Das fehlende Berufsbild führte dazu, dass die Arbeit in den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen nicht sehr angesehen war.

    Das Leben im Orden konnte fremdbestimmt und autoritär sein, Schwestern konnten ihr Beschäftigungsfeld nicht immer selbst wählen. Die Diakonissen spiegeln, so erläutert Fürstler, ein konservatives, auf die Mutterrolle fokussiertes, auf Unterordnung und Hingabe sowie auf ein von beschränktem Handlungsspielraum geprägtes Frauenbild wider. Die portraitierten Lebensgeschichten der Diakonissen Charlotte von François und Fanny Schaer zeigen aber auch Selbstbestimmung, Selbstbewusstsein, Mut und Hartnäckigkeit sowie energisches Auftreten – soweit es die strenge Ordnung zuließ.[171] Fanny Schaer zeigte ein großes pädagogisches Talent und viel Empathie, während Charlotte von François – sie arbeitete seit 1922 in der hausinternen Hilfsschule – den Ausbau von Beschäftigungswerkstätten forcierte. Auf eigenen Wunsch ließ sich von François in Deutschland zur Hilfslehrerin (1927-1928) ausbilden, hospitierte anschließend einige Wochen in den Werkstätten einer Diakonissenanstalt in Deutschland, in der Bewohner im Bürstenbinden, Korbflechten und auch im Teppichknüpfen tätig waren. Speziell von der Teppichweberei war von François begeistert. Anschließend richtete sie, nicht entmutigt von dem starken Gegenwillen der Mitschwestern, eine neue Webwerkstätte in Gallneukirchen ein.[172]

    5.2 Arbeit und Tagesgestaltung

    Die Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen erfolgte je nach Art der Beeinträchtigung und den zugeschriebenen Fähigkeiten bzw. Unfähigkeiten in unterschiedlichen Anstalten. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal spielte dabei die zugeschriebene Bildungs- und Arbeitsfähigkeit einer betroffenen Person.

    Ökonomische Überlegungen, beschäftigungstherapeutische Ziele, wie auch vereinzelt schlechte Erfahrungen, die ehemalige Bewohner (zumeist Jugendliche) außerhalb der Anstalten machten, bewegten den evangelischen Verein für innere Mission dazu, Beschäftigungsmöglichkeiten einzurichten, „damit wir sie nicht in eine Welt hinausstoßen müssen, in der sie sich absolut nicht zurechtfinden können“.[173] Den christlichen Trägervereinen war neben der Ausdehnung der Dienstleistungen besonders die lebenszeitlich erweiterte Kontrolle des sittlich-christlichen Lebenswandels ihrer Pfleglinge wichtig. In der Landwirtschaft des Martinstifts, die die Versorgung der Einrichtungen in Gallneukirchen unterstützte, wurden bereits seit längerem behinderte Menschen zur Arbeit eingesetzt.[174] Diese Beschäftigungsmöglichkeit unterlag aber saisonalen Schwankungen und die Arbeitskräfte waren durch ihre, wie es hieß, „körperliche Minderwertigkeit“, nur bedingt einsetzbar. Sofern nicht in der Landwirtschaft mitgeholfen oder Hilfs- bzw. Botendienste erledigt wurden, konnten die Männer in einer Werkstatt Bürsten binden sowie Matten, Sessel und Körbe flechten. Die Frauen arbeiteten am Spinnrad und an den Webstühlen oder erledigten Handarbeit. In den Werkstätten gab es immer eine Aufsichts- und Anleitungsperson. Im Vereinsblatt (1929) wurde die Langsamkeit und die Ungenauigkeit der Bewohner bemängelt, aber einige seien ganz geschickt – ihre Arbeit ließe sich auch für einen guten Preis verkaufen.[175]

    In Schloss Hartheim erhielten die betreuten Kinder und Jugendlichen keine Schulbildung. Sogenannte „Arbeitspfleglinge“ (ca. ein Drittel der Bewohner) waren in separaten Abteilungen untergebracht und wurden in den Werkstätten, in der Küche, im Garten wie auch in der anstaltseigenen Landwirtschaft tätig im Haushalt und in der Landwirtschaft eingesetzt. Die Männer arbeiteten als Bürstenbinder und Korbflechter. Die Frauen waren mit Nähen, Sticken, Stricken und Flicken beschäftigt.[176]

    Der Tagesablauf war in diesen Einrichtungen streng geregelt. Die Tagesordnung des Liebeswerkheimes in der Hafnerstraße, in dem männliche Jugendliche ausgebildet wurden, gestaltete sich folgendermaßen:

    • Aufstehen um 5.30 h, danach Gebet oder hl. Messe,

    • um 7.00 h Frühstück und Aufräumen der Zimmer,

    • von 8.00 h bis 18.00 h arbeiten in den Werkräumen,

    • vormittags eine Pause für die Jause und zehn Minuten im Hof,

    • nach dem Mittagessen eine Erholungspause von einer Stunde,

    • Nachmittagsjause und 15 Minuten Arbeitspause,

    • nach Arbeitsschluss: Aufräumen der Werkräume sowie eigene Körper- und Kleiderpflege,

    • nach dem Abendessen (ab 18.30 h) Unterhaltung „bei Spiel und Lektüre“ und

    • um 20.00 h gemeinsames Abendgebet und anschließend Nachtruhe.

