"Ich möchte arbeiten"- Portraits von sechs Jugendlichen

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/99; Thema: Modelle der Kooperation Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/5/1999)
Copyright: © Claudie Niedermair, Elisabeth Tschann 1999

"Ich möchte arbeiten"

Auf Initiative jener Eltern, die sich schon für Integration in Kindergarten und Schule eingesetzt haben und deren Kinder mittlerweile Jugendliche sind, entstand das Pilotprojekt SPAGAT[1]. Damit schaffte das Land Vorarlberg einen Rahmen, die integrativen Prozesse auch nach der Schule fortzuführen und zu erproben, ob, wie und unter welchen Bedingungen eine Eingliederung von Menschen auch mit schweren Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt stattfinden kann. Daß dies möglich ist, wird in Fachkreisen längst nicht mehr in Frage gestellt. Theoretisch sind die Konzepte überzeugend, auch gibt es immer wieder ermutigende Beispiele gelungener Integration von Menschen mit schwerer Behinderung hauptsächlich aus den USA. Dennoch ist die Umsetzung der Theorie in die Praxis eine große Herausforderung.

Im folgenden Beitrag werden wir das Projekt nicht näher beschreiben. Vielmehr wollen wir dokumentieren, wo wir derzeit stehen, wohin wir mit unseren Bemühungen gelangt sind: In sechs Portraits werden die Jugendlichen über ihre Arbeit berichten. Da Integration nur als vielschichtiger Prozeß und in Kooperation mit verschiedenen Partnern gelingen kann, werden auch ArbeitgeberInnen, MentorInnen und Eltern über ihre Erfahrungen berichten.

Zusammenfassend die wichtigsten Eckdaten des Projekts:

  • SPAGAT ist ein Kooperationsprojekt, basierend auf der Zusammenarbeit von Mitarbeitern des Instituts für Sozialdienste, Eltern und Vertretern der Schule.

  • Ziel des Projektes ist es, auch für jene Jugendlichen, die nach dem Schwerstbehinderten-Lehrplan unterrichtet wurden, eine Arbeit bzw. sinnvolle Beschäftigung und Tagesstruktur auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden und ihnen dadurch das gemeinsame Leben mit Menschen ohne Behinderung in ihrem regionalen Umfeld zu ermöglichen.

  • Finanziert wird das Projekt aus Mitteln des Landes Vorarlberg und des Europäischen Sozialfonds.

  • Das Projekt ist sowohl von der Teilnehmerzahl als auch vom Standort her begrenzt. Angemeldet haben sich acht Jugendliche, deren Leistungsfähigkeit im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes vermutlich wesentlich unter 50 % liegt.

  • Vom zeitlichen Ablauf gliedert sich das Projekt in zwei Phasen, in die Schulphase, die bereits im Heft 4/5/98 dieser Reihe beschrieben wurde, und in die nachschulische berufliche Eingliederungsphase, die im Herbst 1998 begonnen hat.

  • Eine tragende Säule des Projekts ist der Unterstützungskreis, der um jeden Jugendlichen gebildet wurde (siehe dazu Beitrag in diesem Heft). Dieser soll nicht nur während der Eingliederungsphase, sondern auch später als wichtiges und tragendes Netz für den Jugendlichen beibehalten werden.

  • Die intensive Begleitung durch Projektmitarbeiter (Integrationsberater) soll nach und nach von einem betriebsinternen Mentor ersetzt werden.



[1] Die Vorstellung des Projekts sowie eine detaillierte Beschreibung der schulischen Phase finden Sie in dieser Reihe in Heft 4/5/98 unter demselben Titel: "Ich möchte arbeiten"

Daniel, 20 Jahre

Daniel arbeitet bereits seit einem Jahr bei Alge electronic, einem Unternehmen in Lustenau, das sich mit der kundenspezifischen Entwicklung und Fertigung von elektronischen Geräten beschäftigt. Er arbeitet dort 20 Stunden, jeweils am Vormittag von 8 bis 12 Uhr.

Die Firma Alge hat für Daniel einen nahezu idealtypischen Arbeitsplatz im Sinne des "Supported Employment" geschaffen. Bei der Suche nach seinen Möglichkeiten, Stärken, Vorlieben und Grenzen wurden im Unterstützungskreis folgende Faktoren als bedeutsam eingestuft: Eine der liebsten Beschäftigungen Daniels war schon während der Schulzeit das Fahrradfahren - Leute besuchen, ein bißchen mit ihnen plaudern. Durch seine Hemiplegie ist Daniel bei der Ausführung von manuellen Tätigkeiten eingeschränkt, beidhändiges Arbeiten ist kaum möglich. Sein Berufswunsch war es, im Büro zu arbeiten und einkaufen zu gehen. All dies - Botengänge mit dem Fahrrad, leichte Büroarbeit und Mithilfe in der Produktion, Einbindung seiner Freude an Kommunikation - wurde bei der Firma Alge zu einem ‚runden' Arbeitsplatz zusammengefügt.

