"Geistigbehinderte gibt es nicht!"

Zum Verhältnis von Menschenbild und Integration

Autor:in - Georg Feuser
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Referat
Releaseinfo: Referat am 11. Österreichischen Symposium für die Integration behinderter Menschen "Es ist normal, verschieden zu sein". Veranstaltungszeitraum: 6. - 8. Juni 1996 in Innsbruck; Veranstalter: "Tafie - Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung" in Zusammenarbeit mit der "Tiroler Vereinigung zugunsten behinderter Kinder" und dem "Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck".
Copyright: © Georg Feuser 1996

1. Ein Problemaufriß

Wenn ich einem "behinderten" Menschen begegne,

ihn anschaue und denke, wie er denn sein könnte,

beschreibe ich mich selbst - meine Wahrnehmung des anderen.

Ob ich die daraus entstehende Chance nutze,

mich selbst zu erkennen,

steht auf einem anderen Blatt .... !

Wir sind hier zum 11. gesamtösterreichischen Symposium für die Integration behinderter Menschen versammelt und behandeln inzwischen die Frage der Integration über alle Bereiche hinweg, die die Lebensspanne eines Menschen umfaßt. Waren wir vor Jahren noch in Sorge, Integration in den Kindergärten und in den Grund- und Volksschulen überhaupt verankern zu können, beschäftigt uns heute zunehmend die Frage, wie Integration auch außerhalb der Bildungsinstitutionen zu verankern und zu realisieren ist, dort also, wo sie sich letztlich im gemeinsamen Alltag behinderter und nichtbehinderter Menschen zu erweisen hat. Erste Ansätze scheinen auf, erste Schritte werden getan. Das sind Entwicklungen, die vor allem die Eltern, die sie immer wieder initiiert und vorangetrieben haben, berechtigt ein wenig Stolz empfinden lassen dürfen.

Vielleicht darf man auch annehmen, daß in den letzten Jahren deutlich geworden ist, daß Integration kein Luxusanspruch von Eltern ist, die, wie häufig gesagt wird, mit der Behinderung ihrer Kinder nicht zurechtkommen, sondern eine kulturelle Notwendigkeit und eine ethische Verpflichtung vom Rang eines Menschenrechtes. Aber kaum ist Integration als solches erkannt, wird es auch mit Füßen getreten. Inzwischen scheint für Bremen, wo wir für den deutschsprachigen Raum wohl das weitestgehende Integrationskonzept realisiert haben, festzustehen, daß mit dem kommenden Schuljahr 1996/97 keine behinderten Kinder mehr in die Integrationsklassen und -schulen aufgenommen werden. Integration wird zum Auslaufmodell. Flächendeckend werden Förderzentren eingerichtet; das Modell Kooperation ersetzt die Integration. Behinderte und nichtbehinderte SchülerInnen besuchen am Standort der Regelschule getrennte Klassen und werden nach unterschiedlichen Lehrplänen unterrichtet. Die Kooperation selbst muß durch die LehrerInnen der Regel- u. Sonderklassen unter kaum noch hinreichenden Bedingungen geleistet werden. Das Zurückdrängen der Integration auf durch Förderzentren organisierte kooperative Modelle ist leider im gesamten deutschsprachigen Raum beobachtbar, oder - was noch häufiger ist - die Blockierung der Versuche, aus kooperativen Ansätzen Integration zu entwickeln. Das erfüllt nicht nur mit Sorge, sondern zwingt geradezu, die Frage zu stellen, welchen möglichen Faktoren dies geschuldet ist - und ob das auch mit uns zu tun hat.

Im Verweis auf die »gesellschaftlichen Verhältnisse« als dafür ursächlich, werden wir uns schnell einig sein. Wir werden auch darin übereinstimmen können, daß heute nicht nur der Zeitgeist, sondern in dessen Strömung auch die Gesundheits-, Sozial- und Bildungspolitik und die neuen Ideologien, wie sie Bio-Ethik, Humanbiologie und Gentechnologie bezüglich des Nutzens und Lebenswertes schwer physisch bzw. psychisch kranker und behinderter Menschen hervorbringen, dem Gedanken der Integration extrem entgegenstehen, was ihn gleichzeitig aber notwendiger macht denn je - bis in die Praxis hinein. "Der Angelpunkt ist die Praxis.", sagt SARTE im Gespräch mit BASAGLIA (1980). "Sie ist die offene Flanke der Ideologie" (S. 40), jener Ideologien, die unsere Auffassungen über menschliche Entwicklung und menschliches Lernen und damit unser Menschenbild auf dem Hintergrund eines antiquierten Weltbildes noch immer auf einem geradezu vorwissenschaftlichen Stand halten und uns eine fortgesetzte Selektion und Segregation von Kindern und Schülern als Wahrung einer "Chancengleichheit", die Segregierung in Sonder- bzw. Koop-Klassen als "behinderungsspezifisch" notwendig und alles zusammen als Bildungsgerechtigkeit verkaufen. Wie anders könnte der Tötung schwer beeinträchtigten Lebens seiner hohen Kosten und seines geringen gesellschaftlichen Nutzens wegen, wie heute hart kalkuliert wird, Widerstand entgegengesetzt und Einhalt geboten werden, als durch die gelebte Gemeinsamkeit behinderter und nichtbehinderter Menschen in allen Lebens- und Lernfeldern? Ich kenne keine anderen Weg. Damit ist aber angedeutet, daß die gesellschaftliche Praxis, die wir beklagen, einen Hintergrund hat: Es ist das Menschenbildes in unseren Köpfen, das die gesellschaftliche Praxis hervorbringt, die ihrerseits wiederum das Menschenbild konstituiert wie modifiziert. Diese Dialektik ist nicht zu negieren. Sie umfaßt die beiden Gesichter unserer individuellen wie gesellschaftlichen Realität. Verweisen wir auf die Gesellschaft und ihre der Integration abträglichen Praxen, zeigt der Finger auf uns selbst zurück, auf unsere Auffassungen, was denn der Mensch und was Behinderung bzw. ein behinderter Mensch sei. Wie wir bis heute zum Schaden der Sache der Integration die Diskussion und Klärung der didaktischen Frage zurückgedrängt, hintangestellt, nicht zugelassen haben und mithin noch immer segregierende Praxen in Erziehung und Unterricht, wie z.B. unterschiedliche Lehrpläne für behinderte und nichtbehinderte SchülerInnen, für integrativ potent halten, so blieb bis heute die Analyse des Menschen- und Behinderungsbildes, das wir mit uns herumtragen und das, sei es uns bewußt oder nicht, handlungsleitend ist, tabuisiert und seinerseits ein Mythos. Ein Menschenbild, das einen beeinträchtigten Menschen biologisch-medizinisch-psychiatrisch für defekt, psychologisch für deviant und pädagogisch für behindert hält, kann in der gesellschaftlichen Praxis nur Aussonderung und Segregierung hervorbringen, auch wenn sich diese gesellschaftliche Praxis selbst »Integration« nennt.