    Die freie Zeit durften die Jugendlichen im Hof verbringen, einmal wöchentlich einen längeren Spaziergang machen, alle 14 Tage ein Bad nehmen, die Anstaltsleitung hatte das Recht, die Briefe zu lesen und Ausgänge gab es nur mit Erlaubnis, so die Hausordnung. Die Jugendlichen durften nur jene Tätigkeit erlernen, welche die gesetzlichen Vertreter im Einvernehmen mit der Leitung des Heimes für sie als passend bestimmten. Nach sechs Monaten in der Anstalt erhielten die Jugendlichen symbolisch rund fünf Prozent des Erlöses der von ihnen erzeugten Güter. Diese Ersparnisse wurden von der Anstaltsverwaltung angelegt oder damit Kleidung gekauft.[177] Als Lehrlinge im eigentlichen Sinn konnten nur wenige der betreuten Personen gemeldet werden, ihre Zahl war durch die Bestimmungen der Gewerbeordnung beschränkt, so die nachträgliche Auskunft eines früheren Lehrers.[178] Die meisten Jugendlichen arbeiteten ohne gesetzliches Lehrverhältnis in den Werkstätten und konnten somit auch keinen offiziell anerkannten Lehrabschluss bzw. kein Beschäftigungsverhältnis nachweisen.



    [162] Obermeier: Männerheim „Friedenshort“. In: Saul, Friedrich: Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der evangelischen Diakonissenanstalt in Gallneukirchen (Gallneukirchen 1927) 32-34, hier 33

    [163] Vgl. Lotz, Dieter: Theodor Heller (1869-1938). In: Buchka, Maximilian – Grimm, Rüdiger – Klein, Ferdinand (Hg.): Lebensbilder bedeutender Heilpädagoginnen und Pädagogen im 20. Jahrhundert (München 2000) 111-128

    [164] Wagner: Dr. Johann Gruber 115

    [165] Schmuhl, Hans-Walter – Winkler, Ulrike: Der das Schreien der jungen Raben nicht überhört. Der Wittekindshof – eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung, 1887 – 2012 (Bielefeld 2012) 32-35

    [166] Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Anstaltsbericht pro 1936, Hauptversammlung des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines (2. Juni 1937)

    [167] Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Anstaltsbericht pro 1936, Hauptversammlung des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines (2. Juni 1937)

    [168] Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Anstaltsbericht, Hauptversammlung des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines pro 1933 (17. Mai 1934 ) 5-6

    [169] Slapnicka, Harry: Homöopathie. Wege der Heilung in den ersten Jahrzehnten. Fürsorgetätigkeit der Barmherzigen Schwestern in Oberösterreich. In: Allg. öffentliches Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern, Linz (Hg.): 150 Jahre Dienst an Kranken. Geschichte des Krankenhauses der Barmherzigen Schwestern in Linz. 1841-1991 (Linz 1991) 16-18, hier 17

    [170] Fürstler: Der Glaube 30-34. Archiv des Diakoniewerkes Gallneukirchen, Zur Geschichte der Werkstatt. Auszug aus den Erinnerungen der Diakonisse Charlotte von François, angefertigt von Sr. Franzi Dolch (3. Juli 1987)

    [171] Fürstler: Der Glaube 30-37

    [172] Archiv des Diakoniewerkes Gallneukirchen, Zur Geschichte der Werkstatt 1-2

    [173] Archiv des Diakoniewerkes Gallneukirchen, Auszug aus dem Evangelischen Vereinsblatt (1929) 118. Es werden im Vereinsblatt folgende Beispiele für ehemalige betreute Personen gebracht: Ein Jugendlicher wurde bei einem Bauern untergebracht, wechselte mehrmals den Posten und man verlor ihn aus den Augen. Nach einiger Zeit wurde er verwahrlost und obdachlos von der Polizei aufgegriffen und ins Krankenhaus gebracht, wo er nach kurzer Zeit starb. Ein anderes Mädchen wurde gegen den Willen des Vereins zu den Eltern zurückgebracht. Bald darauf war es Angeklagte vor dem Jugendgericht, bekam dort einen Tobsuchtsanfall und wurde in die Heil- und Pflegeanstalt am Steinhof gebracht.

    [174] Archiv des Diakoniewerkes Gallneukirchen, 24. Jahresbericht über das Diakonissen-Mutterhaus Gallneukirchen, September 1918 - September 1919 (Linz 1919) 9

    [175] Archiv des Diakoniewerkes Gallneukirchen, Auszug aus dem Evangelischen Vereinsblatt (1929) 119

    [176] Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Hauptversammlung des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines pro 1933 (17. Mai 1934) 4

    [177] DAL, CDL SL, Sch. 8, Fasz. 5d: Hausordnung im Liebeswerkheim in der Hafnerstraße (o.J.)

