Der partizipatorische Ansatz des Forschungsprojekts: Das Bildnis eines behinderten Mannes

Hintergrund - Konzept - Ergebnisse - Empfehlungen

Autor:in - Petra Flieger
Themenbereiche: Kultur, Disability Studies
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Petra Flieger, Volker Schönwiese (Hrsg.): Das Bildnis eines behinderten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Wissenschaftlicher Sammelband. AG SPAK Bücher, Neu Ulm 2007, Seite 19-42
Copyright: © Petra Flieger 2007

1. Einleitung

In "Überwachen und Strafen" geht Michel Foucault (1994) der Frage nach, wie es im 17. und 18. Jahrhundert dazu kam, dass Menschen zum primären Objekt einzelner Wissenschaften wurden. Diesen ging es, so Foucault, einerseits um die Durchschaubarkeit, andererseits um die Nutzbarmachung von Körpern (vgl. ebd., 174). Gleichzeitig entstanden damals Techniken, die der optimalen Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft dienten. Um diese Vorgänge zu beschreiben, bedient sich Foucault des Begriffs der Disziplinen. Darunter versteht er Methoden, "welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig / nützlich machen" (ebd., 175). Disziplinierende Verfahren, die es z.B. in Klöstern schon lange gegeben hatte, fanden sukzessive und konsequent auch in anderen Bereichen der Gesellschaft Anwendung. Sie etablierten sich im Militärwesen, in Schulen, in Arbeitsstätten und in Spitälern, die sich mehr und mehr, so Foucault, zu "Disziplinarinstitutionen" (ebd., 178) entwickelten. Die Disziplin "ist die spezi?sche Technik einer Macht, welche die Individuen sowohl als Objekte wie als Instrumente behandelt und einsetzt" (ebd., 220). Foucault beschreibt ausführlich verschiedene Techniken, die der Disziplin innewohnen bzw. derer sich die Disziplin bedient: etwa den hierarchischen Blick, die normierende Sanktion und die Prüfung.

Die Technik der Prüfung macht deutlich, wie gerade anhand von Personen, die nicht der Norm entsprachen, Wissen produziert wurde. Generell werden seit dem 18. Jahrhundert Menschen zunehmend Prüfungen und Überprüfungen unterzogen, denn diese sind konstitutive Bestandteile der gesellschaftlichen Einrichtungen, die der Disziplin dienen. Die Prüfung "ist ein normierender Blick, eine quali?zierende, klassi?zierende und bestrafende Überwachung" (ebd., 238). Ob im Krankenwesen, im Bildungssystem oder in der Arbeitswelt: Alle Menschen müssen in immer differenzierteren Prüfungs- und Überprüfungssystemen bestehen. Diese messen nicht nur die einzelnen Individuen an Normen, die sich langsam herauskristallisieren, sondern sammeln gleichzeitig Wissen über die Menschen. So "konstituiert sich das Individuum als beschreibbarer und analysierbarer Gegenstand" (ebd., 245), das inhaltliche Interesse der Beschreibung und Erfassung konzentriert sich immer mehr auf das einzelne Individuum. Durch das Sammeln und Archivieren aller Informationen und Prüfungsergebnisse, die geordnet und klassi?ziert werden, "baut sich ein Vergleichssystem auf, das die Messung globaler Phänomene, die Beschreibung von Gruppen, die Charakterisierung kollektiver Tatbestände, die Einschätzung der Abstände zwischen den Individuen und ihre Verteilung in einer `Bevölkerung´ erlaubt" (ebd.). Beschreibungen individueller Menschen werden zu einem Mittel der Kontrolle bzw. zu einer Methode der Beherrschung (vgl. ebd., 247). Dabei stellt sich heraus, dass vor allem jene Menschen, die in irgendeiner Weise auffallen, nicht dem angenommenen Durchschnitt, der Norm entsprechen bzw. von ihr abweichen, besonderes Interesse erwecken.

Das Kind, der Kranke, der Wahnsinnige, der Verurteilte werden seit dem 18. Jahrhundert im Zuge des Ausbaus der Disziplinarmechanismen immer häu?ger zum Gegenstand individueller Beschreibungen und biographischer Berichte. (ebd.)

Dieses Erfassen der individuellen Menschen "fungiert als objektivierende Vergegenständlichung und subjektivierende Unterwerfung" (ebd.). Ich verstehe Foucault hier so, dass einzelne Menschen einerseits zum Gegenstand eines Interesses wurden, z.B. Kinder in der Pädagogik oder psychisch kranke Menschen in der Medizin, gleichzeitig wurden diese Menschen im Prozess des Erfasst- und Beschrieben-Werdens auf ihre spezielle Individualität reduziert und darin problematisiert.

Foucault erwähnt behinderte Frauen und Männer nicht, er bezieht sich in seinem Werk kaum explizit auf diese Personengruppe. Aber in seiner Aufzählung klingen sie durch, denn es sind ja gerade individuelle körperliche, geistige oder psychische Unterschiede, die im Zuge von Disziplinarprozeduren zum Tragen kommen (vgl. ebd., 248). Deutlich zeichnen sich jedenfalls die Machtverhältnisse ab, wie sie bis heute für die Wissensproduktion in den Humanwissenschaften charakteristisch sind: hier die mit Disziplinar-, Normierungs- und Prüfungsmacht ausgestatteten WissenschaftlerInnen, die nicht zuletzt deshalb der Norm entsprechen, weil sie alle (Über-)Prüfungen erfolgreich absolviert haben; dort jene, die abweichen, die nicht entsprechen, die anders sind und deren Nützlichkeit sich darin erschließt, Objekt des Handelns anderer zu sein: als zu betreuende Frau in einem Heim, als zu rehabilitierender Mann in einer Werkstatt oder als zu erforschender Gegenstand der Wissenschaft.

Seit den 1980er Jahren arbeiten WissenschaftlerInnen mit Behinderung, die der Selbstbestimmt Leben Bewegung zugerechnet werden können, daran, Methoden zu entwickeln, die diese Wissenschaftstradition unterbrechen und behinderten Frauen und Männern eine Rolle als Subjekte in der Wissenschaft einräumen. Der politische Slogan "Nichts über uns ohne uns!", mit dem die emanzipatorische Behindertenbewegung gegen Fremdbestimmung und für Selbstbestimmung in der Behindertenhilfe auftritt, lässt sich so auch auf Wissenschaft und Forschung zum Thema Behinderung übertragen. Dafür hat sich in den USA unter dem Titel "Participatory Action Research" ein Ansatz etabliert, der starke Parallelen mit der Handlungsforschung aus dem deutschen Sprachraum der 1970er Jahre aufweist. Die Handlungsforschung war der Kritik an den vorherrschenden empirisch-analytischen und quantitativ naturwissenschaftlich orientierten Methoden der Wissenschaftspraxis entsprungen. Ihr Ziel war es, Theorie und Praxis in ein engeres Verhältnis zueinander zu bringen und vor allem das Wissen und die Interessen der Betroffenen mehr zu berücksichtigen. Personen, die der Wissenschaft bislang als Forschungsobjekte gedient hatten, sollten durch Aktionsforschung zu Subjekten in der Forschung über ihre eigene Praxis werden (vgl. Flieger 2005). Dem partizipatorischen Ansatz des Forschungsprojekts Das Bildnis eines behinderten Mannes lag ein solches Verständnis zu Grunde. Ziel war es, die bei der Produktion von Wissen zwischen ForscherInnen und Beforschten bestehenden Machtverhältnisse zu verändern: WissenschaftlerInnen sollten Macht und Entscheidungsgewalt abgeben, gleichzeitig sollten die Beforschten Ein?uss erhalten. Im konkreten Fall war das zentrale Thema die bildliche Darstellung von behinderten Personen bzw. die Analyse von Blicken auf behinderte Menschen, daher bestand der partizipatorische Anspruch darin, Frauen und Männer mit Behinderung aktiv zu beteiligen.

