Therapie und Pädagogik ohne Aussonderung. Italienische Erfahrungen

Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: TAFIE (Hrsg.): Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. 5. Gesamtösterreichisches Symposium 1989, S. 77 - 94. Übersetzung: Irene Lauschmann und Roland Walther
Copyright: © E. Anna Gidoni, Nerina Landi 1989

Einleitung

(Überschrift von bidok)

In den 70er Jahren ist bei den Behinderten und deren Familien das Bewußtsein herangereift, daß ihnen dieselben Rechte zustehen wie allen anderen, ganz im Sinne der Verfassungsbestimmungen. Unter den Grundrechten findet sich das Recht auf Gesundheit, auf Bildung und Arbeit. Vorher haben die Behinderten um das Recht auf medizinische Betreuung und Rehabilitation gekämpft. Aus diesen Forderungen sind die eigens zu diesem Zweck bestimmten Dienstleistungen und Gesetze entstanden: Spezialinstitutionen, Sonderschulen für jede einzelne Form von Behinderung, so z.B. für Spastiker, für Behinderungen infolge Kinderlähmung, für Gehörlose usw.

Unter den Aufgaben des Gesundheitswesens, die am schnellsten anwuchsen, entwickelte sich in den Nachkriegsjahren bis in die 70er Jahre das Ziel der Rehabilitation auf geradezu stürmische Weise. Die Institutionen, Tageszentren, Ambulatorien vermehrten sich und mit ihnen auch die Theorien, Modelle, Methoden und Praktiken der Physiotherapie, der Logopädie, der Sonderpädagogik.

In den 70er Jahren wurde man sich schließlich bewußt, daß die behinderten Kinder für diesen "Sondermechanismus", auf einzelne Defekte behandelt zu werden, den Preis der Isolation zahlten, wobei diese Behandlungen letztlich gar nicht fähig waren, eine Heilung zu erbringen, sondern nur dazu verhalfen, eine etwas höhere Stufe der Funktionalität zu erreichen.

So entstand in Italien eine gegen die Institutionen gerichtete Bewegung, und es schien sich Integration als echter Veränderungsschritt zu verwirklichen, der in den demokratischen Strukturen Fuß faßte, vom Bewußtsein der Bürger bis hin zur Verfassung, Parlament und Gesetzgebung, deren Tätigkeit nun nicht mehr die besondere Kategorie betraf, sondern alle berücksichtigte. Mit der Schließung der Sonderinstitutionen und der Aufstellung eines nationalen Gesundheitsdienstes, dessen Prinzip Nicht-Diskriminierung den rationalen Kern des Gesetzes ausmacht, fand diese Bewegung ihren Abschluß.

Für das behinderte Kind war die Eingliederung in die Normalschule nicht nur eine Ortsveränderung, sondern eine soziale Eingliederung in ein Wertsystem, das es als Staatsbürger und Rechtssubjekt betrachtet; damit ist das behinderte Kind aus einer Lage herausgetreten, in der es nur als Träger von Bedürfnissen anerkannt worden ist.

In den folgenden Jahren sind die administrativ-bürokratischen Maßnahmen zum Schutz der Integration manchmal kontraproduktiv geworden. Dennoch besteht unserer Meinung nach das größte Risiko darin, daß Integration einen mythisch-fabelhaften Zug samt dem Hauch einer bestimmten Doppeldeutigkeit annimmt. Diese Doppeldeutigkeit läßt Integration auf der einen Seite zwar bewundernswert erscheinen, andererseits wird sie, weil zu wenig durchdacht, zu einer Art Notlösung, die fachliche Inkompetenzen durch eine bestimmte Menschlichkeit überdecken soll.

Die Entwicklung des Rehabilitationsmodells

Neben den Veränderungen auf der politisch-sozialen Ebene der Integration bahnte sich eine Weiterentwicklung der Methode, der Praxis und der Rehabilitationsmodelle an. Eine ausführliche Darstellung ist hier nicht möglich, wir beschränken uns daher auf die Grundlinien.

Die Vervielfältigung spezialisierter Maßnahmen und ihre fachmännische Anwendung auf ein- und dasselbe Kind hatte eine Vervielfältigung unterschiedlicher Kompetenzen zur Folge, d.h. eine maßlose Zersplitterung des Kindes in seine Krankheitsbilder, wodurch die normalen Aktivitäten des Alltags in therapeutische Vorgänge umgewandelt wurden, wie z.B. das Schwimmen in Hydrotherapie, das Reiten in Hippotherapie usw.