    [178] DAL, CDL SL, Sch. 6, Fasz. 5a: Schreiben von Franz Haas (Lehrer in der Hafnerstraße) an die Allgemeine Invalidenversicherungsanstalt, Landesstelle Linz (9. Juli 1951)

    6 Die Finanzierung der Anstalten

    Die Anstalten für die Pflege und Versorgung von Menschen mit Behinderungen bekamen in der Monarchie wie auch in der Ersten Republik keine kontinuierliche öffentliche Förderung.[179] Die privaten Träger finanzierten die täglichen Ausgaben ihrer Einrichtungen aus multiplen Quellen mittels prekärer Finanzierungsstrukturen. Seiner Satzung zufolge finanzierte sich die Anstalt in Hartheim, wie auch die meisten anderen Wohltätigkeitseinrichtungen: „a) durch die Kostgelder der Zöglinge […]; b) durch die Erträgnisse der eigentümlichen Grundstücke der Anstalt; c) durch die Beiträge der Vereinsmitglieder; d) durch freiwillige Spenden von Wohltätern und Korporationen; e) durch etwa gegründete Freiplätze; f) durch anfallende Legate“[180]. Eine wesentliche Einnahmenquelle für die Anstalten stellte der Kostenersatz (Pflegesätze) für die erbrachten Leistungen dar. Die Unterbringung, Pflege und Verpflegung wurde bei vorhandenem eigenen Vermögen von den Pfleglingen selbst getragen. Die Anstaltsleitung konnte die Angehörigen auch auffordern den Pflegebedürftigen durch ein Vermächtnis in die Anstalt einzukaufen. Für die Versorgung in der Anstalt Hartheim wurde beispielsweise im Jahr 1936 ein monatlicher Pflegesatz von 60 Schilling verlangt.[181] Betrachtet man die kollektivvertraglichen Wochenlöhne Ende 1934, so wird deutlich, dass diese Summe bei vielen Berufsgruppen dem Wochenlohn eines Arbeiters und oft dem Zwei-Wochenlohn einer Arbeiterin entsprach.[182]

    Viele Anstaltsbewohner waren selbst noch minderjährig oder arm. Ihr Pflegesatz wurde monatlich bzw. halbjährlich ihren Familien oder der Heimatgemeinde in Rechnung gestellt. Manche Pfleglinge bekamen einen der wenigen Freiplätze. Die Pflegekosten wurden dann vom Land oder von Stiftungen getragen. Die Angehörigen ersuchten immer wieder um Ermäßigung der Pflegegebühr, ihnen wurde kaum stattgegeben. In einem Antwortschreiben auf ein Ermäßigungsersuchen antwortete der Landes-Wohltätigkeitsverein, der Pflegesatz sei bereits „um 25% billiger als das Haus der Barmherzigkeit in Linz, von den Spitälern gar nicht zu reden“[183]. Manche Familien oder Gemeinden wollten die Gebühren aus Geldmangel nicht bezahlen. Auf der Jahreshauptversammlung wurde angesprochen, dass Pfleglinge von der Gemeinde oder Verwandten aus Schloss Hartheim wieder abgeholt wurden, um sie kostensparender in den gemeindeeigenen Armenhäusern versorgen zu lassen oder „gar in die Einlage zu stecken“[184].

    Beispielhaft ist der Geschichte von Marie (Maria) Praxl (geb. 1905). Laut Krankenakt wurde sie von den Ärzten als „von Kindesbeinen auf schwachsinnig“ eingestuft. Nach nur zwei Jahren Schule wurde ihr der weitere Schulbesuch mit der Behauptung, dass sie nicht bildungsfähig sei und den Unterricht störe, verweigert. Danach lebte Praxl bis 1919 zuhause. Im März 1919 kam sie in das Martinstift der Diakonissenanstalt Gallneukirchen. Von dort schickte man sie 1925 wieder nach Hause, von wo sie im Jänner 1927 nach einem Konflikt mit der Familie in die Irrenanstalt Niedernhart eingewiesen wurde. Nach vier Jahren Aufenthalt in Niedernhart wurde sie 1931 in die Idioten- und Kretinenanstalt Hartheim verlegt. Der Bürgermeister von Wels überlegte, ob er Praxl nicht besser im Welser Versorgungshaus unterbringen könnte, denn das wäre für die Stadt billiger gewesen. Die Anstalt Hartheim weigerte sich mit dem Argument, dass sich Marie Praxl „nicht zur Übernahme in heimatliche Pflege“ eigne, da sie „störrig“ sei, um sich schlage und „in der städt.[ischen] Versorgungsanstalt als unerträgliche Störung empfunden werden“ würde. Der Welser Armenrat folgte dieser Empfehlung.[185] Auch andere wurden nicht sofort entlassen: Wilhelm Schättinger (geb. 1914) wurde zwei Jahre nach der Scheidung seiner Eltern im Jahr 1924 in die „Idioten- und Kretinenanstalt“ Hartheim gebracht. Er litt laut einem ärztlichen Gutachten von Oktober 1933 an „Idiotie“. 1934 suchten die Mutter und die Tante um die Erlaubnis an, ihn zuhause zu pflegen, was vorerst abgelehnt wurde. Erst im Mai 1935 wurde durch einen Arzt die Entlassung aus der Anstalt angeordnet.

