Was haben wir gelernt? Ein Versuch Fragen zu stellen

Autor:in - Volker Schönwiese
Themenbereiche: Eugenik
Textsorte: Referat
Releaseinfo: Referat bei der Gedenkfeier im Schloß Hartheim, 19. Mai 1990, 50 Jahre nach den ersten Euthanasie-Morden. Veranstaltung im Rahmen des wissenschaftlichen Symposium 'EUTHANASIE' IM DRITTEN REICH, veranstaltet vom Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Linz und dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Ohne Fußnoten veröffentlicht in: Informationen der Gesellschaft für politische Aufklärung, Nr. 27, Dez. 1990, Seite 2-4.
Copyright: © Schönwiese 1990

Vorwort:

Ein TV-Dokumentation über die Gedenkfeier und Tagung (30min, ORF- Orientierungen 1990) "behindert - ausgegrenzt - getötet" von Johannes Neuhauser ist auf youtube zu finden: http://www.youtube.com/watch?v=tFUQZNi372I

Was haben wir gelernt? Ein Versuch Fragen zu stellen.

Ich möchte ein Stück darüber nachdenken, was wir denn daraus gelernt haben, daß es möglich war, die Mordmaschinerie der Euthanasie während der Herrschaft des Nationalsozialismus in Gang zu bringen, daß es überhaupt möglich war Fabriken des Todes zu errichten wie hier in Hartheim.

Es ist entschieden zu einfach, moralistisch darauf zu reagieren und in irgend einer mehr oder weniger pathetischen Form ein „nie wieder ...“ zu formulieren. Moralische Appelle verdecken Ursachen und können damit Teil einer Abwehrstrategie sein, heutige Formen der Vernichtung von Lebensformen von behinderten Menschen zu betrachten. Die Geschichte wiederholt sich nie in der selben Form, die Euthanasie schlüpft in jeweils moderne Gewänder.

Ich gehe davon aus, daß der Wille zur Vernichtung behinderter Lebensformen - z.B. in der Form von Vernichtung von Identität - weiterhin existiert. Dieser Vernichtungswille verwirklicht sich umso leichter, je mehr absondernde Betreuungsinstitutionen als kalkulierte politische Strategie errichtet werden. Asylieren - Sterilisieren - Euthanasieren[1] war der Dreischritt der Vernichtung behinderter Menschen, sind wir aus dieser Stufenleiter denn schon wirklich ausgebrochen? Das Asylieren von behinderten Menschen, d.h. die strukturelle Gewalt der Verweisung von behinderten Menschen in jede Form von Sonderinstitutionen und Heime ist immer noch modern, das Prinzip der Asylierung ist nahezu ungebrochen[2]. Aber Zwangssterilisierung (Erleichterung der Sterilisation ohne Einwilligung der betroffenen Person) wird aktuell wieder zunehmend diskutiert[3].

Die Selbstgerechtigkeit in Gedenks- und Sonntagsreden zu sagen „wir sind ja schon weitergekommen“ oder „es ist schon viel geleistet worden“ verdeckt die weiterhin existierende Aussonderungsstrategie. Sonderinstitutionen und große Heime (wie z.B. mit 280 Heimbewohnern im Institut Hartheim) sind und bleiben „totale Institutionen“, die von ihrer Struktur her Menscherechtsverletzungen produzieren. Wenn in diesem Zusammenhang von „Wohltätigkeit“ geredet wird, ist dies nicht nur altväterlich, sondern auch ein Beweis, daß nichts begriffen worden ist.

Dies ist keine moralinsaure Schuldzuweisung an Einzelpersonen, sondern die Benennung eines gesellschaftlichen Auftrages, der immer noch existiert: Die Abspaltung der Produktiven von den Unproduktiven, die Installierung der sinnlichen und alltagswirksamen Erkenntnis von Normal und Abnormal.