Das behinderte Kind ist so zu einem kleinen Midas geworden: Alles, was es macht, verwandelt sich in Therapie. Dieses tragische Privileg trennt es - wie den König Midas - von der Ursprünglichkeit des Lebens. Die auf Verbesserung und Übung zielende Praxis, die zu diesem Zweck geschaffenen Strukturen und Dienste, die von der Gesellschaft an die Experten delegierte technische Verwaltung haben jenes Bild des Behinderten aufrechterhalten, demzufolge er Objekt von Heilmethoden ist, die seine kranken Teile betreffen, während die Distanz zwischen dem ganzen Kind und der Person, die es betreut, wuchs; z.B. wurden die Mütter häufig in Therapeutinnen verwandelt. Jeder Experte spielte das Spiel mit seiner pathologischen Puppe, war es nun bewegungstherapeutisch, kognitiv oder neurologisch orientiert.

Abb 1: Das Kind im Kopf des Neurologen

Abb 2: Das Kind im Kopf des Orthopäden

Abb 3 Das Kind im Kopf des Psychologen

Abb 4 Das wirkliche (reale) Kind

Der Übergang zu einer anderen Rehabilitationspraxis, die weder das Pathologische noch die Notwendigkeit einer Behandlung verdrängt, sondern den "institutionalisierten Stil", der die Schließung der Institutionen überlebt hat, über Bord wirft, fördert die Entwicklung eines neuen theoretischen Bezugsmodells. Dies hat sich in unserer Gruppe im Rahmen institutionalisierter Arbeit entwickelt, wo das Klima wechselseitiger Abhängigkeit und Interdisziplinarität die Experten dazu nötigte, sich stets das Verhältnis von detaillierter Einzelbehandlung und Ganzheit des Kindes vor Augen zu halten. Gleichzeitig ging man dazu über, einige der begrifflich-theoretischen Werkzeuge, wie die Behandlungsformen, zu kritisieren, um eine Methode zu finden, die mit dem Respekt vor der Ganzheit des Kindes vereinbar ist.

Vor allem haben die Studien über den Fötus und das Neugeborene das für die Gesundheitsmedizin nötige theoretische Modell bereichert: So haben das Umfeld und das Beziehungsverhältnis, die im institutionalisierten Stil und im therapeutischen Monolog keinen Platz haben, im Dialog mit dem behinderten Kind eine ganz wesentliche Rolle erlangt. Diese neue Praxis hat keineswegs das Leiden verdrängt oder das nicht wieder Gutmachbare gutgemacht. Sie entspricht nur der Verpflichtung, die Kräfte der Person zu entfalten und die zerstörerischen Verteidigungsmechanismen einzuschränken. In diesem Zusammenhang entwickelte sich der Vorschlag, die Idee, Fähigkeiten aufzuschlüsseln, die alternativ zur Suche nach Defekten und Mängeln stehen. Es geht mehr um die Behandlung zugunsten der Validität und nicht nur um die Versorgung der Invalidität. Es geht um den Reichtum des Umfeldes im Gegensatz zum Zergliedern des Menschen in Stereotypien in Institutionen.

Unsere neue Sicht erspart den Eltern die täuschenden Sicherheiten, die der Delegierung der therapeutischen Kompetenz innewohnen. Dies hat auch einen schmerzlichen Prozeß der Bewußtseinsbildung hervorgerufen, der dennoch die Eltern in die Lage versetzt, als Akteure in der Erziehung des eigenen behinderten Kindes eine Rolle zu spielen und um seine Rechte zu kämpfen.

Diese theoretische und handlungsmotivierende Position hat dazu geführt, das Konzept der Rehabilitation kritisch zu betrachten: Rehabilitation erscheint als Ergebnis mehrerer technisch-operativer Maßnahmen, ist aber in erster Linie Nicht-Ausgrenzung. Das Konzept beinhaltet vielmehr Präsenz und Teilnahme im Lebenszusammenhang des Kindes selbst und Respekt seitens aller vor dem Beziehungsgefüge.

Vom Enthusiasmus zur kritischen Reflexion

Mit der Veränderung der Integrationsformen kam es zunächst zu einem großen Enthusiasmus. Politiker, Familienverbände, Experten, die Behinderten, die die Isolation in Sonderinstitutionen erlebt haben und das Recht aufs Dasein mit den anderen forderten, waren sich einig. Die gleichzeitige Reorganisation des nationalen Gesundheitsdienstes schien auch die Fachleute von den engen Grenzen ihres institutionalisierten Expertentums zu befreien.

