Selbstbestimmung und Assistenz

Autor:in - Gusti Steiner
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-99 Gemeinsam leben (3/1999)
Copyright: © Luchterhand 1999

Selbstbestimmung und Assistenz

Die Grundausrichtung von Behindertenpolitik und Behindertenarbeit muß sich heute um die Jahrtausendwende an der Selbstbestimmung Betroffener orientieren. Das gebietet 1999 der durch die Behinderten- und Krüppelbewegung erfochtene Fortschritt in der Behindertenarbeit und das durch große Teile dieser Bewegung im Verbund mit vielen Organisationen und Einzelnen erstrittene Diskriminierungsverbot des Artikels 3 Absatz 3 Grundgesetz (GG) vom Oktober 1994.

Selbstbestimmung im Leben Behinderter setzt voraus, daß notwendige Hilfe weitestgehend unabhängig von Institutionen und deren fremdbestimmenden Zwängen und von fremdbestimmender, entmündigender Hilfe durch die sogenannte Fachlichkeit von Helferinnen organisiert wird. In der Behindertenbewegung der vergangenen 20 Jahre hat sich zur Erfüllung dieser Voraussetzungen der Assistenzgedanke herauskristallisiert. Kernpunkte dieses Ansatzes sind, daß der Hilfeabhängige sich die AssistentInnen aussucht, sie anleitet, unter seinen Vorstellungen einsetzt und bezahlt. Unter diesen Voraussetzungen können Frauen Frauen und Männer Männer als Assistentinnen und Assistenten in ihr Leben mit einbeziehen. Sie können Assistenz entweder als Arbeitgebermodell oder als Assistenzorganisation gestalten. Bei dem Arbeitgebermodell stellt die/der HilfeempfängerIn - sprich AssistenznehmerIn - die AssistentInnen direkt an. Die Behinderten, die Hilfe und Pflege brauchen, werden zur Erfüllung ihres eigenen Bedarfs zu MiniarbeitgeberInnen. Sie melden einen eigenen Betrieb an und wickeln all' die Aufgaben, die eine Arbeitgeberin hat von der Beantragung der Arbeitgebernummer über die Abführung möglicher Sozialversicherungsbeiträge bis zur Lohnauszahlung, ab. Wer sich von diesem Aufwand überfordert fühlt oder tatsächlich dem Aufwand nicht gewachsen ist, gründet mit anderen Betroffenen eine Assistenzorganisation, die die notwendigen Organisationsarbeiten abnimmt, sie erledigt, aber den Selbstbestimmungsgedanken in der Form der Assistenz ermöglicht. Das kann ein Verein oder eine Genossenschaft oder eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung sein. Bei dieser Form der Indirekten Assistenz sind die AssistentInnen bei der Organisation angestellt. Das Binnenverhältnis zwischen AssistenznehmerIn und AssistentIn bleibt aber im Denkmodell der Selbstbestimmung und Assistenz erhalten. Die Hilfeabhängigen können so Assistenz in Anspruch nehmen.

Der Begriff der Selbstbestimmung muß im Zusammenhang mit dem Behindertenhilfesystem definiert werden. Er ist meiner Meinung nach abzugrenzen einmal von "Selbstständigkeit", die als ein Leben ohne fremde Hilfe zu verstehen ist. Andererseits aber auch von "Autarkie", die Bedürfnislosigkeit, wirtschaftliche Unabhängigkeit, Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit zum Ausdruck bringt. Selbstbestimmung muß im Sinne von "Autonomie" verstanden werden, meint also das Recht, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen. Selbstbestimmung grenzt sich damit sehr deutlich von Fremdbestimmung ab, ist quasi ein Gegenbegriff zu jeglicher Fremdbestimmung.

Zur Geschichte und Entwicklung der Behindertenbewegung

Veröffentlichungen in der Bundesrepublik erzeugen häufig den Eindruck, die Idee "Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung" und "Hilfen durch Assistenz" wären aus den USA übernommen worden. Hier liegt meiner Meinung nach ein grundlegender Irrtum vor.

Die Behinderten- und Krüppelbewegung hat in den vergangenen 25 Jahren in der Bundesrepublik einen eigenen Weg zu diesem heutigen Ergebnis zurückgelegt. Selbstbestimmung für das eigene Leben und der Kampf gegen Fremdbestimmung spielten schon in den frühen 70er Jahren eine entscheidende Rolle in den Anfängen der Behindertenbewegung als Politische Selbsthilfe (vgl. Steiner 1974a; Steiner 1974b; Steiner 1999).

Aus einer Dialektik zwischen Kritik am Hilfesystem - Kampf gegen Fremdbestimmung und Entwurf und Verwirklichung von Alternativen entwickelten sich über Heimkritik das Paradigma "Ambulante Dienste" und über die Kritik an Ambulanten Diensten der Gedanke "Selbstorganisierter Hilfen", der dann in der ersten Hälfte der 80er Jahre zu einem weitgehend gemeinsamen Konzept der Bundesrepublik und der USA von "Selbstbestimmt Leben" und "Assistenz" führte (vgl. VIF 1981; Daniels 1983; VIF 1982; Steiner 1984).

Für die Bundesrepublik sind Selbstorganisierte Hilfen Ausgangspunkte für den Assistenzgedanken. Die Selbstorganisierten Hilfen, aber auch Mieterin in der eigenen Wohnung zu sein, über das eigene Einkommen und sei es nur der Sozialhilfesatz - selbstbestimmt zu verfügen, sich selbst als ExpertIn in eigener Sache zu begreifen und sich selbst HelferInnen zu suchen, anzuleiten und zu bezahlen, ist in der Bundesrepublik die Ausgangsbasis für Assistenz. Behinderte Menschen mit Selbstorganisierter Hilfe haben bundesweit vor Verwaltungsgerichten die Kostenübernahme für ihre selbstbestimmte Lebensform erstritten - häufig mit der solidarischen Unterstützung der VIF in München, dem fib in Marburg, von MOBILE - Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V. in Dortmund und anderer Selbsthilfegruppen oder selbstorganisierter Vereinigungen.