Im Kontext der "Demokratischen Psychiatrie" in Italien hat uns Franco BASAGLIA (1978) ein hoch entwickeltes Instrumentarium zur Analyse sowohl der gesellschaftlichen Verhältnisse wie unseres Menschenbildes vorgelegt. Er schreibt - und das läßt sich auch auf Behinderung beziehen: "Wenn der Kranke (Behinderte; G.F.) tatsächlich die einzige Realität ist, mit der wir uns zu befassen haben, so müssen wir uns allerdings mit beiden Gesichtern dieser Realität auseinandersetzen: 1. mit der Tatsache, daß wir einen kranken (behinderten; G.F.) Menschen vor uns haben, der psychopathologische Probleme aufwirft (die dialektisch und nicht ideologisch zu verstehen sind), und 2. mit der Tatsache, daß wir einen Ausgeschlossenen, einen gesellschaftlich Geächteten vor uns haben." (S. 151) Die Frage, die sich uns hier stellt, ist die nach jenem integrationspädagogisch fundamentalen Prozeß unseres Verständnis der am anderen Menschen wahrgenommenen psychopathologischen Probleme, eine Frage, die also nicht die nach dem Mythos Behinderung, sondern nach der Schaffung dieses Mythos ist. Mithin ist es auch nicht die Frage konkurrierender Paradigmen, nämlich "gesellschaftliche Praxis" versus "Menschenbild", in bezug auf die es beliebig wäre, welche Dimension man betrachtet, sondern die nach den "Verhältnissen" zwischen beiden, nach ihrer dialektischen Vermitteltheit. Es geht folglich primär nicht um die "Verhaltensweisen" des einzelnen Menschen, sondern um die "Verhältnisse" zwischen den Verhaltensweisen, mithin um ihre individuelle wie kollektive Sinnhaftigkeit und Funktion in unserer Wahrnehmung, in unserem Denken und Handeln. Dies als Voraussetzung, um, was wir als "Behinderung" klassifizieren, als entwicklungslogisches (und nicht »pathologisches«) Produkt der Systemevolution eines Menschen unter den für ihn gegebenen Ausgangs- und Randbedingungen seiner Existenz zu begreifen, die er nach Maßgabe der Mittel seines Systems in dieses integriert. Oder anders ausgedrückt - und den Ausführungen vorgegriffen: Behinderung wäre zu verstehen als Ausdruck der Aneigung beeinträchtigender, behindernder und mithin isolierender Bedingungen durch einen konkret unter diesen Bedingungen handelnden Menschen, als Strukturbildung (→ Entwicklung) nach Maßgabe möglicher Austauschfunktionen (→ Lernen)

2. "Geistigbehinderte gibt es nicht!"

Ich möchte ein Gedicht zitieren. Es stammt von einem Menschen, dessen Biographie im Spiegel unserer gesellschaftlichen Bewertungsmaßstäbe klassisch der einer geistigen Behinderung entspricht. Er sagt von sich selbst: "In der Werkstatt gefällt es mir sehr gut. In der Werkstatt bin ich ein Dichter. Dichter sein ist ein feiner Beruf. In der Werkstatt sind alles Behinderte. Ich bin nicht behindert, ich kann reden." Es ist GEORG PAULMICHL [1]. Mit dieser Aussage hält er uns in doppelter Weise einen Spiegel vor: Zum einen bestätigt Georg PAULMICHL, daß er sich selbst nicht als geistigbehindert wahrnimmt, was ich in bezug auf alle Menschen, mit denen ich zu tun hatte und die wir für geistigbehindert halten, im Gesamt meiner Berufspraxis bestätigt fand. Ich erinnere mich besonders an zwei Aussagen von Menschen, die wir ohne Zögern als schwerer geistigbehindert bezeichnen würden. Die eine lautete: "Ich bin kein Geistigbehinderter nicht!" und die andere: "Gell, Herr Feuser, die meinen alle, ich sei blöd, weil ich auf's Brettergymnasium gehe." Mit Brettergymnasium meinte die Schülerin eine Sonderschule für Geistigbehinderte. Zum anderen macht er diese seine Identitätsfeststellung an einem »Merkmal« fest, nämlich daß er reden könne, was er sich selbst als »Eigenschaft« zuschreibt, während er diese seinen Kollegen und Kolleginnen abspricht, so, wie wir die "Normalität" uns als eine uns innewohnende »Eigenschaft« selbst zuerkennen und jenen, die in unserer Wahrnehmung psychopathologische »Merkmale« zeigen, als »Eigenschaft« absprechen. Das zeigt, wie sehr diese gesellschaftlichen Praxen zu Knoten unserer Identitätsbildung werden, die uns zu anderen Menschen in Distanz und nicht in Beziehung setzen. Nun zu seinem Gedicht; ein weiterer Spiegel, den er uns vorhält. Es heißt "Lehrer":

"Der Lehrerberuf ist ein unheimlicher Job.

Die Schüler werden geprüft, geübt, beaufsichtigt und manchmal auserkoren.

Um Lehrer zu werden, muß man zuerst die Fahrschule machen, dann die Stirn runzeln.

Manche Schüler haben eine fürchterliche Angst, es zittern ihnen nur so die Knie.