Diese die Rechte neu belebende Entwicklung hatte gleichzeitig Folgen im Bereich der Entwicklungstheorien: Man kam von der Vorstellung des bedürfnisgebundenen Säuglings, der so strukturiert ist, daß er auf dargebotene Reize reagiert, ab und kam zu einer Vorstellung über das Kind, das nicht nur zur Antwort, sondern auch zur Selbstbehauptung und Selbstdarstellung fähig ist.

Besonders in bezug auf das behinderte Kind stellte man der starren physiotherapeutischen Methode die Strategie der flexiblen, auf den Zusammenhang bedachten Behandlung entgegen. So ist in der Tat im Gesetz des nationalen Gesundheitsdienstes (gem. Reform 1978) ausdrücklich bestimmt, daß das Zuständigkeitsgebiet den Bürgern gleichzeitig die Garantie auf Gesundheit zu gewährleisten und die Maßnahmen zur Deckung der Bedürfnisse anzubieten hat. So konnte das Kind, das die normale Schule seines Viertels besucht, die vielleicht notwendige medizinische Behandlung und therapeutische Betreuung im Ambulatorium des Viertels bekommen. Die örtliche Nähe zwischen Schule und Gesundheitsdienst sollte beiden Partnern einen leichten Kontakt ermöglichen. Der Enthusiasmus war besonders bei jenen Personen stark ausgeprägt, die mit behinderten Kindern arbeiteten. Die Veränderung der Lebensweise der behinderten Kinder, die nun in der Schule und in der Klasse den Sinn ihres Daseins fanden, trug dazu bei, den Enthusiasmus zu nähren.

In der Phase der Begeisterung schien es, als ob die "Pflichtschule" sich in eine "Wunschschule" verwandelte. Bereits der Begriff Pflichtschule impliziert, daß die Bemühungen um die Kindheit von bestimmten Aspekten der Erwachsenenwelt her geprägt sind. Vom Standpunkt der Kinder und ihrer Nicht-Ausgrenzung her betrachtet, erscheint der Begriff Wunschschule angemessener, drückt er doch einerseits die Wunsch-Erwartungshaltung jedes Kindes aus, das in einer bestimmten Stadt, einem bestimmten Stadtviertel geboren und aufgewachsen ist, die Schule seines Wohnviertels zu besuchen. Andererseits drückt der Begriff "Wunschschule" ebenso den Standpunkt der Schule aus, die den Wunsch hegt, die Kinder ihres Wohnviertels aufzunehmen.

Im Rückblick auf die vergangenen Jahre zwingen die Bedingungen, unter denen die Eingliederung der behinderten Kinder in Schule und Gesellschaft erfolgt ist, zu einigen Reflexionen.

Das heißt keineswegs, das Prinzip der Nicht-Ausgrenzung in Frage zu stellen. Es bedeutet vielmehr, die am meisten geeignete Methodologie zu finden und zu verwirklichen. Als Experten für Kinderneuropsychiatrie sind wir der Ansicht, daß hier gemeinsam mit allen über die emotionalen Aspekte und über die mit Integration verbundenen Beziehungsprobleme gesprochen werden muß. Andere Wissenschaftler und Autoren, besonders aus Deutschland, haben in hervorragender Weise und mit größter Sorgfalt und Kompetenz den Zusammenhang von organisatorischen, gesetzlichen und bürokratischen Aspekten, die das Integrationsproblem mit sich bringt, analysiert. Diesbezüglich verweisen wir auf die Arbeiten von Frau Prof. Schöler und Herrn Jäger.

Die zwei wichtigsten Themen, über die wir, unserer Meinung nach, jetzt sprechen müssen, sind folgende:

1. Viele Fachleute des Gesundheitsdienstes und viele Lehrer haben Schwierigkeiten, die Angst und das Unbehagen gegenüber einem behinderten Kind unbefangen zuzulassen und zu tolerieren. Ein Beispiel ist die Angst, die es in der Schule angesichts eines behinderten Kindes gibt, das sich von vornherein anders darstellt, körperlich, verhaltensmäßig, das stumm ist oder kommunikationsschwierig zu sein scheint. Dazu gesellt sich der Schmerz und das Unverständnis in den Lehrern angesichts solcher Situationen. Weil es offenbar unmöglich ist, die eigentliche Angst, die an solche Umstände gebunden ist, hochkommen zu lassen, ist man auf die Ebene eines hektischen Agierens ausgewichen und hat damit Teilprobleme und diesbezügliche Maßnahmen vervielfältigt. Das behinderte Kind ist, wenn es geboren wird, ein der Mutter unbekanntes Wesen. Ähnlich ist es, wenn das behinderte Kind in die Normalschule eintritt, in die Welt anderer, unbekannter Kinder.