    [186]

    Grundsätzlich, so eine Annahme nach der Durchsicht der Aufnahmebücher der Diakonissenanstalt Gallneukirchen für die Zeit der Ersten Republik, wurden die Pflegekosten für die behinderten Pfleglinge – im Gegensatz zu sogenannten Fürsorgekindern - meist von den Angehörigen bezahlt. Dennoch blieben Zahlungen von Pflegesätzen ausständig, da die „Pfleglinge […] bis auf Einzelne arm oder unbemittelt“[187] waren, wie in einem Ansuchen der Anstalt in Gallneukirchen um öffentliche Subventionen betont wurde. Einer Aufstellung des Seraphischen Liebeswerkes aus dem Jahr 1921 zufolge wurden 74 Kinder in zwei Anstalten für behinderte Kinder betreut (60 in Stadl-Paura und 14 in Gallneukirchen). Für 20 (27%) von ihnen wurden die gesamten Verpflegungskosten von Familie, Gemeinde oder Fürsorgeämtern übernommen, für 31 (42%) nur ein Teil bezahlt und 23 (31%) Kinder erhielten kostenlos eine Versorgung, weil die Zuständigen keine Verpflegungskosten zahlten bzw. zahlungsunfähig waren.[188] 1928 wurde vom Seraphischen Liebeswerk festgehalten, dass die öffentlichen Subventionen stark gekürzt und die Ausgaben fast ausschließlich aus dem Verkauf von Schriften und durch Spenden bestritten werden mussten. Man versuchte zwar Verpflegungsbeiträge bei Familien und Kommunen einzufordern, diese fielen aber – vor allem bei den „religiös gefährdeten“ Kindern, die sich zumeist aus sozial schwachen Familien rekrutierten – fast völlig aus.[189]

    In der Zeit der Monarchie wurde Ansuchen bei der öffentlichen Hand meist stattgegeben, bei Anlassfällen kam es zu öffentlichen und privaten Finanzierungs- und Schenkungsinitiativen, wie z.B. im Zuge der Feierlichkeiten zu den Krönungsjubiläen.[190] Bei nicht routinemäßigen Anschaffungen oder größeren Bauvorhaben wurden Ansuchen um Unterstützung an potentielle private und öffentliche Förderer gestellt.[191] Auch in der Ersten Republik brachten die privaten Träger Subventionsansuchen für Bauvorhaben, die Finanzierung von Freiplätzen oder um sonstige Beihilfen für die laufenden Ausgaben ein, die nach dem Ermessen der öffentlichen Hand gewährt wurden. So wurden 1922 die Gesamtkosten von 400.000 Kronen für die Einführung des elektrischen Lichtes in der Anstalt Hartheim mit 200.000 Kronen durch das Land Oberösterreich gefördert.[192] 1924 wurde beispielsweise die Sanierung und Neueindeckung des Schlossturmes durch den inflationsbedingten hohen Nennwert von 20 Millionen Kronen gefördert.[193] Wie aus den jährlichen Voranschlägen des Landesfonds ersichtlich wird, wurden das Taubstummeninstitut, das Blindeninstitut und die Blindenversorgungsanstalt, der Landes-Wohltätigkeitsverein, das Haus der Barmherzigkeit, das Katholische Waisenhaus und das Seraphische Liebeswerk immer wieder gefördert, wobei nicht kontinuierlich in gleicher Höhe.[194] Die höchsten Fördersummen bekamen dabei stets der Landes-Wohltätigkeitsverein und das Taubstummeninstitut.

    Fast alle christlichen und philanthropischen Trägervereine und ihre Einrichtungen organisierten Sammlungen in den ihnen nahestehenden Pfarren oder im Ausland. Die Diakonissenanstalt führte Spendensammeln bei evangelischen Pfarrgemeinschaften im In- und Ausland durch. Sie organisierte Aufrufe zu Sachspenden (z.B. Kleider und Schuhe), Weihnachtsbitten (z.B. Spielsachen, Bücher, Kleider, etc.) und Bazare.[195] Um in den Nachkriegsjahren die größte Not und Versorgungsengpässe, vor allem mit Lebensmitteln, zu lindern, reiste der Gallneukirchner Anstaltsleiter Friedrich Saul um Geld- und Sachspenden nach Deutschland, nach Holland, in die Schweiz und in die USA.[196] Von den Trägervereinen wurden dabei die Wohltätigkeit und das Wirken der Anstalten möglichst spendenanimierend, wenn nicht gar überzeichnet dargestellt. Für mitleidserregende Darstellungen wurden vor allem defizitorientierte Bezeichnungen und schlimme Schicksale betonende Beschreibungen von Pfleglingen und ihren Lebenssituationen verwendet. So wird beispielsweise in einem Jahresbericht des Landes-Wohltätigkeitsvereines auf die Arbeitsunfähigkeit, den „schwerfälligen Gang“ und „blöden Gesichtsausdruck“ des Pfleglings Theresia Reisinger hingewiesen.[197] Die Jahresberichte wurden mit Bittbriefen an potentielle Spender versendet.