Die Lehrer wissen alles, sie sind unglaublich und unfehlbar.

Manche Schüler singen die erste Stimme, manche die zweite und manche die fünfte.

Die Lehrerinnen haben eine höfliche Niedertracht und radieren die Hefte aus,

daß sie blitz und blank sind.

Ein sauberes Heft ist eine Erfüllung für den Geist.

Die Lehrer sind von den Landeshauptmännern berufen, aus den Schülern Menschen zu machen.

Der Lehrer lenkt die Gedanken im Kopf herum, daß es nur so rauscht.

Manche Lehrer sind Wüstlinge und Knallköpfe.

Jesus hat gesagt, du sollst kein falsches Zeugnis machen.

Die Schüler müssen aufspringen und guten Morgen durch die Klasse heulen.

Bei den Ohren gehts hinein, bei den Ohren gehts hinaus, das ist der Lebenslauf.

(1990, S. 26)

Die von mir für diesen Vortrag gewählte Formulierung "Geistigbehinderte gibt es nicht!" ist keine rhetorische Aussage, sondern sehr ernst gemeint. Äußert man diese Auffassung, dann erntet man sofort den Widerspruch: "Ja, aber diese Menschen sind doch da, schauen Sie sich diesen oder jenen an. Das kann doch nicht negiert werden." Das kann es auch nicht. Eine andere Antwort ist: "Das ist ja pure Gleichmacherei." Ich denke, das sind Aussagen, die verkennen, was mit meiner Aussage gemeint ist. Das könnte in folgender Aussage verdeutlicht werden: Es gibt Menschen, die WIR aufgrund UNSERER Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem WIR sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den WIR als "geistigbehindert" bezeichnen. Geistige Behinderung kennzeichnet für mich auf einer ersten Ebene einen phänomenologisch-klassifikatorischen Prozeß, also einen Vorgang der Registrierung von an anderen Menschen beobachteten "Merkmalen", die wir, in Merkmalsklassen zusammenfaßt, zu "Eigenschaften" des anderen machen. Dieser Prozeß abstrahiert schon in dem Moment, in dem er getätigt wird, von der Realität seiner Instrumentalisierung im historisch-gesellschaftlichen Kontext; er bedenkt das Leid der Ausgrenzung bis hin zur physischen Vernichtung, die die Betroffenen erfahren haben, nicht, als könne eine solche Aussage »wertneutral«, oder, wie man auch sagen könnte, rein wissenschaftlich gemacht werden. Die Feststellung "geistige Behinderung" ist eine auf einen anderen Menschen hin zur Wirkung kommende Aussage schlechthin. Sie bezeichnet auf einer zweiten Ebene begrifflich zwar zutreffend eine gesellschaftliche Realität, nämlich die von Zuschreibung und Ausgrenzung und eine fachliche Realität, nämlich die der philosophisch-wissenschaftlichen Verwahrlosung der Heil- und Sonderpädagogik, die »beobachtbare Merkmale« zu »Eigenschaften«, d.h. zu deren Ursachen macht, aber nicht die Individualität des Menschen, den wir mit diesem Begriff meinen. Sie abstrahiert vielmehr von der Individualität des gemeinten Menschen, von seiner Subjekthaftigkeit, und bewirkt im gesellschaftlichen Kontext in der Folge das Gegenteil dessen, was wir als pädagogische Absicht den so bezeichneten Menschen gegenüber bekunden. So unmöglich es ist, als behindert und nichtbehindert geltende SchülerInnen zu integrieren, wenn die beiden Schülergruppen im Unterricht nach unterschiedlichen Lehrplänen und im Sinne äußerer Differenzierung unterrichtet werden, so unmöglich ist es, jemanden, den ich als geistigbehindert klassifiziere, als mir gleichberechtigten und gleichwertigen Mitmenschen anzuerkennen. Das ist ein Grunddilemma der Integration, das sie noch nicht erkannt, geschweige denn bearbeitet hat. Oder anders gesagt: Wenn ich ein Kind als geistigbehindert wahrnehme und meine, es sei so, wie ich es wahrnehme, habe ich es ausgegrenzt, auch wenn es in einer Integrationsklasse sitzt.

Was ich aufgezeigt habe, hat historische Tradition. Es ist in einem Denken verankert, das ich als "vorrelativistisch" bezeichnen würde. Es entspricht im Sinne der »Dynamik der Mechanik der klassischen Physik« dem Newton'schen Weltbild und seinen Vorläufern, das in der Evolution keine Übergänge, keine Sprünge und keine konvergierenden Systeme kennt und das Prinzip der Reversibilität aller Prozesse postuliert. Es ist auch einem Denken geschuldet, das sich in die vorgenannten Annahmen hinein verzahnt und kurz als "sozial-darwinistisches", "eugenisch-rassistisches" und "lebensphilosophisch bewertendes" bezeichnet werden kann. Durch die Verschwisterung der klassisch mechanistischen Denkweise mit den genannten, Mitte des 19 Jh. zur vollen Entfaltung kommenden humanwissenschaftlich-philosophischen Traditionen, kommt es zur Ontologisierung der auf der Ebene des Phänomenologischen gewonnen Erkenntnisse [2]. Das heißt, was uns an einem Menschen in einem ersten Schritt als klassifizierbare Erscheinungen (als psychologisierbare "Merk-Male") auffällt (das ist unsere Wahrnehmung des anderen), machen wir in einem zweiten Schritt zu seinem »inneren Wesen«; wir deuten sie - pars pro toto - als seine "Eigenschaften", seine "Natur". Schließlich bewerten wir diese in einem dritten Schritt im Spiegel der dominierenden gesellschaftlichen Normen, in denen unsere Erwartungen vergegenständlicht sind, wie ein Mensch eines bestimmten Alters und Geschlecht zu sein und was er zu leisten hat. So kommt es zur Aussage, daß dieser Mensch geistigbehindert ist. Das führt dann u.a. auch direkt in die neue Lebenswert-Debatte und "Euthanasie"-Diskussion hinein. Das "Euthansie-Denken" sowie seine biologistisch/eugenisch-rassistischen Momente und breite Bereiche der Heil-und Sonderpädagogik haben, historisch gesehen, überwiegend die selben philosophischen Wurzeln. (Feuser 1992)