5 Die Lehrerin stellt sich ihre Idealklasse vor

Abb 6 Die Lehrerin vor der wirklichen (realen) Klasse

Abb 7 Die Lehrerin vor dem behinderten Kind

Zeichnungen 5, 6, 7: Esther Benvenuti, CEM "A. Torrigiani", Florenz

Der Begriff novelty shock, Schock vor dem Neuen, drückt die Bestürzung, die ratlose, lähmende Ungläubigkeit aus, die die Eltern erfaßt, wenn das neugeborene Kind in den Begriffen medizinischer Diagnose definiert wird, was nicht nur das Kind in seinem unmittelbaren Dasein verletzt, sondern auch in bezug auf die Vorstellungen über sein künftiges Leben. In diesem Fall ist die Diagnose nicht nur die Definition eines Teilaspektes im gegenwärtigen Dasein des Kindes, sondern eine sich auf das gesamte Werden erstreckende negative Wiederholung der Definition.

In unserer Sprache als Kinderneuropsychiater ließe sich sagen: Dieses entfremdete Bild des Kindes gibt der Phantasievorstellung von einem nicht existierenden ideal-perfekten Kind, das nur durch Behandlung des zu reparierenden Kindes zu haben ist, zusätzliche Nahrung. Das kaputte Kind wird dem Gesundheitsdienst übergeben, der für es grundsätzlich zuständig ist, dem es sozusagen gehört, und man erwartet sich die Rücklieferung eines gesunden Kindes. In der Zwischenzeit verharrt das reale Kind mit seiner Behinderung, die mit einer "Seins-Weise" verwechselt wird, die sein Dasein im Verhältnis zu anderen Personen verwirren wird, in einer Art ungewissen Lage von Bestürmungen. Aus der Verwirrung und den Emotionen, die das hervorbringt und wechselseitig aufschaukelt, ragen nur wenige Spitzen hervor, Spitzen eines Eisbergs. Wir müssen gerade von den verborgenen Sachen wissen; wissen, nicht unbedingt enthüllen. Es geht um ein Wissen auf der Ebene des Verstehens und des Zusammenhaltens. Es ist somit nötig, die Tätigkeit zu überprüfen im Verhältnis zur Fähigkeit, zerstörerische Emotionen wirkungsvoll einzudämmen.

So erscheint der Eintritt des behinderten Kindes in die Normalschule wie eine soziale Wiederholung der privaten Tatsache, die die Geburt des Kindes ist. Und alle bereits durchgemachten Emotionen scheinen wiederaufzuleben, erweitert, verstärkt und in Konfrontation mit den in dieses Ereignis neu eintretenden Erwachsenen. Vorstellungen von Gefahren, von Verlassenheit, von Angriff und Schädigung vermischen sich mit den mehr oder weniger energisch durchgeführten Anlaufversuchen, die Zukunft des Kindes zu gestalten. Dort, wo es der Schule gelingt, sich als Dienstleistung zur Förderung von Kompetenzen und nicht als Abhängigkeiten schaffende Dienstleistung zu profilieren, ist es auch möglich, die Kräfte des Ich-Bewußtseins der Eltern wiederzuerwecken und ihre Fähigkeit zu fördern, ihr eigenes anderes Kind in der Welt zu begleiten im Bewußtsein, ihm Selbstsicherheit zu geben.

Dies bedeutet den Verlust der Allmacht auf seiten all jener Erwachsener, die mit Kindern und vor allem mit behinderten Kindern arbeiten. Es bedeutet die Zurücknahme der entfesselten, auf Korrektur von Details zielenden Tätigkeit zugunsten einer erhöhten Aufmerksamkeit für das, wenn auch disharmonische, Wachstum des Kindes. Damit ist andererseits auch die Möglichkeit gegeben, die Vorstellung von der Zukunft des Kindes beizubehalten, ganz der Aufgabe und der Verantwortung der Erwachsenen entsprechend, unabhängig davon, wie das Kind ist.

Und genau darin, in der Akzeptierung des Kindes, so wie es ist, liegt die grundsätzliche, die apriorische Anerkennung der Kommunikationsbedeutung des Kindes, liegt die Wiederaneignung der wertvollen Fähigkeit, den Schmerz zu verarbeiten und in sich wie in dem anderen die Freude am Dasein aufzuwerten.

2. Leider sind diese Emotionen häufig verleugnet und unterdrückt worden, anstatt daß man sie in dem Dialog zwischen dem pädagogischen Bereich und dem Bereich der Rehabilitation zur Geltung gebracht hätte. Die Schließung der Sonderinstitutionen und Spezialschulen hat es möglich gemacht, die Kompetenzdelegierung zur Wiedergutmachung praktisch zu unterbrechen. Trotzdem wurde aber im Umkreis der Bedeutungen weitergeforscht und die Zahl der Maßnahmen, Eingriffe und Verbesserungsstrategien um ein Vielfaches erhöht.

