Die inneren Feinde der Integration

Zur Institution "Geistigbehindertsein"

Autor:in - Dietmut Niedecken
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/99. Thema: Sich erinnern Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (6/1999)
Copyright: © Dietmut Niedecken 1999

Die inneren Feinde der Integration

Im nachstehenden Beitrag wird an einem Beispiel gezeigt, wie unbewußte Abwehrmechanismen nicht nur je individuell, vielmehr organisiert über die von der Autorin so genannte "Institution Geistigbehindertsein", sich hinter dem Rücken der beteiligten Individuen und gegen ihren bewußten Willen durchsetzen und damit integrative Ansätze bedrohen, ja sogar zum Scheitern bringen können.

Der Terminus "Institution Geistigbehindertsein" ist ein zentraler in meinem Buch "Namenlos". Mit ihm sind all jene Mechanismen gemeint, die geeignet sind, die von dem Phänomen der geistigen Behinderung aufgestörten ängstlichen oder auch haßerfüllten Affekte unbewußt zu halten und damit ihre Wirksamkeit fortzuschreiben. Diese Mechanismen können sich überall verwirklichen - bei der Diagnose-Stellung, bei rehabilitativen Maßmahmen aller Art, bei der Beschulung, bei der Unterbringung; auch, wie ich im Folgenden zeigen werde, bei den besten und fortschrittlichsten Bemühungen um Integration. Fatal ist, daß solche Mechanismen sich immer wieder als geradezu natürliches Geschehen verkleiden und sich damit unhinterfragbar machen. Damit sind ihnen immer wieder auch jene unterworfen, die ausdrücklich darum bemüht sind, ihnen den Kampf anzusagen. Ich selbst bilde da leider keineswegs eine Ausnahme.

Es gehört zu meinen Aufgaben, in Workshops und Seminaren die Mechanismen des "Geistigbehindertsein" bewußt zu machen und so dabei behilflich zu sein, daß diesen etwas entgegengesetzt werden kann. Nicht selten finde ich mich in solchen Seminaren idealisiert, geradezu in die Rolle einer Retterin vor der bösen "Institution Geistigbehindertsein" gehoben, mit der die TeilnehmerInnen meiner Seminare sich dann identifizieren können. Das hat mir immer geschmeichelt - unter solchen Bedingungen ging mir die Arbeit natürlich besonders leicht von der Hand - mich aber auch mißtrauisch gemacht. Zu recht, wie ich an einem Beispiel zeigen möchte, denn in der Verkleidung als Idealisierung meiner Person konnten die institutionellen Mechanismen der Unbewußtmachung auch in meiner Arbeit wieder Fuß fassen:

In einem Workshop wird E. vorgestellt, und zwar von A., einer betreuenden Pädagogin, welche von sich sagt, daß sie unter ihren Kolleginnen die Einzige sei, die vor G. nicht panische Angst habe - ein Umstand, der von einer anwesenden Kollegin bestätigt wird. E. ist ein geistig behinderter Mann, der immer wieder in schwerste Tobsuchtsanfälle auszubrechen droht. Wenn er tobt, entwickelt er gefährliche Kräfte, und kann nur von mehreren kräftigen Männern gehalten werden. Man ist dann gezwungen, ihn mit Medikamenten so massiv einzusedieren, daß er danach wochenlang wie betäubt ist.

Nun gibt es eine Möglichkeit - die einzige, die bisher gefunden wurde - einen solchen Tobsuchtsanfall noch abzufangen: Man muß G. belügen. Er verlangt, nachhause gehen zu dürfen, und das muß man ihm versprechen, wissend, daß sein wirkliches Zuhause für ihn alles andere als wohltuend ist, und daß es gar nicht möglich wäre, ihn dorthin zu schicken. Eine Verweigerung der Lüge jedoch hat unweigerlich den Tobsuchtsanfall zur Folge. Niemand weiß, woher dieses Ritual kommt - es wurde schon in der Großanstalt gepflegt, in welcher E. jahrzehntelang gelebt hatte, bevor er vor einiger Zeit in seine integrative Wohngruppe kam. Hier will man ihn nun nicht mehr belügen, denn das entspricht nicht den Idealen der Integration, des Respekts vor dem geistig behinderten Interaktionspartner. Freilich, bisher gibt es keine Alternative zu der alten Lüge, und das ist der Grund, weswegen sein Fall zum Thema im Workshop wird.