    Zum Zwecke der Verbreitung der Botschaft vom Wirken und zur Erwirtschaftung von Einkünften gründete der Landes-Wohltätigkeitsverein schon in der Monarchie bis zu sieben Ortsgruppen. Infolge der Nachkriegswirren und durch die längere Inaktivität wurden die Ortsgruppen in den späten 1920er Jahren nach und nach aufgelöst. Es bestanden ursprünglich folgende Ortsgruppen: Aspach, Braunau, Gmunden, Höhnhart, Kremsmünster, Linz und Ried im Innkreis.[198]

    Der Verein Seraphisches Liebeswerk Österreich hatte zahlreiche Mitglieder (70.000, Stand 1932) und vergrößerte sich stetig. Der Generalvikar der Diözese Linz Josef Kolda[199] war zur Zeit der Ersten Republik der Präses des Seraphischen Liebeswerkes[200]. Er vertrat den Verein nach außen und innen, überwachte die Publikationen und „die sittlich-religiöse Erziehung der anvertrauten Zöglinge, soweit es die Gesetzesvorschriften gestatten“[201]. Die Satzung sah vor, dass „jeder großjährige Katholik, der im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte ist“, Mitglied werden konnte.[202] Durch die Mitgliedsbeiträge, zusätzliche Spenden und den Verkauf der Publikationen war die wirtschaftliche Situation des Vereins Anfang der 1930er Jahre gesund.[203] Ein Mitglied des Seraphischen Liebenswerkes musste 1918 monatlich einen Beitrag von mindestens zehn Kreuzern leisten. Seit ihrer Gründung versuchten die meisten privaten Trägervereine besonders bei wohlhabenden, aber auch bei mittelständischen Personen, zu denen sie in einem Naheverhältnis standen, Spenden und Erbschaften einzuwerben. Zur erweiterten Spendentätigkeit oder auch zu testamentarischen Verfügungen zugunsten des Vereins wurden die Mitglieder explizit aufgefordert. Hier konnten immer wieder kleinere und größere Erbschaften lukriert werden.[204] Als Gegenleistung für die finanzielle Unterstützung bekamen die Mitglieder des Seraphischen Liebeswerkes monatlich die Vereinszeitung zugestellt. Außerdem wurden den eifrigen Spendern und Erblassern die Lesung von an die 4000 heiligen Messen, vollkommene Ablässe für Sünden und sonstige Gebetsdienstleistungen versprochen.[205] Von Privatpersonen getätigte Spenden wurden namentlich oder anonymisiert mit Nennung der Summe im Vereinsorgan Seraphischer Kinderfreund veröffentlicht.

    Die im Vergleich mit Hartheim oder der Diakonissenanstalt kleine Einrichtung Marienstift in Raab versuchte mit Hilfe von Geburtstags-Grußkarten die Bevölkerung aktiv zu Spenden zu animieren.

    Sehr professionell und mit christlichem Erziehungs- und Sendungsbewusstsein erwirtschaften die Trägervereine Einnahmen durch den Verkauf von Zeitschriften und anderen Schriftsachen, wie beispielsweise dem Zwergenkalender.[206] Bei der Einführung der Diözese Linz in das Wirken des Seraphischen Liebeswerkes erklärte Pater Cyprian, Mitglieder seien in Bayern mehr die „kleinen Leute“[207]. Diese Einschätzung Pater Cyprians für Bayern könnte auch für Österreich gut möglich sein. Die monatlich erscheinende Vereinszeitung Seraphischer Kinderfreund richtete sich in Österreich an ein breites Publikum und hatte vor allem das Ziel, die katholische Glaubensgemeinschaft zu stärken und praktische Anleitungen für ein christliches Leben zu geben. Sie nahm sich besonders der katholischen Familien und ihrer Kinder an und unterhielt sein Lesepublikum mit heiteren Geschichten und Zeichnungen. Es finden sich in der Zeitung auch immer wieder Artikel über behinderte Kinder, wobei insbesondere auf das positive Wirken des Seraphischen Liebeswerkes im Bereich der Behindertenfürsorge hingewiesen wurde.

    Die Erträge durch den Verkauf der von den Pfleglingen hergestellten Produkte wie Bürsten, Flechtwerke usw. flossen dem Anstaltsbudget zu. Auch Produkte aus den z.T. sehr großen landwirtschaftlichen Betrieben, die fast jeder Anstalt angeschlossen waren, warfen ebenfalls ein Zubrot für das Anstaltsbudget ab und dienten zugleich der Sicherung der Versorgung mit Lebensmitteln. Die Anstalten hofften auch auf Glücksfälle wie einen Lotteriegewinn oder versuchten es mit Aktienspekulationen. Mit einem Trefferanleihelos gewann das Taubstummeninstitut am 1. März 1938 200.000 Schilling. Mit dem unverhofften Geldsegen wurde sogleich das Gebäude saniert und weiter ausgebaut.[208] Manche Einrichtungen kauften, anstatt die Versorgung ihrer Pfleglinge sicherzustellen, in nicht unerheblichen Ausmaß Kriegsanleihen oder hielten Wertpapierdepots. Die Kriegsanleihen waren aber nach dem verlorenen Krieg wertlos. Dies war auch bei nicht mündelsicheren Wertpapieren nach der Hyperinflation (1921-1924) der Fall.



    [179] Nur die psychiatrischen Anstalten, wo wie erwähnt zum Teil Menschen mit Behinderungen dauerhaft untergebracht waren, befanden sich zur Gänze in staatlicher Hand (zumeist der Länder). Die Entwicklung der psychiatrischen Anstalten geht auf das Engagement Josef II. in der Gesundheitsversorgung zurück, der ein staatliches System von allgemeinen und psychiatrischen Krankenhäusern etablierte (Watzka, Carlos: Psychiatrische Anstalten in Österreich 1780–1850. In: Österreich in Geschichte und Literatur, 53. Jg. (2009) H. 4, 356-372).