So hat man bei vielen, individuellen oder Gruppentreffen zwischen Lehrern und Kinderneuropsychiatern häufig das Thema der Angst der Erwachsenen ausgeklammert. So haben die Lehrer, die einerseits einem Programm verpflichtet sind und andererseits bestrebt sind, eine für das behinderte Kind nützliche Arbeit zu leisten, wobei sie auch emotional durch die Erwartungshaltung der Eltern gebunden sind, Teilinformationen und Kenntnisse in bezug auf Diagnose, Therapie und Sonderpädagogik eingeholt. Leider, aufgrund der Verbindung von Bedürfnissen und Befriedigung derselben, haben sie die entsprechenden Antworten erhalten und somit Situationen institutionalisierten Typs reproduziert.

Ferner hat in der Schulorganisation häufig der grundlegende Mechanismus für den Zusammenhalt gefehlt, der in der Gruppenarbeit unter Erwachsenen zusammen mit einer klaren Ausrichtung auf Interdisziplinarität notwendig ist. Die Einsamkeit der Lehrer läßt ihre Arbeit extrem schwer werden.

Dennoch, in all den Fällen, wo es gelungen ist, psychologische und pädagogische Methodologien zusammenzubringen, konnte alle mitspielenden Emotionen verarbeitet werden, konnte die eigentliche Integration des behinderten Kindes verwirklicht werden.

Vorschläge für heute

Wenn wir Ratschläge und Empfehlungen hinsichtlich rehabilitativer Maßnahmen entwerfen, scheint es uns nützlich zu sein, einige von Kinderpsychiatern und Psychologen in Florenz gemachte Erfahrungen aufzuzeigen. Diese Erfahrungen fußen auf theoretischen und praktischen Modellen, die sich zum Ziel gesetzt haben, im sozialen Umfeld ein auf Rehabilitation orientiertes Bewußtsein der Nicht-Ausgrenzung zu fördern:

  • durch Entdeckung neuer Methodologien

  • durch Stärkung der gegebenen sozialen Strukturen

  • durch Schaffung von Orten und Räumlichkeiten für das Zusammenkommen.

Die Verpflichtung, neue Hypothesen zu entwickeln, neue Lösungsformen und Maßnahmen zu finden, ist unserer Meinung nach sehr wichtig, um alle zur Verfügung stehenden Ressourcen zu mobilisieren, umzuverteilen, auszuschöpfen.

Wir sind überzeugt, daß die Rehabilitationsarbeit vom ersten Kontakt mit dem behinderten Kind an, gleichzeitig zwei Aspekte anerkennen und respektieren muß: den der Schwäche und Abhängigkeit sowie den der Autonomie und Kompetenz. Es ist somit unumgänglich, daß diese Verhaltensentscheidungen in flexibler Form erfolgen, damit sie beide Aspekte in den verschiedenen Phasen der Behandlung berücksichtigen und fördern.

Wie wir in unserem Erfahrungsbereich beobachten konnten, ist es keinesfalls wahr, daß die Möglichkeiten des behinderten oder cerebral gestörten Kindes nur in den ersten Lebensjahren in Erscheinung treten und sich daher sein gesamtes Schicksal in der frühzeitigen und intensiven Behandlung entscheidet.

Es muß vielmehr die Dimension des Zukunftsprojekts hinsichtlich des behinderten Kindes lebendig bleiben. Die Zukunftsprojekte für behinderte Kinder fehlen häufig überhaupt oder sind völlig unangemessen; sie sind bestenfalls gemäß den Vorurteilen der Erwachsenen zurechtgeschneidert oder unterhalb dem für die Behinderten möglich gehaltenen Minimum angesiedelt.

Häufig bleiben die behinderten Kinder in den Normalschulen unterfordert, weil man ihnen weniger zutraut. Sie werden von Lernprozessen ferngehalten, weil man beschlossen hat, sie seien noch zu wenig reif oder sie würden bestimmte Werkzeuge eben nie benützen.

Wenn man sich die Familie und die Gesellschaft als eine Struktur, als ein Gewebe vorstellt, das übermäßig beladen und danach auf die Probe gestellt wird hinsichtlich seiner Fähigkeiten des Widerstandes und der Anpassung, dann muß man sich schon vor Augen führen, daß die emotionale und praktisch konkrete Überladung des Alltags mit einem behinderten Menschen eine Stärkung des Gewebes, der mitwirkenden Strukturen in Betracht ziehen muß.