Generelles Resultat dieses Prozesses ist die Feststellung der "Andersartigkeit" - einer der verheerendsten Begriffe in dieser Denktradition, wenngleich er bis heute in der Heil- und Sonderpädagogik hoch favorisiert ist. Entgegen der historischen und gesellschaftlichen Faktizität der Wirkung dieses Begriffes soll mit ihm, der Absicht nach, die Individualität des anderen Menschen betont werden, was zeigt, daß das Gegenteil von richtig nicht falsch, sondern die 'gute Absicht' ist. Entzerren wir den Begriff, so wird deutlich, daß er über den so bezeichneten Menschen aussagt, "anderer Art" zu sein, was eine andere Gattung konstituiert (→ Rassismus-Komponente) und seine Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung negiert - mithin auch den Rechtskodex, den sich die Menschen zum Schutz ihrer Art gegeben haben, wie das ethisch im Verletzungsverbot und Hilfegebot den Mitmenschen gegenüber zum Ausdruck kommt. Der Begriff meint aber auch - im doppelten Sinn des Wortes -, auf andere Weise "artig" zu sein, wie man meint, daß Menschen "artig" sein sollten: hinsichtlich der Art und Weise, (a) sein menschliches Wesen (so es noch zugestanden wird) zum Ausdruck zu bringen, wie (b) den gesellschaftlichen Konventionen zu 'folgen' (artig = folgsam).

Fassen wir den aufgezeigten Prozeß zusammen, könnten wir auch feststellen:

  • Was wir an einem anderen Menschen z.B. nicht verstehen und nicht akzeptieren können, daß es auch für uns selbst zutreffen könnte, nehmen wir als dessen Unverstehbarkeit und »Andersartigkeit« wahr.

  • Das Verständnis des anderen gelingt nur mittels der Projektion unserer Verstehensgrenzen auf ihn, d.h. wir verkennen unsere Grenzen des Verstehens als Begrenztheit derer, die es zu verstehen gilt. In Folge kommt es zur Wahrnehmung unserer Begrenztheit als Grenzen des anderen.

  • Unsere Annahmen über diese nun für wesensmäßig gehaltene Begrenztheit des anderen, die, wie gesagt, unsere Verstehensgrenzen charakterisieren, lassen uns nun so handeln, daß wir den anderen in Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssysteme, in Wohn-, Arbeits-, Förder- und Therapiezusammenhänge verbringen, die dieser unserer Annahme über seine Begrenztheit entsprechen. Das garantiert, daß der andere trotz Förderung so bleibt, wie ich ihn mir nur denken kann. Dadurch erfüllt sich, was wir über seine Entwicklungsmöglichkeiten prognostiziert haben. Das bestätigt uns (nicht den anderen), beweist unsere "Normalität" und dessen "Pathologie" und schließt den Zirkel.

Der "geistigbehinderte"[3] Mensch darf also nur so (und nicht anders) sein, wie wir ihn uns zu denken vermögen, wie wir annehmen, daß er sei. Mittels des sozialen und bildungsmäßigen Reduktionismus, vermittelt, organisiert und kontrolliert durch die Heil- und Sonderpädagogik, tun wir alles dafür, daß diese Projektionen eine überzeitliche Gültigkeit erfahren. Ein Beispiel: Der Lehrplan für die Primarstufe des Landes Bremen (1. bis 4. Schulj.) sieht vor: Rechnen in der Grundschule bis eine Million; in der Schule für Lernbehinderte bis eintausend, in der Schule für Geistigbehinderte findet Rechnen keine Erwähnung, als gäbe es für Menschen, die wir in dieses Klassifikationsraster bringen, keine Welt des Quantifizierbaren. Was wir annehmen, daß der andere nicht lernen kann, bieten wir erst gar nicht zu lernen an, mithin hat er auch keine Möglichkeit, sich Welt über das hinaus anzueignen, was wir vorgeben. So muß er bleiben und sein, was und wie wir meinen, daß er ist!

Wenden wir uns nun einem postrelativistischen Verständnis zu. Erkenntnistheoretisch wurzelt es nicht in den Geisteswissenschaften, sondern in den sich wieder verstärkt der Philosophie zuwendenden Naturwissenschaften: Physik, insbesondere die Thermodynamik und Quantentheorie, Chemie und Biologie. Die Verstehens- und Erklärungsgrundlagen eines entsprechenden Weltbildes, damit auch eines Bildes vom Leben und der Evolution des Lebendigen, die Entwicklung eines Individuums inbegriffen, sind in komplexen Theorien verankert, die wir heute mit den Stichworten der Selbstorganisations- und Ko-Evolutionstheorie (und meist völlig falsch und irreführend gebraucht, mit der Chaos-Theorie) bezeichnen. Im Spiegel der in diesem - aus Zeitgründen hier nicht näher beschreibbaren - Kontext verfügbaren Erkenntnisse wird deutlich, daß die fundamentalen psycho-sozialen Eigenschaften lebendiger Systeme auch Menschen nicht abgesprochen werden können, an denen wir sie (in der üblichen, psychologisierbaren Weise) nicht wahrzunehmen vermögen. Unsere Klassifikationschemata orientieren sich an einem äußerst schmalen Sektor und nur an einer in einer bestimmten Weise enfalteten Systemhöhe des Menschen. Selbst schon andere Sektoren gleicher Systemhöhe bleiben diesbezüglich unbeachtet. In Beobachtungs-Raster gefaßt legen wir diese Kriterien über andere Menschen. Sie bilden die Brille, durch die wir sie ausschließlich sehen. Die Anteile des Ganzen, die das Raster erfaßt, erscheinen uns als das Ganze, das dann aber als inkomplett und defektiv bewertet wird. Erfaßt das Raster keine Anteile des Ganzen, gilt, was beobachtet werden soll, als nicht existent. So entbehrt der schwer beeinträchtigte Mensch, wie es z.B. die utilitaristisch-präferenzutilitaristisch fundierten "Praktische Ethik" annimmt, in der Zeit zu existieren, eines auf die Zukunft gerichteten Bewußtseins, einer Präferenz für ein zukünftiges Leben, der Fähigkeit zu sinnvollen Beziehungen, eines Empfindunsvermögens und einer distinkten Entität [4], weshalb ihm der Status, als Mensch eine Person zu sein, abgesprochen wird und seiner Tötung mithin auf dem Hintergrund von Kosten-Nutzen-Analysen nichts mehr im Wege steht.

