Systematische „Enthinderung“:

UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet zum Barriereabbau

Autor:in - Leander Palleit
Themenbereiche: Recht
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen als: Positionen Nr. 7 der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention
Copyright: © Deutsches Institut für Menschenrechte 2012

Abbildungsverzeichnis

    Vorbemerkung

    Diesen Text in Leichter Sprache finden Sie unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/palleit-positionen7-l.html

    Das Deutsche Institut für Menschenrechte: Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser Prinzipien der Vereinten Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den Aufgaben des Instituts gehören Politikberatung, Menschenrechtsbildung, Information und Dokumentation, angewandte Forschung zu menschenrechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen. Das Institut verfügt über eine öffentliche Fachbibliothek.

    Die Monitoring-Stelle: Die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention begleitet die Umsetzung der Konvention in Deutschland. Sie setzt sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein und macht diese in Deutschland weiter bekannt. Die Monitoring-Stelle berät Politikerinnen und Politiker, leistet angewandte Forschung und organisiert Veranstaltungen zu Themen der Konvention. Sie wurde im Mai 2009 im Deutschen Institut für Menschenrechte eingerichtet und wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert.

    Der Autor: Dr. Leander Palleit ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention. Er ist Experte für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

    Barrieren – mehr als nur ein bauliches Problem

    Menschen mit Behinderungen begegnen in Deutschland nach wie vor einer Vielzahl unterschiedlichster Barrieren, die sie im täglichen Leben behindern. Die Barrieren reichen von Hindernissen im öffentlichen Nah- und Fernverkehr und in Gebäuden (physische Barrieren) über unverständliche Gebrauchsanweisungen, Anwendungsprobleme im Internet oder komplizierte Behördeninformationen (kommunikative Barrieren) bis hin zu Vorurteilen und Stereotypen (Barrieren in den Köpfen). Auch gesetzliche Bestimmungen können Hindernisse darstellen, so ist etwa der Wahlrechtsausschluss gemäß den Wahlgesetzen ein Hindernis für die politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen (rechtliche Barrieren).

    Abbildung 1. Abbildung 1

    Fotographie eines Mannes der vor dem Computer sitzt. Im
Hintergrund sieht man eine Frau am Telefon.

    Zugänglichkeit nach der Behindertenrechtskonvention heißt auch, technische Hilfsmittel Menschen mit Behinderungen anzupassen. Hier ein blinder Richter, der mit einer Braillezeile am Computer arbeitet

    Barrieren halten Menschen mit Behinderungen systematisch davon ab, eine Arbeit zu finden oder gleichberechtigten Zugang zu anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen wie Sport- und Kulturangeboten zu erhalten. Diese strukturellen Barrieren zu beseitigen ist maßgebend, damit behinderte Menschen aktiv und umfassend an der Gesellschaft teilnehmen können. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verweist nicht ohne Grund gleich zu Anfang darauf, wie wichtig es ist, „dass Menschen mit Behinderungen vollen Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation haben, damit sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll genießen können“ (Präambel UN-BRK).

    Was ist Zugänglichkeit?

    Die Konvention verwendet den Begriff Zugänglichkeit (Englisch: „accessibility“) und meint damit die Bedingungen, die über den Zugang zu einem Recht entscheiden. Im Kontext von Behinderungen bezieht sich die Zugänglichkeit auf die physische Umwelt und darüber hinaus auf Güter und Dienstleistungen, auf Kommunikation, Inhalte (Verständlichkeit) und Abläufe (Prozesse). Dieser Zugang soll gleichberechtigt mit anderen sein. Erfasst werden dabei auch die Bedingungen der bestimmungsgemäßen Nutzung: Es geht nicht nur um einen irgendwie gearteten Zugang, sondern heißt auch, ein Gebäude, eine Dienstleistung, ein Kommunikationssystem nicht nur betreten, kontaktieren oder anwählen, sondern auch bestimmungsgemäß nutzen zu können.