Um zu wiederholen: Finanzielle Zuwendungen, Pensionen, Unterstützungen, medizinische und psychologische Versorgung, physische Betreuung, für sich allein genommen, stärken häufig nicht die Kraft der tragenden Struktur, sondern erzeugen im Gegenteil einen Effekt der Verstärkung der Bedürfnisse.

Auf Grundlage dieser Betrachtungen und unserer Erfahrungen konnten wir einige nützliche Maßnahmen und Lösungsformen für die Stärkung dieses Gewebes in den verschiedenen Bereichen, aus denen es besteht, ausfindig machen.

Diese Bereiche sind der persönliche, der familiäre, der schulische und der soziale.

  1. Im persönlichen Bereich war es unser Ziel, die Individualität des behinderten Menschen durch Anwendung von Techniken der Unterstützung des Ichs, z.B. durch autogenes Training, zu stärken.

  2. Im familiären Bereich haben wir Maßnahmen nach dem Modell des "unterstützenden Ichs", das weiter unten näher ausgeführt wird, und direkte Behandlung der Familien angewendet.

  3. Im schulischen Bereich hat man die Bedeutung der Förderung von Aktivitäten erkannt, die außerhalb des schulischen Programms stehen: Theater, Musik, Sport, künstlerische Betätigungsformen.

  4. Im sozialen Bereich hat man die Veränderung von Strukturen beobachten können, die sich von geschlossen-geschützten zu schützenden Strukturen zu wandeln vermochten, z.B. Hauswohngemeinschaften; oder auch organisierte Gruppen, die es tatsächlich verstanden haben, behinderte Kinder aufzunehmen, zusammenzubringen, einzugliedern, etwa in Pfadfindergruppen, Pfarrjugendgruppen usw.

Aus diesen Erfahrungen möchte wir zwei weniger bekannte herausnehmen und darstellen, weil sie uns besonders wichtig erscheinen, während für viele andere, z.B. im schulischen und sozialen Bereich, bereits ein breiter, verbreiteter und begründeter Erfahrungshorizont besteht.

Wir möchten also kurz die Rehabilitationsmaßnahme anhand des "unterstützenden Ichs" sowie die Anwendung der Technik des autogenen Trainings bei behinderten Menschen skizzieren.

1. Die rehabilitative Behandlungsmaßnahme anhand des "unterstützenden Ichs" ist in der Idee begründet, der behinderten Person (häufig ein Jugendlicher) einen nicht zur Familie gehörigen Begleiter beizustellen.

Der Zeitraum der ersten sechs Monate wird im normalen Mutter-Kind-Verhältnis als symbiotisch bezeichnet, weil die zwei Leben (das der Mutter und das des Kindes) durch wechselseitige Teilhabe aufeinander bezogen sind, als ob es noch nicht ganz zur physischen Trennung gekommen wäre. Die Abkoppelung ereignet sich graduell, in dem Maße, wie es dem Kind gelingt, sich die Funktionen des Mutter-Ichs in seinem Verhältnis zur Welt zunutze zu machen. Im Krankheits- oder Behinderungsfall vollzieht sich diese normale Entwicklung sehr viel langsamer und manchmal bleibt das Band zwischen den zwei Leben äußerst eng, fast symbiotisch, auch über Monate und Jahre hinweg.

Eine außerhalb der Familie stehende, nicht konfliktuell vorbelastete, beruflich ausgebildete Person kann also ihr Ich herleihen (deshalb die Bezeichnung "unterstützendes Ich") und dem behinderten Kind Verhaltensweisen und Funktionen zur Verfügung stellen, die seine Entwicklung zu erleichtern vermögen, andernfalls bliebe diese Entwicklung durch die Art der Mutter-Beziehung gehemmt. So agiert diese Maßnahme tatsächlich im Rahmen eines Prozesses der Verselbständigung und Abkoppelung, der in der symbiotischen Dimension blockiert blieb, und bringt notwendigerweise eine individualisierte Unterstützung für beide Partner im Beziehungsgefüge: für die Mutter und für das behinderte Kind.

Die Einführung des "unterstützenden Ichs" hat sich in den kritischen Augenblicken des Mangels an Ressourcen, des Mangels an Zukunftsvorstellungen für das behinderte Kind und seiner Familie (psychische Unausgeglichenheit, familiäre Krise etc.) als nützlich erwiesen. Durch diese Maßnahme kann das Beziehungsgefüge aufgelockert werden und eine Entwicklung in Gang gebracht werden, die es der Mutter und dem Kind möglich macht, die Abkoppelung zu tolerieren und im Kind neue Interessen und Tätigkeiten zu wecken. Die behinderten Kinder haben häufig das "unterstützende Ich" als Vermittler untereinander und in bezug auf die Welt benutzt (somit im sozialen Umfeld oder in der Gruppe gleichaltriger Kinder); die Eltern haben dadurch gleichzeitig einen Bewußtseinsraum gefunden, in dem sie die Schwierigkeiten mit dem behinderten Kind und seinen Bedürfnissen im Dialog neu bearbeiten können.