2. Das partizipatorische Forschungsdesign

Zwei Strategien wurden gewählt, um das Forschungsprojekt Bildnis eines behinderten Mannes partizipatorisch anzulegen: Erstens arbeiteten zwei WissenschaftlerInnen mit Behinderung im Projekt mit. AkademikerInnen mit Behinderung haben von Beginn an eine zentrale Rolle bei der Entwicklung partizipatorischer Forschungsansätze gespielt, sie sind wichtige Vermittler bei der Zusammenarbeit zwischen WissenschaftlerInnen und Personen mit Behinderung. "People who have membership in multiple constituencies, such as researchers who have disabilities, will play critical roles in this collaboration" (Doe / Whyte 1995, 12). Zweitens wurde eine Referenzgruppe eingerichtet, die sich aus Frauen und Männern, welche in ihrer Sozialisation die Erfahrung des Behindert-Werdens gemacht hatten, zusammensetzte. Referenzgruppen sind ein in der Fachliteratur häu?g erwähntes Modell partizipatorischen Forschens für die Zusammenarbeit von WissenschaftlerInnen mit Stakeholdern, wobei unterschiedliche AutorInnen unterschiedliche Bezeichnungen dafür wählen (vgl. Flieger 2005). Referenzgruppen konstituieren sich aus RepräsentantInnen jener Personengruppen, die von der jeweiligen Forschungsfrage betroffen sind. Die wesentliche Funktion von MitarbeiterInnen einer Referenzgruppe besteht darin, den Forschungsprozess aus ihrer speziellen, für die Forschungsfragen relevanten Perspektive zu begleiten und mitzugestalten. Sie sollten von Anfang an mitentscheiden, welche Fragen mit welchen Methoden beforscht werden. Im weiteren Verlauf wirken Referenzgruppen nicht nur bei der Interpretation von Ergebnissen mit, sondern auch bei der Entscheidung darüber, wie diese weiter verwendet werden sollen.

Vier Frauen und vier Männer mit Behinderung, die Selbstbestimmt Leben Innsbruck nahe stehen und sich mit den Zielen der Selbstbestimmt Leben Bewegung identi?zieren, bildeten im Forschungsprojekt Das Bildnis eines behinderten Mannes die Referenzgruppe. So konnte ein Bogen zu einer Betroffenen- bzw. BürgerInneninitiative gespannt werden. Die MitarbeiterInnen der Referenzgruppe sollten in regelmäßigen Besprechungen den Verlauf des Projekts inhaltlich begleiten und mitgestalten. Für die Teilnahme an Besprechungen erhielten sie ein auf Stundenbasis vereinbartes Honorar. Während des gesamten Projektverlaufs sollte sich die Referenzgruppe etwa alle sechs bis acht Wochen zu zwei- bis dreistündigen Besprechungen treffen, bei Bedarf konnte dies auch häu?ger der Fall sein. Die Sitzungen konnten entweder gemeinsam mit den WissenschaftlerInnen oder ohne diese statt?nden, sie sollten von den für die Partizipation zuständigen ProjektmitarbeiterInnen vorbereitet, moderiert und protokolliert werden. Die Besprechungsprotokolle wurden an alle Beteiligten verschickt und mussten von diesen abgenommen werden. Sie sollten am Ende des Projekts als Grundlage für die Re?exion und Beurteilung der Methode Referenzgruppe herangezogen werden.

3. Ergebnisse

Eine an partizipatorischen Forschungsprojekten häu?g geäußerte Kritik ist, dass Prozesse der Beteiligung bzw. konkrete partizipatorische Abläufe im Forschungsprozess nur ungenügend oder nicht ausreichend nachvollziehbar dargestellt werden. So bleibe häu?g unklar, wie sich die Beziehungen zwischen WissenschaftlerInnen und TeilnehmerInnen konkret entwickeln, wie sich Teilnahme und Mitsprache real darstellen und wie aufwändig partizipatorische Prozesse im Detail sein können (vgl. z.B. White 2004). Walmsley und Johnson betonen, dass diese Intransparenz zu Mysti?kationen darüber führen kann, was bei partizipatorischen Forschungsprozessen eigentlich abläuft:

The failure of people like us to explain what we do and how we do it when working inclusively has led to a mysti?cation of the process. The myth is that somehow some people magically get it right, but how the magic works is obscure. The hard work, the ?nely honed skills, the self-restraint researchers need to exercise, are camou?aged. (Walmsley / Johnson 2003, 222)

Der einfachste Weg, einen direkten und nachvollziehbaren Eindruck vom partizipatorischen Forschungsprozess zu vermitteln, wäre eine deskriptive Chronologie der Ereignisse. Doch erweist sich eine solche für eine Publikation schnell als ungeeignet, weil sie Gefahr läuft, entweder zu interne und zu persönliche Informationen zu veröffentlichen oder, wenn sie in Folge dessen sehr allgemein gehalten ist, zu ober?ächlich zu sein. Im konkreten Fall wird die kritisch-re?exive Darstellung des Projektverlaufs außerdem dadurch erschwert, dass viele ProjektmitarbeiterInnen im vorliegenden Band selbst Beiträge schreiben und eine Anonymisierung praktisch nicht mehr möglich ist. Daher muss auf eine Chronologie, die den Projektverlauf detailliert beschreibt, verzichtet werden. Anhand der Diskussion zentraler Aspekte wird allerdings immer wieder auf den Verlauf bzw. auf spezielle Situationen verwiesen, die einen Eindruck von der Dynamik des Forschungsprozesses vermitteln.

Der Projektantrag hatte ursprünglich zehn Sitzungen der Referenzgruppe vorgesehen, war aber explizit ?exibel und bedarfsorientiert angelegt gewesen. Schließlich fanden innerhalb der 20-monatigen Laufzeit des Projekts insgesamt 14 Sitzungen sowie am Ende eine Projektre?exion, die von einem externen Moderator geleitet wurde, statt. Bis auf zweimal trafen sich die MitarbeiterInnen der Referenzgruppe immer gemeinsam mit den WissenschaftlerInnen, weil dies für den Austausch und die direkte Kommunikation am ef?zientesten war. Etwa in der Mitte des Projekts wurde eine eigene, kleinere Arbeitsgruppe gegründet, die sich nur mit der inhaltlichen Gestaltung der Ausstellung auf Schloss Ambras befasste. WissenschaftlerInnen und MitarbeiterInnen der Referenzgruppe bildeten diese sogenannte Ausstellungsgruppe, die zu insgesamt sechs Besprechungen zusammenkam.

Anhand der Sitzungsprotokolle zeichnen sich grob vier Phasen des Projektverlaufs ab:

  • Die Konstituierungsphase (März 2005 bis Juni 2005 bzw. erste bis dritte Sitzung) war stark von der Frage geprägt, welche Rolle die MitarbeiterInnen der Referenzgruppe im Forschungsprojekt übernehmen sollen. Außerdem stand die Einführung in das historische Thema im Vordergrund.

  • In der Phase der inhaltlichen Auseinandersetzung (Juni 2005 bis März 2006 bzw. dritte bis achte Sitzung) wurden Diskussionen über Bilder und Darstellungen von bzw. Blicke auf behinderte Menschen geführt, die zu ersten Ideen vor allem für die Ausstellung auf Schloss Ambras führten.