    Menschen „erfahren“ eine Behinderung

    Zugänglichkeit ist wesentlich verknüpft mit dem Behinderungsverständnis der UN-Behindertenrechtskonvention. Die Konvention besagt, dass Behinderung keine persönliche Eigenschaft ist, sondern dass Menschen mit einer langfristigen Beeinträchtigung erst in der Wechselwirkung mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld – den zahlreichen Hindernissen – eine Behinderung erfahren (siehe Positionen Nr. 4).

    Mit diesem Verständnis von Zugang greift die Konvention einen menschenrechtlichen Kernbegriff auf. Der allgemeine Zugangsbegriff umfasst neben den behinderungstypischen Zugangshindernissen auch die Forderung nach der Erschwinglichkeit von Leistungen oder Waren: Das Recht auf Wasser bedeutet etwa nicht, dass Trinkwasser umsonst erhältlich ist, sondern dass der Staat die Erschwinglichkeit für alle Bevölkerungsteile und in dieser Hinsicht den Zugang zu Wasser gewährleisten soll. Diese Fragen der wirtschaftlichen Zugänglichkeit greifen auch bei Menschen mit Behinderungen, etwa wenn es darum geht, im Bereich des Versicherungsschutzes für sie erschwingliche Tarife zu entwickeln und eben keine speziell teuren Gebühren, die sie sich nicht leisten können (wirtschaftliche Barrieren).

    Zugänglichkeit hat zwei Dimensionen

    Zugänglichkeit hat zunächst immer eine allgemeine Dimension. Diese wird oft durch Normen oder Standards festgelegt; im Bereich Bauen regeln zum Beispiel die DIN-Normen die Voraussetzungen für den Zugang für Wohnhäuser. Dies setzt voraus, dass die Bedingungen für den Zugang allgemein klar definiert sind. Für unbestimmt viele Bereiche stellt sich die Aufgabe, Zugänglichkeit zu definieren: Wann ist eine Bundestagswahl „zugänglich“ für Menschen mit Behinderungen? Wann ein Museum, ein Behördenbescheid oder ein Vorstellungsgespräch?

    Die Anforderungen an Zugänglichkeit fallen je nach Bereich unterschiedlich aus. Zugänglichkeit muss wegen der Vielfalt von Behinderungen anspruchsvoll gedacht und in der Umsetzung konkret gemacht werden. Die Mitwirkung von Menschen mit Behinderungen bei der Lösung dieser Aufgabe ist notwendig, weil sie aus ihrer Perspektive und mit ihren Erfahrungen zeigen können, wo bislang unüberwindbare Barrieren bestehen.

    Darüber hinaus erweitert die Konvention den Begriff der Zugänglichkeit um eine konkret-individuelle Dimension. Sie besagt, dass solange die allgemeine Zugänglichkeit von zum Beispiel Gebäuden, Transportmitteln oder technischen Systemen noch nicht erreicht ist, diese für den Einzelnen durch individuelle Maßnahmen zugänglich gemacht werden sollen. Diese so genannten „angemessenen Vorkehrungen“ dienen dazu, dass der einzelne Mensch mit Behinderung Barrieren in einer konkreten Situation überwinden kann (siehe Positionen Nr. 5).

    Abgrenzung

    Zugänglichkeit ist nicht mit Barrierefreiheit gleichzusetzen. Es gibt zwar eine große Schnittmenge, jedoch muss beides sorgfältig auseinandergehalten werden. Ist eine Dienstleistung oder eine Sache zugänglich, heißt das noch nicht, dass sie völlig barrierefrei ist. Allerdings: Wo keine Barrieren sind, also Barrierefreiheit besteht, sind Dinge auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich. Das gesellschaftspolitische Streben nach Barrierefreiheit ist deshalb zu unterstützen und als Zielsetzung hochzuhalten. Denn es dient dazu, alle Lebensbereiche allgemein zugänglich zu machen, indem Hindernisse im Vorhinein beseitigt werden.

    Die Vorgabe der UN-BRK: Zugänglichkeit aller Lebensbereiche

    Die UN-BRK spiegelt das Konzept der Zugänglichkeit in vielfältiger Weise wider. Entsprechend umfassend ist der Auftrag an die Staaten, den Zugang nicht nur in Teilbereichen herzustellen, sondern vielmehr zu gewährleisten, dass die Gesellschaft insgesamt und in all ihren Facetten zugänglich wird und bleibt.

