Disability Studies - Vom Defizit zum Kennzeichen

Autor:in - Anja Tervooren
Themenbereiche: Disability Studies
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erscheinen in: impulse. Newsletter zur Gesundheitsförderung. 2/2003, Nr. 39, S. 17
Copyright: © Anja Tervooren 2003

Disability Studies - Vom Defizit zum Kennzeichen

Der Begriff Disability Studies hat im deutschsprachigen Raum eine erstaunliche Karriere aufzuweisen. Erstmals tauchte er im Juli 2001 in den Feuilletons der meisten großen Tageszeitungen auf. Berichtet wurde über eine Konferenz zum Thema Der (im-)perfekte Mensch, veranstaltet vom Deutschen Hygiene-Museum und der Aktion Mensch in Dresden, auf der ProtagonistInnen der US-amerikanischen Disability Studies geladen waren. Bereits auf dieser Konferenz unternahmen prominente Frauen und Männer mit Behinderungen aus Wissenschaft und Politik die ersten Schritte, um eine Bundesarbeitsgemeinschaft Disability Studies zu gründen. Eine zweite Konferenz zum Thema folgte 2002 in Berlin. Im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen wird vom Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter bereits eine zweiwöchige Sommeruniversität mit dem Titel Disability Studies in Deutschland - Behinderung NEU denken in Bremen, der Wiege der westdeutschen Behindertenbewegung, organisiert. Die gerade erst begonnene Diskussion kann auf diese Weise mit einem ausgedehnten Spektrum an theoretischen und praktischen Veranstaltungen weitergeführt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Was ist neu an den Disability Studies? Liegt seine Prominenz nur daran, dass die Akzeptanz neuer Gedanken in Deutschland höher zu sein scheint, wenn der Begriff aus dem Englischen importiert ist, wie die Gender Studies für die Wissenschaft und publikumswirksame Aktionen wie der Girls´ Day in Politik und Wirtschaft gezeigt haben?

Anfänge

Der Begriff Disability Studies ermöglicht es, an die angloamerikanische Tradition einer interdisziplinären Forschung zum Thema Behinderung anzuknüpfen. Einflussreich waren hier zunächst das vorrangig soziologisch ausgerichtete Centre of Disability Studies in Leeds, Großbritannien, und die bereits 1982 von dem behinderten Soziologen Irving Zola gegründete US-amerikanische Society of Disability Studies. Aus der Behindertenbewegung entstanden, war es das Anliegen, diese beiden Zusammenschlüsse, mehr Menschen mit Behinderungen in die Wissenschaft zu bringen und die Forschung zu Behinderung von einer Forschung über Objekte zu einer Forschung vonSubjekten zu machen. Sie beschreiben "Behinderung" nicht als Defizit, das überwunden oder geheilt werden soll, wie es medizinische Modelle lange Zeit propagierten, sondern erarbeiten ein soziales Modell, das die Erfahrungen des "Behindertwerdens" anhand der historischen, sozialen und politischen Bedingungen einer Gesellschaft analysiert. Diese Erkenntnis ist in Deutschland den sozialwissenschaftlich orientierten Veröffentlichungen aus dem Umkreis der Behindertenbewegung seit den 80er Jahren zu verdanken. Was damals nicht gelang, war die Etablierung dieses Wissens an den Universitäten unseres Landes. Deren Mechanismen der Exklusion von Menschen mit Behinderungen ebenso wie die Inklusion des Wissens um Behinderung an den Hochschulen in scharf umgrenzte Bereiche wie die Sonderpädagogik erweisen sich bis heute als äußerst effektiv.

Neuere Entwicklung

Liegen die Wurzeln der Disability Studies in der Soziologie und den angrenzenden Sozialwissenschaften, so sind bei den neueren Ansätzen kulturwissenschaftliche Disziplinen hinzugetreten. Sie orientieren sich damit an der Entwicklung der US-amerikanischen Disability Studies in den 90er Jahren. Will man nicht Gefahr laufen, Darstellungen von Behinderung z.B. in Literatur oder der bildenden Kunst auf Stereotypen zu verengen, sind fachspezifische Methoden unerlässlich. Die Entwicklung hin zu einer vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung ist erstens von so großer Bedeutung, da ein Gegenstand an der Komplexität der Zugänge gemessen wird, mit denen unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen sich ihm nähern. So ist die häufige Verknüpfung des Phänomens Behinderung mit einer Vorstellung von Defizit u.a. der Tatsache geschuldet, dass sich fast ausschließlich wissenschaftliche Disziplinen für das Thema Behinderung zuständig erklären, die sich mit Heilung, Therapie und Management eines Ausschnitts der Bevölkerung beschäftigen. Zweitens fordern gerade die häufigen Darstellungen von Behinderung in ästhetischen Bereichen dazu auf, ein einfaches Unterdrückungsmodell zu überdenken.

Interdisziplinäres Projekt

In Deutschland hat der Begriff Disability Studies seine große Öffentlichkeitswirksamkeit nach der Jahrtausendwende vor allem einem Punkt zu verdanken: er verspricht politische wie auch interdisziplinär ausgerichtete, wissenschaftliche Diskurse zu verbinden. Als interdisziplinäres, zwischen Theorie und Praxis angesiedeltes Projekt ruhen die Disability Studies auf drei Säulen. Erstens die synchrone, soziologisch orientierte Gesellschaftsanalyse und der Vergleich verschiedener Gesellschaftsformen in ihrem Verhältnis zu körperlichen und geistigen Variationen. Zweitens die diachrone Historisierung von Behinderung anhand von medialen Repräsentationen in Literatur, Bild und Performance. Drittens die philosophische Frage nach der Möglichkeit der Anerkennung von Differenz mit ihren vielfältigen Verbindungen zu politischen und pädagogischen Bereichen und den Fragestellungen, welche die neuen bioethischen Entwicklungen aufwerfen. Die Weichenstellung zu Diskursen in allen Wissensgebieten lässt die Verengung auf einen statischen Behinderungsbegriff, der die Konstruiertheit der Kategorie außen vor lässt, nicht zu.

Aufdecken von Defiziten

Disability Studies fordern jedoch nicht nur die Revision des wissenschaftlichen Kanons. Sie weisen ebenfalls auf die Defizite in der Zugänglichkeit des Berufsbildes Hochschule hin. Auch wenn in Stellenausschreibungen kontinuierlich wiederholt wird, dass behinderte BewerberInnen bevorzugt eingestellt werden, kommt es in der Realität äußerst selten zu solchen Stellenbesetzungen. Der Schritt zum aktiven Eingreifen in die Politik der Repräsentation wäre jedoch erst dann vollzogen, wenn WissenschaftlerInnen aus allen Disziplinen nicht nur das Thema Behinderung in ihre Themenauswahl aufnehmen, sondern auch behinderte WissenschaftlerInnen verstärkt in der Position wären, Wissen um Behinderung und ebenso selbstverständlich alle anderen Fächer an der Universität lehren zu können. So ist es das Ziel der Disability Studies, Reibungspunkte zwischen Wissenschaft und Politik fruchtbar zu machen. Die letzten zwei Jahre lassen hoffen, dass diese Reibung zum Katalysator für gesellschaftliche Veränderungsprozesse werden kann.

Quelle:

Anja Tervooren: Disability Studies - Vom Defizit zum Kennzeichen

Erscheinen in: impulse. Newsletter zur Gesundheitsförderung. 2/2003, Nr. 39, S. 17

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 19.12.2007

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