Über seinen Arbeitstag erzählt Daniel: "Papa weckt mich am Morgen, dann radle ich ins Geschäft." [2] Sein Fahrrad hat ein Nummernschild, DANI 1, direkt neben dem Firmeneingang ist sein reservierter Parkplatz mit demselben Schild DANI 1, ein berührendes Zeichen der Wertschätzung Daniels. Daniels Tagesablauf ist klar strukturiert: "Jeden Morgen gehe ich rundherum zu allen und frage, was für eine Jause sie wollen." Mit einer Liste geht Daniel von einem Mitarbeiter zum anderen, kreuzt die gewünschte Jause an, kassiert das Geld und schickt danach die Liste per Fax an ein Lebensmittelgeschäft. Das ist auch die Zeit, in der er mit allen "ein bißchen redet und ein bißchen Gaudi macht" ein ausgesprochen integratives Angebot, das seinen Bedürfnissen entgegenkommt. "Dann gibt mir Silvana (seine Mentorin) die Arbeit. Manchmal hole ich die Jause, manchmal bringt man sie. Danach muß ich auf die Post. Manchmal auch auf die Hypobank, Volksbank und zur Krankenkassa, Zettel abgeben." Nach diesen Botengängen, die er natürlich alle per Fahrrad erledigt, arbeitet er etwa eine Stunde lang in der Produktion. Ablängen heißt die Tätigkeit, die Daniel wie folgt beschreibt: "Die Teile in die Löcher hineinstecken, danach die Hand darauf halten und mit dem Fuß den Hebel drücken. Dann schneidet es die Drähte ab." Das ist eine feinmotorische Tätigkeit, die mit einer Hand zu bewältigen ist, jedoch sehr hohe Konzentration von Daniel fordert. Nach Beendigung dieser Tätigkeit beginnt die Büroarbeit: "Ich muß Rechnungen sortieren und in einer Mappe einordnen."

Daniel erzählt: "Ich gehe gerne zum Arbeiten. Es gefällt mir, es hat mich noch nie etwas aufgeregt. Alle Arbeiten sind gut, die ich machen muß. Die Leute im Geschäft sind alle nett mit mir. Wir reden oft miteinander."

Was ihm an der Arbeit gefällt?

"Daß man ein bißchen Geld hat. Ich habe mir ein neues Zimmer zusammengespart und gekauft. Und daß man eine Gaudi hat im Geschäft. Wir haben immer eine Gaudi. Den Chef sehe ich oft, der macht auch Spaß mit mir. Manchmal gibt es ein bißchen Streß, wenn wir viel Arbeit haben."

Familie B. ist für das Projekt SPAGAT sehr dankbar: "Ich bin sehr glücklich, daß Daniel diese Arbeitsstelle hat. Er hätte es nicht besser erwischen können. Wir haben wieder soviel Glück gehabt. Daniel geht sehr gerne arbeiten und erzählt allen stolz, was er tut. Wir spüren auch, daß man ihn gern mag. Im Urlaub hat er eine einzige Karte geschrieben - an seinen Chef." Wichtig ist für Frau B. die geregelte Struktur: "Wir sind jetzt eine ganz normale Familie, alle gehen am Morgen und haben einen geregelten Tagesablauf." Den Unterstützungskreis und die Zusammenarbeit mit der Integrationsberaterin, die Daniel einen Monat lang bei der Arbeit begleitete, hat Frau B. als sehr wertvoll erlebt: "Ich war froh, von Anfang an in einer Gruppe zu sein, nicht ganz allein zu sein. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie es ohne die Unterstützung von Sandra (Integrationsberaterin) gegangen wäre."

Über seine Motive und Erfahrungen als Arbeitgeber sagt Dietmar Alge: "Persönlich meine ich, daß Unternehmen auch eine gewisse soziale Verantwortung erfüllen sollen, sofern sie dazu in der Lage sind (nicht alle sind es im selben Maße!) Von Solidarität als Wert halte ich persönlich sehr viel, Mensch und Leben sind für mich absolute Werte." Diese Wertstruktur bezeichnet er als Grundlage für die Beschäftigung von Daniel. "Wenn der Eigentümer einer Firma nicht hinter einer solchen Beschäftigung steht, dann kann ein solches Projekt nicht erfolgreich sein."