Es gelingt, unter einigen Schwierigkeiten, in der Gruppe ein Verständnis für E. zu erarbeiten: Sein Wunsch, "nachhause" zu dürfen, ist metaphorisch zu verstehen, und es steckt dahinter die Erfahrung eines lebensnotwendigen, zugleich aber zerstörerischen Zuhause, welches ihm für seine überbordenden Affekte nicht nur keinen Halt geben konnte, sondern ihn sogar noch umgekehrt mit der Projektion aggressiver Phantasien belud.

Die vorstellende Betreuerin fühlt, sie habe nun besser verstanden und könne sich vorstellen, wie sie das von E. so dringend benötigte Ritual so anbieten könne, daß es nicht mehr Lüge sei, sondern ein Spiel werden könne. Und wirklich: M. bringt ihr neues Verständnis für G. mit in ihre Arbeit ein, es ergeben sich erste Bewegungen in der Interaktion mit E., die darauf hinweisen, daß das erarbeitete Verständnis seine affektive Not durchaus trifft. Aber es kommt doch anders, als A. es sich gewünscht hätte: Als E. eines Morgens wieder einmal in großer Erregung aufwacht und A.s Mitarbeiterinnen ihm schon "Bedarfsmedikation" geben wollen, um ihn rechtzeitig ruhigzustellen, lehnt A. dies ab und bemüht sich darum, ihn im Gespräch zu beruhigen. Dies gelingt auch durchaus - die Folge jedoch ist nicht, daß die anderen nun A. dankbar sind, vielmehr beschweren sie sich beim Vorgesetzten über sie: Sie gefährde die ganze Gruppe, weil sie mit G. spreche, während sie ihm die dringend notwendige Bedarfsmedikation verweigere.

Ich will mich nun nicht mit den Details des weiteren Verlaufs aufhalten. Kurz: Ein bis dahin latenter Konflikt zwischen A. und einigen anderen Mitarbeiterinnen wird akut, es kommt zur Eskalation, schließlich muß A. die Arbeitsstelle verlassen.

Wir können hier eine typische Inszenierung der "Institution Geistigbehindertsein" erkennen; und zwar eine besonders fatale, wenn wir bedenken, daß sie im besten Wollen aller Beteiligten zustandekam. Zwar wäre es nun übertrieben, wenn ich dies Scheitern einer innerinstitutionellen Auseinandersetzung allein auf mein Eingreifen im Workshop bezöge. Gewiß jedoch ist, daß ich mich, indem ich mich für die institutionsdynamische Seite des Konflikts blind machte und den Fall E., wie er präsentiert wurde, individualistisch reduziert behandelte, einer fatalen Dynamik als Instrument zur Verfügung stellte, anstatt dabei behilflich zu sein, sie zu begreifen.

Mario Erdheim hat mit seinem Ansatz zu einer psychoanalytischen Theorie der Institution gezeigt, daß Institutionen in der Gesellschaft die Funktion haben, das Zusammenleben der Menschen zu organisieren und zu verwalten. Es gelingt ihnen dies meist, indem sie die dieser Organisierung zugrundeliegenden Mechanismen als unabänderlich natürlich und damit über jede Kritik erhaben erscheinen lassen. Dies geschieht immer da, wo institutionelle Regelungen Ansatzpunkte für die unbewußte Übertragung infantiler Abhängigkeiten bieten, wo also die Institutionen alte familiäre Bindungen fortsetzen, anstatt bei ihrer Auflösung behilflich zu sein. In einer solchen Dynamik gilt alles, was in der Institution geschieht, als gut und richtig, ebenso wie alles, was innerhalb familiärer Bindungen sich abspielt, für gut und richtig gehalten werden kann, während draußen die feindliche Welt droht.