Die Form der Selbstorganisierten Hilfe existierte, bevor die amerikanische Philosophie von independent living bei uns bekannt wurde.

Behinderten- und Krüppelinitiativen erhoben in der Bundesrepublik schon in den frühen 70er Jahren als Selbsthilfegruppen Protest gegen das überkommene Hilfesystem im Behindertenbereich. Aktionen wie die "Frankfurter Straßenbahnblockade" 1974, die Demonstrationen gegen das "Frankfurter Urteil" 1980 oder der Protest gegen das "UNO-Jahr der Behinderten" 1981 machten Schlagzeilen. Ausgrenzung, Aussperrung, Diskriminierung, Bevormundung einer zahlenmäßig großen aber demütigen Minderheit prangerten die Betroffenen mit unerwarteter und unbekannter Härte an. Das Konfliktfeld unserer eigenen Lebenssituation wurde Gegenstand unserer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Politiker und Verbandsfunktionäre des überkommenen Behindertenhilfesystems hörten unsere Forderungen, nahmen uns aber nicht ernst. Wir wurden als "Wirrköpfe" und "Radaumacher" abgetan. Selbst als sich in den 80er Jahren Eltern behinderter Kinder zu Wort meldeten und für ihre Söhne und Töchter nichtaussondernden gemeinsamen Kindergarten- und Regelschulbesuch forderten und im Einzelfall auch durchsetzten, diffamierten Politiker und sogenannte Fachleute diese Ansinnen als "unverarbeitetes Elternsyndrom". Mitglieder der Behinderten- und Krüppelinitiativen, die in vergangenen Jahrzehnten Ambulante Dienste und die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung als Alternativen zum überkommenen Hilfesystem aufbauten, erhielten oft verächtlich das Prädikat "Spinner".

Zwanzig Jahre nach Beginn dieser Entwicklung bestätigte das "Wissenschaftliche Gutachten zur Lebenssituation von behinderten Menschen und zur Behindertenpolitik von Nordrhein-Westfalen", daß von dieser Politischen Selbsthilfe ein Paradigmawechsel erreicht wurde: "Die letzten zehn Jahre sind geprägt durch ein neues Verständnis von Behinderung. Das Paradigma ‚Selbstbestimmtes Leben' ist Ausdruck des veränderten Selbstverständnisses behinderter Menschen und Forderung zugleich: Gegen Entmündigung, Diskriminierung und Aussonderung! Für gesellschaftliche Mitwirkung und Teilhabe im Sinne selbstbestimmter Wahl- und Lebensmöglichkeiten! Unabhängig von Art und Schwere der Behinderung soll damit das Recht auf gleichberechtigte Lebenschancen in allen Lebensbereichen betont und eingelöst werden. Einem weitgehend negativen Fremdbild von Behinderung wird ein positives Selbstbild der Betroffenen entgegengestellt. Das ist mehr als Protest und Ablehnung von Diskriminierung und Aussonderung" (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 1993, S. 11 f).

Beispiele und Ursachen für Fremdbestimmung

Die Selbstbestimmung wird immer dann bedroht sein, wenn Fremdbestimmung in der Konstruktion des Hilfesystems vorherrscht.

Fremdbestimmung in Assistenzverhältnissen

Die Selbstbestimmung kann dadurch bedroht sein, daß die AssistenznehmerInnen ihre Rolle als Vorgesetzte in diesem Machtspiel nicht einnehmen. Fremdbestimmung geht immer von der Institution, der sogenannten Fachlichkeit der Helferinnen und von der Verschleierung der wahren Machtverhältnisse aus.

"Ja, gut, teilweise möchten die [AssistentInnen] ihren Willen durchsetzen, teilweise möchte ich meinen Willen durchsetzen, das sind so kleine Sachen, daß sie halt nicht sauber machen, wenn sie es sollen [...]"

"Ja, es ist ..., es ist so ein Gemisch aus Selbstbestimmung und Abhängigkeit, weil wenn ich so an meine Mitschriften denke, kann ich schon sagen, daß, wenn derjenige das für sich selber machen würde, bestimmt nicht so strukturiert machen würde oder sicherlich anders ... Und eigentlich ist klar, die Abhängigkeit ist dann gegeben, wenn, sag ich mal, die Schreibhilfe sagt ,Nee, ich will jetzt nicht', dann mußt Du eben entweder halt vorher Ersatz haben, damit Du sagen kannst ,Ja und, geh doch!', oder Du mußt dann halt sagen ,Warum, was ist denn los?'. Da ist für mich die Abhängigkeit, daß man ... ja, Du kannst zwar alles wollen, aber Du mußt es auch im bestimmten Rahmen halten, Du mußt die Leute kennen, Du mußt wissen, wie weit Du gehen kannst, weil irgendwann hast Du dann, wenn Du nur auf dem Arbeitgeberstil bist, hast Du irgendwann die Leute vielleicht so gereizt, daß sie sagen ,Ich geh jetzt', und sowas kann man sich dann nur erlauben, wenn man genug Leute... wenn man sagt ,Ok, wenn Du keinen Bock mehr hast, ich hab hier noch zehn andere, dann nehm ich den.' Und wenn Du das aber nicht hast, dann kannst Du Dir sowas auch nicht erlauben. Und auch vom Zwischenmenschlichen her ist es nicht so toll, wenn Du einfach einen dann so behandelst."