Daß sich die Beschäftigung von Daniel für den Betrieb auch ‚lohnt', drückt Alge wie folgt aus: "Daniel habe ich eigentlich uns zuliebe eingestellt, auch wenn das unglaubwürdig klingt. Wer je erlebt hat, mit welcher Freude und ansteckender Begeisterung Daniel jeden Morgen die Firma betritt, erst der kann verstehen, was ich damit meine.

Zusätzlich finde ich es gerade in einem Betrieb wie dem meinigen wichtig - Hektik, Chaos und Streß pur gehören zu den einzigen täglichen Konstanten - immer wieder zu sehen, daß es wichtigere lebensbestimmende Determinanten gibt. Viele Dinge haben ihren Wert, auch wenn sie keinen Preis haben. Dazu zählen vor allem seelische, geistige und körperliche Gesundheit."

Die Erfahrungen mit Daniel bezeichnet er als gut, auch wenn die Suche nach möglichen Betätigungen am Anfang sehr intensiv war und Alge die Notwendigkeit der Arbeitsbegleitung unterstreicht. "Niemals darf die Beschäftigung unter leistungsspezifischen Gesichtspunkten gesehen werden, einer solchen Bewertung würde sie nie und nimmer standhalten. Es geht vielmehr um die soziale Integration eines behinderten Menschen, die letztendlich nur dadurch möglich ist, da dies durch das Land Vorarlberg großzügig finanziell unterstützt wird."



[2] Die Interviews sind selbstverständlich im Dialekt, die Übertragung ins Schriftdeutsch wirkt manchmal etwas eigenartig, sperrig.

Bernhard, 19 Jahre

Bernhard arbeitet zwei Vormittage im BÜCHERWURM, einer etwas anderen Buchhandlung in Lustenau. Zum gemütlichen Schmökern wird den Kunden eine Tasse Kaffee angeboten und in regelmäßigen Abständen finden an Abenden AutorInnenlesungen statt oder auch Abende zu bestimmten Themen, wie etwa vor kurzem ein italienischer Abend, an dem die Gäste neben Gustostücken aus italienischer Literatur auch mit Köstlichkeiten zum Essen verwöhnt wurden.

Da Bernhard in seinen motorischen Fertigkeiten sehr stark eingeschränkt ist, erledigt er alle Arbeiten gemeinsam mit seiner Mentorin, die während seiner Anwesenheit für ihn da ist und zu der er eine innige Beziehung aufgebaut hat.

Mit Hilfe seiner Bilder - einer von der Integrationsberaterin angelegten Fotomappe mit der Darstellung sämtlicher Tätigkeiten, die er erledigt - beschreibt Bernhard seinen Arbeitstag:

"Am Morgen holt mich Birgit (Mentorin) ab, dann gehen wir zur Post und auf die Bank und in den Sutterlüty (=Lebensmittelgeschäft in unmittelbarer Nähe) Jause einkaufen. Auf der Post müssen wir Pakete abgeben, Briefe abgeben und das Postfach leeren. Auf der Bank müssen wir Geld abgeben."

Nach den allmorgendlichen Besorgungen beginnt Bernhards Arbeit im Bücherwurm.

"Pakete aufmachen, mit der Schere aufschneiden - das ist schwierig, Preise hinaufkleben, kopieren, faxen, stempeln - hinten auf die Prospekte. Theresia (Integrationsberaterin) hat mir einen Stempel gemacht, damit es besser geht. Ich bekomme auch bald einen besseren Tisch."

Eine seiner liebsten Tätigkeiten ist es offensichtlich, "die Leute fragen, ob sie einen Kaffee oder Tee oder Wasser wollen." Bekannte Kunden informiert er telefonisch über eingelangte Buchsendungen.

Das Einbeziehen seiner kommunikativen Kompetenzen - eine der Stärken Bernhards - und nicht so sehr das Entwickeln von manuellen Fertigkeiten steht im Mittelpunkt der Bemühungen. Und hier hat Bernhard offensichtlich in dieser etwas anderen Buchhandlung einen idealen Rahmen gefunden. Neben dem bereits erwähnten Anbieten eines Getränks oder der telefonischen Benachrichtigung über Buchsendungen bieten sich für ihn viele Gelegenheiten, mit Kunden Gespräche zu führen.