Es ist sicher zu kurz gegriffen, diesen Vorgang einfach zu beklagen, zu fragen ist, WIE sich dieser weiterhin existierende Vernichtungswille fortpflanzt, WIE er den Wandel der Zeiten überlebt.

Ich möchte behaupten der Vernichtungswille gegenüber der „Abnormalität“ hat seinen tiefsten Grund im gesellschaftlichen Vorgang der Projektion von existentiellem und gesellschaftlich produziertem Leid auf behinderte Menschen. Diese Leidensprojektion hat nichts mit der autonomen Lebenswirklichkeit von behinderten Menschen zu tun, hat nichts zu tun mit der Trauerarbeit, die behinderte Menschen und die betroffene soziale Umwelt zu leisten haben.

Leidensprojektion ist die systematische Verschiebung gesellschaftlich verdrängter Inhalte auf eine konkrete Bevölkerungsgruppe. Zur Zeit des Faschismus blühte ein bestimmter Todeskult, die Faszination der Götterdämmerung, ist es nicht bezeichnend, daß diesem Kult zuerst behinderte Menschen unterworfen wurden? Die Propaganda für die Euthanasie begann mit der Propagierung des entsetzlichen Leidens von behinderten Menschen. Ist nicht diese Projektion des Leidens weiterhin so ungebrochen, wie die Tradition des Vergessens, des Verdrängens und Asylierens? Sind nicht die Spendenkampagnen für behinderte Menschen die modernen Kulte der Leidensprojektion? Ist hier denn nicht unter dem Deckmantel der Hilfe ein Ablaßwesen installiert, das die Normalen von Abnormalem reinigen soll? Ist es denn nicht so, daß die Frage, WIE der Faschismus Massenwirksamkeit erhalten konnte, nicht auch eng mit der Frage gekoppelt ist, WIE Massen von Menschen rituellen Inszenierungen unterworfen wurden, in denen eine „Politik der Gefühle“ betrieben wurde, Gefühle rituell benutzt und gewendet wurden?[4] Ist denn die öffentliche Würdigung der Bedauernswertigkeit und des Leides behinderter Menschen nicht genauso eine aktuelle rituelle und ideologische Massenpropaganda auf Kosten behinderter Menschen? Sind nicht „Licht ins Dunkel“ und ähnliche Aktionen die Produzenten von Vorurteilen und der Idelogie, daß das Wesen von Behinderung im Leiden begründet ist?

Um das mit einem Kontrast zu unterstreichen: Ich habe noch nie gehört, daß für Militärgüter wie Abfangjäger oder Panzer Spenden gesammelt wurden.

Argumentiert nicht auch der Philosoph Peter Singer mit seiner modernistischen (utilitaristischen) Ideologie, in seiner Ethikdiskussion der Euthanasie[5] mit dem Erlösen vom Leiden (wie der Arzt Hackethal)? Paßt nicht diese moderne Leidensprojektion ausgezeichnet zu der neuen Euphorie, die menschliche Existenz sei durch Gentechnologie zu manipulieren und in gut und schlecht, nützlich und lebensunwert zu teilen? Sind nicht auch hier wieder - wie bei der faschistischen Götterdämmerung - die behinderten Menschen die neuen und ersten Opfer der Sortierung der Lebensrechte unter dem Diktat der Nützlichkeit?

Es ist kein Zufall, daß die „Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben“ gegründet wurde und auch schon Zyankali an behinderte Menschen verteilt. Es geschah schon mehrfach, daß behinderten Menschen, die nach hohen Querschnittslähmungen mit Trauerarbeit beschäftigt waren und akut unter Depressionen litten und zudem zuwenig Geld zugestanden bekommen hatten, um damit ausreichend Pflege und Hilfe für ein selbstbestimmtes Leben zu erhalten, daß diese Menschen Zyankali „auf eigenen Wunsch“ erhielten[6]. Dies ist aktive Leidensprojektion die zur Selbst-Euthanasie führt. Statt Hilfe für das Leben, wird als Dienstleistung Sterbehilfe mit Zyankali angeboten.

