Satt, Sauber und im Warmen? - Pflege sichern ist zu wenig

Autor:in - Volker Schönwiese
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Geschrieben für: Altern macht Sinn (eine Broschüre der Notburgastiftung) Innsbruck 2001, S. 46-50
Copyright: © Volker Schönwiese 2001

Satt, Sauber und im Warmen? - Pflege sichern ist zu wenig

Die Bedürfnisse alter Menschen sind wie die Bedürfnisse aller Menschen immer psychische, soziale und körperliche Bedürfnisse zugleich. Es geht um das psychische Wohlbefinden, um sozialenAustausch und um Körperkultur. Im Zentrum steht die Wahrung der Autonomie, die nicht von der psychischen, sozialen und körperlichen Leistungsfähigkeit der Personen abhängig gemacht werden darf.

Ausgehend von dieser Wahrung der Autonomie alter Menschen handelt es sich bei der "Pflegekette" um ein abgestuftes Konzept von Unterstützungsformen, welche das abdecken sollen, was alte Menschen tatsächlich brauchen. Einrichtungen müßten sich also nach den Bedürfnissen der Menschen richten und an dem orientieren, was die Betroffenen selbst in irgend einer direkten oder indirekten Form ausdrücken. Das kann von kleinen Hilfeleistungen bis zu jenen Unterstützungsformen reichen, die rund um die Uhr geleistet werden müssen. Die Wahrung der Autonomie erfordert, daß die Betroffenen akzeptable Alternativen zur Auswahl haben, sowohl was die Art und Qualität von Unterstützungen betrifft, als auch den Ort, an dem die Unterstützungen erfolgen. Dabei haben gemeinwesen-orientierte Unterstützungen absoluten Vorrang. Das heißt, daß sie immer primär an der Wohnung der betroffenen Menschen ansetzen, sich an der jeweiligen Straße, am jeweiligen Stadtviertel orientieren, an jenen Lebensräumen also, in denen sich die betroffenen Menschen aufhalten.

Bei Unterstützungen geht es nicht nur um die Pflege, sondern meist um sehr alltagsorientierte Hilfen und nicht nur um Hilfeleistungen, die am Körper ansetzen. Dem müssen ganzheitliche, psycho-soziale Dienstleistungen entsprechen, die sich am Alltag der Betroffenen orientieren. Es handelt sich dabei um ganz selbstverständliche Dinge wie Spazieren gehen, essen, die Wohnung sauber halten und natürlich geht es auch um Unterhaltung, um Freizeitangebote oder Angebote, die es den jeweiligen Personen ermöglichen, etwas in ihrem Sinne Sinnvolles zu tun. Um diese Dinge tun zu können, muß natürlich auch der Körper gepflegt und unterstützt sein.

Im Sinne einer umfassenden psycho-sozialen Versorgung betrachtet müssen medizinische und soziale Einrichtungen, ob ambulant oder stationär, intensivst miteinander kooperieren und eine Kette von Diensten aufbauen, die den alten Menschen in seinem sozialen Milieu in den Mittelpunkt stellt. Statt von "Pflegekette" wäre es daher besser, von "Unterstützungskette" zu sprechen.

Das würde allerdings bedeuten, daß sich die Beziehung zwischen jenen, die einer Dienstleistung bedürfen und jenen, die diese Dienstleistung anbieten, grundlegend ändern muß bzw. weiterentwickelt werden muß. Derzeit wird davon ausgegangen, daß Personen mit Unterstützungsbedarf ein wie immer geartetes Defizit haben und Experten benötigen, die den Unterstützungsbedarf feststellen und Dienstleistungen anbieten bzw. vermitteln. Zwar gibt es sozial-pädagogische, pflegerische und auch medizinische Ansätze, welche die Betroffenen als die wichtigsten ExpertInnen in eigener Sache sehen. In der Praxis wird diese Vorstellung aber kaum umgesetzt. Ein Unterstützungs-Modell, das davon ausgeht, daß die Betroffenen kompetent sind und über das beste Wissen über sich selbst verfügen, begleitet die Menschen in ihren Entscheidungsprozessen oder Lebensäußerungen und entscheidet nicht über sie. Voraussetzung für jede Unterstützung ist ein konsequentes "in-Dialog-treten" anstelle von Versorgung und Betreuung. Derzeit kann ich nicht beobachten, daß so ein Modell für die allgemeine Praxis der Unterstützungen für alte Menschen in Sicht ist.

In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage nach den Rechten der betroffenen Personen. Ansatzweise gibt es Lösungen im Rahmen der Patientenanwaltschaft, zumindest was die Psychiatrie betrifft. Eine solche Anwaltschaft ist bei anderen klinischen und medizinischen Dienstleistungen nicht existent und sie fehlt auch im sozialen Bereich. Diese Dinge müßten gesetzlich geregelt werden, beispielsweise über gewählte Beiräte, über Heimbeiräte, Institutionsbeiräte, die direkten Einfluß nehmen können. Besser noch wäre natürlich die direkte Beteiligung der Betroffenen jenseits solcher Funktionärssysteme.

Es gibt dazu von politischer Seite her keine Initiative für Experimente oder Modellprojekte, weder Untersuchungen noch Umsetzungs-Pläne (z.B. im Rahmen eines Heimgesetzes). Vorschläge in diese Richtung werden mit dem Kostenargument und dem Argument eines zu großen Organisationsaufwandes schon im Vorfeld abgewehrt.