Dem entgegen lassen die angesprochenen Erkenntnistheorien deutlich werden, daß, was bei Menschen auf einer bestimmten Systemhöhe als psychologisierbare Eigenschaften wahrnehmbar wird, nicht nur dem System Mensch schlechthin, sondern lebenden Systemen im allgemeinen als sie konstituierende Eigenschaften eigen ist. Es läßt sich der Beweis führen, daß sämtliche, z.B. schwer beeinträchtigten Menschen durch die "Euthanasie" befürwortenden Philosophien und Philosophen abgesprochenen bio-psycho-sozialen Eigenschaften, nicht nur diesen Menschen (wenngleich in der klassischen Weise nicht beobachtbar) eigen und verfügbar sind, sondern bereits Ausgangs- und Randbedingungen für die Entstehung und Evolution des Lebendigen waren. (Feuser 1994) Was wir in diesem Sinne an einen Menschen nicht beobachten können, ist nicht nicht da. Es ist auf unterschiedlichen Ebenen in jeweils komplexen und diversifizierten (Lebens-) Prozessen als grundlegend Menschliches vorhanden, das sich aber unseren üblichen Kontroll- und Testmechanismen entzieht.

Eine gravierende Konsequenz ist, daß jede statusorientierte (Test-) Diagnostik im Spiegel dieser Theorien (des Komplexen und Prozeßhaften) jedwede Rechtfertigung, aus ihren Ergebnissen eine prognostische Aussage abzuleiten, verwirkt. Was ich an mir derart schätze, daß es mich von jemandem anderen so unterscheidet, daß ich ihn als "geistigbehindert" klassifiziere, hat er auf seine Weise genauso wie ich. Da ich aber, weil als "normal" geltend, als Fachmann oder Fachfrau bekannt, durch ein Amt scheinbar befugt, mehr Macht in dieser Gesellschaft habe als der andere, kann ich ihn in herrschaftlicher Weise entsprechend etikettieren. Schon in diesem Moment brauche ich mich nicht mehr darum bemühen, das, was er wie ich hat, an ihm zu erkennen. Meine Arbeit bezieht sich schon lange auf sehr schwer beeinträchtigte Menschen und in den letzten Jahren auch auf solche im Koma nach sehr schweren Hirnverletzungen. Wir gehen inzwischen sicher davon aus, daß Menschen im Koma nicht nur lernfähig sind, sondern auch ein Bewußtsein von sich selbst haben, das dem Lebensprozeß entspricht, den wir als Koma klassifizieren und in dem z.B. die physikalische Einheit von Raum und Zeit entflochten sein kann. Das ist unter den gegebenen Systembedingungen (im entwicklungslogischen Sinne) so »normal« wie wir z.B. auch zu träumen vermögen, daß der Stephansdom in Innsbruck steht.

Eine entsprechend grundlegende Betrachtung zeigt, daß jedes lebende System nur als ein umweltoffenes verstanden werden kann, das derart auf seine Umwelt hin orientiert ist, daß es sich in jedem Zyklus des Austausches mit dieser verändert. Diese Referentialität zur Welt koppelt sich an die zu sich selbst, weshalb es - trotz permanter Veränderungsprozesse - einerseits sich selbst identisch zu bleiben und andererseits in sich selbst den getätigten und erfahrenen Austauschprozeß (mit den Mitteln seines Systems) zu rekonstruieren vermag, d.h. Wissen über die Welt in Relation seiner selbst zu ihr akkumuliert. Solche Systeme gelten bezüglich ihrer Eigenschaften als dissipativ und autopoietisch; sie werden als zur Umwelt funktional offen und hinsichtlich der Rekonstruktion von Welt im System als operational geschlossen betrachtet. (Maturana 1985, Maturana/Varela 1990) Schon in den prä-biotischen, physikalisch-chemischen Strukturen gibt es erste Ansätze von Systemeigenschaften, die wir heute auf der Ebene des Menschen als Ich und Selbstbewußtsein bezeichnen. Dabei ist die "Zeit" der Proto-Organisator eines lebendigen Systems; sie organisiert die Organisation, bewirkt die Strukturbildung. Die Zeit ist, wie wir nach EINSTEIN wissen, relativ und konstituiert eine je individuelle Biographie. Folglich ist, an einem anderen Menschen etwas in identischer Weise zu erwarten, wie ich es an mir kenne, bereits ein unmenschlicher Akt.

Das hat u.a. gravierende Konsequenzen für ein neues Verständnis von Entwicklung, die ich allgemein als eine prozeßhafte, dynamisch organisierte, strukturelle Systemveränderung in Richtung auf zunehmende Komplexität und Diversifikation sehe. Im Prozeß der Entwicklung ist - auf dem Hintergrund der bereits erwähnten Systemeigenschaften des Lebendigen; das ist das zentrale Moment -

  1. die Komplexität und Differenziertheit der (dinglichen wie personellen) Umwelt, mit der sich ein System austauscht, primär gegenüber den (systemeigenen) Mitteln, die ihm zur Realisierung und Repräsentation dieses Austausches in seinem Innern zur Verfügung stehen. Die »eigenen Mittel des Systems« sind eben nicht nur Mittel und Werkzeuge zum Austausch mit der Welt, sondern wesentlich auch das Produkt desselben. Mithin ist

  2. wiederum primär die Veränderungsmöglichkeit, d.h., was aus einem Menschen seiner Möglichkeit nach werden kann (was in keiner Weise exakt bestimmbar und sicher vorhersagbar wäre) und demgegenüber seine momentane Situation sekundär.