    Dieser Ansatz wird daran deutlich, dass Zugänglichkeit zu den allgemeinen Grundsätzen gehört, die die gesamte Konvention tragen und bei der Umsetzung aller Konventionsrechte zu berücksichtigen sind (Artikel 3 UN-BRK). Zudem findet sich eine zentrale und ausdifferenzierte Bestimmung zur Zugänglichkeit im allgemeinen Teil der Konvention, der den einzelnen Rechten vorangestellt ist (Artikel 9 UNBRK). Auch im Kontext spezifischer Rechte verweist die Konvention an vielen Stellen auf die Pflicht zur Gewährleistung von gleichberechtigtem Zugang zu Informationen, Angeboten, Dienstleistungen usw. als elementarem Teil der staatlichen Umsetzungsverpflichtung (vgl. etwa Artikel 13 und 21 UN-BRK). Ebenso hat der Staat die Pflicht, bewusstseinsbildend an den Einstellungen, Klischees oder Vorurteilen zu arbeiten, auf denen eine Barriere oftmals beruht (Artikel 8 UN-BRK).

    Die UN-BRK verpflichtet zum Abbau von Barrieren

    Der Staat ist nach der UN-BRK verpflichtet, Zugänglichkeit herzustellen. Gefordert wird, staatlicherseits die Gesellschaft allgemein und von ihren Strukturen her so auszugestalten, dass einer vollständigen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen keine Hindernisse entgegenstehen. Die staatliche Verpflichtung zur Herstellung von Zugänglichkeit bedeutet daher auch, Barrieren systematisch und kontinuierlich abzubauen.

    Die UN-BRK verlangt, dass bestehende Barrieren in ihrem gesamten Spektrum systematisch abgebaut werden. Dabei ist zu beachten, dass bestimmte Zugänge unverzüglich herzustellen sind und die Überwindung von Hindernissen hier keinen Zeitaufschub duldet. Dies gilt etwa bei bürgerlichen und politischen Rechten wie dem Wahlrecht, oder bei dem sofort umsetzbaren Teil der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Beim Recht auf Gesundheit betrifft das zum Beispiel den Bereich der medizinische Notfallversorgung. Andere strukturelle Barrieren dagegen müssen Schritt für Schritt abgebaut werden, wobei auch hier der Staat verpflichtet ist, kontinuierlich und im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes so effektiv wie möglich vorzugehen und dabei alle verfügbaren Mittel auszuschöpfen (siehe Artikel 4 Absatz 2 UN-BRK).

    Der Staat ist auch verpflichtet, sich den sich wandelnden technischen und sonstigen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft anzupassen und dem Entstehen neuer Barrieren Rechnung zu tragen. Konsequenterweise nennt die UN-BRK nicht nur die Beseitigung von Zugangshindernissen und -barrieren als Aufgabe, sondern als ersten Schritt überhaupt deren Feststellung. Dieser Befund muss laufend überprüft werden.

    Zugänglichkeit ist eine kontinuierliche Aufgabe

    In einer sich verändernden Gesellschaft können stets neue Barrieren entstehen. Damit eine wirkliche „Enthinderung“ behinderter Menschen gelingen kann, muss die Zugänglichkeit immer wieder überprüft werden. Die Herstellung und Aufrechterhaltung von Zugänglichkeit ist eine anspruchsvolle und kontinuierliche Aufgabe.

    Aus der UN-BRK ergibt sich ebenfalls, dass das Ziel Zugänglichkeit nicht nur für einen bestimmten Ausschnitt an gestalteten Lebensbereichen gilt, sondern für alle öffentlichen Einrichtungen und bereit gestellten Dienste – unabhängig davon, ob sie staatlich oder privat sind. Entsprechend verpflichtet die Konvention den Staat sicherzustellen, dass auch private Rechtsträger alle Aspekte der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen, sofern sie Einrichtungen und Dienste für die Öffentlichkeit bereitstellen oder anbieten (Artikel 9 Absatz 2 b) UN-BRK).