Die beiden Arbeitgeber, Caroline Gillmayr und Thomas Vondrasek, auf die Frage nach ihren Motiven zur Mitarbeit beim Projekt Spagat und ihre Erfahrungen mit Bernhard:

Caroline: "Als wir gefragt wurden, ob Bernhard bei uns schnuppern kann, war noch keine Rede davon, daß daraus ein längerfristiges Arbeitsverhältnis entstehen könnte. Aber es hat Bernhard so gut bei uns gefallen und er zeigte so eine große Freude, daß wir gerne Ja zum SPAGAT gesagt haben. Es ist oft schwer, einen Beitrag zu einer Idee zu leisten, und so habe ich jetzt einfach die Möglichkeit dazu bekommen."

Diese positive Grundhaltung zur Integration nennt auch Thomas Vondrasek als Motiv. "Die positiven Auswirkungen der Integration an den Schulen auf alle Beteiligten sind auffallend und das Bewußtsein der Kinder zum Thema Behinderung im Alltag scheint um ein Vielfaches größer zu sein als zu meiner Schulzeit. Damit die behinderten Jugendlichen aber nach Schulabgang nicht doch wieder in einer Art Isolation landen, ist meines Erachtens eine logische Weiterführung die Integration am Arbeitsplatz. SPAGAT versucht dies zu bewerkstelligen und eine diesbezügliche Unterstützung meinerseits soll nicht nur verbal sein."

Die Erfahrungen mit Bernhard beurteilen beide als sehr positiv: "Er blüht bei uns auf und es ist schön zu sehen, wie Bernhard von sichtlichem Stolz erfüllt ist, weil er am alltäglichen Arbeitsgeschehen teilnehmen darf." Anfänglich gab es schon einige "Ecken", erzählen Thomas und Caroline. Beispielsweise irritierte Bernhard manche Kunden, indem er sie allzu lautstark begrüßte oder auch das Läuten des Telefons in derselben Art kommentierte. "Das Gros der Kunden nimmt es positiv auf, daß Bernhard bei uns arbeitet, wenngleich auch einige durch seine Anwesenheit ein wenig gehemmt zu sein scheinen. Es gibt aber auch Kunden, die extra am Mittwoch oder Freitag kommen, wenn Bernhard da ist und damit ihre Solidarität mit dem SPAGAT ausdrücken."

Für Bernhards Eltern ist das Ganze "ein Glücksfall, wie ein Geschenk des Himmels". Obwohl Mitinitiatoren und trotz Mitarbeit im Projektteam SPAGAT "hatten wir am Anfang keine Ahnung, was Bernhard tun kann". Daß Bernhard bei der Arbeit aufblüht, bestätigen auch sie: "Am Anfang hatten wir Sorge, ob ihm der Vormittag nicht zu streng ist. Aber er kommt nach Hause, ist "aufgestellt", überhaupt nicht verspannt. Er ist unglücklich, wenn er einmal nicht gehen kann. Die Arbeitstage haben sich zu einem totalen Fixpunkt in seinem Leben entwickelt. Am Tag zuvor will er rechtzeitig ins Bett gehen oder ich muß ihm noch die Haare waschen, was er sonst nie freiwillig verlangt. Er ist ganz stolz darauf, eine Arbeit zu haben."

Und was ist mit der restlichen Zeit, in der Bernhard nicht arbeitet? "Hier ist nach wie vor das Engagement der Eltern gefordert", meinen die Eltern, "uns reicht die Zeit, vielleicht kommt später noch einmal ein Vormittag dazu, aber das ist nicht dringlich." Bernhards Mutter geht mit ihm u. a. zur Therapie - übrigens jetzt in eine offene Praxis, zum "normalen" Sporttherapeuten, der auch die Kicker von Memphis Austria Lustenau betreut - ein weiteres Integrationsangebot. Stolz erzählt Bernhard von den Fußballern, die er mittlerweile alle persönlich kennt. Und daß er am Samstag "allein, mit meinem dicken Freund Stefan" aufs Fußballmatch geht und "von Regtop (der Nr. 30) das Leibchen nach dem Match gegen den LASK bekommen hat", erzählt er mit einem Strahlen im Gesicht.

Sabine, 19 Jahre

Sabine arbeitet in der Firma Metzler. Dies ist ein innovativer Familienbetrieb im Bregenzerwald, in dem Molkeprodukte erzeugt, abgepackt und verkauft werden. In der Firma Metzler gibt es neben Sabine noch drei Angestellte.