Damit ist nicht ausgesagt, den Menschen in seiner Gegenwärtigkeit nur als das noch nicht Mögliche zu denken - im Gegenteil: Ein Mensch ist seiner Gegenwart nach das momentan Mögliche hinsichtlich der möglichen Veränderungen; also kompetent, wie behindert er uns auch erscheinen mag.

Es müßte "eigentlich" ein ureigenes pädagogisches Anliegen sein, sich auf das zu orientieren, was aus einem Menschen seiner Möglichkeit nach werden kann und nicht auf das, wie er uns gerade erscheint, daß er sei. Dennoch leiten wir unsere Prognosen und pädagogischen Programme, mithin auch unsere Vorschläge für einen Bildungsgang nahezu unbeirrt aus der starren Fixierung auf die als statisch, defizitär und defekt wahrgenommene Gegenwärtigkeit eines Menschen ab; aus statusdiagnostischen Kriterien. Einmal als geistigbehindert klassifiziert, bedeutet in der Regel lebenslang die Einhaltung einer Lebensbahn, die einer Einbahnstraße gleicht, die schließlich in einer Sackgasse mündet, aus der es kein Entrinnen aus eigener Kraft mehr gibt. Wie vermessen und auch versessen wir darin sind, mag ein Beispiel verdeutlichen: Würde ich Ihnen aus einem Film, den Sie nicht kennen, ein Filmbild herausschneiden und als Dia projizieren, wären Sie mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage, exakt herauszufinden, welche Szene zu diesem Bild geführt hat und welche Szenen diesem Bild nachfolgen, geschweige denn, daß der Ausgang des Filmes richtig zu bewerten und zu beurteilen wäre. Aber wir testen einen Menschen zu irgendeinem Zeitpunkt seiner Lebensgeschichte und meinen dann zu wissen, welchen weiteren Lebensweg er einzuschlagen hat und welche Bildung ihm zu ermöglichen oder vorzuenthalten ist.

Der Geistigbehindertenpädagogik liegen nahezu ausschließlich die aufgezeigten Projektionen zu Grunde. Sie entbehrt deshalb in fundamentaler Weise einer "Gerechtigkeit" ihrer Klientel gegenüber. Die Modifikation von Entwicklungsprozessen resultiert aus den Randbedingungen eines Systems und diese, nicht das System selbst, können unter Berücksichtigung der Biographie des Subjekts und der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung pädagogisch und therapeutisch optimiert werden. Das ist die einzige Aufgabe, die legitim als pädagogische und therapeutische wahrgenommen werden kann. Sie setzt weder die Existenz einer Heil- und Sonder- bzw. Geistigbehindertenpädagogik noch einer Sonderschule voraus noch wären diese notwendig zu postulieren. Nur so lange wir in der aufgezeigten Weise (mit Duldung oder gar in Beauftragung durch unsere Gesellschaft) mit Menschen verfahren, die von uns z.B. als "geistigbehindert" klassifiziert wurden oder werden, kann dieses Tun legitim als »Geistigbehindertenpädagogik« bezeichnet werden. Tritt der als "geistigbehindert" klassifizierte Mensch aber mit gleichen Rechten und ohne soziale Diskreditierung in die Gesellschaft ein (aus der er nie entfernt, in der er aber hochgradig isoliert und mystifziert war), was gleichberechtigte Teilhabe u. a. auch an den Bildungsgütern bedeutet, kann von Geistigbehindertenpädagogik nicht mehr gesprochen werden. Es geht dann um nichts mehr oder weniger als um eine Allgemeine - und mithin integrative - Pädagogik schlechthin.

Entwicklung folgt Attraktoren [5]. Randbedingungen [6] wie Ausgangsbedingungen eines lebenden Systems können solche sein. Eine Trisomie 21, die überhaupt nichts mit "geistiger Behinderung" zu tun hat, sondern eine chromosomale Ausgangsbedingung einer Systemevolution beschreibt, kann (muß nicht) für eine menschliche Entwicklung ein biologischer Attraktor ganz besonderer Art sein. Im Sinne der Bifurkationshypothese hat ein dissipatives System selbst schon auf der Ebene chemischer Evolution im präbiotischen Bereich mindestens zwei Möglichkeiten seiner Veränderung, wenn ein kritischer Punkt der Instabilität des Systems erreicht ist. In Analogie dazu hat der Mensch, so können wir (auch unter Berücksichtigung des hier schon Ausgeführten) annehmen, zwar endliche, aber nicht vorhersagbar viele Entwicklungsmöglichkeiten (E). Er kann in Anbetracht der Unumkehrbarkeit biographischer (Lebens-) Zeit nur die nicht mehr nützen, die er schon gelebt hat. Bleiben also selbst für einen schwerst beeinträchtigten Menschen En-1 Möglichkeiten seiner Veränderung und damit eine unvorhersagbare Fülle an weiteren Entwicklungsmöglichkeiten. Denken wir diesen Ansatz weiter, so kann er, je nach dem, welche Attraktoren zur Wirkung kommen, potentiell ein durchaus sehr ähnliches Entwicklungsergebnis erzielen, das er der Möglichkeit nach auch ohne die Ausgangsbedingungen z.B. einer Trisomie 21 hätte erreichen können. Es wird deutlich: eine sozial und bildungsinhaltlich restriktive Pädagogik, wie z.B. die Geistigbehindertenpädagogik, beschneidet die potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten der als geistigbehindert klassifizierten Menschen durch Segregation und pädagogischen Reduktionismus in immenser Weise und wirkt als Attraktor der Reproduktion dessen, was uns veranlaßt, jemanden als geistigbehindert zu klassifizieren. Die Erfahrungen im Feld der "Integration", bezogen auf einen weder sozial noch bildungsinhaltlich restriktiven Unterricht, belegen das eindeutig und zeigen, welche Bedeutung allein einer sehr heterogenen Schülerschaft hinsichtlich ihrer Funktion als Attraktor eines jeden für die Entwicklung des jeweils anderen zukommt. Keine noch so ausgefeilten Mittel und Methoden einer Geistigbehindertenpädagogik bzw. Therapie vermögen allein diesen Faktor zu kompensieren. Dieses Feld kann hier aber nicht weiter bearbeitet werden.