    Aktuelles Beispiel: Barriereabbau im privaten Bausektor

    Die oben benannten Verpflichtungen erfordern ein konkretes gesetzgeberisches Handeln, wie am Beispiel des Bauordnungsrechts illustriert werden soll. Dabei sei angemerkt, dass es sich um ein ganz „klassisches“ Problemfeld aus dem Bereich der physischen Zugänglichkeit von Gebäuden handelt.

    Derzeit enthalten die Landesbauordnungen in Teilen zwar Vorschriften, mit denen gefördert werden soll, dass private Bauherren die Zugänglichkeit von Gebäuden berücksichtigen. Die bundesweit bis heute erzielten Ergebnisse sind jedoch bescheiden: Nach wie vor werden viele Gebäude gebaut, die nicht annähernd zugänglich sind; auch werden immer noch Umbauten genehmigt, die den Grundsatz der Zugänglichkeit nicht oder nicht angemessen berücksichtigen. Das schränkt Menschen mit Behinderungen wie auch ältere Menschen stark ein, etwa in Bezug auf Wohnen und die Arbeitsplatzwahl.

    Die UN-BRK verlangt jedoch, Zugänglichkeit durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, gerade auch dort, wo Private bauliche Maßnahmen anstrengen. Wenn also Anreizsysteme, Selbstverpflichtungslösungen oder vergleichbare Maßnahmen nicht geeignet sind, um Zugänglichkeit sicherzustellen (und nicht nur potenziell zu fördern), dann muss regulierend eingegriffen werden. Dazu gehören im Bereich des Bauens höhere und verbindliche Anforderungen an die Genehmigungsfähigkeit von Bauvorhaben, effektive Überprüfungsmechanismen, ob die Anforderungen zur Zugänglichkeit eingehalten werden, und auch wirksame Sanktionen für den Fall, dass dies nicht geschieht.

    Im Rahmen der anstehenden Reform der sogenannten „Musterbauordnung“ (MBO), die 2012 von der Bauministerkonferenz verabschiedet werden soll, bietet sich den Bundesländern gegenwärtig die Gelegenheit, für eine wirksame Umsetzung der UN-BRK zu sorgen. Die auf der Bauministerkonferenz verhandelte MBO wird künftig die Vorlage für die Bauordnungen der Länder sein, so dass es sehr bedeutsam ist, ob ihre Überarbeitung im Lichte der UN-BRK erfolgt oder nicht. Die Überarbeitung der MBO bietet in Bezug auf die Zugänglichkeit von Gebäuden eine echte Chance für die Umsetzung der UN-BRK. Es wäre weder politisch noch rechtlich zu rechtfertigen, wenn die Bundesländer ihrem Auftrag, Zugänglichkeit auch im Privatsektor sicherzustellen, in diesem elementar wichtigen Bereich nicht nachkommen.

    Ungenügender Barriereabbau kann eine strukturelle Diskriminierung sein

    Ein Staat, der zu wenig tut, um Barrieren abzubauen, verletzt seine Pflichten aus der UN-BRK. Vor dem Hintergrund des menschenrechtlichen Gebots, strukturelle Diskriminierung zu beseitigen, muss jede unterlassene Beseitigung von Barrieren gut begründet werden. Die Anforderungen an die staatliche Darlegungs- und Rechtfertigungslast sind hoch. Mangel an Ressourcen allein ist jedenfalls kein legitimer Grund, Barrieren nicht zu beseitigen. Es sei denn, der Staat hat alles in seinen Möglichkeiten Stehende getan, um gegen die strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen vorzugehen und die Barrieren zu beseitigen. Ein Staat, der den Barriereabbau nur nachlässig betreibt, wird sich nur schwer gegen den Vorwurf wehren können, er verstoße gegen das völkerrechtliche Diskriminierungsverbot.

    Quelle

    Leander Palleit: Systematische „Enthinderung“: UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet zum Barriereabbau. Erschienen als: Positionen Nr. 7 der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention.

    Original verfügbar unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/_migrated/tx_commerce/Positionen_nr_7_Systematische_Enthinderung_UN_Behindertenrechtskonvention_verpflichtet_zum_Barriereabbau.pdf

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 04.07.2016

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