"Es gibt Leute, die aus dem pädagogischen Bereich kommen, wo man meint, die haben vom Studium her etwas theoretisch vielleicht gehört über Behinderte und wie man mit ihnen umgeht. Und das kann Konflikte geben."

"Ich bin natürlich in gewissen Dingen abhängig, halt, wie schon gesagt, wenn es um handschriftliche Sachen geht, weiß ich, daß ich jemanden benötige, der mir etwas vorliest, als Beispiel. Ich bin zwar abhängig, sehe mich da aber nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis der Arbeitsassistenz, sondern es ist halt jemand, der da ist, vergleichbar mit einem technischen Hilfsmittel oder einer Lupe oder so. Das kann man natürlich nicht mit einem Hilfsmittel gleichsetzen."

"Ich bin natürlich immer abhängig von diesen Hilfestellungen, ne?! Ich bin sowohl von den Hilfepersonen wie auch von den Hilfskräften, also den bezahlten Kräften abhängig, das läßt sich auch meiner Meinung nach nicht auflösen, die Abhängigkeit. Nur ich würde schon sagen, daß ich diese Abhängigkeit relativ selbstbestimmt organisiere."

"Und insofern mag ich es halt lieber, wenn die Leute da nicht groß irgendwie professionalisiert sind und denken: Ja, ich mach das jetzt so, wie ich es gelernt habe, weil das besser ist, sondern wenn die Leute halt einfach kommen und mich dann halt fragen, wie das ist."

Die einzelnen Aussagen der AssistenznehmerInnen machen deutlich, daß auf der einen Seite immer wieder die Fremdbestimmung durch die AssistentInnen in die ArbeitgeberInnen- / ArbeitnehmerInnenfunktion einfließt, auf der anderen Seite aber auch Abhängigkeit von den Helferinnen erlebt wird. Hier hilft nur, daß die AssistenznehmerInnen in einem klaren Rahmen ihre ArbeitgeberInnenfunktion durchsetzen. In diesen Interviewaussagen wird aber auch deutlich, daß Abhängigkeit erlebt wird und daß Angst entsteht, die AssistentInnen zu verlieren. Die Abhängigkeit, die die befragte Assistenznehmerin erlebt, ist nicht abzubauen. Die Abhängigkeit besteht immer dort unauflöslich, wo jemand einer anderen Arbeit überläßt oder überlassen muß. Die Eigner eines Betriebes sind in der gleichen Weise abhängig von ihren Beschäftigten. Diese Art der Abhängigkeit kann nur durch eine klare ArbeitgeberInnenposition geregelt und teilweise kompensiert werden, aber sie ist immer da in unserem Beispiel hat sie Furcht, die/der AssistentIn könnte gehen, in anderen Zusammenhängen regiert die Angst um die Qualität der durchgeführten Arbeiten. In all diesen Fällen können nur Qualifizierung der ArbeitnehmerInnen und eine klare ArbeitgeberInnenposition Abhilfe schaffen.

Fremdbestimmung in Einrichtungen und Institutionen

Dem Grundgedanken der Selbstbestimmung wirken fast immer die Institutionen der Behindertenhilfe entgegen. Diese entwickelt formale Strukturen und Sachzwänge, die den Behinderten übergestülpt werden und sie fremdbestimmen (vgl. Goffman 1973). In diesem Zusammenhang beschränken Institutionen immer die Aneignungsmöglichkeiten derer, die diesen Zwängen ausgesetzt sind: Versorgung, Großküchen, Zentrale Wäschereinigung, Medikamentenausgabe, festgesetzte Zeiten für Mahlzeiten und für das Zubettgehen. Gesetzte und gewachsene Rituale verstellen die Möglichkeiten der Vielfalt der Aneignung, aber auch die Möglichkeiten der Selbstbestimmung in diesen Bereichen. Der Lebens-, Erfahrungs- und Aneignungsraum ist nicht mehr das Konfliktfeld täglichen Lebens, sondern ein mehr oder minder geordneter, einengender Rahmen fremdbestimmter Setzungen. Nach Goffman sind solche Einrichtungen Totale Institutionen (Goffman 1973, S. 11). So lassen sich die Wohnstätten einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen, die für lange Zeit - wenn nicht für immer - von der übrigen Bevölkerung separiert sind, und in denen die BewohnerInnen miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen, als "Totale Institutionen" bezeichnen.

Kennzeichnende Faktoren, die die Aneignungs- und Lebensmöglichkeiten der einzelnen in dieser formalen Reglementierung einengen, sie fremdbestimmen, können sein oder sind:

  • Zusammenlegung vieler Gleicher auf engem Raum

  • Elementare Bereiche der Intimsphäre sind ungeschützt

  • Isolierte Standorte weitab mit eingeschränktem Kontakt zur Außenwelt

  • Hierarchische Machtstrukturen (Medizinische, Päda-gogische und Pflegerische Hierarchiesäule), die Bewohnerinnen Macht unterwerfen, von Entscheidungsebenen fernhalten und sie damit fremdbestimmen

  • Zeitpläne organisieren das tägliche Leben (Anziehen, Waschen, Arbeit, Freizeit)

Anthes hat 1975 mehr als 500 Hausordnungen von Heimen in NRW und Bayern untersucht und ausgewertet. Er kommt zu dem Schluß, daß dort einerseits der Privatbereich gering geschätzt und daß die abendliche Rückkehr in die Institution in 90% der Fälle beschränkt wird (vgl. Anthes / Karsch 1975). Kenner der Situation behaupten oft, daß die Bestimmungen des Strafvollzugs bisweilen mehr freie Entfaltungsmöglichkeiten lassen als das in Heimen erkennbar ist.