Solche familienähnlichen Abhängigkeiten werden dann in spezifisch gerichteter Weise gebunden. So habe ich in "Namenlos" z.B. gezeigt, wie die Angst und Verwirrung, in welche Eltern durch die Stellung der Diagnose "Ihr Kind hat diese und jene Schädigung und wird daher geistig behindert werden", dazu genutzt wird, sie in eine dauernde Abhängigkeit von der scheinbaren Allwissenheit der "diagnosestellenden Instanz" zu bringen - ist es doch diese Instanz, von der sie auch erwarten können, in ihrer Angst und Not Hilfe zu erfahren; Ratschläge wie von mächtigen Elternfiguren, was zu tun sei, wie das, was jetzt als bedrohlich-ungewisse Zukunft sich vor ihnen auftürmt, abzuwenden oder zumindest zu lindern wäre, Hilfe also gegen ein drohendes Böses, welches das sich Einfügen in die institutionellen Abhängigkeiten ins phantasierte Außen zu verlagern hilft. Ist diese Abhängigkeit erst einmal etabliert, dann werden Behandlungsanweisungen unhinterfragt befolgt, da sie von einem Schein von selbstverständlicher Notwendigkeit begleitet sind, anstatt daß sie als Möglichkeiten betrachtet werden könnten, zu denen auch Alternativen denkbar wären: Alle denkbaren Alternativen liegen ja jetzt im bösen "Außen". Der von der Institution "Geistigbehindertsein" erzeugte Gehorsam gegenüber den jeweilig verantworlich gemachten Instanzen macht tendenziell blind für die eigenen Gefühle wie auch für die des geförderten Kindes, des therapierten Erwachsenen.

Es ist ein für Institutionen typischer Mechanismus, so Erdheim, daß in ihnen ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit in der Regel dadurch hergestellt wird, daß alles, was dieses Gefühl bedrohen könnte, als "Außen" definiert, ins Außen abgeschoben wird - ähnlich wie in Abhängigkeit fördernden Familiensystemen die Außenwelt als potentiell bedrohlich definiert und ausgegrenzt wird. Umgekehrt kann freilich in Institutionen auch ein Gefühl entstehen, den Machtstrukturen ohnmächtig ausgeliefert zu sein: Dann wird alles Gute, alle Erlösung, nach draußen projeziert, und Möglichkeiten, an den gegebenen Strukturen etwas zu verändern, können nicht mehr wahrgenommen werden. Beides zeigt sich auch im Falle der "Institution Geistigbehindertsein".

Betrachten wir nun unser Beispiel einmal unter diesem Gesichtspunkt, so fallen auch hier sogleich massive Spaltungen ins Auge - hier das böse "Nicht-Nachhause", dort das gute "Nachhause"; dort draußen die böse Anstalt, hier die gute integrative Unterbringung; dort draußen die von Angst angetriebenen Mitarbeiterinnen, die nur zum bösen Medikament greifen können, hier im Seminar die gute A., welche in Verbündung mit der allwissenden Frau Dr. aus Hamburg steht und E. sprechend beruhigen kann; dort ausgeschlossen und gekündigt die böse A., welche das ganze Heim mit ihren Experimenten in Gefahr bringt, hier die guten MitarbeiterInnen, welche sich und ihre Betreuten vor A.s gefährlichem Tun beschützen müssen.

Was die "Institution Geistigbehindertsein" mittels solcher Spaltungsvorgänge ins Außen projeziert, sind, wie ich in "Namenlos" gezeigt habe, Tötungsphantasien oder deren Umkehrung ins Gegenteil: Erlösungsphantasien. Solche lassen sich in unserem Beispiel unschwer auffinden: Zunächst sind sie sozusagen als Morddrohung zugegen in der panischen Angst, welche E. mit seiner Neigung zu Tobsuchtsanfällen in seiner Umgebung auslöst: Sie werden von ihm personifiziert; zugleich werden sie in seinen BetreuerInnen von seinem Toben erzeugt, und sodann wiederum an ihm projektiv wahrgenommen. Schließlich werden sie in Form des Niederringens und Einsedierens ausagiert. Solche projektive Abwehr erfüllt stabilisierende Funktion: Der dem Geschehen zugrundeliegende Wiederholungszwang, der zur seelischen Konstitution E.s als "Geistigbehinderter" gehört, rechtfertigt das projektive Agieren der Institutsverantwortlichen immer wieder von Neuem.