    [180] Engel, Friedrich: Die charitativen und humanitären Vereine 210

    [181] Stadtarchiv Wels (StAW), VoF Volkswohlfahrt – Fürsorgeamt, Sch. 2812, F6 Varia: Fürsorgegefälle Akt von Marie P. (ca. 1931-1941), recherchiert von Markus Rachbauer

    [182] Bundesamt für Statistik: Statistisches Handbuch für den Bundesstaat Österreich (Wien 1936) 129. Datengrundlage Volkszählung vom 22. März 1934. Wobei in Oberösterreich nur 41.037 (22,1%) Dienstverhältnisse bei insgesamt 185.393 unselbständig Beschäftigten (Angestellte und Arbeiter) kollektivvertraglich geregelt waren. Zu dieser Zeit galten 31,4% (58.276) der Bevölkerung Oberösterreichs als arbeitslos (Ebenda 125, 14).

    [183] Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Hauptversammlung des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines pro 1933 (17. Mai 1934) 3

    [184] Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2: Anstaltsbericht pro 1936, Hauptversammlung des o.ö. Landes-Wohltätigkeitsvereines (3. Juni 1937)

    [185] Rachbauer, Markus: Die Welser Opfer der NS-„Euthanasie“-Verbrechen. In: Stadt Wels (Hg.): Wels im Nationalsozialismus 2 (Wels 2012) 129-202, hier 164-165. Marie Praxl lebte vermutlich durchgehend bis zur Räumung in Hartheim im März 1940. Am 4. Juni 1940 wurde sie im Alter von 35 Jahren in der Tötungsanstalt Hartheim ermordet.

    [186] Ebenda 162-163. Nach viereinhalb Jahren häuslicher Pflege wurde Schättinger 1939 in das NS-Fürsorgeheim im Stift Schlierbach eingewiesen. Die Einweisung erfolgte auf Beschluss des Landesfürsorgeverbandes Oberdonau-Landesfürsorgeamt und des Landrates Schärding-Bezirksfürsorgeverband, dabei wurden seine Fähigkeiten schlechter beurteilt als sie tatsächlich gewesen sein dürften. Am 20. Juni 1940 wurde Wilhelm Schättinger aus Schlierbach abgeholt und mit 26 Jahren in der Tötungsanstalt Schloss Hartheim ermordet.

    [187] OÖLA, Landesausschuss, Sch. 154: D XIII 8 46-184, D XIV 2 80-361, Schreiben von Anstaltsleiter Friedrich Saul an die oö. Landesregierung (24. Mai 1923)

    [188] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 2d: Kurzer Überblick über die Tätigkeit des Liebeswerkes im Jahre 1921

    [189] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 2: Memorandum über die Liebeswerkarbeit (1928)

    [190] Kaiserjubiläums-Wohltätigkeits-Landeskomitee, Linz, Bericht über den Kaiser Franz Josef- Jubiläumsbau 1908 zum Hause der Barmherzigkeit für unheilbar Kranke in Linz a. D. (Linz 1910)

    [191] DAL, CDL SL, Sch. 6, Fasz. 5a: negatives Antwortschreiben der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Linz auf ein Ansuchen um Förderungen für den Ausbau der Anstalt in der Hafnerstraße, 12. Oktober 1936. Ansuchen zu diesem Zwecke wurden auch an die Kammer für Arbeiter und Angestellte in Linz (15. Juni 1936), an das Magistrat Linz (03. März 1936) und an verschiedenen Banken gestellt.

    [192] Land Oberösterreich, Beilage Nr. 51 zum stenogr. Protokolle des oö. Landtages, XII. Wahlperiode, I. Session, 1922, Bericht des Finanzausschusses betreffend die Gewährung einer Subvention zur Erhaltung der Idiotenanstalt in Hartheim, Berichterstatter: Dr. Mayr (8. Mai 1922)

    [193] OÖLA, Landesausschuss, Sch. 154: D XIII 8 46-184, D XIV 2 80-361, Dankesschreiben des oö. Landes-Wohltätigkeitsvereines an die oö. Landesregierung (6. Oktober 1924)

    [194] Land Oberösterreich, Beilagen zum stenographischen Protokoll des o. ö. Landtages, Voranschlag für den oberösterreichischen Landesfonds für das Verwaltungsjahr 1919, 1921, 1935, 1936, 1937

    [195] Siehe beispielsweise Archiv des Diakoniewerkes Gallneukirchen, Evangelisches Vereinsblatt zugleich Gemeindeblatt aus Oberösterreich, 58. Jg. (Gallneukirchen 1933) H. 2, 31

    [196] Saul, Festschrift Diakonissenanstalt (Gallneukirchen 1927) 18

    [197] Archiv der GSI; OÖ:LWV: 1. Jahresbericht der Idioten- und Cretinenanstalt in Hartheim 16; Archiv der GSI; OÖ:LWV: Jahresbericht des Landes-Wohltätigkeitsvereins für das Jahr 1919 (1920) 9

    [198] Siehe: Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 1: Steuern- und Finanzangelegenheiten (1928-1938)

    [199] 1864-1947, Generalvikar von 1922 bis 1941.

    [200] Vergleichbar einem Obmann.