Meines Erachtens nach besteht die Befürchtung, daß durch ein zuviel an derartiger Partnerschaftlichkeit politische Dynamiken entstehen könnten, welche die Kernpunkte unserer Gesellschaft in Frage stellen: Leistungsprinzip, Konsumorientierung und die Organisation des gesellschaftlichen Zuganges über Geld. Über die Relativierung des Leistungsprinzips könnte sich der Begriff "Arbeit" um die Dimension des "Tätig-Seins" erweitern. Dann könnte sich endlich die Tatsache durchsetzen, daß jeder Mensch, egal welchen Alters, seinen Fähigkeiten gemäß tätig sein will und ohne sinnvolle Tätigkeit gar nicht leben kann, sich gar nicht verwirklichen kann. So würde sich ein anderes Menschenbild konstituieren: Behinderte, Rentner, alte Menschen und eben auch Pflegebedürftige haben ein dringendes existentielles Bedürfnis nach Tätig-Sein - denn ohne Tätig-Sein ergeben sich im Leben keine sinnerfüllende Perspektiven.

Die aktuelle Entwicklung geht aber in eine andere Richtung. Das hängt stark mit der neuen Kultur des Wissens zusammen, die unter anderem auch über das Internet entstanden ist. Diese quantitative Anhäufung von enormen Mengen von Wissen, mit einer immer geringeren Halbwertszeit, beschleunigt einerseits den Umgang mit Wissen, anderseits kommt es zu einer Neubewertung von Wissen: welches Wissen ist wichtig, welches nicht.

Der Erfahrungsschatz alter Menschen in der Verarbeitung von gesellschaftlichem Wissen - wie ambivalent auch immer einzuschätzen - verliert an Bedeutung, Wissen orientiert sich mehr an kurzfristiger Effizienz, an stetiger Beschleunigung. Die Fähigkeiten älterer Menschen, Lebensläufe ganzheitlich zu überblicken, abgewogene Entscheidungen mit Hilfe von Informationen, die im Laufe eines langen Lebens gesammelt worden sind, treffen zu können (auch mit neuen Informationstechnologien), verlieren immer mehr an Wert.

Auch hier ist wieder der Mythos des leistungsfähigen, jungen Menschen zu finden. Der leistungsfähige, junge Mensch steht im Vordergrund und nicht jemand mit langjährigen Erfahrungen, der aufgrund von Überblickseinschätzungen bessere Entscheidungen treffen kann.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß sich der gesellschaftliche Umgang mit alten Menschen sehr stark an traditionellen Vorstellungen von menschlicher Entwicklung orientiert. Die meisten praxis-wirksamen pädagogischen und psychologischen Entwicklungsvorstellungen gehen davon aus, daß es bestimmte Phasen der Entwicklung gibt, die sehr klar beschrieben werden können: Kindheit, Erwachsensein, Altsein. Diese Phasen werden wie auf einem Faden aneinandergereiht betrachtet und sind mit bestimmten normativen Vorstellungen darüber verknüpft, was eine gesunde, richtige und erfüllte Entwicklung ist.

Betrachtet man Entwicklung allerdings im Kontext systemtheoretischer Ansätze, dann schwindet diese Vorstellung von Kontinuität sehr rasch. Die Linearität von Kindheit, Erwachsen-Sein, Alter rückt eher an die Peripherie und andere Phänomene bekommen einen zentralen Stellenwert: Schwankungen, Diskontinuitäten, Phasen, die sich abwechseln, Krisen. Das können beispielsweise Schwankungen bezüglich psychischer, sozialer aber auch körperlicher Fähigkeiten sein. Leben zeichnet sich durch Diskontinuitäten im Ablauf von mehr oder weniger Aktivität oder von Wechseln zwischen Isolation und regem Austausch mit anderen aus.

Die Vorstellung, daß ein Erwachsener leistungsfähig sein muß, verheiratet sein muß, Kinder haben muß, eine schöne Wohnung haben muß, um ein "richtiger Erwachsener" zu sein, ist unter solchen Aspekten betrachtet, nicht haltbar. In den jeweiligen Lebensläufen herrscht eher das Diskontinuierliche vor, und es stellt sich hier die Frage, ob das Diskontinuierliche nicht viel förderlicher ist für die Entwicklung - auch im Sinne der Entwicklung der eigenen Autonomie.

Um den Bogen wieder zum Thema "Unterstützungskette" zu spannen: Notwendig ist eine Politik, die das Primat des Wohnortnahen, des Ambulanten und Mobilen durchsetzt. Mir scheint aber, daß in diese Richtung nur eine sehr halbherzige Politik betrieben wird. Es werden zwar durchaus ambulante, mobile, gemeinwesen-orientierte Modelle mit finanziellen Mitteln ausgestattet, aber bewertet werden sie eher als Vorfeldorganisation der stationären Einrichtungen - um diese zu entlasten oder weil die stationären Einrichtungen teurer sind. Das bedeutet jedoch, daß nicht die Bedürfnisse der Betroffenen im Mittelpunkt stehen, sondern eher Fragen, die die Effizienzkriterien bezüglich der Organisation betreffen oder Fragen nach der ökonomischen Dimension, nach den Kostenfaktoren etc.

Hier muß sichdie Situation umkehren: Es muß eine Qualität erreicht werden, in der die Bedürfnissen der Betroffenen - wie auch immer sie ausgedrückt werden - im Vordergrund stehen und in der sich institutionelle Hilfen diesen Bedürfnissen anpassen. Das Ziel muß sein, Lebensqualität über Unterstützung von Autonomie und Tätig-Sein zu ermöglichen. Lediglich Pflege und Unterbringung zu organisieren, um alte Menschen zu verwalten, darf uns als Gesellschaft nicht genügen.

Quelle:

Schönwiese, Volker: Satt, Sauber und im Warmen? - Pflege sichern ist zu wenig

Geschrieben für: Altern macht Sinn (eine Broschüre der Notburgastiftung) Innsbruck 2001, S. 46-50

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Stand: 24.08.2005

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