Sabine begann im Dezember des Vorjahres mit dem Schnuppern. Sabine wurde anfangs von ihrer Arbeitsbegleiterin ständig begleitet. Es mußten passende Bedingungen, Strukturen und Hilfsmittel geschaffen werden. Neben anderen Schwierigkeiten mußte auch das Raumproblem gelöst werden. Sabine braucht die Nähe zu ihrer Mentorin, gleichzeitig aber auch einen eigenen Arbeitsplatz, wo sie ihre Arbeiten ungestört verrichten kann. Mit viel gutem Willen seitens des Betriebes konnte eine Lösung gefunden werden.

Bald konnte im Betrieb eine Mentorin gefunden werden, die ihre Situation wie folgt beschreibt: "Insgesamt ist es für mich eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Es ist für mich eine Herausforderung, mich selbst wahrzunehmen. Manchmal ist es schwierig, sich nicht für jedes Problem von/mit Sabine persönlich verantwortlich zu fühlen. Zeitweise ist es auch belastend für mich, da ich meine Arbeit oft unterbrechen muß. Es ist also hin und wieder eine Geduldsprobe für mich. Ich freue mich aber über die Fortschritte, die Sabine macht."

Sabine arbeitet mit Freude im Betrieb. Sie identifiziert sich stark mit der Firma, mit der Familie. Ihre Arbeit beschreibt Sabine so: "Mir gefällt die Arbeit sehr gut. Ich packe Seife in Säckchen ab. Ich falte Prospekte. Da hat mir Theresia (Integrationsberaterin) etwas gemacht, damit es leichter geht. Theresia mag ich ganz gerne. Sie ist gerade im Urlaub. Hoffentlich schreibt sie mir eine Karte. Ich muß auch etikettieren und Schachteln einräumen. Am liebsten mag ich meinem Chef helfen."

Seit Juli dieses Jahres hat Sabine einen geförderten Arbeitsplatz. Sie arbeitet dort täglich von 8.00 bis 11.00. Sabine wird von ihrer Mutter zur Arbeit gebracht. Diese ist vom Konzept SPAGAT überzeugt. Sie erlebt Sabine jetzt selbstbewußter und selbständiger. "Sabine fühlt sich jetzt wichtig. Wenn sie die Produkte irgendwo sieht, so sagt sie gleich, daß sie in dieser Firma arbeite, daß sie das gemacht habe. Sie hat sich sehr verändert."

Auf die Frage, was sich im Alltag, zu Hause verändert hat, antwortet Frau L: "Sabine hat eine geregelte Struktur. Sie geht jetzt abends ins Bett, weil sie weiß, daß sie am Morgen zur Arbeit gehen muß. Sie duscht jetzt freiwillig, einfach weil sie die Notwendigkeit sieht."

Über die Arbeitszeit und die Art der Tätigkeit ist die Mutter zufrieden. Sie ist froh, daß Sabine eine Arbeit gefunden hat, die sie gerne mag, eine sinnvolle Arbeit. "Wichtig ist mir, daß das Umfeld stimmt, daß ich mir keine Sorgen machen muß. Man mag Sabine gerne im Betrieb. Ich weiß sie in besten Händen."

Die Lösung mit dem Betrieb Metzler war nicht von Anfang an im Gespräch. Sabine schnupperte in verschiedenen Betrieben, war auch längere Zeit in einem Lebensmittelgeschäft. Es konnten bei den anderen Betrieben die Rahmenbedingungen nicht an Sabines Profil angepaßt werden oder wir fanden keine Mentoren.

Über Erfahrungen und Motive sagt Ingo Metzler: "Wir sind ein kleiner Betrieb und ich denke, daß wir in Zukunft nur mit Menschlichkeit Gewinne erzielen können. Dies ist ein Schritt dazu.

Das Projekt wird vom Amt der Vorarlberger Landesregierung unterstützt. Wir könnten uns keine zusätzlichen finanziellen Belastungen leisten. Wir sind auch nicht zuständig für die sozialen Probleme des Landes. Es muß für einen Betrieb auch lukrativ sein, beim SPAGAT mitzumachen."