Die nachfolgende Hausordnung eines Heims vom März 1995 operationalisiert die Theorie Goffmans:

Präambel

Der ... ist Träger des Wohnhauses ... mit ... Dauerwohnplätzen für behinderte Mitbürger. Das Wohnhaus besteht aus ... in sich gegliederten Wohnbereichen, die die Gesamtheit des Wohnhauses bilden.

Hausbewohner und Mitarbeiter bilden eine Hausgemeinschaft. Gegenseitige Achtung und gegenseitiges Vertrauen sollen das Verhältnis zueinander bestimmen. Die persönliche Freiheit jedes Einzelnen findet nur dort eine Grenze, wo es die Rücksichtnahme auf andere erfordert. Über die notwendige Betreuung und Versorgung hinaus möchten die Mitarbeiter durch Anregungen und gezielte Hilfestellungen die Persönlichkeitsentwicklung der Hausbewohner so weit wie möglich fördern, Wünschen und Bedürfnissen in geeigneter Form Rechnung tragen und zu einem rücksichtsvollen und friedvollen Zusammenleben beitragen.

Diesem Anliegen soll auch die Hausordnung dienen, da ein vertrauensvolles Miteinander entsprechender Regelungen bedarf, die von jedem Hausbewohner zu beachten sind.

Die vertraglich zugesicherten Leistungen des Hauses umfassen die Bereitstellung des Zimmers und der Gemeinschaftseinrichtungen sowie Verpflegung, Angebote im pädagogisch-therapeutischen Bereich und die Betreuung und Pflege.

Tagesablauf

  • Am Tage mit Werkstatteinsatz wird um 6.00 Uhr geweckt, danach ankleiden und Zimmer richten

  • Gemeinsames Frühstück 6.45 Uhr

  • Abfahrt zu den Werkstätten zwischen 7.00 Uhr und 7.40 Uhr

  • Rückkehr gegen 15.40 Uhr - Kaffeetrinken

  • Freizeitangebote bis zum Abendessen

  • Abendessen zwischen 18.00 Uhr und 19.00 Uhr im jeweiligen Wohnbereich

  • Nach dem Abendessen Freizeit zur eigenen Verfügung oder gemeinsame Aktivitäten

  • 22.00 Uhr Nachtruhe, die für alle Bewohner verbindlich ist

  • Bei Freizeitaktivitäten und besonderen Anlässen kann der Tagesablauf entsprechend angepaßt werden. Dies soll mit den Hausbewohnern, den Mitarbeitern und der Hausleitung abgesprochen werden.

  • Regelungen an den arbeitsfreien Tagen sowie an den Wochenenden werden zwischen Hausbewohnern, Mitarbeitern und der Hausleitung einvernehmlich getroffen

Telefonate

Anrufe können bis 20.30 Uhr vermittelt werden. Die Essenszeiten sind grundsätzlich ausgenommen.

Privatanrufe sind am Clubtelefon zu führen (Erdgeschoß).

Besuchszeiten

Besuche können grundsätzlich zwischen 16.00 Uhr und 20.00 Uhr stattfinden. Die Besuche sind mit der Hausleitung und den Mitarbeitern abzustimmen.

Die Mitarbeiter

Die Hausleitung und alle Mitarbeiter stehen den Bewohnern zu Diensten. In allen Angelegenheiten können sie sich vertrauensvoll an die Gruppendienstmitarbeiter sowie die Hausleitung wenden.

Allgemeine Punkte

Wünschenswert ist die individuelle Gestaltung des eigenen Zimmers, jedoch in Rücksichtnahme auf einen eventuellen Mitbewohner und in Absprache mit der Hausleitung und den Mitarbeitern.

Das Aufstellen und der Gebrauch elektrischer Geräte ist vorher mit der Hausleitung abzustimmen, da die Brandverordnung beachtet werden muß.

Jeder Bewohner hat, soweit er dazu in der Lage ist, sein Zimmer selbst in Ordnung zu halten.

Musik muß auf Zimmerlautstärke eingestellt werden.

Wertsachen sollen unter Verschluß genommen werden, da keine Haftung übernommen wird.

Auftretende Mängel oder Beschädigungen sollen möglichst sofort bei den Mitarbeitern gemeldet werden.

Wegen der großen Brandgefahr ist das Rauchen auf den Zimmern untersagt. Rauchen ist nur im Gemeinschaftsraum gestattet.

Haustiere (Fische, Vögel und Meerschweinchen) können in Absprache mit der Hausleitung mitgebracht werden.

Sonstiges

Gottesdienstbesuche an Sonn- und Feiertagen sind in der Pfarrkirche sowie in den umliegenden Kirchen möglich.

Bei einem Verlassen des Hauses mögen sich die Bewohner beim zuständigen Mitarbeiter abmelden und sich wieder anmelden.

Die Wäsche wird regelmäßig im Hause gewaschen. ..."

Man kann ohne Übertreibung sagen, daß in diesem Heim ein solches Maß an Fremdbestimmung herrscht, daß die HeimbewohnerInnen als fremdbestimmte Heiminsassen bezeichnet werden können. Ihnen fehlt jede Selbstbestimmung.

Fremdbestimmung in der Familie und im Freundeskreis

Auch Behinderte, die in der Familie leben, werden fremdbestimmenden Faktoren ausgesetzt. Betroffene, die unter solchen Umständen leben, werden häufig den Sachzwängen der Familienabläufe bzw. den dort vorherrschenden Problemlösungsstrategien unterworfen.