  • Die Umsetzungsphase (März 2006 bis September 2006 bzw. neunte bis 12. Sitzung) diente der konkreten Planung, Vorbereitung und Abwicklung sowohl der Ausstellung als auch der dazu erscheinenden Begleitpublikation.

  • In der Abschlussphase (September 2006 bis Dezember 2006 bzw. 12. bis 14. Sitzung und Projektre?exion) konzentrierte sich alles auf die Eröffnung der Ausstellung Anfang Dezember 2006. Gleichzeitig begannen der Rückblick und die Analyse des Prozesses.

Die folgenden Ergebnisse wurden nicht nur aus der inhaltsanalytischen Auswertung der Sitzungsprotokolle erarbeitet, sondern auch während des Projektverlaufs in informellen Gesprächen und Re?exionen mit ProjektmitarbeiterInnen erfasst. Die formelle, extern moderierte Projektre?exion ergänzte diese Prozesse und stellte außerdem den Schlusspunkt der gemeinsamen Besprechungen dar. Sie war grob in zwei Phasen gegliedert: Zuerst gaben die einzelnen ProjektmitarbeiterInnen ihre individuellen Resümees auf

  • der persönlichen Ebene,

  • der Ebene der Zusammenarbeit zwischen WissenschaftlerInnen, MitarbeiterInnen der Referenzgruppe und den beteiligten Institutionen sowie

  • der inhaltlich-fachlichen Ebene ab.

In der zweiten Phase wurden diese Inhalte zu Kernthemen verdichtet und konnten durch offene Fragestellungen ergänzt werden. Den Abschluss bildete eine symbolische Verabschiedung der ProjektmitarbeiterInnen voneinander.

3.1. Gruppenbesprechungen als Grundstruktur

Die Grundstruktur gemeinsamer Besprechungen von WissenschaftlerInnen und MitarbeiterInnen der Referenzgruppe kann abschließend als aufwändig, aber sehr ef?zient und erfolgreich beurteilt werden. Sie schaffte einerseits einen verbindlichen zeitlichen und organisatorischen Rahmen, andererseits eröffnete sie einen Spielraum, der persönliche Aktivitäten und individuelles Engagement vor allem auch für die MitarbeiterInnen der Referenzgruppe möglich machte. Dazu zählten z.B. regelmäßige oder unregelmäßige Teilnahme an den Besprechungen, unterschiedliche Behandlung des Themas wie künstlerische, wissenschaftliche oder an Alltagserfahrungen orientierte Auseinandersetzung, sowie die Teilnahme an informellen Aktivitäten, vor allem dem gemeinsamen Abendessen nach den of?ziellen Besprechungen. Letztere waren für die Entwicklung einer Identität als Projektgruppe und eines kooperativen Klimas sehr wichtig. White et al. betonen, dass informelle Aktivitäten die Entwicklung partizipatorischer Beziehungen unterstützen:

Factors that facilitate participatory or collaborative relationships include taking part in informal events, meetings or activities; being on a ?rst-name basis; and celebrating each others´ birthdays. (White at al. 2004, 5)

Die ursprünglich nebeneinander bzw. einander quasi gegenüberstehenden Gruppen, auf der einen Seite die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen, auf der anderen Seite die MitarbeitberInnen der Referenzgruppe, rückten im Projektverlauf immer näher zusammen und bildeten schließlich ein großes Projektteam.

In der Projektre?exion wurde das Projekt insgesamt ebenso wie das Modell der Referenzgruppe als sehr erfolgreich beurteilt. Auffallend war eine über den gesamten Verlauf hohe Konsistenz der Referenzgruppe: Außer einer Frau, die das Projekt gleich zu Beginn verlassen hatte, stieg niemand aus. Dies dürfte ein Indikator dafür sein, dass echte Partizipation gelungen ist, denn, so schreiben White et al.:

If participants notice that they are only included in selected research activities, that they receive little recognition for their work, that their presence in the project is because of political or funding reasons, and all of it is in the guise of participation, they will likely view such practices as tokenism or window dressing and leave. (ebd., 6)

Ausdauer und Konsequenz der MitarbeiterInnen der Referenzgruppe über die gesamte Laufzeit des Projekts waren im erlebten Ausmaß unerwartet groß. Dabei entlastete die Gruppenstruktur die Einzelnen, denn nahm jemand an einer oder zwei Besprechungen nicht teil, brach nicht alles zusammen, sondern der Wiedereinstieg bei einer nächsten Sitzung war gut möglich. Für die konsequente Partizipation war dies von großer Bedeutung. Wichtig für die Kontinuität der Referenzgruppe war die Bezahlung ihrer MitarbeiterInnen. In vielen partizipatorischen Forschungsprojekten ist dies nicht gewährleistet, WissenschaftlerInnen werden bezahlt, nicht-wissenschaftliche MitarbeiterInnen nicht. Dies führt häu?g zum Abspringen der nicht-bezahlten MitarbeiterInnen (vgl. z.B. Pringle / Sonpal-Valias 2000; White et al 2004).

In der Anfangsphase war unklar, welche Rolle und welche Aufgaben genau die MitarbeiterInnen der Referenzgruppe übernehmen sollten und wie die Kommunikation zwischen ihnen und den WissenschafterInnen erfolgen konnte. Dies führte sowohl bei den WissenschaftlerInnen als auch bei den MitarbeiterInnen der Referenzgruppe zu Verunsicherungen. Doch gerade dadurch, dass die Rollen und Erwartungen nicht eindeutig und vorde?niert, sondern offen und experimentell angelegt waren, konnte ein Raum entstehen, in dem sich viele Personen auf ihre jeweils individuelle Weise und in dem für sie angemessenen Ausmaß einbringen konnten. Inhaltliche Differenzierungen und neue, ungewohnte Zugänge zum Thema waren geschätzt, ja erwünscht. White et al. sprechen in diesem Zusammenhang von gegenseitigem Respekt, den die ProjektmitarbeiterInnen gegenüber ihrem unterschiedlichen Wissen haben (2004, 3).

Es war von vornherein nicht absehbar, wer eine sehr aktive, eine aktive bzw. eine weniger aktive Rolle einnehmen würde. Partizipation im Rahmen einer Gruppe stellt hier einen Vorteil dar, denn diese eröffnet einen ?exiblen, aber tragfähigen Spielraum. Das Zusammenwachsen der Gruppe bzw. die Entwicklung einer gemeinsamen Projektidentität wurde in der Projektre?exion als Ergebnis der intensiven Zusammenarbeit und des Austauschs dargestellt.

3.2 Kriterien für die Mitarbeit in der Referenzgruppe

Es gab mehrere Auswahlkriterien für MitarbeiterInnen der Referenzgruppe: Person mit Behinderung, Nahverhältnis zu Selbstbestimmt Leben, Geschlecht, unterschiedliche Bildungslaufbahnen, eigene künstlerische Aktivität und Interesse am Thema. Zwei Kriterien sollen hier näher hinterfragt werden:

  1. dass auch AkademikerInnen, also Personen, die im eigentlichen Sinn nicht als wissenschaftsfern bezeichnet werden können, und

  2. dass nur Personen, die eine Behinderung haben, zur Mitarbeit eingeladen wurden.