Carmen, 19 Jahre

Im Herbst dieses Jahres wurde für Carmen ein zeitlich unbefristeter Arbeitsplatz in der Ordination von Dr. Michael Feurstein, Radiologe, eingerichtet. Dort arbeitet sie zur Zeit dreimal, Montag und Mittwoch am frühen Abend, freitags über die Mittagszeit. Obwohl Carmen sowohl von ihren kognitiven Fähigkeiten als auch manuellen Fertigkeiten für eine berufliche Eingliederung viele Stärken mitbringt, gestaltete sich die Suche nach einem Arbeitsplatz für sie weit schwieriger als erwartet. Als Hauptschwierigkeit könnte man das Finden eines für sie passenden Rahmens bezeichnen. Bereits beim Schnuppern in verschiedenen Betrieben wurde deutlich sichtbar, daß Carmen einen stabilen, klaren Rahmen ohne allzuviel Wechsel braucht, eine ruhige Atmosphäre ohne Zeitdruck, das Spüren von Akzeptanz und Wertschätzung auch bei Stimmungsschwankungen, das Gefühl, wirklich zu arbeiten. In der Ordination von Dr. Feurstein konnte dieser Rahmen geschaffen werden. Vorher arbeitete sie in einem privaten Haushalt, in dem dieser Rahmen auch gegeben war, sammelte dort wertvolle Erfahrungen - allerdings war dieser Platz auf ein Jahr befristet. An einem Vormittag erledigte sie Botengänge für das örtliche Altersheim.

Ihre Arbeit in der Ordination beschreibt Carmen wie folgt: "Ich muß die Post erledigen: Briefe zusammenfalten und dann in den Briefumschlag stecken. Dann muß ich die Briefe bei der Waage abwiegen und die Zahl (die die Briefwaage anzeigt) auf das Kuvert schreiben. Dann muß ich jeden Brief durch die Frankiermaschine durchlassen, dann alle in den Sack hineingeben und auf die Post tragen." Von der Arbeit im Haushalt im vorigen Jahr erzählt sie: "Ich mußte mit dem Hund spazieren gehen, staubsaugen, kehren und den Männern habe ich das Frühstück machen müssen."

Vom ursprünglichen Konzept, einen regionalen Arbeitsplatz zu finden, mußten wir bei Carmen Abstriche machen, da sich die Ordination von Dr. Feurstein in Dornbirn befindet. Das bedeutet eine ca. einstündige Busfahrt für Carmen für einen Weg - was sich jedoch keineswegs nur als Nachteil herausgestellt hat. Sichtlich mit Stolz erzählt Carmen immer wieder, daß sie "beim Doktor in Dornbirn arbeitet", und weiter, mit großer Selbstverständlichkeit, daß sie "alleine mit dem Bus nach Dornbirn fährt " und auch allein wieder nach Bezau zurück. Eine Zeitlang wurde sie von der Arbeitsbegleiterin an der Bushaltestelle in Dornbirn abgeholt und zur Praxis begleitet, solange, bis sie genügend Sicherheit hatte, auch diesen Schritt allein zu bewältigen.

Daß das Fahren positiv ist, bestätigt auch die Mutter: "Carmen fährt gerne hinaus, sie kommt gut damit zurecht. Sie trifft im Bus Leute, man kennt sie, sie redet mit allen." Ein schönes Beispiel für "natural support".

Die Mutter ist sehr froh darüber, daß Carmen nun eine längerfristige Arbeitsstelle gefunden hat. Sie beschreibt Carmen als ausgeglichener, ruhiger, zufriedener, seit sie arbeitet. "Besser hätte sie es nicht erwischen können", meint sie. Ihr Wunsch wäre es, daß die Arbeitszeit noch etwas verlängert bzw. auch für die restlichen beiden Tage eine sinnvolle Tagesstruktur geschaffen werden könnte. Eine Erweiterung ist geplant, abhängig von Carmens Entwicklung und Belastbarkeit und den Möglichkeiten des Arbeitgebers.

Über die Motive und Erfahrungen als Arbeitgeber erzählt Dr. Feurstein:

"Die soziale Integration ist mir durch das Leben mit meiner behinderten Tochter - Nora ist jetzt 13 Jahre alt - gut vertraut. In ihrem Werdegang durch die integrativ geführte Kinderspielgruppe, Kindergarten, Volksschule und die ersten zwei Hauptschulklassen hat sich die Integration für sie und für die ganze Familie als sehr wichtig und wertvoll bestätigt. Mir ist klar, daß sich dieser Weg in der Arbeitswelt fortsetzen wird. Seit Jahren habe ich erwogen, jemanden mit schwerer Behinderung in meiner Röntgenpraxis zu beschäftigen und habe dabei an mir persönlich bekannte Jugendliche gedacht: Wer könnte Patienten aufrufen, Botendienste, Archivarbeit, Postdienst und Reinigung machen? (...)