In dem alten Aufbewahrungs-Institut gelang es nun, die Wahrnehmung von E. stabil aufzuspalten in das Toben einerseits, die Pflegebedürftigkeit andererseits. Wahrgenommen wurde ein "Böses", die böse Behinderung und damit zusammenhängend das böse Toben, welches den "armen, pflegebedürftigen", sozusagen "an sich guten" E. quasi von außen heimsuchte, und nicht etwa sinnvoller Ausdruck seines Erlebens war. Die taktische Lüge rechtfertigte sich sodann aus der Annahme, daß E. weder selbst sinnvoll handeln noch Sinn erfassen könne. Wem nicht zugetraut werden kann, daß sein Tun sinnvoll sei, der wird auch zwischen Lüge und Wahrheit nicht unterscheiden können.

Die stabilisierende Funktion solcher projektiver Abwehr wird von einem integrativen Anspruch in Frage gestellt. Nicht länger erscheint es legitim, vitale Lebensäußerungen so einfach mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterdrücken - die zu integrierenden Menschen sollen ja in ihrer gesamten Persönlichkeit gesehen und anerkannt, und nicht länger von der Wahrnehmung in zu unterdrückende und in zu verwahrende Teile aufgespalten werden. Es gilt nun, E. in seiner individuellen Geschichte ernstzunehmen, sein Toben als eine sinnvolle Reaktion auf traumatische Lebensverhältnisse zu verstehen und ihm dabei behilflich zu sein, neue, weniger destruktive Wege des Ausdrucks seiner Persönlichkeit zu finden. So liegt es durchaus nahe, daß die Problematik sich - zunächst zumindest - nicht etwa auflöst, sondern mit erneuter Brisanz der Wahrnehmung aufdrängt. Dies ist eine schwierige Klippe auf dem Weg zur Integration, und sie unbeschadet zu passieren erfordert einige Bewußtwerdung, insbesondere im Hinblick auf Anteile von Aggression und Ausschließungsphantasien innerhalb der Integrationsgemeinschaft. Wenn solche Reflexion nicht gelingt, muß eine neue Spaltung greifen. Dies ist offenbar im Falle von E. geschehen: Als das Böse, das E. zum Toben gebracht hat, wird nun wiederum ein Außen dingfest gemacht - ein altes familiäres Trauma, besonders aber die böse alte Psychiatrie, in der er nicht ernstgenommen, in der er gar belogen wurde. Mit dieser Spaltung allerdings manövrieren die BetreuerInnen der integrativen Wohngruppe sich schleichend in ein Dilemma: Wie sollen sie sich, nachdem E. nun schon länger nicht mehr den Mißhandlungen der Psychiatrie ausgesetzt ist, die unverminderte, vielleicht sogar verstärkte Vehemenz seiner Tobsuchtsanfälle erklären?

Aus der neu eingerichteten Spaltung zwischen der guten Integration und dem bösen alten Institut ergibt sich so eine gefährlich gespannte Lage. Während die stabilisierende Funktion der projektiven Abwehr im neuen integrativen Rahmen außer Kraft gesetzt ist, weil E.s Toben nun als zu ihm gehörig und sinnvoll, und nicht mehr als ein zu unterdrückendes Böses angesehen werden soll, bleibt das Ineinander von institutionellen und individuellen Wiederholungszwängen weiterhin in Kraft. Die individuelle Problematik E.s, welche ihn für die Rolle des niederzuringenden Bösen prädestiniert hatte, ist mit dem integrativen Anspruch noch nicht aufgehoben. Es muß sich schließlich herausstellen, daß nicht einfach das alte böse Institut E. zum Toben brachte. Die Spaltungsabwehr verliert ihre stabilisierende Funktion und kehrt sich in der Wirkung um. E.s Toben erzeugt Angst und Wut, Affekte, die nun nicht mehr als "die böse Behinderung" des "an sich guten E.", die aber bald auch nicht mehr als "die Folge der bösen alten Anstalt" ins Außen projiziert werden können.

So stellt sich im integrativen Ansatz noch einmal mit neuer Brisanz die Aufgabe, mit dem in der "Institution Geistigbehindertsein" verwalteten Potential an gesellschaftlicher Aggression sich auseinanderzusetzen. Diese Aggression hat E. offenbar auszuagieren übernommen, indem er mit seiner persönlichen Geschichte von Ungehaltensein sich, gemeinsam mit seinen BetreuerInnen, in ihr verwickelt hat.