Ad 1.: In der Referenzgruppe waren Frauen und Männer mit sehr unterschiedlichen Bildungsabschlüssen vertreten: Vier von ihnen haben ein akademisches Studium abgeschlossen, zwei sind diplomierte SozialarbeiterInnen, einer Hilfsarbeiter, ein anderer Maurer. Bereits während der ersten Sitzungen wurde deutlich, dass sich zwei Männer, die keinen Universitätsabschluss haben, mit großem Engagement an den Besprechungen beteiligten. Im Vergleich zu ihnen hielten sich die AkademikerInnen in den Diskussionen sehr zurück bzw. stiegen viel zögerlicher in eine aktive Beteiligung ein. Möglicherweise fühlten sie sich zu Beginn gegenüber den MitarbeiterInnen der WissenschaftlerInnengruppe benachteiligt. Im Lauf des Projekts nahm die Bedeutung von Bildungsabschlüssen insgesamt stark ab, im Vordergrund standen immer die persönlichen Erfahrungen des Behindert-Werdens, der Diskriminierung und der Blicke auf behinderte Menschen, die allesamt völlig unabhängig vom Bildungsgrad sind. In der Projektre?exion betonte ein Mitarbeiter der Referenzgruppe, dass trotz sehr verschiedener Bildungsabschlüsse innerhalb des Projekts niemand seine Position herausgehoben habe oder tonangebend war. Für die Brückenbildung zwischen Wissenschaft und gesellschaftlichen Gruppen erscheint es jedenfalls förderlich, wenn AkademikerInnen Betroffene bzw. Betroffene AkademikerInnen sind.

Ad 2.: Die Betonung auf die Perspektive von Frauen und Männern mit Behinderung hat sich im Projekt Das Bildnis eines behinderten Mannes bewährt. Einerseits konnte die Referenzgruppe dadurch klar der Selbstbestimmt Leben Bewegung zugerechnet werden, andererseits bildete sich gegenüber der Perspektive von HistorikerInnen und SozialwissenschaftlerInnen eine deutlich andere bzw. ergänzende Position heraus. Diese war keinesfalls immer einstimmig oder eindeutig: Behinderungserfahrungen und daraus resultierende Ansichten und Meinungen können sehr unterschiedlich, manchmal auch widersprüchlich sein.

Im Zusammenhang mit Kon?ikten um die Barrierefreiheit des Ausstellungsortes war es sehr wichtig, dass die Referenzgruppe als gesellschaftspolitisches Sprachrohr der Selbstbestimmt Leben Bewegung fungieren konnte. Wären in der Referenzgruppe weniger Personen mit Behinderung und mehr VertreterInnen anderer Stakeholder vertreten gewesen, hätte sich das Thema Barrierefreiheit wahrscheinlich nicht so deutlich als zentraler Qualitätsanspruch herauskristallisiert, und es wäre wohl viel schwieriger gewesen, eine klare Positionierung zu formulieren.

3.3 Inhalte

In den gemeinsamen Sitzungen behandelten die ProjektmitarbeiterInnen eine große Vielfalt an Themen. Wurden von den WissenschaftlerInnen vor allem theoretische Zugänge eingebracht, dargestellt und erläutert, lieferten die MitarbeiterInnen der Referenzgruppe vor allem, aber nicht nur, erfahrungsbezogene Zugänge zu den Themen. Je nach beru?ichem Hintergrund brachten auch sie theoretische Zugänge ein. In der Anfangsphase benötigten die MitarbeiterInnen der Referenzgruppe Zeit, um sich mit dem historisch-kulturwissenschaftlichen Thema vertraut zu machen. Es stellte sich als problematisch heraus, dass MitarbeiterInnen der Referenzgruppe bei der Erarbeitung des Projektantrags noch nicht einbezogen gewesen waren. Die Diskussion über die Relevanz der historischen Fragestellung für behinderte Frauen und Männer heute führte sogar zu der Frage, ob überhaupt noch an der Interpretation des Bildes weitergearbeitet werden solle. An diesem Punkt waren aber die Vereinbarungen gegenüber dem Auftraggeber bindend. Schließlich war es die zentrale Herausforderung Wege zu ?nden, die der Auseinandersetzung mit dem historischen Bild als Ausgangspunkt einen breiten Zugang eröffneten und gleichzeitig den vielfältigen, sehr unterschiedlichen Perspektiven der Einzelnen Ausdruck verliehen. Der erste, entscheidende Schritt in diese Richtung war der Vorschlag, gemeinsam ein Glossar zum Bildnis eines behinderten Mannes zu verfassen. In einem ersten Schritte wurden allen MitarbeiterInnen Themen vorgeschlagen, zu denen sie Stichworte verfassen bzw. beschreiben sollten. So entstand ein dynamisch-kreativer Schreibprozess, an dem alle ProjektmitarbeiterInnen mitwirkten und aus ihrer jeweiligen Perspektive Beiträge zur Interpretation des Bildnisses eines behinderten Mannes lieferten.

Im Projektverlauf verschob sich der inhaltliche Schwerpunkt vor allem in eine Richtung deutlich: Weg von Bildern behinderter Menschen bzw. Blicken auf behinderte Menschen hin zur Selbstdarstellung behinderter Frauen und Männer mit dem eindeutigen Fokus auf einen emanzipierten Blick. Dieser inhaltliche Shift macht den starken Ein?uss der Referenzgruppe sehr gut deutlich, er rückte das historische Bildnis eines behinderten Mannes in einen völlig neuen und erweiterten Kontext. Für das Kunsthistorische Museum war die Art der Ausstellungsgestaltung, wie sie sich aus dieser Herangehensweise ergab, ein ungewohnter und innovativer Weg: Unseres Wissens nach wurde noch nie in einer Ausstellung auf Schloss Ambras von einem historischen Objekt ausgehend ein Bogen in die Gegenwart gespannt und das Thema mit zeitgenössischen Objekten und Zugängen aufbereitet.

Bei der Projektre?exion herrschte Übereinstimmung darüber, dass die Arbeit im Forschungsprojekt zu vielen inhaltlichen Bereicherungen bei allen Beteiligten geführt hatte. Deutlich hatte sich außerdem gezeigt, dass es unter den MitarbeiterInnen der Referenzgruppe unterschiedliche Sichtweisen zum Thema Behinderung gab, die möglicherweise auch auf unterschiedliche Formen von Behinderungserfahrungen zurückzuführen waren. Die Auseinandersetzungen darüber wurden als bereichernd und Identität schaffend beurteilt. Die Vielfalt der Perspektiven auch innerhalb der Referenzgruppe erhöhte in jedem Fall die Qualität sowohl der Inhalte als auch der Produkte. White et al. kommen zu demselben Schluss und meinen, dass durch eine Vielfalt an TeilnehmerInnen die soziale Validität eines Projekts erhöht werden kann:

A broad range of participants is bene?cial to the project because it can increase the social validitation of the project´s goals, procedures, and outcomes and result in development of a wider range of resources, information and perspectives. (White et al. 2004, 4)

3.4 Institutionelle Interessen und Machtverhältnisse

Drei von ihren Interessenslagen her sehr unterschiedliche Kooperationspartner waren am Projekt Das Bildnis eines behinderten Mannes beteiligt: Das Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck, das Kunsthistorische Museum Wien - Schloss Ambras und Selbstbestimmt Leben Innsbruck. Es arbeiteten also eine wissenschaftliche Institution, eine Kulturinstitution und eine Selbsthilfeorganisation zusammen. Rückblickend wäre es zu Beginn des Projekt sehr wichtig gewesen, die Bedürfnisse, Anliegen und Ziele der vertretenen Institutionen transparent zu machen, denn die "Grundlage für ein erfolgreiches Kooperationsmanagement ist die Bedienung von Interessen" (Dienel 2004, 46). Dies geschah nicht in ausreichendem Maß, und so wurden die jeweiligen Hauptinteressen der einzelnen Kooperationspartner erst im Zuge des Projektverlaufs deutlich, was immer wieder zu Kon?ikten führte. Möglicherweise hätten diese durch externe Moderation der Sitzungen zumindest während sensibler Phasen abgefangen werden können.