Als Anmerkung dazu muß gesagt werden, daß der Pflegenotstand in Österreich im Vergleich zur BRD noch eklatanter ist, trotz bester Wirtschaftskonjunktur und einem allgemeinen Reichtum, den Österreich in diesem Ausmaß noch nie erlebt hat. Eine Debatte zur „Pflegesicherung“ wird dennoch unter dem Primat der Kosteneinsparung geführt, ein guter Nährboden dafür, daß sich behinderte und pflegebedürftige Menschen als Last der Gesellschaft fühlen.[7]

Ist die neue Debatte um die Euthanasie die Spitze des Eisberges des Bewußtseins einer neuen Zeit, oder anders: Wird das Eis gebrochen den alten in einen neuen Vernichtungswillen umzusetzen? Welche Eisbrecher sind denn da mit welcher Mannschaft unterwegs?

Ich möchte noch ein Beispiel erzählen, das weniger von einer auch äußerlich erkennbaren Dramatik lebt und in keinen Zeitungen Schlagzeilen macht. Seit längerer Zeit bemühen sich in Österreich Gruppen von Eltern behinderter Kinder darum, daß ihre behinderten Kinder ein Recht darauf bekommen, gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern in der „Regelschule“ unterrichtet zu werden. In diesem Zusammenhang passiert es immer wieder, daß Lehrer von Schulen darüber abstimmen, ob sie für eine integrative Klasse in ihrer Schule sind, ebenso passiert es immer wieder, daß die Eltern der nichtbehinderten Kinder über die Anwesenheit von behinderten Kindern in der entsprechenden Schulklasse abstimmen. Dabei ist zu fragen: Kann über so etwas überhaupt abgestimmt werden[8]? Wer hat das Recht darüber abzustimmen, daß behinderte Kinder ausgeschlossen werden? Die Frage ist insbesondere auch dann noch verschärft zu stellen, wenn die Abstimmung gepaart ist mit einer Weigerung, sich den Erkenntnissen integrativer Pädagogik zu stellen. Wird hier nicht Demokratie zur Unterdrückung von Minderheitenrechten mißbraucht? Behinderte werden unter Beweiszwang gestellt, daß sie die Nichtbehinderten nicht stören und einschränken und es wird nicht gefragt, wie eine demokratische und humane Schule auszuschauen hat, die fähig ist, eine Schule für alle zu sein und Entwicklungen zu autonomen Persönlichkeiten für alle Kinder zu ermöglichen. Ist diese Umkehrung der Beweislast nicht auch Ausdruck des genannten (verdeckten) Vernichtungswillens?

Behinderte Menschen wurden und werden mißbraucht. So wie der Eiffelturm als Symbol der modernen Industriegesellschaft errichtet wurde und wirkt, wirken behinderte Menschen als Symbol des Leidens, behinderte Menschen werden als Leidende gebraucht - um dann in Sonntagsreden zynisch die Vorurteile gegen behinderte Menschen zu beklagen.

Der Faschismus hatte viele Ursachen und hat viele Mittel wirksam benutzt, er hat an existierenden Verkehrs- und Produktionsformen angesetzt. „Nie wieder Faschismus - oder nie wieder Euthanasie“ zu proklamieren ist naiv. In welchen verdeckten modernistischen Formen, WIE die Tendenz zum Faschismus weiter unter uns wirkt, ist die einzig mögliche immer wieder zu stellende Frage.

Quelle

Volker Schönwiese: Was haben wir gelernt? Ein Versuch Fragen zu stellenReferat bei der Gedenkfeier im Schloß Hartheim, 19. Mai 1990, 50 Jahre nach den ersten Euthanasie-Morden. Veranstaltung im Rahmen des wissenschaftlichen Symposium 'EUTHANASIE' IM DRITTEN REICH, veranstaltet vom Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Linz und dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 13.01.2015



[1] Vgl.: ROMEY, Stefan: Asylierung - Sterilisierung - Abtransport. Die Behandlung geistig behinderter Menschen in Nationalsozialismus. In: WUNDER, Michael/Udo SIERK, Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand. Frankfurt 1982, Verlag Dr.med.Marbuse.