"Aber das ist bei der Familie anders, die Familie könnte sagen: ,Ich habe keine Lust dazu, Deine Fenster zu putzen, das mach ich ein andermal.' Das ist schon ein bißchen was anderes."

"Mit der Familie ist das ja immer so eine Sache. [...] Ich weiß, daß ich so schnell keine Haushaltsführung oder -assistenz [als meine Mutter] hätte organisieren können, innerhalb von zwei Wochen teilweise, und deshalb war es in gegenseitigem Einvernehmen, aber wirklich nur für eine Übergangszeit, länger hätte ich das auch nicht gewollt. Das ist schon eher so ein Abhängigkeitsverhältnis als durch eine Arbeitsassistenz."

Die gleichen Mechanismen wirken bei FreundInnen oder Bekannten. Auch hier kann man die Hilfe nur im gegenseitigen Einvernehmen organisieren, kaum zu dem Zeitpunkt, an dem man sie in einer gewissen Form braucht. Das macht die Aussage einer behinderten Frau deutlich:

"Ja, man kann natürlich, wenn man von Freunden ausgeht, kann man natürlich sagen, daß das nicht immer dann ist, wenn man das vielleicht gerade jetzt will. Weil man auch eher sagen würde: ,Komm, ich muß das jetzt machen, sollen wir das morgen oder übermorgen machen?', und dann können die gerade nicht, dann kann man das natürlich auch nicht verlangen. Das ist dann die Sache, wenn man keinen bezahlten Helfer für sich alleine hat. Die sagen: ,Ja, komm, am Samstag können wir das machen, da habe ich Zeit' oder so. [...] Ja, so habe ich es bis jetzt gemacht [gewartet, bis die FreundInnen mich z.B. zum Möbelgeschäft begleiten können]."

Die unterschiedlichen Formen der Sachzwänge in der Familie bzw. bei der Organisation der Hilfe durch FreundInnen lassen sich nicht aufheben. Die Hilfebedürftige ist immer diesen Abhängigkeiten ausgesetzt und kann nur durch Assistenz zu einer selbstbestimmten Organisation der Hilfe kommen. Das verdeutlicht die Aussage einer befragten Assistenznehmerin:

"Habe ich keine Assistenten, bin ich dann angewiesen auf Freunde, Bekannte, Familie. Das war z.B. besonders blöd, als drüben die Wohnung zu renovieren [war], da muß man ja viel herumfahren und Sachen aussuchen. Das war wirklich doof, weil da war ich halt immer angewiesen auf irgendwelche Leute, die dann mit mir da hinfahren. Ja. [...] Freunde, Kollegen, Geschwister, Eltern."

Fremdbestimmung durch die Fachlichkeit der Fachkräfte

MitarbeiterInnen der Behindertenhilfe müssen m.E. eine veränderte Fachlichkeit mitbringen, um Fremdbestimmung entgegenzuwirken und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Alle SozialberuflerInnen erfahren bis zum heutigen Tag eine leider typische Professionalisierung, die die MitarbeiterInnen und HelferInnen ihrem Selbstverständnis nach zu ExpertInnen über die Probleme ihrer Zielgruppen macht. Diese Art Fachlichkeit bestreitet ausdrücklich das Expertentum Betroffener. "Je spezialisierter und professionalisierter die Erzieher, desto bildungsbedürftiger, ja passiver und behandlungsbedürftiger der Laie. Ihnen wird das Wissen über sich selbst abgesprochen in dem Maß, wie professionelle ‚Kompetenz' wirksam wird" (Schumann 1979, S. 76). Ein solches Expertentum, das einer "Enteignung sozialer Problemlösungskompetenz" (Marzahn 1979, S. 82) gleichkommt, steht jedem Leitgedanken der Selbstbestimmung Behinderter entgegen. Hier ist eine andere Fachlichkeit gefordert: Akzeptanz des Expertentums Betroffener und die Fähigkeit zur Kooperation mit ihnen aus der Position der geminderten Macht, also aus der Rolle als ArbeitnehmerIn der Betroffenen heraus.

Die Gefahr der Sinnentleerung und Inflationierung von Begriffen

Die Behinderten- und Krüppelbewegung hat in den vergangenen 25 Jahren in ihrer Kritik am Behindertenhilfesystem eine bestimmte Begrifflichkeit entwickelt und jeden einzelnen Begriff mit bestimmten Inhalten gefüllt (z. B. Selbstbestimmung, Assistenz, Nichtaussonderung usw.). All diese Begriffe wandten und wenden sich gegen Fremdbestimmung und Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Sie sind in ihrer Begrifflichkeit mit diesen Inhalten besetzt und umreißen in einem einzigen Wort umfassendende Konzepte der Politischen Selbsthilfe Behinderter. Sie sind nur so zu verstehen, wie sie aus dieser geschichtlichen Entwicklung der Politischen Selbsthilfe gedacht waren. Eckhard Rohrmann nennt in seinem Beitrag "Integration und Selbstbestimmung für Menschen, die wir geistig behindert nennen" solche Begriffe Kampfbegriffe (vgl. Rohrmann 1994) und zeigt an den Beispielen "Solidarität", "Integration" und "Autonomie", wie mit politischen Inhalten solcher Begriffe umgegangen wird: "Neue Begriffe, jeweils in kritischer Absicht eingeführt, unterliegen mit der Zeit mehr oder weniger dem gleichen Schicksal: Sie werden inflationiert, auch und gerade von denjenigen übernommen, gegen die sie sich ursprünglich gerichtet hatten und dabei mehr und mehr inhaltlich aufgeweicht, unverständlich und ihrer ursprünglich kritischen Potenz zusehens beraubt. Dieses Schicksal widerfuhr dem Begriff ,Solidarität', ursprünglich ein Kampfbegriff der Arbeiterbewegung gegen die Kapitaleigner und ihre Sachwalter, welcher heute in der seichten Bedeutung eines alle gesellschaftlichen Widersprüche leugnenden freundlichen Miteinanders dem Umgang von Menschen untereinander auch konservativen Politikern und erklärten Gegnern der Ziele jener Arbeiterbewegung leicht über die Lippen geht, ja neuerdings in der euphemistischen Wortkreation Solidarpakt in das genaue Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung verkehrt werde.