Im Nachhinein entstand der Eindruck, dass es dem Kunsthistorischen Museum vor allem um die Organisation einer Ausstellung und weniger um den transdisziplinären Prozess oder die Interessen der anderen Kooperationspartner ging. Parallel zur prominenten Rolle der Ausstellung gewann das Thema Barrierefreiheit an Bedeutung: Es war eines der zentralen Themen aus der Perspektive der Selbstbestimmt Leben Bewegung, deren unanfechtbares politisches Leitprinzip. Im Projektantrag war Barrierefreiheit dagegen überhaupt nicht genannt gewesen. Dies ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie die Themen und das Projekt durch die konsequente Partizipation von Frauen und Männern mit Behinderung so beein?usst wurden, dass sie bedeutsam für Betroffene werden, einen Bezug zu deren Lebensqualität haben und diese verbessern (vgl. Doe / Whyte 1995; Chappel 2000; Walmsley / Johnson 2003). Diese Perspektive bzw. der Anspruch der Barrierefreiheit an den Ausstellungsort als Konsequenz der Teilnahme behinderter Personen am Projekt war dem Kunsthistorischen Museum keinesfalls bewusst gewesen und führte im Projektverlauf zu veritablen Krisen, die in der Frage gipfelten, ob die Ausstellung überhaupt auf Schloss Ambras statt?nden soll. Die Projektgruppe entschied sich in langwierigen Diskussionen und Verhandlungen für den Beibehalt dieses Ausstellungsortes. Allerdings musste aus der Sicht der Selbstbestimmt Leben das Akzeptieren des schwer erreichbaren Ausstellungsortes in jedem Fall als Kompromiss gewertet werden. Im Gegenzug erklärte sich das Kunsthistorische Museum bereit, mobilitätsbeeinträchtigten BesucherInnen Unterstützung bei der Bewältigung der steilen Naturwegrampe zum Hochschloss anzubieten.

Das Thema Barrierefreiheit spiegelt sehr deutlich gesellschaftliche Machtverhältnisse wider, denn architektonische Räume symbolisieren soziale Räume bzw. soziale Strukturen, wie Pierre Bourdieu erläutert:

Ein Teil der Beharrungskraft der Strukturen des Sozialraums resultiert aus dem Umstand, dass sie sich ja in den physischen Raum einschreiben und nur um den Preis einer mühevollen Verp?anzung, eines Umzugs von Dingen, einer Entwurzelung bzw. Umsiedlung von Personen veränderbar sind, was selbst wiederum höchst schwierige und kostspielige gesellschaftliche Veränderungen voraussetzt. (Bourdieu 1998, 161)

Und weiter:

Die architektonischen Räume, deren stumme Gebote sich direkt an den Körper wenden, fordern von ihm ebenso zwingend wie im Falle der Etikette der hö?schen Gesellschaft die aus der Entfernung oder, besser, aus dem Fernsein bzw. der respektvollen Distanz erwachsende Ehrerbietung ein. Dank ihrer weitgehenden Unsichtbarkeit sind sie die zweifellos wichtigsten Komponenten der Machtsymbolik und der ganz und gar realen Wirkungen symbolischer Macht. (ebd., 163)

Bei der Projektre?exion herrschte Einigkeit darüber, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, trotz aller Kompromisse Schloss Ambras als Ausstellungsort beizubehalten. So wurde nicht nur der Kon?ikt konsequent ausgetragen, sondern auch die Inhalte von Selbstbestimmung, Emanzipation und Gleichstellung behinderter Menschen konnten in das Kunsthistorische Museum auf Schloss Ambras hineingetragen werden.

Was die Projektgruppe speziell auszeichnete, ist die Tatsache, dass die institutionellen Interessen in der Gruppe selbst sichtbar waren, der Kon?ikt war mitten in der Gruppe. Auch der Kon?ikt um die Barrierefreiheit wurde nicht theoretisch abgehandelt, sondern real gelebt: Einige ProjektmitarbeiterInnen konnten das Bild, über das fast zwei Jahre lang diskutiert und geforscht worden war, erst am Projektende in der Ausstellung original sehen, davor waren die Ausstellungsräume für sie nicht zugänglich gewesen.1 Während der Kontroversen um die Barrierefreiheit des Ausstellungsortes spielte die Referenzgruppe eine entscheidende Rolle, weil sie als Sprachrohr für die politischen Forderungen behinderter Menschen fungieren konnte. Dabei war es entscheidend, dass die Referenzgruppe institutionell in der Selbstbestimmt Leben Initiative verankert war. Es ist schwer denkbar, dass sich eine Gruppe behinderter Frauen und Männer ohne institutionellen Rückhalt so klar und konsequent gegenüber dem Kunsthistorischen Museum positionieren hätte können.

Die VertreterInnen der Universität, Angestellte ebenso wie WerkvertragsnehmerInnen, standen Selbstbestimmt Leben entweder als selbst behinderte Personen oder als Verbündete sehr nahe. Für sie kam die Orientierung an Barrierefreiheit nicht überraschend. Gleichzeitig waren sie den Ansprüchen des universitären Wissenschaftsbetriebs ausgesetzt und z.B. auf Tagungen bei Präsentationen über die Methode und den Prozess des Forschungsprojekts mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit konfrontiert. Für partizipatorische Forschungsprojekte ist dies ein typisches Phänomen, wie z.B. White et al konstatieren: "Eliminating the detachment, which was historically maintained by the researchers, may be perceived as resulting in biased and unscienti?c research" (2004, 4). Nicht zuletzt musste gegenüber dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung der Anspruch der Wissenschaftlichkeit gewährleistet sein, mussten die vereinbarten Produkte termingerecht abgegeben werden. Für WissenschaftlerInnen bedeutet dieses Spannungsfeld immer wieder, einen Balanceakt schaffen zu müssen.

3.5 Zeit

Die Dimension Zeit erwies sich in mehrfacher Hinsicht als relevant: Alle MitarbeiterInnen der Referenzgruppe nahmen am Projekt neben ihrer regulären Berufstätigkeit teil. Besprechungen fanden daher vorzugsweise am Nachmittag ab 14 Uhr statt, weil sich dies am besten mit sonstigen Arbeitszeiten vereinbaren ließ. Für einzelne Besprechungen am Vormittag mussten Urlaubstage oder Zeitausgleich genommen werden. Dies erforderte von den nicht-wissenschaftlichen TeilnehmerInnen ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft und Engagement. Durch die Übernahme von Arbeitsaufträgen, z.B. Verfassen von Texten für das Wörterbuch, Abwicklung des Kontakts zu KünstlerInnen oder informelle Besprechungen, entstand für Einzelne großer zeitlicher Aufwand, für den eine ?nanzielle Abgeltung nur mehr schwierig bzw. sehr pauschal zu ?nden war. Im Projektantrag war nur vorgesehen gewesen, die Teilnahme an Besprechungen zu honorieren. Es war daher wichtig, im Budget eine gewisse Flexibilität anwenden zu können, um die unerwartet hohe Beteiligung an anderen Aktivitäten abzugelten.