[2] Die typische Folge von andauernder Asylierung ist der Verlust von Autonomie oder das Verhindern von Entwicklungen zu autonomen Persönlichkeiten. Hospitalismus ist das moderne Symptom von Vernichtung von Identität. Zur genauen Beschreibung der strukturellen Gewalt totaler Institutionen vgl., GOFFMAN, Erving: Asyle. über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main 1972, edition suhrkamp 678.

[3] Direktes und indirektes Sexualverbot, sowie die Sterilisation ohne Einwilligung der betroffenen Person, bedeuten die Vernichtung von Menschen als Geschlechtswesen und damit das Auslöschen einer wichtigen, wenn nicht der wichtigsten Grundlage menschlicher Identität. In Österreich ist die Sterilisation von Menschen „ohne Einwilligungsfähigkeit“ auf Antrag der Erziehungsberechtigen erlaubt und bei geistig behinderten Menschen (bzw. fast nur Frauen) üblich - dies ist eine Form von Zwangssterilisation. In Schweden ist die Sterilisation ohne Einwilligung der betroffenen Person prinzipiell untersagt, ohne daß irgend welche Folgen, die von Befürwortern der Zwangssterilisation befürchtet wurden, eingetreten sind.

[4] Vgl.: HASLINGER, Josef: Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich. Darmstadt 1987, Luchterhand Verlag.

[5] Vgl.: SINGER, Peter: Praktische Ethik. Stuttgart 1989, Reclam Verlag. Daraus drei Zitate: „Die Nazis haben fürchterliche Verbrechen begangen; aber das bedeutet nicht, daß alles (Hervorhebung durch P.Singer), was die Nazis taten, fürchterlich war. Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie durchgeführt haben, ebensowenig wie wir den Bau von neuen Straßen aus diesem Grund verdammen können…. (Seite 210) Ein Leben körperlichen Leidens, das nicht durch irgendeine Form von Freude oder durch einen geringen Grad von Selbstbewußtsein gemildert wird, ist nicht lebenswert. (Seite 211)…. Die Totalansicht erfordert die Frage, ob der Tod eines hämophilen Säuglings zur Schaffung eines anderen Wesens führen wird, das sonst vielleicht nicht existieren würde. Mit anderen Worten: werden die Eltern, wenn das hämophile Kind getötet wird, ein weiteres Kind bekommen, das sie nicht hätten, wenn das hämophile Kind leben würde? Und wenn sie es hätten, würde das zweite Kind dann vermutlich ein besseres Leben haben, als es das getötete gehabt hätte? Oft wird es möglich sein, diese beiden Fragen zu bejahen“. (Seite 183)

[6] Vgl. z.B.: LOERZER, Sven: Sterbehilfe statt Lebenshilfe? Vom umstrittenen Wirken der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben. In: Süddeutsche Zeitung Nr.94, 24. April 1990, Seite 20.

[7] Vgl. die Diskussion über die „Neuen Wege der Sozialpolitik“, ein Konzept von sechs österr. Landesregierungen, in: SCHÖNWIESE, Volker/Helmut DIETL, „Neue Sozialpolitik“. Erfahrungen und Konzepte zum Problem Pflege. in: Kurswechsel, Heft 2/1988, Seite 73 ff.

[8] Ein konkretes Abstimmungsbeispiel diskutiert z.B. Jutta SCHÖLER in ihrem Buchbeitrag: Kleine Bunte Wedel. In: Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung (Hrsg.), Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. Innsbruck 1990. Siehe: http://bidok.uibk.ac.at/library/schoeler-wedel.html

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