    [201] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 1a: Satzung des Vereins Seraphisches Liebeswerk für Österreich (1908)

    [202] Ebenda

    [203] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 2: Bericht für die internationale Liebeswerk-Vertretertagung in Solothurn über die Tätigkeitsjahre 1931-1932 des Seraphischen Liebeswerkes Linz. (o. J. wahrscheinlich 1933) 3

    [204] AStL, Mat 27, Beschluss über die Verteilung eines Nachlasses an das Liebeswerkheim in Stadl-Paura, das Taubstummeninstitut, das Katholische Waisenhaus Linz und weitere christlich-soziale Einrichtungen (15. September 1931). Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 1: Sammlung von schriftlichen Belegen zu diversen Erbschaften (1917-1936)

    [205] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 1c: Mitgliederkarte von Johanna Eberl (datiert mit 12. März 1918)

    [206] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 2: Seraphisches Liebeswerk (o.J.). Bekannt waren die Publikationen des Seraphischen Liebeswerkes für ihre Illustrationen durch den damals bekannten Zeichner und Karikaturisten Karl Storch (1868 – 1955). (Hans Kunterbunt. Heitere, nachdenkliche und seltsame Geschichten 1926 bis 1941 (?). URL: http://members.aon.at/zeitlupe/hanskunterbunt.html, aufgerufen am 06. Jänner 2015).

    [207] DAL, CDL SL, Sch. 1, Fasz. 1: Promemoria über die Einführung des Seraphischen Liebeswerkes in Österreich (o.J. wahrscheinlich 1903)

    [208] Schließleder: 150 Jahre Taubstummen-Institut Linz, hier 53-56

    7 Schlussfolgerungen und Ausblick

    In der Zeit der Ersten Republik lebten die meisten Menschen mit Behinderungen relativ selbständig, gingen einer Beschäftigung nach oder lebten mit ihrer Familie. Von ihnen persönlich wissen die Archive kaum etwas zu berichten. Die meisten der in diesem Aufsatz verwendeten schriftlichen Quellen wurden von Einrichtungen und Behörden erstellt, obwohl im Vergleich zu heute wenige Menschen mit Behinderungen mit der öffentlichen Fürsorge bzw. spezialisierten Einrichtungen in Kontakt traten. Hier lässt sich, trotz eines kritischen Umgangs mit den Quellen, meist nur der administrative und institutionelle Blick auf die betroffenen Menschen und ihre Lebenssituation rekonstruieren.

    Beginnend mit Joseph II. entwickelte sich ein staatliches Versorgungssystem mit Allgemeinen Krankenhäusern und psychiatrischen Anstalten, jedoch um die Pflege und Versorgung der Menschen mit Behinderungen nahm sich der Staat nicht an. Dieses Feld wurde den Familien selbst und schließlich karitativen und philanthropischen Vereinigungen überlassen. Behinderte Menschen waren bei Erwerbsunfähigkeit häufig extremer Armut und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Die Gesellschaft antwortete darauf mit spezialisierten Einrichtungen, die deren Arbeit geprägt war von Motiven der Barmherzigkeit, Nächstenliebe und der Erziehung zum Christen der Sozialenzyklika des Papstes Leo XIII. (1891) und der evangelischen Erweckungsbewegung. Für die katholische und evangelische Kirche und die hier tätigen Glaubenskongregationen hatte die Selbstheiligung durch die Arbeit an den „armen Seelen“ und die Stärkung des christlichen Glaubens der zu versorgenden Menschen Priorität.

    Sehr früh werden organisatorische Trennungsversuche in der Versorgung vorgenommen, welche die „Bildungsfähigen“ von den „Bildungsunfähigen“, die weiblichen von den männlichen Pfleglingen, die Alten von den Jungen und je nach Art der Beeinträchtigung die Menschen generell separierte. Menschen mit Behinderungen wurde bei attestierter Bildungsfähigkeit eine „sittlich-religiöse“ Erziehung und Ausbildung ermöglicht, den „Bildungsunfähigen“ bot die Anstalt Versorgung und Verwahrung. Die Träger der Anstalten waren private Vereine, die der katholischen oder evangelischen Kirche nahestanden. In allen Fällen waren Priester als Leiter der Anstalten tätig. Die Pflege übernahmen Ordensschwestern oder –brüder gemeinsam mit Hilfspersonal. An eine Orientierung an existierende (reform-)pädagogischen Erziehungsideale oder heiltherapeutische Maßnahmen in den Einrichtungen dachten die Betreuenden vorerst wenig, obgleich Ansätze moderner pädagogischer und therapeutischer Versorgung (Hilfsschulen, Ausbildungswerkstätten, orthopädisches Turnen) durch engagierte Unterstützer eingebracht wurden.

    Das Leben der Menschen in den Einrichtungen war durch strukturelle Probleme gekennzeichnet. Die Einrichtungen waren privat und erhielten im Vergleich zu ihren Ausgaben wenig öffentliche Förderungen. Sie standen auch kaum unter behördlicher Aufsicht. Aus heutiger Sicht negativ wirkten vor allem die viel zu großen Gruppen, die nicht vorhandene pädagogische und therapeutische Ausbildung des Personals und die viel zu großen psychischen und physischen Anforderungen, die an die pflegenden Personen gestellt wurden. Bis in die 1980er Jahre gab es die Ausbildung zum Behindertenbetreuer bzw. zur Behindertenbetreuerin nicht. In den Betreuungsanstalten gab es hinsichtlich der medizinischen, therapeutischen und pädagogischen Standards kaum öffentliche Kontrolle. Es ist anzunehmen, dass gerade im Hinblick auf Gewalt und Missbrauch in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, in den Anstalten der Ersten Republik derartigen Vorkommnissen kaum etwas entgegengesetzt wurde.