Der 20jährige behinderte Mario (schwere geistige Retardierung) sagt nach drei Jahren Behandlung: "Ich möchte mit der Gruppe von Freiwilligen zum Meer ...", "ich möchte alleine in meinem Zimmer schlafen". Parallel zum Autonomiewunsch Marios sind die Eltern nun in der Lage, ihr eigenes autonomes Projekt als Paar zu verwirklichen und sagen: "Wenn alles gut geht, können wir daran denken, unsere Hochzeitsreise nach Venedig durchzuführen, wo wir schon vor zwanzig Jahren mit Maria hinwollten, wenn es nicht geschehen wäre..."

2. Seit vielen Jahren wird im Zentrum für motorische Erziehung "Torrigiani" die Technik des autogenen Trainings bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit cerebropathischer dystonischer Behinderung angewendet.

Nach unserer Erfahrung hat die Technik des autogenen Trainings durch die Förderung einer Reflexion auf sich selbst offensichtlich dazu geführt, daß die Behinderten zu einem wenn auch nur momentanen persönlichen Raumbewußtsein gelangen, in dem sie "die Arbeit mit mir selbst" durchexperimentieren können, "wo es doch stets die anderen sind, die an mir herumarbeiten".

Die von den Übungen erforderte Einsamkeit macht es den Patienten möglich, sich einige Zeit in der Wohnung zurückzuziehen, wobei es zu einer Trennung kommt, in der die Angst vor der Verlassenheit im therapeutischen Setting zusammengehalten und aufbewahrt bleibt. In den Situationen, in denen es möglich ist, zu einer höheren Autonomie und Unabhängigkeit zu gelangen, kann das autogene Training die Gelegenheit verschaffen, zu Erfahrungen zu kommen, die bestimmte Aspekte der Persönlichkeit verstärken - so z.B. das Selbstwertgefühl, den Sinn für Autonomie - und zu neuen, wenngleich kleinen, funktionalen Fähigkeiten führen.

Hier einige Äußerungen von Patienten mit dystonischer Tetraparese:

Alessandra V., 23 Jahre alt: "Mit der linken Hand habe ich die Flüssigkeit vom Foto in eine Schüssel geschüttet. Ich kann mir Hände und Gesicht waschen und dabei denken ... bei Tisch mache ich den Mund nicht auf mit dem Bissen im Mund ... heute habe ich die Geschirrspülmaschine zu schließen versucht und es ist mir gelungen..."

Simone B., 13 Jahre alt: "Mit dem Training haben sich meine Probleme nicht verändert, aber die Beziehungen mit mir haben sich verändert, weil ich mehr über mich nachdenke und weil mich das Training stützt."

Fabio R., 14 Jahre alt: "Meine Probleme haben sich nicht geändert, weil sich ja nicht die Ausgangslage geändert hat, aber es hat sich die Art und Weise geändert, sie wahrzunehmen, sie zu fühlen, weil ich mehr Kraft drinnen in mir habe."

Andrea R., 30 Jahre alt: "Ich habe Schwierigkeit, meine Behinderung zu akzeptieren, der Paraplegiker weiß, worauf er zugeht, meine Behinderung ist unvorhersehbar..."

Diese Unvorhersehbarkeit der Reaktionen ist typisch für die Dystonie. Sie macht den Zugang zur äußeren Umwelt sehr schwierig und behindert den Erwerb einer relativen Autonomie. Dennoch war es für den letztgenannten Patienten möglich - nach vielen Gesprächen und Trainings über einen langen Zeitraum hinaus - mit zwei Freunden einen Urlaub in Schottland zu planen und das erste Mal überhaupt ohne Familienangehörige, die Hilfe von Außenstehenden akzeptierend, Urlaub zu machen. Danach ist es ihm gelungen, mit Hilfe von Kooperativen des sozialen Unterstützungsdienstes, allein kurze Aufenthalte in verschiedenen italienischen Städten zu organisieren, um sich beruflich weiterbilden zu können.

Die Aneignung einer größeren inneren Kraft, das Wissen, mit besonderen Problemen der eigenen Behinderung leben zu müssen ("Die Dystonie ist etwas Unvorhersehbares"), neue Formen von Autonomie im alltäglichen Leben zu finden. - All das schafft unserer Ansicht nach Situationen, in denen das Ich des Behinderten neue Möglichkeiten auszudrücken vermag.