Es könnte an solcher Stelle ein durchaus kreativer Prozeß seinen Anfang nehmen: Wenn nämlich verstanden würde, daß das "Böse" der "Institution Geistigbehindertsein" in der Inszenierung um E. auf eine Lösung drängt, in der die Aggression integriert, anstatt abgespalten und ins Außen projeziert zu werden. Dafür müßten die je eigenen aggressiven Phantasien in ihrem Zusammenhang mit dem Integrationsgeschehen erkannt, akzeptiert und in einem solidarischen Trauerprozeß durchgearbeitet werden. Das ist eine schwere Aufgabe - zu schwer offenbar im dargestellten Fall. Der Versuch, es besser zu machen, mußte hier scheitern, da das erneute Ineinandergreifen der individuellen und institutionellen Mechanismen nicht erkannt wurde. Dies zu erkennen verhinderte die erneute Spaltung zwischen der bösen alten und der guten neuen Einrichtung. Alles, was früher war, in der Psychiatrie oder in der Großanstalt, galt nun als böse. Daß in der Not darauf zurückgegriffen werden mußte - daß E. doch wieder belogen, doch wieder einsediert werden mußte - mußte unerträgliche Schuldgefühle produzieren, Gefühle, versagt zu haben, zurückgefallen zu sein in das längst überwunden geglaubte "Böse" des alten Instituts.

An dieser Stelle kommt im Beispiel nun mein persönlicher Einsatz, mein persönliches Mitspielen in der Gesamtinszenierung der Institution "Geistigbehindertsein" in diesem Fall zum Tragen. In der von Schuldgefühlen und Versagensängsten geprägten Situation lag es nahe, anläßlich meines Seminarangebots zum Thema "psychoanalytisches Verstehen bei geistiger Behinderung" alle Erlösungssehnsucht auf mich zu projizieren. A.s bewußter Wunsch war, von mir neue, dem Integrationsziel angemessene Wege des Umgangs mit der individuellen Problematik E.s gewiesen zu bekommen. Unbewußt aber muß auch der Wunsch eine Rolle gespielt haben, durch Identifizierung mit mir als der idealisierten, sozusagen über allen Zweifel erhabenen Expertin sich der Schuldgefühle zu entledigen, die das Versagen der integrativen Bemühungen angesichts von E.s Tobsuchtsanfällen auszulösen geeignet war. Diese Idealisierung meiner Person aber sollte sich als fatal erweisen, da ich sie im Seminar nicht hinterfragte, sondern lediglich auf den bewußten Wunsch nach Erweiterung der Verstehensmöglichkeiten einging. So manövrierte A. sich mit meiner Unterstützung selbst in eine unhaltbare Position. Das von E. verkörperte institutionelle "Böse" mußte, da es schon in der Wohngruppe individualisiert und auch im Seminar nicht mitverstanden wurde, nun mithilfe einer allerseits neu eingerichteten Spaltung auf A. verschoben werden: Indem diese selbst sich in gewisser Weise als die Einzige erlebte, die die wahre Möglichkeit der Integration E.s kenne, während auf der anderen Seite die anderen standen, die angesichts der von E. verkörperten Aggression noch versagen mußten, plazierte sie sich außerhalb der Solidargemeinschaft derjenigen, die sich mit der alltäglichen Not des Scheiterns des integrativen Anspruchs auseinandersetzen mußten. So führte sie den Kolleginnen ihr schuldhaft erlebtes Scheitern auf eine unerträgliche Weise vor Augen und geriet in die Falle dieser Schuldgefühle. Um die Schuldgefühle abwehren zu können, mußten ihre KollegInnen nun glauben, A.s Agieren mit E. stelle eine große, und daher auszuschließende Gefahr für die Integrität der Gruppe dar. Und so mußte hier noch einmal ein Ausschluß inszeniert werden: der A.s aus dem Team.