Die Dramatik und das Dilemma unseres Faches vermag vielleicht ein weiteres Bild zu verdeutlichen. Ich denke, der Kosmologe, Physiker und Mathematiker Stephen HAWKING (1988, 1993; Ferguson 1992), dessen Theorien auch in meine Ausführungen eingeflossen sind, ist durch seine Popularität und den Film über ihn weithin bekannt. Seine Leistungen sind denen der großen Physiker wie EINSTEIN u.a. sicher ebenbürtig. Hätten wir keine Kenntnis von ihm (er erscheint schwerst behindert, ist auf den Rollstuhl und umfassende apparative und personale Hilfen angewiesen, weitgehend bewegungsunfähig und kann nicht mehr sprechen), und würden wir eine fachliche Beratung zu leisten haben, hätten wir mit dem Motiv, ihm zu helfen, sicher darüber beraten, welches Pflegeheim, welche Sonderinstitution für ihn in Frage käme. Wir hätten ihn mit Sicherheit nicht mit Fragen der großen Vereinheitlichungstheorien befaßt, die die Fragen nach dem Ursprung dieses Kosmos behandeln und nicht mit ihm versucht, Quantentheorien auf makrokosmische Phänomene anzuwenden oder über "Schwarze Löcher" und die "Zeit" diskutiert. Aber dazu arbeitet und publiziert er. Was, so frage ich, gibt uns die Sicherheit, so genau zu wissen, was in den Gehirnen der Kinder und Jugendlichen vorgeht, die wir in die Schulen für Geistigbehinderte verweisen? Solange wir nicht beweisen können, daß keine und keiner von ihnen die Lösungen im Kopf hat, nach denen HAWKING sucht, haben wir sie alle wie Genies zu behandeln, auch wenn sie uns schwerstbehindert erscheinen. Die aufgezeigte Problematik erweist sich als eine Frage des Dialogs, der Kommunikation, der Interaktion, die sich nur im gleichberechtigten kooperativen Miteinander entfalten können; sie ist nicht die Frage einer bestimmten Weise des Soseins eines Menschen im Gesamt menschlichen Daseins. Anders gesagt: Das Problem ist nicht die »Behinderung« eines Menschen, sondern die Qualität der Beziehung, die wir zu ihm herstellen bzw. die sich zwischen uns herstellt.

In Fortsetzung der anskizzierten Gedankengänge könnten wir (übergehen wir viele dazu notwendige Zwischenschritte und Ausführungen) schließlich aussagen, daß, was uns als Krankheit körperlicher und/oder psychischer Art bzw. als Behinderung erscheint, Ausdruck systemintegrativer Balancierungen von Ausgangs- und Randbedingungen eines sich fern vom Gleichgewicht organisierenden und strukturierenden lebendigen Systems sind. Das heißt, bezogen auf das konkrete Individuum: Was wir als "Behinderung" fassen und an einem Menschen gering achten oder gar abqualifizieren, in der Regel aber als defizitär betrachten, ist Ausdruck einer Kompetenz; Ausdruck der Kompetenz, (autokompensatorisch und autoregulativ) lebensbeeinträchtigende (bio-psycho-soziale) Bedingungen zum Erhalt der individuellen Existenz im jeweiligen Milieu ins System zu integrieren. Mithin ist jede Form von Behinderung, psychischer und auch körperlicher Krankheit menschlich und menschenmöglich und unter bestimmten Bedingungen existentiell notwendig. Für den Menschen ist es so »normal« "behindert" zu sein, wie es »normal« ist, nicht "behindert" zu sein. Nicht "behindert" zu sein ist kein Kennzeichen oder Prädikat von "Normalität"; das nehmen wir nur aufgrund unserer definitorischen Macht als gesellschaftliches Attribut für uns in Anspruch. "Behinderung" definiert in gleicher Weise »Normalität« wie Nichtbehinderung; »Normalität« nun allerdings nicht mehr bezogen auf einen gesellschaftlichen Normenkodex, sondern auf die menschliche Entwicklungslogik unter den für einen Menschen bestehenden Ausgangs- und Randbedingungen seiner Lebensgeschichte.

Was wir z.B. als die "geistigen Behinderung", eines sog "mongoloiden" Kindes, eines Menschen mit »Down-Syndrom« wahrnehmen, ist Ausdruck einer regulären menschlichen Entwicklung in Anbetracht der Tatsache seiner durch eine Trisomie 21 gekennzeichneten Ausgangsbedingungen und den gesellschaftlich-familiären und institutionellen Randbedingungen, die wir diesem Menschen schaffen und zumuten. Jedes lebende Kind mit Down-Syndrom hat bewiesen, daß es mit einer Trisomie 21 menschlich leben kann. Keiner von uns hat das je bewiesen, aber wir maßen uns an, dieses Kind und sein Leben zu bewerten. Wir hätten den Beweis erst noch anzutreten, daß wir das können. Wer hat hier ein Zuschreibungsrecht gegenüber dem anderen? Sind, wenn wir ein solches dem "behinderten" Menschen gegenüber in Anspruch nehmen, die Verhältnisse nicht eher auf den Kopf gestellt? Daß die Heil- und Sonderpädagogik wesentlich auf diesem Zuschrei-bungsrecht der Nichtbehinderten aufbaut, entlarvt sie als Herrschaftspädagogik - und eine solche wird sie bleiben, solange sie ausgrenzt oder Ausgeschlossene »einschließt« und eine reduktionistische Pädagogik als vermeintlich "behinderungsspezifische" Maßnahme praktiziert. Heil-und sonderpädagogische Klassifikationen, zu denen wir uns auch durch eine fehlgeleitete Psychologie und biologistische Psychiatrie im Eifern um Wissenschaftlichkeit haben verleiten lassen, sind nichts anderes als Artefakte eines Menschenbildes, das einem prärelativistisch-mechanistischen Denken und Weltbild entstammt, in das biologistische, eugenisch-rassistische und lebensphilosophische Momente tief verstrickt sind.