Von wissenschaftlichen MitarbeiterInnen wurde an mehreren Stellen deutlicher Druck ausgeübt, was das Weiterarbeiten an konkreten Produkten betraf. Darunter litten vor allem Diskussionen über Inhalte abseits der konkreten Produkte. Vor allem im letzten Drittel des Projekts ging es praktisch nur mehr um die Organisation und Abwicklung der Ausstellung bzw. der Begleitpublikation. Die Inhalte dafür wurden produziert, doch für eine kritische Re?exion darüber blieb keine Zeit mehr. Schilderungen des Zeitdrucks ?nden sich in vielen Publikationen zu partizipatorischer Forschung. Z.B. beschreibt Bernhard Rathmayr den Zeitdruck, der von Wissenschaftlerinnen in der Handlungsforschung ausgeübt wird (vgl. 1975, 94), Hart und Bond beobachten dasselbe knapp 30 Jahre später: "Der Zeitfaktor ist ein weiteres wichtiges Thema, das man durch alle Fallstudien verfolgen kann. Jede wurde unter Zeitdruck durchgeführt, und jede war belastet durch von außen vorgegebene Termine." (Hart / Bond 2001, 21). Dieses Dilemma ist wahrscheinlich schwer zu lösen, externe Moderation hätte im Projekt Das Bildnis eines behinderten Mannes möglicherweise zu ef?zienteren Projektbesprechungen und weniger langatmigen Auseinandersetzungen verholfen. Ob der Produktionsdruck und damit verbundene Stressphasen gänzlich verhindert werden hätte können, bleibt zu bezweifeln. Mehrere AutorInnen betonen, dass die Einbeziehung von nicht-wissenschaftlichen Stakeholdern ein zeitintensiver Ansatz ist (vgl. Campbell et al 1998; Walmseley / Johnson 2003; White et al 2004), dies sollte im Projektdesign und der Zeitkalkulation von vornherein berücksichtigt werden. Für WissenschaftlerInnen wird es notwendig sein, eine Sensibilität für die Notwendigkeit der Veränderungen bzw. der Verlangsamung zeitlicher Abläufe in partizipatorischen Forschungsprojekten zu entwickeln.

3.6 Kommunikation

Austausch und Kommunikation erfolgten im Projekt Das Bildnis eines behinderten Mannes auf vielfältigen Wegen: in formellen und informellen Besprechungen, per E-Mail und per Telefon. Ein Mitarbeiter der Referenzgruppe hatte kein E-Mail, er wurde vor allem über Telefonate und durch informelle Kontakte auf dem Laufenden gehalten. Teilweise erhielt er Dokumente auch per Post zugeschickt, doch stellte es sich als praktisch sehr herausfordernd dar, ihm die laufende E-Mail Korrespondenz mit der Post zu senden, daher wurden informelle Treffen mit anderen ProjektmitarbeiterInnen für ihn zu einem wichtigen Informationskanal.

Im Lauf des Forschungsprojekts entwickelten sich gemeinsame Inhalte und eine gemeinsame Sprache, Fremdwörter wurden erklärt und durch einfachere Begriffe ersetzt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Bezeichnung Wörterbuch, die anstelle des Begriffs Glossar eingeführt wurde. Sehr theoretisch-abstrakte und wissenschaftliche Inhalte in einfacher, allgemein verständlicher Weise zu präsentieren, ist für WissenschaftlerInnen eine herausfordernde, aber notwendige Aufgabe, vor allem wenn sie partizipatorische Projekte umsetzen wollen. "Content that is presented in easy-to-understand fashion facilitates participation in stimulating ideas, discussions and overall responsiveness of consumers to researchers" (White at al. 2004, 8).

3.7 Gemeinsame Produkte

Die Bedeutung der gemeinsamen Arbeit an gemeinsamen Produkten für die Entwicklung einer gemeinsamen Projektidentität ebenso wie für die Partizipation der MitarbeiterInnen der Referenzgruppe kann kaum überbewertet werden. Sowohl die Ausstellung auf Schloss Ambras als auch die Begleitpublikation zur Ausstellung (vgl. Mürner / Schönwiese 2006) spiegeln die vielfältigen und für ein wissenschaftliches Projekt ungewöhnlichen Perspektiven aller am Projekt Beteiligten wider. Sie entsprechen eben nicht herkömmlichen Ergebnissen herkömmlicher wissenschaftlicher Projekte und belegen daher den Erfolg des partizipatorischen Ansatzes, wie dies z.B. Rathmayr betont: "Tatsächlich wird auch eine Forschungsstrategie, deren Ziel letztlich ist, einen Prozess der Re?exion und Veränderung in Gang zu setzen, nicht zu Ergebnissen im üblichen Sinn gelangen" (1975, 52f). Die spezielle Qualität der Ausstellung auf Schloss Ambras kann hier nicht wiedergegeben, auf die Begleitpublikation nur verwiesen werden. Der Versuch einer Veranschaulichung dieser Qualität erfolgt daher mit einer Au?istung der im Kleinen Wörterbuch zum Bildnis eines behinderten Mannes erfassten Stichworte: Abdeckung, Ambivalenz, Anatomie, Angst, Anthropologie, Arthrogryposis multiplex congenita (AMC), Augenzeuge, Barrierefreiheit/ Zugänglichkeit, Behinderung (kulturell), Behinderung (sozialversicherungsrechtlich), Behinderungsforschung/ Disability Studies, Betroffenheit, Bein(e), Bild, Bilderverbot (Bildersturm), Bildnis (Konterfei, Porträt), Blick (allgemein), Blick (auf den behinderten nackten Mann - aus dem Blickwinkel von Frauen, Blick (auf den behinderten nackten Mann - aus dem Blickwinkel von Männern), Blick (auf Frauen mit Behinderung), Blick (Der emanzipierte), Blick (Der medizinische), Blick (Der mitleidige), Blick (Der neugierige), Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG), DanceAbility, Disability Culture, Disability Studies, Diskriminierung (Soziale), Einsamkeit, Erzherzog Ferdinand II., Flugblatt (Flugschrift), Forschung (partizipatorische), Frau (mit Behinderung), Freak, Freunde/ Freundschaft, Fuß (Füße), geistige Behinderung, Gesundheit/ Krankheit, Hand (Hände), Hänseln, Hexe (Hexenverfolgung, Hexenwahn), Hinkender Bote, Inklusion, Ikonogra?e (Ikonologie), Konterfei, Kopfbedeckung, Körper (Körperbehinderung), Kragen, Krankheit, Krüppel, Kunst- und Wunderkammern, Kuriosität, Leben (selbstbestimmt), Leben (wertloses), Leiden, Liebesbeziehung, Macht, Manieren (gute), Menschen mit Behinderung, Menschen mit Lernschwierigkeiten, Menschenrecht, Missbildung, Missgeburt (Missgestalt), Mitgefühl, Mitleid, Mitleid (im Museum), Monstrum (Monstrosität), Museumspädagogik, Mythos, Nacktheit, Narr (Hofnarr), Neid, Neugier (Neugierde), Normalität, Patient, Partizipation, Person, Persönlichkeit (eines Menschen mit Behinderung), Porträt, Recht, Referenzgruppe, Schicksal, Schloss Ambras, Selbstbestimmung, Selbstvertretung, Sozialarbeit, Stellvertretung (Vertretung), Stigma (Stigmatisierung), Symbol, Teratologie, Teufel, Transdisziplinär, Umgangsformen (mit behinderten Menschen, Verschiedenheit, Voyeurismus, Wechselbalg, Wunder (Wundergeburt), Zeichen (vgl. Mürner / Schönwiese 2006, 54-93). Erwähnenswert ist, dass es aufgrund der Initiative der Referenzgruppe gelungen ist, eine Frau mit Lernbehinderung für die Mitarbeit am Wörterbuch zu gewinnen. Sie verfasste drei Stichwörter für das Kleine Wörterbuch zum Bildnis eines behinderten Mannes; das Stichwort "Mitleid im Museum" ist als Einzeltext auch im vorliegenden Sammelband publiziert.