In meiner Seminararbeit hatte ich mich in eine wohl bereits virulente Spaltung zwischen A. und ihren MitarbeiterInnen hineinverwickeln lassen, in ein Spiel gegenseitiger Schuldzuweisungen. Gewiß kann nicht ein solches Seminar allein eine solch destruktive Dynamik entfalten - zumal das erarbeitete individuelle Verständnis wohl durchaus etwas Stimmiges erfaßte. Und doch muß ich meinen Anteil Schuld anerkennen. Mein Umgang mit der Situation beruhte selbst auf Spaltung und Ausschluß von unerwünschten Wahrnehmungen: Indem ich meine Rolle als idealisierte "Frau Dr. aus Hamburg" gerne übernahm und mich auf das beschränkte, was offiziell von mir erwartet werden konnte, klammerte ich die Frage der Institutionskritik aus. Indem ich nur E.s persönlichen Wiederholungszwang zu verstehen suchte, klammerte ich ihn als Rollenträger, und damit die institutionsdynamische Situation, die ihn in dieser Rolle fixierte, aus meinem Verstehen aus; ich kümmerte mich nicht darum, wie E.s persönlicher Wiederholungszwang sich unter dem Diktat der von der Institution "Geistigbehindertsein" verwalteten kulturellen Wiederholungszwänge mit den gruppendynamischen Mechanismen im integrativen Institut verhakte. Die von E.s Toben ad absurdum geführte Spaltung zwischen böser alter Psychiatrie und guter neuer integrativer Einrichtung, die den Ansatz zu einem kreativeren Umgang mit der "Institution Geistigbehindertsein" hätte bilden können, ersetzte ich durch eine neue: die zwischen meinem guten individuellen Verstehen - und einem nicht beachteten Außen, der institutionsdynamischen Situation.

Ob der Ausschluß A.s nur ein weiterer in der Kette von Wiederholungszwängen der "Institution Geistigbehindertsein" war, oder ob die durch ihn entstandene neue Aufgabenstellung als neue Chance wirken und kreativ verarbeitet werden kann, muß die Zukunft erweisen. Denn so schlimm es ist, daß hier A. und wohl auch E. für den integrativen Lernprozeß teuer bezahlt haben, so können wir doch in solidarischer Reflexion gerade auch solcher Fehler aus ihnen für die Zukunft alternative Möglichkeiten entwickeln.

Mario Erdheim schreibt, daß Institutionen nicht dazu verdammt seien, Unbewußtheit, Abhängigkeit und menschliches Leiden zu verwalten und bis in alle Ewigkeit fortzusetzen. Was das im Falle der "Institution Geistigbehindertsein" hieße, kann ich hier nur noch andeuten: Sie sind es immer dann nicht, wenn wir es verstehen, sie sozusagen als Übergangsobjekte zu gebrauchen; d.h. als Strukturen, an denen wir unsere Möglichkeiten zu Abhängigkeit und Unabhängigkeit, zum Umgang mit Macht und Ohnmacht spielerisch ausprobieren. Daß im Falle der "Institution Geistigbehindertsein" der Weg bis dahin noch ein langer ist, steht außer Zweifel. Es werden noch viele Situationen des Scheiterns solidarisch zu ertragen sein, und es wird auch manches an meinen hier nur sehr skizzenhaften (und vielleicht noch in mancher Hinsicht schwer verständlichen) theoretischen Ausführungen noch genauer zu begreifen sein, bevor die Chancen realistischere werden, daß Integration nicht immer wieder an der von der Institution "Geistigbehindertsein" verwalteten Aggression zerschellt. Dies darf uns jedoch nicht abhalten, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzusuchen - die einen, indem sie in der Praxis um Lösungen ringen, die anderen, indem sie das Geschehen theoretisch begreifbar machen und damit dieses Ringen von außen zu unterstützen suchen. Wir können uns hier an den Dichter Friedrich Rückert halten, der schon von Freud zitiert wurde: (Rückert, zit nach Freud, Jenseits des Lustprinzips, GW XIII) "Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken. ... Die Schrift sagt, es ist keine Sünde zu hinken."

Die Autorin

Dr. phil. Dietmut Niedecken, analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in freier Praxis in Hamburg, Dozentinnen-Tätigkeit an verschiedenen Universitäten und Hochschulen. Autorin des Buches "Namenlos. Geistig Behinderte verstehen" sowie von Zeitschriftenbeiträgen.

Eppendorfer Landstraße 161

D-20251 Hamburg

Quelle:

Dietmut Niedecken: Die inneren Feinde der Integration - Zur Institution "Geistigbehindertsein"

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.07.2005

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