Schlußfolgerungen

Das Interesse des deutschsprachigen Raumes für die italienischen Erfahrungen im Bereich der Integration ist 1976 entstanden, als eine Gruppe deutscher Wissenschaftler an dem von der ICPS (International Society of Cerebral Palsy) unter der Präsidentschaft von Prof. Adriano Milani Comparetti organisierten Symposium "Der Behinderte und die Gesellschaft" teilnahm. Seither haben einzelne Personen und ganze Gruppen begonnen, die italienischen Schulen zu besuchen, sowie Begegnungen und Erfahrungsaustausch mit verschiedenen Städten zu betreiben.

Gerade wegen dieser Tradition der Kontakte möchten wir hervorheben, daß es uns nicht um einen Export von Modellen geht. Wenn die italienische Erfahrung nützlich für andere sein kann, dann insofern, wie sie dazu verpflichtet, schonungslos in jeder Gesellschaft die Maßstäbe der Lebensqualität zu überprüfen: das sind die Wünsche und Vorstellungen, die Toleranz, die Bereitschaft zur cum-passio, zum Mit-Leiden mit den schwächsten Teilen.

Wenn aber die in der Gesellschaft herrschenden Werte rein quantitativer Art sind, dann kann man nur an das Erbarmen, das aus der Schuld entsteht, und an den Wunsch nach Buße appellieren, welche die Schuld auslöscht.

So kann getrost ein bißchen Geld (für Unterstützung), ein bißchen Raum (für die Institutionen), ein bißchen Kompetenz (für die Behandlung), ein bißchen Ausbildung (für die Sonderschulen), ein bißchen Arbeit (für die geschützte Werkstatt) garantiert werden, und mehr noch, es werden sich stets irgendwelche Nebenvorteile aus dieser Strategie ziehen lassen. Der Preis ist und bleibt dann die Aussonderung.

Man muß somit über die Eingliederung der behinderten Kinder in die Normalschule hinaus die soziale Aufnahmebereitschaft für sie als Erwachsene vorbereiten, so wie man auch über die Erziehungsaufgabe der Kinder in Wohlstand und Befriedigung der Bedürfnisse hinaus, für ihr Alter eine soziale, nicht destruktive Bedeutung gewährleisten muß.

Die starre Trennung nach Altersgruppen (Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter) unterbricht das Kontinuum menschlichen Lebens, bestimmt ein zweidimensionales Bild des Mernschen ganz nach der Nützlichkeit im Profitsystem und bewirkt, daß die Altersstufen mit Schrecken als "Sprünge" erlebt werden. Mit diesen Sprüngen findet man Zugang zu anderen Lebensstilen bei gleichzeitigem Verlust des vorhergegangenen, so als ob es sich um die Negation des Prinzips der Erhaltung und der Kontinuität des Daseins handelte.

So verleugnet der Erwachsene seinen Kindheitsanteil und verneint heftig seine Zukunft des Alterns. So verneint und unterdrückt der Mann seinen weiblichen Anteil, indem er sich dem Spiel des "splitting" ergibt. So verleugnen die Schönen, Jungen, Starken, Intelligenten ihre schwachen Seiten, ihre Inkompetenz, Fragilität und Häßlichkeit und erschauern, wenn sie diese negativen Aspekte in anderen Menschen dargestellt sehen.

Letztlich noch eine Empfehlung bezüglich der Ausbildung des fachlich qualifizierten Personals. Die Ausbildung von Spezialisten sollte so erfolgen, daß die komplexe Dimension des Experten wie auch seines Subjektes und Objektes der Beobachtung und Behandlung respektiert wird. Nach einer der modernsten Erkenntnistheorien ist die Weise des Erkennens grundlegend für die Erhaltung und Integrität des Gegenstandes oder für seine Vernichtung.

In unserer Gruppe hat die Arbeit für die Integration dazu geführt, daß wir uns selbst entwickelt haben; sie hat uns die Freiheit gebracht, über die Grenzen hinauszuschreiten und das konstante Bedürfnis nach Erkenntnis geweckt, nach einer Erkenntnis, die im Dienst der Integration steht.

Quelle:

E. Anna Gidoni, Nerina Landi: Therapie und Pädagogik ohne Aussonderung. Italienische Erfahrungen

Erschienen In: TAFIE (Hrsg.): Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. 5. Gesamtösterreichisches Symposium, S. 77 - 94; Autoreneigenverlag TAK, Innsbruck 1990

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 23.01.2006

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