Integration und zunehmend auch Selbstbestimmung werden heutzutage als geradezu selbstverständliche Zielsetzungen beinahe jeglicher Praxis in der Arbeit mit Behinderten genannt, wenn auch nicht selten in die sinnersetzende Formel eingebettet ‚soviel Integration und Selbstbestimmung wie möglich' und zwar auch von denen, gegen deren Praxis beide Begriffe ursprünglich gerichtet waren. Nur zu einem geringen Teil läßt sich das auf eine diesbezüglich geänderte Praxis zurückführen. Wie Integration so ist auch der Selbstbestimmungsbegriff längst von einem kritischen Programm zu einer begrifflichen Dekoration auch solcher Praxis verkommen, die Integration und Selbstbestimmung im jeweils ursprünglich gemeinten Sinne diametral zuwider läuft" (ebd. S. 19). Mit anderen Worten: Man verändert nicht die Praxis, Behinderte in Heime und Anstalten auszugrenzen, nennt aber die WärterInnen inhaltsentleert AssistentInnen. Rohrmann schlägt vor, diese Begrifflichkeiten zu rehistorisieren und zu radikalisieren und "die hinter ihnen verborgenen Programme auf ihre Ursprünge zurückzuführen, d.h. auf die Verhältnisse, auf die Praxis, deren Negation sie ihren eigenen Ansprüchen nach sein wollten und - möglicherweise anfangs auch waren" (ebd. S. 19 f).

Der Begriff Selbstbestimmung oder Selbstbestimmt Leben in der Untersuchung "Behinderte Menschen in Nordrhein-Westfalen" (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 1993) als Paradigmawechsel beschrieben - muß unter diesen Gesichtspunkten rehistorisiert und auf diese Inhalte hin radikalisiert werden.

Wenn Adolf Ratzka, Betroffener und Vertreter der Behinderten-Autonom-Leben-Bewegung, schreibt: "Wir müssen endlich einsehen, daß eigene Erfahrungen von Behinderung und das Bewußtsein, einer unterdrückten Minderheit anzugehören, unerläßliche Voraussetzungen und Qualifikation für ernsthafte und erfolgreiche Behindertenpolitik ausmacht" (Ratzka 1988, S. 183 ff), dann ist das eine historische und radikale Inhaltsaussage, die ein Hilfesystem bestimmen muß und Selbstbestimmung Betroffener aus dem historischen Zusammenhang als Programm der Behinderten-Autonom-Leben-Bewegung charakterisiert.

Ähnlich verhält es sich dort, wo der Begriff Assistenz inhaltsentleert für den im alten Behindertenhilfesystem verankerten Profi eingesetzt wird. Diese Manipulation darf nicht geschehen, weil der Assistenzbegriff, der als Antwort auf Fremdbestimmung entstanden ist, auf diesen Ursprung zurückgeführt werden muß, um zu erkennen, was Betroffene im Kampf gegen fremdbestimmende Strukturen (Institution und Fachlichkeit) mit diesem Begriff verbunden haben. Die Assistenz dreht die Machtverhältnisse von Arbeitgeber (Institutionen) und deren verlängertem Arm (Fachleute) auf der einen Seite und den Behinderten als ohnmächtige Opfer, die dem Machtpotential der Institutionen und sogenannter Fachleute ausgesetzt sind, um. Assistenz macht das Opfer des alten Systems (weniger mächtige Behinderte) zur mächtigeren ArbeitgeberIn und die HelferInnen zu machtlosen GehilfInnen ihrer anordnungsberechtigten ArbeitgeberInnen. Es werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt, um den Betroffenen Selbstbestimmung zu ermöglichen.

In der Theorie ist immer wieder davon die Rede, daß im Assistenzsystem die betroffenen Behinderten, die Personal-, Organisation-, Anleitungs- und Finanzkompetenz haben. Kompetenz ist ein Schlüsselbegriff von Selbstbestimmung und Assistenz.

Das älteste deutsche Wörterbuch, das Grimm´sche Wörterbuch (1984) kennt den Begriff "Kompetenz" überhaupt nicht. Der Duden übersetzt das Fremdwort mit "Zuständigkeit" (Bibliographisches Institut 1966). Das Lexikon "Fachwort im täglichen Gebrauch" setzt für Kompetenz "Anordnungsrecht und Zuständigkeit" und erwähnt die "Kompetenzkompetenz" als "das Recht, über den Umfang seiner Zuständigkeiten zu entscheiden" (Mackensen 1981). Mackensen (1985) erklärt in seinem Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache das Adjektiv "kompetent" mit seiner Herkunft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Lateinischen "competens" und übersetzt es als "rechtlich zuständig". Im Synonymwörterbuch (Görner / Kempcke 1985) werden die Wörter "Kompetenz" und "kompetent" in gleicher Weise als "zuständig" und "Zuständigkeit" verstanden.