Wie unkonventionelle Produkte partizipatorischer Forschungsaktivitäten von der Scienti?c Community rezipiert werden, steht auf einem anderen Blatt. Dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit und der Abquali?zierung von Forschungsprodukten, die nicht dem akademischen Mainstream entsprechen, müssen sich WissenschaftlerInnen, die Machtverhältnisse in der Wissensproduktion zu verändern versuchen, immer wieder aussetzen.

In der Projektre?exion wurde von MitarbeiterInnen der Referenzgruppe besonders hervorgehoben, wie wichtig es für sie war, nicht nur zu kommentieren, was andere tun, sondern selbst etwas tun zu können bzw. sich selbst konkret mit Aktivitäten einbringen zu können. Nicht zuletzt sind aus den Diskussionen in der Gruppe viele konkrete Vorschläge für die Ausstellung entstanden, z.B. ein Spiegelkabinett, Guckröhren zur Veranschaulichung verschiedener Blicke auf behinderte Menschen oder die Idee einer Videoinstallation. Einige MitarbeiterInnen der Referenzgruppe produzierten selbst Ausstellungsobjekte: Karin Flatz gestaltete große und kleine Puppen, Georg Urban schuf Zeichnungen und David Sporschill entwarf ein Begriffsnetz, das eine gra?sche Darstellung der Inhalte des Kleinen Wörterbuchs zum Bildnis eines behinderten Mannes darstellt. Schließlich waren fast alle MitarbeiterInnen mit Detailaufgaben für die Organisation der Ausstellung befasst, die Kontakte zu KünstlerInnen wurden von allen ProjektmitarbeiterInnen abgewickelt. Diese Arbeitsstrategie erinnert in vielerlei Hinsicht projektorientiertem Arbeiten, das in der integrativen Didaktik unter dem Begriff "Kooperation am gemeinsamen Gegenstand" bekannt ist:

Integration .... bedarf einer Pädagogik, in der alle Kinder in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau und mittels ihrer momentanen Denk- und Handlungskompetenzen an und mit einem gemeinsamen Gegenstand lernen und arbeiten. (Feuser 1989, im Internet)

Möglicherweise kann integrative Pädagogik für die Entwicklung partizipatorischer Forschungsmethoden eine interessante Quelle darstellen.

3.8 Gender

Gender-Aspekte wurden im Projekt Das Bildnis eines behinderten Mannes laufend sowohl strukturell als auch inhaltlich berücksichtigt. Frauen waren unter den Wissenschaftlerinnen ebenso vertreten wie in der Referenzgruppe, in der zu 50% Frauen und zu 50% Männer beteiligt waren. In den Diskussionen gab es vor allem eine Stelle, an der Gender ein kontroversielles Thema war: Bei der Analyse des Bildes einer Doktorandin, die sehr selbstbewusst in einem Elektrorollstuhl sitzt, zeigten sich Männer eher ablehnend skeptisch und kritisch, Frauen äußerten sich deutlich positiver zu dieser Darstellung. Hingegen wurde der geschlechtsunsensible Vorschlag "Bildnis eines Behinderten" eindeutig mehrheitlich abgelehnt, als es um die Frage ging, welchen Titel das Bildnis eines behinderten Mannes erhalten soll.

Für das Verfassen von Texten wurden Richtlinien für gendersensible Sprache vorgegeben, die in allen Texten, auch Sitzungsprotokollen oder Presseaussendungen, eingehalten wurden. Schwierigkeiten dabei hatten vor allem jene WissenschaftlerInnen, denen der Gebrauch geschlechtersensibler Sprache nicht geläu?g ist. Ihre Texte mussten diesbezüglich redaktionell be- und überarbeitet werden.

Im Kleinen Wörterbuch zum Bildnis eines behinderten Mannes (vgl.) gibt es mehrere Stichwörter, die sich explizit auf Gender beziehen:

  • Blick auf den behinderten nackten Mann - aus dem Blickwinkel von Frauen (Mürner / Schönwiese 2006, 63)

  • Blick auf den behinderten nackten Mann - aus dem Blickwinkel von Männern (ebd., 63)

  • Blick auf Frauen mit Behinderung (ebd., 63)

  • Frau mit Behinderung (ebd., 71)

Die Auseinandersetzung mit dem Bildnis der Elisabeth (vgl. ebd., 27) wurde explizit als historisches Dokument einer behinderten Frau in das Projekt hineinreklamiert. Dieses Bild erweitert die historischen Dokumente außerdem um die Dimension der Lernbehinderung. In der Ausstellung spielte Gender in vielen Bildern und Objekten eine Rolle, besonders zu erwähnen sind die großen und kleinen Puppen von Karin Flatz (vgl. ebd., 36f) und das Foto von Veronika Hammel von Mathias Bothor (vgl. ebd., 34f), die bewusst Genderpositionen in der Auseinandersetzung mit dem Bildnis eines behinderten Mannes einnehmen. Im wissenschaftlichen Sammelband befasst sich Ulrike Pfeifenberger mit dem Thema ‚Behinderte Frauen und Männer in der darstellenden Kunst'.

4. Empfehlungen für die Arbeit mit Referenzgruppen

Für zukünftige Forschungsvorhaben mit Referenzgruppen können auf Basis der beschriebenen Ergebnisse und Erfahrungen im Forschungsprojekt Das Bildnis eines behinderten Mannes folgende Empfehlungen für die Methode Referenzgruppe zur Partizipation nicht-wissenschaftlicher Stakeholder in der Forschung gegeben werden:

Einbeziehung in die Phase des Projektantrags: Es ist empfehlenswert, Stakeholder bereits in der Antragsphase für Forschungsprojekte einzubeziehen. So kann vermieden werden, dass Inhalte als wissenschaftliche Fragestellungen formuliert werden, mit denen sich die Stakeholder nicht identi?zieren wollen bzw. die für sie keine Bedeutung haben. Für diese Phase sollte es ?nanzielle Ressourcen geben.

Offen angelegte Rekrutierungsphase: Um nicht-wissenschaftliche TeilnehmerInnen zur Mitarbeit zu gewinnen, sollten zu Projektbeginn potentielle InteressentInnen allgemein informiert werden. White et al. empfehlen eine oder mehrere Informationsveranstaltungen, bei denen sich Interessierte ein Bild vom Forschungsprojekt und den Aufgaben machen können, die sie als MitarbeiterInnen in einer Referenzgruppe übernehmen (vgl. White at al. 2004). So können Kritik und Unsicherheit bezüglich des Projektdesigns bereits vor der Konstituierung der Referenzgruppe geäußert und behandelt werden. Auch wenn weder die Rollen von WissenschaftlerInnen noch jene von Stakeholdern zu Beginn eines partizipatorischen Projekts eindeutig sind, ist es wichtig, InteressentInnen die Entscheidungsmöglichkeit zu lassen, ob sie sich auf diese Unsicherheit einlassen wollen oder nicht.

Kriterien für die Mitarbeit in einer Referenzgruppe: Nach welchen Kriterien MitarbeiterInnen für eine Referenzgruppe ausgesucht werden, hängt von den konkreten Fragestellungen des jeweiligen Projekts und den damit in Verbindung stehenden Stakeholdern ab. Relevant ist es, dass Personengruppen, die in der Forschung traditionell nicht- oder unterrepräsentiert sind, durch deutliche Gruppierung ein Sprachrohr erhalten. Wenn sich unter den WissenschaftlerInnen Personen be?nden, die auch zur Gruppe der Stakeholder zählen bzw. umgekehrt Stakeholder eine akademische Ausbildung haben, können diese möglicherweise wichtige Brückenfunktionen übernehmen.