    Bei der Kritik an den Strukturen und den Versorgungs- und Erziehungsanstalten in der Zwischenkriegszeit darf nicht übersehen werden, dass sich diese christlich-karitativen Initiativen jener Personengruppen annahmen, um deren Versorgung und Ausbildung sich der Staat bislang kaum gekümmert hatte. Jenen Männern und Frauen, die selbstlos und aus ihrer religiösen Motivation heraus, diese Arbeit übernahmen, soll auch in diesem kritischen Beitrag große Anerkennung gezollt werden.

    Große materielle Not und fehlende Ressourcen prägten das Leben der Menschen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sowie im Zuge der Weltwirtschaftskrise. Die angespannte soziale und wirtschaftliche Situation und die Etablierung sozialstaatlicher Institutionen in der Zwischenkriegszeit führten zu vermehrten Diskussionen und einer Änderung der Einstellung in der Wissenschaft zu bevölkerungspolitischen Maßnahmen, „nun wurde das Argument der gesellschaftlichen Kosten ‚unproduktiver‘, weil ‚minderwertiger‘ Mitglieder der Gesellschaft immer stärker betont“.[209] 1938 lässt sich ein deutlicher Einschnitt erkennen, in dem die Bemühungen der kirchlichen Träger wie auch reformpädagogische Ansätze zunichte gemacht wurden. Einerseits versuchte das NS-Regime, den Betreuungsbereich für Menschen mit Behinderungen dem Staat zu unterstellen – in Österreich zweifellos ein Novum bis dahin. Das NS-Regime wollte durch gezielte Förderung und medizinische Rehabilitation die „Heilbaren“ und „Erbgesunden“ in die (Kriegs-)Wirtschaft einbinden und in die „Volksgemeinschaft“ integrieren.[210] Andererseits wurden Maßnahmen im Sinne der NS-Rassenhygiene und Eugenik eingeführt und in der Folge die Menschen mit Behinderungen, die von medizinischen Gutachtern als „erbkrank“ und „minderwertig“ klassifiziert wurden, sterilisiert und/oder ermordet. Im Schloss Hartheim bei Alkoven, vor dem „Anschluss“ eine katholisch-karitative Einrichtung für Menschen mit Behinderungen, wurden 18.000 behinderte und psychisch kranke Menschen im Rahmen des Euthanasieprogramms „Aktion T4“[211] systematisch in der Gaskammer ermordet. Nicht wenige der zuvor dort betreuten Menschen gehörten zu den ersten Opfern der Tötungsanstalt[212] Im August 1941 wurde die Aktion nach Widerständen gestoppt, aber die Tötung „unwerten“ Lebens wurde daraufhin dezentral in den einzelnen Einrichtungen weitergeführt. Das medizinische Personal tötete Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten selbst, wie z.B. in Niedernhart und Gschwendt. Aufgrund der Mordaktionen und der extrem schlechten Lebensbedingungen in den Einrichtungen sollte es zu einer sprunghaft erhöhten Sterberate in den Jahren ab 1940 kommen.[213]

    Quelle

    Angela Wegscheider: Differenzierte Hilfe für Menschen mit Behinderungen in Oberösterreich (1918-1938)

    bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

    Stand: 22.04.16



    [209] Vgl. Hofmann, Gustav - Kepplinger, Brigitte – Marckhgott, Gerhart – Reese, Hartmut: Gutachten zur Frage des Amtes der OÖ. Landesregierung, „ob der Namensgeber der Landesnervenklinik [Julius Wagner-Jauregg] als historisch belastet angesehen werden muss“ (Linz 2005) 23

    [210] Siehe dazu: Zajunz, Antonie: Über die Körperbehinderten-(Krüppel)Fürsorge mit besonderer Berücksichtigung ihres Aufbaus in der Ostmark (Innsbruck 1943)

    [211] Nach 1945 wurde das Euthanasieprogramm für Erwachsene als „Aktion T4“ bekannt, benannt nach der Berliner Büroleitzentrale für die Ermordung behinderter Menschen, einer Berliner Villa in der Tiergartenstraße 4 (Kepplinger, Brigitte: NS-Euthanasie in Österreich: Die „Aktion T4“ –Struktur und Ablauf. In: Kepplinger, Brigitte – Marckhgott, Gerhart – Reese, Hartmut (Hg.): Tötungsanstalt Hartheim. (Linz 2008) 35-63, hier 37). Zwischen 1941 und 1944 wurden in Hartheim bis zu 10.000 kranke oder arbeitsunfähige KZ-Häftlinge ermordet (Schwanninger, Florian: Schloss Hartheim und die „Sonderbehandlung 14 f 13“. In: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation (Hg.): NS-Euthanasie in der „Ostmark“ (Münster 2012) 61-88.

    [212] Kepplinger, Brigitte: Die Tötungsanstalt Hartheim 1940-1945. In: Kepplinger, Brigitte – Marckhgott, Gerhart – Reese, Hartmut (Hg.): Tötungsanstalt Hartheim. (Linz 2008) 63-116

    [213] Kepplinger: NS-Euthanasie in Österreich 58-60

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