Es kann also über die Inhalte des Kompetenz-Begriffs keinen Zweifel geben. Im Kampf gegen fremdbestimmende Strukturen und Fachlichkeit haben Betroffene die Zuständigkeit für ihre eigene Person, für ihr eigenes Leben gefordert, erkämpft und übernommen. Die Zuständigkeit für das eigene Leben ist quasi ein Bestandteil der Autonomie - sprich Selbstbestimmung - eines jeden Individuums. Jeder Mensch ist autonom, hat die Zuständigkeit für sich und sein Leben, hat also alle Kompetenzen seiner eigenen Person in Händen.

Mir drängt sich hier ein Vergleich auf, der die Zuständigkeit für die eigene Person verdeutlicht: Im Rahmen der Aufklärung und der Französischen Revolution wurden die Menschenrechte erklärt. Dabei handelt es sich um unveräußerliche Grundrechte eines jeden Individuums - quasi Naturrechte, die jedem Menschen zustehen, unveräußerlich gegeben sind, gleich ob das Land, in dem er lebt, diese Menschenrechte anerkannt hat, also der einzelnen zugesteht oder nicht. Politische Gefangene in irgendeinem Land der Welt sind im Besitz dieser Grundrechte, dieser Menschenrechte, selbst wenn man sie verfolgt, einsperrt, möglicherweise foltert. Das, was man ihnen antut, ist und bleibt Unrecht, das verurteilt und gesühnt werden muß, selbst, wenn das tatsächlich oft nicht gelingen sollte.

In ähnlicher Weise sind Menschen zuständig für die eigene Person, sie haben alle Kompetenzen in Händen. Selbst wenn sie aus Gründen einer Funktionseinschränkung infolge einer Schädigung diese Zuständigkeit nicht eigenständig verwirklichen können, bleibt alle Kompetenz für ihr eigenes Leben in ihren Händen. Man muß dann höchstens darüber nachdenken, wie man ihnen helfen kann, diese Zuständigkeit in ihrem Leben umzusetzen. Man muß nachdenken, wie man ihnen assistieren kann (Assistierende Hilfe), ihre Selbstbestimmung und ihre Zuständigkeit für ihr eigenes Leben zu verwirklichen - ohne Fremdbestimmung und ohne bevormundende Hilfe. Sie sind und bleiben zuständig für sich - ihre Person und ihr Leben! Es gibt im Sinne der Menschenrechte nicht die Unterscheidung zwischen Menschen und Menschen, es gibt im Sinne der Selbstbestimmung und der Zuständigkeit für sich ebensowenig die Unterscheidung zwischen Menschen und Menschen. Niemand kann sagen: Jemand kann nicht zuständig sein für das eigene Leben - sie/er ist zu schwer behindert! Es gibt viele denkbare Möglichkeiten, Selbstbestimmung zu praktizieren und den Betreffenden die Zuständigkeit für ihr Leben zu belassen.

Selbstbestimmung ist nie ein Alles-oder-Nichts-Prinzip oder gar ein Synonym zu Selbstverwirklichung. Selbstbestimmung heißt, sich für eine Möglichkeit zu entscheiden und zwar in Abwesenheit institutionalisierter Zwänge und bevormundender Fachlichkeit. Das ist die Definition, die rehistorisiert und radikalisiert (vgl. Rohrmann 1994) gemeint ist und die es gilt, im Leben eines Individuums über Assistenz oder mit Assistierender Hilfe zu verwirklichen. Kein Mensch auf dieser Welt - gleich ob behindert oder nichtbehindert - ist gänzlich selbstbestimmt. Aber für behinderte Menschen ist entscheidend, daß in der Aneignung von Selbstbestimmung Fremdbestimmung und Bevormundung keine Rolle spielen. Wenn sich dieser Rahmen findet und zwar ohne Wenn und Aber, dann eignen sich Menschen Selbstbestimmung an. Dann sind wir im Behindertenhilfesystem auf einem richtigen Kurs und verändern dieses System in die richtige Richtung. Wer nicht bereit ist, das zu akzeptieren und das zur Voraussetzung zu machen, stabilisiert ein überkommenes Hilfesystem und gibt die Inhalte unseres Kampfbegriffes Selbstbestimmung gegen Fremdbestimmung auf, inflationiert diese Begrifflichkeit in unzulässiger Weise.

Ich höre hier die Zweifel vieler - vor allem vieler Fachleute. In den vergangenen Jahren begegnete mir bei den unterschiedlichsten Projekten im Behindertenbereich wieder und wieder der Einwand: Aber es ist doch eine Verkennung der Wirklichkeit, es ist doch eine Illusion anzunehmen, dieser Weg ließe sich bei allen behinderten Menschen verwirklichen. Viele sind doch zu schwer beeinträchtigt oder diese oder jene Schädigung kommt für diesen Weg nicht in Frage.

Als die ersten Körperbehinderten mit selbstorganisierter Hilfe in eigene Wohnungen zogen, taten sie das gegen die Meinung der meisten Fachleute. In ihren Vorstellungen mußte dieser Schritt ins Fiasko führen. Die Betroffenen haben diesen Schritt - gegen Widerstände - durchgesetzt und es ging. Es ging sogar - und das könnte eine Antwort auf alle Zweifel in dieser Hinsicht sein - bei Schädigungsgruppen, von denen man selbst aufgrund medizinischer Aussagen behauptete, ein Leben in eigener Wohnung mit selbstorganisierter Hilfe oder Ambulanten Diensten könne lebensgefährlich werden. Ich selbst bin bei einer solchen Personengruppe Ende der 70er Jahren ins Schwanken, in den Sog der Zweifler geraten, ob beispielsweise Atemgelähmte, die bis dahin in Krankenhausstationen lebten, diesen Weg gehen könnten. Damals fuhr ich nach München, habe mit Atemgelähmten gesprochen und mir angeguckt, wie sie selbstbestimmt außerhalb von Institutionen in freier Wildbahn lebten. Die Betroffenen haben diesen Schritt - gegen Widerstände - durchgesetzt und es ging.