Es freut mich, daß Carmen die Arbeit gefällt und es freut mich, die Offenheit und Sympathie für Carmen bei meinen Mitarbeiterinnen zu erleben. Ihre Arbeit erledigt Carmen überraschend leicht, zuverlässig und fehlerfrei. In meiner langjährigen Mitarbeiterin Ingrid hat Carmen eine humorvolle und interessierte Mentorin gefunden. Sie leitet Carmen umsichtig und verantwortungsbewußt an. Als vorerst unentbehrlich erweist sich Theresia, die Projektmitarbeiterin. Sie ist wichtig für den Arbeitsweg, bei Verständigungsschwierigkeiten, bei der Anpassung von Arbeits- und Zeitabläufen. Carmen ist für uns eine Hilfe und Bereicherung. Ich freue mich zusammen mit meinen Mitarbeiterinnen über den guten Start."

Ihre frühere Arbeitgeberin im Haushalt, Frau Metzler erzählt: "Ich habe gesehen, daß in einer 1700 Einwohner Gemeinde niemand bereit war, Carmen eine Chance zu geben. Da habe ich spontan für ein Jahr zugesagt. Am meisten dazu bewegt hat mich bei Carmen die Tatsache, daß sie selber zu mir kommen und arbeiten wollte." Trotz Zeiten mit "Durchhänger" ist ihr Fazit ausgesprochen positiv: "Carmen hat mich ein Stück weit gelehrt, was es heißt, Mensch zu sein. Vielleicht ist es das, was so viele nicht sehen wollen - es müßte so viel Gewohntes über den Zaun geworfen werden. Und wenn es nur ein ganz klein wenig geholfen hat, hat sich dieses Jahr für mich (uns) und Carmen voll und ganz rentiert."

Auf die Frage, was Carmen an der jetzigen Arbeit in der Praxis gefällt, antwortet sie: "Jetzt endlich habe ich einen Beruf, und das ist sehr gut. Mir gefällt es sehr gut, es gibt nichts bei der Arbeit, wo mir nicht gefällt." Das Gute an der Arbeit ist, daß "ich da so nette Mädchen in der Arbeit habe" und der Doktor ist "auch sehr nett".

Stefanie, 18 Jahre

Stefanie schnuppert schon längere Zeit auf einem Bauernhof.

Daß Stefanie eine besondere Fähigkeit im Umgang mit Tieren hat, zeigt sich schon lange. Sie hat Spaß an der Stallarbeit und liebt vor allem große Tiere, Pferde und Kühe. Stefanie ist gerne im Freien und scheut nicht "Wind und Wetter".

Stefanie hat schon auf mehreren Höfen geschnuppert.

Bisher haben wir jedoch noch keinen Hof gefunden, der die geeigneten Rahmenbedingungen für Stefanie zur Verfügung stellen kann. Die Arbeitszeiten in der Viehwirtschaft sind für Stefanie ungünstig, da die Hauptarbeit am frühen Morgen und am späten Nachmittag anfällt. Außerdem sind die regionalen Betriebe im Bregenzerwald meist Familienbetriebe, die keine Fremden beschäftigen können oder wollen. Es ist sehr schwierig, einen Mentor zu finden, der ständig anwesend sein könnte. Stefanie reagiert sehr feinfühlig auf Stimmungen. Es ist für sie besonders wichtig, bei Menschen zu arbeiten, die sie mögen, verstehen und schätzen.

Wir suchen mit S. eine Arbeit, bei der sie eine geregelte Vormittagsstruktur hat. Am Nachmittag kann sie dann im Reitstall ihr Pferd pflegen und reiten. Sie trifft dort andere Mädchen, ist mit ihnen im Kontakt und Austausch.

Obwohl wir aus dem Unterstützungskreis und aus den Erfahrungen während der Schnupperphasen wissen, daß Stefanie ihren "richtigen, guten" Platz auf einem Bauernhof finden wird, arbeitete sie auch im Pfarrhof. Dort war die Beziehung zum Pfarrer und zur Kirche das Ausschlaggebende - Stefanie liebt es, in die Kirche zu gehen - weniger die Tätigkeiten im Haushalt. Pfarrers Köchin war Stefanies Mentorin. Nach einiger Zeit löste der Pfarrer das Dienstverhältnis, da aufgrund mehrerer Faktoren sichtbar wurde, daß dieser Arbeitsplatz für Stefanie kein zielführendes Projekt war.

Derzeit begleitet der Integrationsberater Stefanie beim Schnuppern auf dem Sonnenhof. Stefanie kann dort die meisten Arbeiten selbständig erledigen: Gatter öffnen, Tiere herauslassen, füttern, Wasser geben, Stroh in den Stall geben, Zäune richten ...