Institutionelle Verankerung der Stakeholder: Für die erfolgreiche Austragung von Interessenskon?ikten ist es günstig, wenn Stakeholder Rückhalt durch eine Institution haben, d.h., sie sollten nicht informell ausgesucht, sondern mit einer Interessensvertretung verbunden sein. Dies stellt die Kooperationspartner eines Forschungsprojekts institutionell auf eine Ebene.

Gruppengröße: Auch die Größe der Referenzgruppe hängt von den Inhalten und Zielen des jeweiligen Projekts ab. Acht Personen sind für einen Projektverlauf von ca. zwei Jahren eine gute Größe, um Kontinuität und Arbeitsfähigkeit sicherzustellen bzw. die Bildung einer Gruppenidentität zu unterstützen. Wenn in einem Projekt mehrere Institutionen in entscheidenden Rollen beteiligt sind, ist es wichtig zu berücksichtigen, dass nicht ein/e InstitutionenvertreterIn vielen VertreterInnen anderer Institutionen gegenübersteht. Dies kann sich in Kon?iktsituationen ungünstig auswirken.

Finanzielle Abgeltung: Nicht-wissenschaftliche Mitarbeiterinnen müssen eine angemessene Abgeltung für ihre Tätigkeit erhalten. Es ist günstig, wenn das dafür vorgesehene Budget einen gewissen Spielraum offen lässt, um im Sinne eines dynamisch angelegten Projektverlaufs auch Aktivitäten, die von vornherein nicht geplant waren, entsprechend honorieren zu können. Mit der ?nanziellen Abgeltung verbunden ist nicht nur Wertschätzung, sondern auch Verbindlichkeit.

Regelmäßige Treffen: Sie schaffen einerseits die entscheidende partizipatorische Grundstruktur, andererseits ermöglichen diese formellen Begegnungen auch informelle Begegnungen. Transparenz über Inhalte und Organisation des Gesamtprojekts für alle MitarbeiterInnen sind wichtig, wenngleich laufend re?ektiert werden sollte, welche Inhalte für die Partizipation zentral sind. In welcher Zusammensetzung sich die WissenschaftlerInnen und die Referenzgruppe treffen, sollte offen angelegt, laufend re?ektiert und den aktuellen Notwendigkeiten angepasst werden. Ebenso, wie häu?g sie sich treffen. Allerdings sollte immer berücksichtigt werden, dass nicht-wissenschaftliche MitarbeiterInnen in den meisten Fällen einer regulären Arbeit nachgehen und ihr Zeitbudget begrenzt ist.

Externe Moderation: Eine externe Moderation der regelmäßigen Besprechungen durch eine Person, die nur für Moderation und nicht für Inhalte zuständig ist, sollte die Besprechungen ef?zient und zeitökonomisch gestalten. Rollen und Verantwortungen werden transparent geklärt und re?ektiert, Kon?ikte, sowohl zwischen Personen als auch zwischen beteiligten Institutionen unterstützt ausgetragen. Die Ziele und Interessen beteiligter Institutionen müssen zu Beginn offen dargelegt werden.

Informelle Aktivitäten: Die Bedeutung informeller Aktivitäten für die Entwicklung einer gemeinsamen Projektidentität und das Zusammenwachsen zu einer Gruppe ist groß, Initiativen in diese Richtung sollten in jedem Fall unterstützt, Spielräume dafür angeboten und Teilnahme vorgeschlagen werden.

Arbeit an gemeinsamen Inhalten und Produkten: MitarbeiterInnen von Referenzgruppen sollten viele Handlungsmöglichkeiten haben, mit denen sie sich am Projekt konkret beteiligen können. Vielleicht ergibt sich die Vielfalt dieser Aktivitäten erst im Projektverlauf, auch aus den Interessen und Neigungen der TeilnehmerInnen heraus. Offenheit für Vorschläge und Initiativen dafür ist wichtig, auch wenn dies zu Produkten führt, die im ersten Moment unwichtig erscheinen. Gerade diese haben möglicherweise einen hohen inhaltlichen Wert.

Offen angelegtes Projektdesign: Ein nicht eng bzw. zu rigide konzipiertes Projektdesign ist günstig für die Entwicklung vielfältiger und innovativer partizipatorischer Zugänge. Spielräume sollten eröffnet werden, sowohl für die Ausgestaltung der Rollen und Aktivitäten der Stakeholder, als auch für ein erweitertes Rollenverständnis der WissenschaftlerInnen. In partizipatorischen Forschungsvorhaben ist es günstig, wenn sich alle Beteiligten als Lernende verstehen, die neue Wege suchen und einschlagen (vgl. White et al. 2004). Das Projektdesign muss dementsprechend prozessorientiert angelegt und ?exibel sein.

Einfache bzw. gemeinsame Sprache: Für einen erfolgreichen Austausch zwischen WissenschaftlerInnen und Stakeholdern müssen sich alle Beteiligten um einen gemeinsamen Sprachgebrauch bzw. eine gemeinsame Sprache bemühen. WissenschaftlerInnen müssen daran arbeiten, auch komplexe Inhalte anschaulich und in allgemein verständlicher Sprache darzustellen. MitarbeiterInnen ohne wissenschaftlichen Hintergrund muss Zeit gegeben werden, sich in Thema, Inhalt und Sprache zu orientieren.

5. Resümee

Als sich Michel Foucault Anfang der 1970er Jahre politisch für die Belange von Gefängnisinsassen engagierte, war es ihm ein wesentliches Anliegen, dass nicht über die Gefangenen informiert wurde, sondern von ihnen. Im Zuge von Untersuchungen sollten diese daher selbst das Wort ergreifen, um ihr Wissen über die Bedingungen und Mechanismen der Gefängnisstrukturen in der Öffentlichkeit darzustellen. "Nicht externe Gruppen von Technikern führen die Untersuchungen durch, sondern hier sind die Untersuchten auch diejenigen, die die Untersuchungen führen. Es ist an ihnen, das Wort zu ergreifen, die Barrieren einzureißen, zu sagen, was unerträglich ist, und es nicht länger zu ertragen", schreibt Foucault im Vorwort einer Broschüre der Gruppe Gefängnisinformation (2002, 239). Die strukturelle Verankerung der Partizipation behinderter Frauen und Männer, sowohl durch die Mitarbeit von WissenschaftlerInnen mit Behinderung als vor allem auch durch die TeilnehmerInnen in einer Referenzgruppe, führte dazu, dass im Forschungsprojekt Das Bildnis eines behinderten Mannes behinderte Männer und Frauen selbst das Wort ergreifen konnten. Inhaltlich setzte sich so neben historischen und sozialwissenschaftlichen Perspektiven ein an Gleichstellung und Selbstbestimmung orientierter emanzipierter Blick für die Darstellung und Betrachtung behinderter Menschen durch.

Eine Referenzgruppe in einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt ist mit viel Aufwand verbunden, aber da sie die Partizipation nicht-wissenschaftlicher Stakeholder strukturell verankert, ist deren konsequente Beteiligung im gesamten Forschungsverlauf sichergestellt. Diese Konstruktion bewirkt vielfältige, möglicherweise kon?iktreiche Kommunikations- und Austauschprozesse zwischen den beteiligten Gruppen, die langfristig zu innovativen Inhalten und Produkten führen können.

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Quelle:

Petra Flieger: Der partizipatorische Ansatz des Forschungsprojekts Das Bildnis eines behinderten Mannes: Hintergrund - Konzept - Ergebnisse - Empfehlungen

Aus: Petra Flieger, Volker Schönwiese (Hrsg.): Das Bildnis eines behinderten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Wissenschaftlicher Sammelband. AG SPAK Bücher, Neu Ulm 2007, Seite 19-42

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 05.08.2010

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