Als die Elterninitiative "Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen" ihre Forderung nach gemeinsamen Kindergarten - und Schulbesuch behinderter und nichtbehinderter Kinder erhob, traten die gleichen Zweifel auf: Der Einwand wurde erhoben, daß das doch nicht ginge - entweder aufgrund der Schwere der Beeinträchtigung oder infolge des Schädigungsbildes. Die Eltern setzten ihre Forderungen nach Nichtaussonderung in die Wirklichkeit um. Die Betroffenen haben diesen Schritt - gegen Widerstände - durchgesetzt und es ging.

Als vor 10 Jahren die ersten Ideen und Konzepte zum Thema "Ambulant Betreutes Wohnen" geistigbehinderter Menschen entstanden und Konzepte in einzelnen Städten verwirklicht wurden, erhob sich sofort der Widerspruch: Das geht nicht. Wir haben vom Verein "MOBILE - Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V." ein solches Projekt entworfen und umgesetzt. Noch heute verlassen Behinderte das Heim und ziehen mit Ambulanter Betreuung in eine eigene Wohnung, nehmen die Rollenvielfalt einer/s BürgerIn als MieterIn, KontoinhaberIn, NachbarIn undundund an, bewältigen alle auftauchenden Probleme mehr oder minder und werden von dem Kommentar der Heimleitung begleitet: "In vier Wochen bis´de wieder hier!" Aber Gottseidank kehren sie unser Erfahrung nach nicht wieder zurück. Die Betroffenen setzen diesen Schritt - gegen Widerstände - durch und es geht.

Nach aller Erfahrung muß auch bei den Vorstellungen über Selbstbestimmung und die Zuständigkeit für das eigene Leben der Zweifel, ob denn das für alle gelte, aufbrechen. Ich denke, die historische Erfahrung mit den benannten Beispielen muß deutlich machen, daß der Zweifel eine Folge unseres eingeschränkten Denkens ist. Wir haben nicht genug Phantasie, uns Lösungen vorstellen zu können. Also glauben wir, ein solcher Weg wäre unmöglich. Wir sind diejenigen, die hier Grenzen setzen, ohne auszuprobieren, ob entsprechende Formen möglich sind und wie solche Formen aussehen könnten. Unsere sogenannte Fachlichkeit ist die Schere in unserem Kopf. Damit stabilisieren wir das alte, überkommene Hilfesystem und schränken seine Fortentwicklung ein.

Die Gefahr der Pädagogisierung der Assistenznehmenden

Selbstbestimmung und Assistenz machen uns Behinderte von Objekten der Fremdbestimmung und der Bevormundung zu Subjekten der eigenen Entscheidungen und der Zuständigkeit für uns und unser Leben - völlig unabhängig von der Schwere der Beeinträchtigung. Wir werden vom Objekt der Fremdbestimmung zum Subjekt eigenen Handelns (vgl. Steiner 1974b). Wenn verhindert wird, daß wir Selbstbestimmung ohne Fremdbestimmung und ohne Bevormundung und daß wir Zuständigkeit (Kompetenz) für uns und unser Leben erlangen, dann bleibt das alte Verhältnis von Macht und Ohnmacht zu unseren Lasten bestehen. Dann wird die Umkehr der alten Machtverhältnisse "Behinderter / Institution und Bevormundung" verhindert, und wir können keine Selbstbestimmung, keine Zuständigkeit über uns und unser Leben erlangen. Das passiert immer, wenn im oben beschriebenen Sinne gedacht und so gehandelt wird, als hieße Kompetenz dasselbe wie Fähigkeit. Ich kann in diesem Sinne PädagogInnen, SonderpädagogInnen und alle Fachleute des überkommenen Behindertenhilfesystems nur davor warnen, die Kampfbegriffe der Behindertenbewegung zu inflationieren oder zu pädagogisieren, uns also unter der Wahrung alter Machtverhältnisse Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und zur Assistenz vermitteln zu wollen. Natürlich müssen wir uns Fähigkeiten aneignen, um Selbstbestimmung und Assistenz zu praktizieren, aber das kann nur geschehen, wenn Aneignungsräume frei von Zwängen der Institutionen und ohne Bevormundung durch die alte Fachlichkeit geschaffen werden. Das könnte durch ein spezielles Schulungskonzept erreicht werden, das von Behinderten entwickelt wurde. Dieses Schulungskonzept könnte die Begriffe der Selbstbestimmung und Assistenz nicht unter die Macht der sinnentleerten Inflationierung oder unter die Macht der Pädagogisierung der AssistenznehmerInnen stellen. Es müßte genau das Gegenteil tun.

Literatur

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VEREINIGUNG INTEGRATIONSFöRDERUNG (VIF) (HG.):Behindernde Hilfe oder Selbstbestimmung Behinderter. München 1982

Die im Text verwandten Orginalaussagen von AssistenznehmerInnen entstammen den Interviews einer Untersuchung mit dem Arbeitstitel "Leben mit Assistenz - Selbstbestimmung und Hilfeabhängigkeit", die Birgit DROLSHAGEN und Birgit ROTHENBERG an der Universität Dortmund erstellen; sie sind in diesem Zusammenhang zur Veröffentlichung freigegeben.

Autorin

Gusti Steiner,

Im Grubenfeld 26, 44135 Dortmund

Quelle

Gusti Steiner: Selbstbestimmung und Assistenz

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-99

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.2.2010

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