Für Stefanies Mutter ist es vor allem wichtig, daß sie im sozialen Umfeld integriert ist. "Sie erweitert ihren Bekanntenkreis und findet mehrere Orte, an denen sie sich sicher fühlt. Stefanie hat seit Projektbeginn große Entwicklungsschritte gemacht. Sie nimmt sich selber besser wahr. Vieles ist jetzt selbstverständlicher. Sie akzeptiert Regeln des Zusammenlebens. Sie übernimmt selbständig Aufgaben, ist aufmerksam uns Eltern gegenüber und bringt sich selber mehr ein."

Stefanie ist ein kontaktfreudiges Mädchen, interessiert sich für dies und das und findet auch immer eine Gelegenheit zur Kommunikation. Auch deshalb ist es für die Eltern wichtig, daß Stefanie im Ort integriert ist. Sie gewinnt dadurch an Sicherheit und Festigkeit und dadurch ein freieres Leben.

Christoph, 15 Jahre

Christoph hat erst heuer, im Juli 1999, sein 9. Schuljahr und damit seine Schulpflicht beendet. Während des letzten Schuljahres hat er mit der Integrationsberaterin an mehreren Orten geschnuppert. Im Herbst wird er wahrscheinlich an einem dieser Plätze - in einem SPAR-Lebensmittelgeschäft in Andelsbuch - mit einer längerfristigen Arbeitserprobung beginnen.

Christoph bringt viele Fähigkeiten und Stärken für die Integration in die Arbeitswelt mit, Ausdauer, Zuverlässigkeit, vor allem aber seinen starken Wunsch, zu arbeiten.

Wir alle sind zuversichtlich, daß er erfolgreich eingegliedert werden kann.

Über seine Schnupperplätze erzählt Christoph voller Begeisterung, einer war besser als der andere:

"Ich habe im SPAR Meusburger in Andelsbuch, in der VKW (Vorarlberger Kraftwerke) in Bregenz und beim Elektro Willi in Andelsbuch geschnuppert."

Über die VKW erzählt er: "Ich habe halt den Männern geholfen, in der Kantine gegessen, Auto gewaschen, mit Hans-Jakob an der großen Maschine Bleche gestanzt, mit ‚Glasers' Dokus Regale montiert, die Fischteiche und die ganze Firma angeschaut und viermal mit dem Werksverkehr nach Bregenz gefahren. Es war ganz toll."

Auch im SPAR Meusburger hat es Christoph sehr gut gefallen. "Da bin ich mit dem Bus ganz alleine von Schwarzenberg bis Andelsbuch gefahren und in Egg sogar umgestiegen. Der Josef ist auch immer zu mir in den Spar-Laden gekommen und hat laut gelacht. Ich durfte Katzen einräumen in die Regale (Katzenfutter), Papierpressen an der Hydraulikmaschine im Keller, mit dem Kombiwagen fahren, Gemüse einräumen, Salat einpacken, faules Gemüse wegwerfen, Zettel (Postwurf) falten - ich glaube 1000 oder 100 Stück."

"Ganz fest geschafft habe ich beim Elektro Willi - und wie. Dort mußte ich Kabel sortieren, im Keller Zeug auseinandermontieren, Schrauben hineindrehen, mit der richtig großen Schneidemaschine Kartone schneiden - das war echt gefährlich."

Schwierigkeiten hat es beim Schnuppern seiner Meinung nach gar keine gegeben, er freut sich sehr aufs Arbeiten.

Auf die Frage, warum er arbeiten will, meint er: "Für's Leben und für's Geld verdienen."

Die Autorinnen

Mag. Claudia Niedermair

Wissenschaftliche Begleiterin der integrativen Schulversuche im Sekundarstufenbereich in Vorarlberg, Lehrerin an der Lehranstalt für Heilpädagogische Berufe in Götzis und Lehrbeauftragte an der Pädagogischen Akademie in Feldkirch. Als Beirat im Vorstand von Integration Vorarlberg unterstützt sie die Eltern vor allem im Bereich der nachschulischen Integration.

Mähdle 43

A-6890 Lustenau

Email: claudia.niedermair@magnet.at

Elisabeth Tschann

Leiterin der Fachgruppe Dialog im Institut für Sozialdienste, Lehrerin an der Lehranstalt für Heilpädagogische Berufe in Götzis, Projektverantwortliche im SPAGAT

Institut für Sozialdienste

Bahnhofstrasse 8a

A-6700 Bludenz

tschann.elisabeth@ifs.at

Quelle:

Claudia Niedermair, Elisabeth Tschann: "Ich möchte arbeiten" - Portraits von sechs Jugendlichen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 21.02.2005

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