Ich denke, jeder Mensch muß den Menschen wichtig sein, sonst haben wir als Menschheit keine Überlebenschance. Der letzte Auftrag einer auslaufenden Geistigbehindertenpädagogik könnte sein, der Regelpädagogik zu vermitteln, die Menschen, um die sich die Geistigbehindertenpädagogik bislang bemüht hat, für wichtig zu nehmen und sie vorurteilslos als gleichberechtigte und gleichwertige Schüler und Schülerinnen anzuerkennen. Der sog. allgemeinen Pädagogik eine solche Sinngebung zu vermitteln könnte Sinngebung einer Geistigbehindertenpädagogik sein, deren Aufgabe heute nicht mehr darin liegt, "geistigbehinderte" Menschen in Sonderinstitutionen zu fördern [7], sondern in Kooperation mit den Menschen, die wir als geistigbehindert klassifizieren, einen gemeinsamen, von Solidarität getragenen Erfahrungsschatz, d.h. eine gemeinsame Kultur zu schaffen.

VYGOTSKIJ, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr Anlaß zu vielen Fachtagungen und einer intensiven Auseinandersetzung mit seinem Werk ist, formuliert schon zu Beginn der 30er Jahre: "In unseren Händen liegt es, so zu handeln, daß das gehörlose, das blinde und das schwachbegabte Kind nicht defektiv sind. Dann wird auch das Wort selbst verschwinden, das wahrhafte Zeichen für unseren eigenen Defekt." (1975)



[1] Georg Paulmichl, geb. 18.04.1960, lebt bei seinen Eltern in Prad (Südtirol) im oberen Vinschgau und besucht dort die Behindertenwerkstatt. Nach dem alltäglichen Sprachgebrauch wird er zu den geistig Behinderten gezählt.

[2] Die Phänomenologie bemüht sich u.a. um die systematische Klassifikation wissenschaftlicher Erkenntnisse, die es erst möglich machen, "Wahrheit" und "Schein" zu unterscheiden. Die Ontologie befaßt sich mit dem Sein, insofern es ist. Ob, was als Sein erscheint, seiend ist, hätte wiederum die Phänomenologie zu klären.

[3] Unter Berücksichtigung dessen, was bisher gesagt wurde, verlangt die Verwendung dieses Begriffes, ihn stets zu apostrophieren.

[4] Laut Duden (Bd. 5, 1982, 4. Aufl., S. 193 u. 219) meint "distinkte Entität" ein klar und deutlich (abgegrenztes) Dasein im Unterschied zum Wesen eines Dinges.

[5] Als Attraktoren können Operatoren bezeichnet werden, die der systeminternen Strukturbildung eine »bestimmte Richtung« verleihen. Z.B. daß die Entwicklung in Richtung auf eine Persönlichkeitsstruktur verläuft, die wir dann als Autismus-Syndrom wahrnehmen und klassifizieren.

[6] Als Randbedingungen können alle im Verlauf seiner Biographie den Austausch eines Menschen mit seiner Welt beeinflussenden Größen bezeichnet werden; also auch solche die im System, zwischen den sich austauschenden Systemen und auf Seiten der Systeme liegen, mit denen sich ein bestimmtes System austauscht.

[7] Erziehungs- und Bildungsrechtes für "geistigbehinderte Menschen und deren Befreiung aus der Psychiatrie und einem rein auf Verwahrung und Pflege orientierten Anstaltswesen das gesellschaftlich höhere Niveau für diesen Personenkreis repräsentierte und der Schritt aus der Verwahrung direkt in die "Integration", die vielen selbst in Fachkreisen heute noch nicht denkbar, geschweige denn praktizierbar erscheint, nicht möglich war.

Literaturhinweise:

BASAGLIA,. F.: Die Institution der Gewalt. In: Basaglia, F. (Hrsg.): Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Frankfurt/M.: Edition Suhrkamp 1978, 122-161

BASAGLIA, F. u. BASAGLIA-ONGARO, FRANCA (Hrsg.): Befriedungsverbrechen. Frankfurt/M.: Europ. Verlagsanstalt 1980

FERGUSON, KITTY: Das Universum des Stephen Hawking. Eine Biographie. Düsseldorf/ Wien/New York/Moskau, Econ Verlag 1992

FEUSER, G.: Wider die Unvernunft der Euthanasie. Grundlagen einer Ethik in der Heil- und Sonderpädagogik. Luzern: Edition SZH 1992

ders.: Vom Weltbild zum Menschenbild.. Aspekte eines neuen Verständnisses von Behinderung und einer Ethik wider die "Neue Euthanasie". In: Merz, H.-P. u. Frey, X. E. (Hrsg.): Behinderung - verhindertes Menschenbild?. Luzern: Edition SZH 1994, S. 93-174

ders: Behinderte Kinder und Jugendliche. Zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt/Berlin: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995

FEUSER, G. u. MEYER, HEIKE (1987): Integrativer Unterricht in der Grundschule. Solms-Oberbiel, Jarick Verlag

HAWKING, S.: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. Reinbek: Rowohlt Verlag 1988

ders.: Einsteins Traum. Expedition an die Grenzen der Raumzeit. Reinbek: Rowohlt Verlag 1993

MATURANA, H.R.: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn 1985²

MATURANA, H.R. u. VARELA, F.J.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. München: Goldmann Verlag 1990

PAULMICHL, G.: Verkürzte Landschaft - Texte und Bilder. Innsbruck: Haymon-Verlag 1990

SINGER, P.: Praktische Ethik. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1984

VYGOTSKIJ, L.: Zur Psychologie und Pädagogik der kindlichen Defektivität. In: Die Sonderschule 20(1975)2, 65-72

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Georg Feuser

Universität Bremen, Fb 12, Stg. Behindertenpädagogik

Postfach 330440, D- 28334 Bremen

Quelle:

Georg Feuser: "Geistigbehinderte gibt es nicht!" Zum Verhältnis von Menschenbild und Integration

Referat am 11. Österreichischen Symposium für die Integration behinderter Menschen "Es ist normal, verschieden zu sein", Innsbruck, 6.-8. Juni 1996

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.06.2008

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